Robert Ludlum erreichte mit seinen Romanen, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden, weltweit eine Auflage von über 280 Millionen Exemplaren. Robert Ludlum verstarb im März 2001, die Romane aus seinem Nachlass erscheinen im Wilhelm Heyne Verlag.
Kyle Mills, Jahrgang 1966, lebt in Jackson Hole, Wyoming, wo er sich neben dem Schreiben von Thrillern dem Skifahren und Bergsteigen widmet. In den USA ist Kyle Mills mit seinen Romanen regelmäßig in den Bestsellerlisten zu finden. Zuletzt erschien im Wilhelm Heyne Verlag der Politthriller Blutige Erde.
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ZENTRALIRAN
9. Dezember, 16:18 Uhr GMT+3:30
Smith stützte sich auf die Konsole, auf der das Computersystem des Humvees montiert war, als Randi Russell mit dem Wagen über einen ausgewaschenen Abschnitt der Straße sprang. Sie waren sich am Tag zuvor in einem mobilen Krankenhaus begegnet, das von der UNO betrieben wurde. Dort hatte man ihn über die Auswirkungen der Infektion informiert. Sie gehörte einem CIA-Team an, das dafür sorgen sollte, dass es zu keinen Unruhen kam, damit die allgemeinen Bemühungen, eine Pandemie abzuwenden, nicht gestört wurden.
»Und du weißt ganz bestimmt, wo du hinfährst, Randi? Ich seh hier nichts als Felsen und Sand.«
»Farrokh ist der Typ Mensch, der die Einsamkeit schätzt und lieber anonym bleibt«, rief sie über dem Dröhnen des Motors zurück. »Aber jetzt, wo wir wissen, wer er ist, kannst du sicher sein, dass wir ihn nicht mehr aus den Augen lassen.«
Sarie beugte sich zwischen den Sitzen vor. »Geht’s ihm gut?«
»Oh ja, er ist okay. Ich glaube, er genießt noch einmal ein bisschen Ruhe und Frieden, bevor er sich ins Getümmel stürzen muss, das er ausgelöst hat.«
Farrokhs Leute hatten Bilder von den Ereignissen in dem unterirdischen Labor und in Avass ins Netz gestellt, sodass der Iran nun die ganze Welt gegen sich hatte. Russland und China hatten sich nun ebenfalls für harte Sanktionen ausgesprochen, Al Jazeera brachte kritische Sondersendungen zum Thema, und die USA wurden von der Arabischen Liga dafür gescholten, dass sie nicht das ganze Land dem Erdboden gleichmachten.
»Ist unsere Position immer noch, dass wir ihn nicht aktiv unterstützen?«, fragte Peter Howell vom Rücksitz aus.
»Darauf haben sich die Politiker geeinigt«, antwortete Randi. »Obwohl es momentan ganz nach einer Pattsituation aussieht.«
Sie trat auf die Bremse und brachte den Wagen schlitternd zum Stillstand, dann zeigte sie auf einen Pfad, der sich einen Hang mit verstreuten Felsblöcken hinaufschlängelte. »Dort oben findest du ihn.«
»Sieht ziemlich steil aus«, meinte Sarie etwas skeptisch. »Und alles in der glühenden Sonne.«
Ihr Bein war leicht infiziert, und durch die Antibiotika, das Fieber und die Anstrengungen der letzten Tage fühlte sie sich nicht ganz so fit wie sonst. Dennoch ließ sie sich von Howell aus dem Wagen helfen und trat ans offene Fahrerfenster. »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Randi.«
»Mich auch. Sind Sie sicher, dass Sie den ganzen Weg da raufgehen möchten? Ich kann Sie gern irgendwo absetzen.«
»Nein, ich will mich verabschieden.«
»Wie Sie möchten. Ich schicke dann jemanden her, der euch in zwei Stunden abholt.«
Sarie lächelte und tippte an den Fensterrahmen, ehe sie hinter Howell her humpelte, der bereits die erste Kehre des Weges erreicht hatte.
»Willst du nicht vielleicht mitkommen?«, fragte Smith.
Randi schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich bleibe für Farrokh lieber anonym. Heute ist er der Liebling des Westens, aber die Dinge ändern sich oft recht schnell. Und wenn das passiert, dann krieg ich meistens Arbeit.«
»Immer noch dieselbe Zynikerin.«
Ein geheimnisvolles Lächeln erschien auf ihren Lippen. »Du solltest nett zu mir sein, Jon. Du schuldest mir was.«
»Für die Fahrt hierher? Es waren doch nur ein paar Kilometer, außerdem hast du den Hummer wahrscheinlich gestohlen.«
Sie blickte nachdenklich in die Wüste hinaus. »Hast du schon mal von Sepehr Mouradipour gehört?«
»Ein iranischer Söldner, stimmt’s? Das letzte Mal, als ich von ihm hörte, war er irgendwo am Balkan im Einsatz, glaube ich.«
»Deine Informationen sind nicht ganz aktuell. Sein letzter Einsatz war im Iran – im Auftrag von Larry Drake. Wenn ich mich nicht ein bisschen eingemischt hätte, wärst du direkt in seinen Hinterhalt gelaufen.«
Smith sah sie verdutzt an. Er hatte eine kurze Information über Drakes Verrat und seinen Tod bei einem Hubschrauberabsturz erhalten, doch das Ganze war eine Operation von Covert One – wie zum Teufel konnte es sein, dass Randi davon erfahren hatte und sogar persönlich in die Sache verwickelt war?
Sie schien seine Verwirrung zu genießen und schwieg eine ganze Weile, ehe sie hinzufügte: »Einen schönen Gruß übrigens von Fred Klein.«
Smith atmete langsam aus und war selbst überrascht, wie erleichtert er sich plötzlich fühlte. »Ich bin froh, dass du endlich im Team bist, Randi. Es war schwer, das alles vor dir verheimlichen zu müssen.«
Sie zog die Stirn in Falten. »Was denn verheimlichen? Ich meine, du bist doch nur ein einfacher Landarzt, nicht?«
Er wollte etwas sagen, doch sie hob abwehrend die Hand. »Du hast genug Zeit, um dich für alles zu entschuldigen, wenn du zurück in den Staaten bist und mich zu einem richtig teuren Essen einlädst.«
»Können wir uns wenigstens die Weinrechnung teilen?«
»Kommt nicht infrage«, antwortete sie streng und zeigte durch die Windschutzscheibe auf Sarie, die den steilen Hang hinaufhumpelte. »Sieht so aus, als könnte deine kleine Freundin Hilfe gebrauchen.«
Smith öffnete die Beifahrertür, doch bevor er ausstieg, nahm er Randis Hand und küsste sie mit übertriebener Geste. »Du bist eine Göttin unter den Frauen. Eine Säule der Tugend und der Schönheit …«
»Guter Anfang«, kicherte sie und schob ihn durch die Tür, und auch er lachte leise, als sie in einer Staubwolke davonbrauste. Für das Essen würde wahrscheinlich der Großteil eines Monatsgehalts draufgehen, aber das war es ihm wert. Sie war die Beste in dem Geschäft, und wenn sie und Peter Howell auf ihn aufpassten, sah er gute Chancen, auch noch seinen nächsten Geburtstag zu erleben.
Er brauchte länger als erwartet, um Sarie einzuholen, und legte den Arm um ihre Taille – mehr, weil es ihm gefiel, als aus der Notwendigkeit heraus, ihr zu helfen. In Wahrheit war er kaum besser beisammen als sie. Die Armeeärzte hatten ihm einen peinlich großen Teil des Kopfes kahl geschoren, und ein weißer Verband bedeckte die fünfunddreißig Stiche, mit denen der Streifschuss genäht worden war. Das Schlimmste aber waren die höllischen Schmerzen, die ihm seine drei gebrochenen Rippen bei jedem Atemzug verursachten.
Sarie zeigte auf Howell, der sich flink zwischen den Felsblöcken hindurchschlängelte. »Wie kommt es, dass wir zwei aussehen, als hätte uns ein Laster überfahren, und er, als wäre er gerade vom Golfspielen zurückgekommen?«
Smith lächelte mit seiner aufgerissenen Lippe. »Glaub mir, du bist nicht die Erste, die sich das fragt. Wie geht’s dir übrigens? Bist du okay?«
»Ich lebe. Aber ich glaube nicht, dass ich so etwas jeden Tag machen möchte.«
Sie setzten den Aufstieg schweigend fort, bis sie Farrokh mit überkreuzten Beinen am Rand einer hohen Klippe sitzen sahen. Howell stand zwei Meter neben ihm und blickte ins Tal hinunter.
»Also, ich muss schon sagen«, meinte der Brite, als Smith zu ihnen trat. »Was ihr da auf die Beine gestellt habt, ist gar nicht so übel.«
Howell hatte es mit seinem gewohnten Understatement ausgedrückt. In Wahrheit war es ein Wunder, was hier geleistet worden war.
Was sie da unten im grellen Licht der Sonne sahen, war eine imposante Demonstration militärischer Macht, ergänzt durch modernste medizinische Technologie. Da waren drei mobile Labors und ein behelfsmäßiger Flugplatz, der in nicht einmal sieben Stunden angelegt worden war. Ein Transportflugzeug nach dem anderen landete, um Ausrüstung und Nachschub zu liefern. Am Wüstenhimmel kreisten Kampfhubschrauber aus nicht weniger als zwölf Ländern. Weiter oben zogen Spionagesatelliten und Aufklärungsflugzeuge aus Russland, Europa und den Vereinigten Staaten ihre Bahnen und spürten mit Wärmebildkameras jedes warmblütige Lebewesen im Umkreis von zweihundert Meilen auf.
Im Osten war eine riese Zeltstadt des Roten Kreuzes errichtet worden, die von einem provisorischen Zaun umgeben war. Hier wurden alle untersucht, die mit Infizierten in Kontakt gekommen waren.
Alle bekannten Zugänge zu den Canyons waren mit Maschinengewehrstellungen und Stacheldraht gesichert; außerdem hatte man dort Tausende von Minen vergraben. In allen Städten und Dörfern der Region waren Koalitionstruppen postiert. Die Koordinaten waren in den Navigationscomputern von Raketenbatterien gespeichert. Falls es irgendwo zu einem Ausbruch der Infektion kam, den die Bodentruppen nicht schnell unter Kontrolle brachten, konnte selbst die entlegenste Siedlung innerhalb weniger Minuten dem Erdboden gleichgemacht werden.
»Ich mag es ja normalerweise nicht, wenn Politiker die Empfehlungen der Leute draußen im Feld ignorieren«, fuhr Howell fort. »Aber in diesem Fall …«
Smith runzelte die Stirn. Er fand zwar auch, dass jeder Tag über der Erde ein guter Tag war – doch Castillas Entscheidung war äußerst riskant gewesen. Hätte sie sich als falsch herausgestellt, so wären die Konsequenzen unvorstellbar gewesen.
Doch wie es aussah, hatte der Präsident richtig entschieden. Der letzte gemeldete Kontakt mit einem Opfer des Parasiten lag achtundvierzig Stunden zurück; ein Infizierter hatte belgische Sondereinsatzkräfte attackiert, die ein Höhlensystem im Norden durchkämmten. Zum Glück war der Mann mit seinem gebrochenen Oberschenkel nicht schnell genug gewesen, um die Soldaten zu gefährden. Sie konnten ihn erschießen, bevor er näher als fünfzehn Meter herangekommen war.
»Du meinst wahrscheinlich, ich sollte mich bei den Amerikanern bedanken, dass sie nicht ein Drittel meines Landes zerstört haben«, brummte Farrokh.
»Sei nicht so hart zu Jon«, entgegnete Sarie. »Wenn ich mit den Amerikanern telefoniert hätte, hätte ich ihnen vielleicht auch nichts anderes gesagt.«
Der Iraner blickte weiter auf die Koalitionstruppen hinunter, die die Region besetzt hatten. »Und was sagt er ihnen jetzt? Warum unterstützt der Westen die Libyer, aber uns so gut wie gar nicht?«
Smith überlegte kurz, ob er lügen sollte, doch Farrokh würde es sofort durchschauen.
Das Video, das im Internet zu sehen war, hatte nicht nur die ganze Welt schockiert, es hatte auch beträchtliche Konsequenzen im Iran selbst. Es bildeten sich Allianzen im Land, die man noch vor Kurzem für unmöglich gehalten hätte – zwischen säkularen Liberalen, moderaten Muslimen und sogar konservativen Anhängern einiger Imame, die Biowaffen als unislamisch ablehnten. Die Größe und Dynamik der Demonstrationen, die überall im Iran losbrachen, überstieg alles, was bisher passiert war, und die Regierung stützte sich nur noch auf die Armee, um sich an der Macht zu halten.
»Die Situation im Moment ist ziemlich kompliziert, Farrokh. Wir …«
»Und deshalb mussten in den letzten achtundvierzig Stunden über dreitausend meiner Landsleute sterben – von der Armee ermordet?«
Smith seufzte leise. »Niemand wollte das. Aber du siehst ja, was hier los ist: Jede Menge ausländische Soldaten und UNO-Truppen, Medien, internationale Beobachter und Organisationen wie die WHO und CDC. Khamenei verfügt über moderne Raketen, und wenn auch nur eine oder zwei davon durch unsere Verteidigung gekommen wären, hätte das die ganze Operation zerstören können. Dann wäre die Infektion bald in Riad, Kairo oder Damaskus aufgetaucht. Das konnten wir einfach nicht riskieren.«
»Und darum habt ihr einen Pakt mit dem Teufel geschlossen?«
»Wir haben Khamenei gesagt, wenn er keinen Ärger macht, dann lassen wir ihn auch in Ruhe. Aber wir haben auch klargemacht, wenn im Umkreis von hundert Meilen um unsere Leute auch nur ein Böller hochgeht, vernichten wir seine ganze Armee und verhängen eine Flugverbotszone über dem Land, bis wir ihn an einem Strick baumeln sehen.«
»Dann sind wir also auf uns allein gestellt«, sagte Farrokh.
»Du sagst mir doch immer, der Westen soll sich nicht in eure Angelegenheiten einmischen. Bei uns in Amerika gibt es ein Sprichwort: Sei vorsichtig, was du dir wünschst – es könnte in Erfüllung gehen.«
»Und der Parasit?«
»Darauf hab ich keinen Einfluss mehr«, antwortete Smith. »Diesen Teil der Operation hat Präsident Castilla einer gewissen Südafrikanerin übertragen, die du auch kennst.«
Farrokh drehte sich um und blickte zu Sarie auf. »Ist das wahr?«
»Hundertprozentig.« Sie stieß Smith lächelnd gegen die Schulter. »Von jetzt an wird mich der Colonel hier mit Ma’am ansprechen.«
Smith lächelte ebenfalls und überlegte kurz, ob er salutieren sollte, doch er war sich nicht sicher, ob er seinen Arm so hoch heben konnte.
»Könnt ihr die Leute heilen, die sich infiziert haben?«, fragte Farrokh.
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Bei den meisten Opfern, die wir behandeln wollten, waren die Symptome schon voll ausgebrochen. An diesem Punkt ist die Schädigung des Gehirns irreversibel, und wir können im Grunde nichts mehr für sie tun. Ich glaube, wenn die Infektion erst ungefähr eine Stunde zurückliegt, könnte sie sich mit einem Mix aus verschiedenen Wirkstoffen gegen Parasiten noch heilen lassen. Aber bis jetzt haben wir die richtige Mischung noch nicht gefunden.«
»Es breitet sich immer noch aus, nicht?«
»Ich bin vorsichtig optimistisch, dass wir die Situation in den Griff bekommen«, antwortete Sarie. »Wir wissen aber noch nicht genau, wie der Parasit auf verschiedene Tiere wirkt, deshalb führen wir immer noch Tests durch. Die gute Nachricht ist, dass es in dieser trockenen Gegend nicht viele Wildtiere gibt, und das Vieh lässt sich relativ leicht kontrollieren. Ich glaube, wir werden es schaffen.«
»Und wenn du dich irrst?«
Sie legte dem Iraner die Hand auf die Schulter. »Vielleicht solltest du auch mal das Positive sehen. Wenn wir Pech gehabt hätten, dann wärst du jetzt vielleicht ein Häufchen Asche.«
Alles nahm seinen Anfang, als ich ein Jahr alt war.
Mein Vater verkündete aus heiterem Himmel, dass er gekündigt hätte und jetzt beim FBI wäre – meine Mutter hatte bis dato nicht einmal gewusst, dass er sich überhaupt für so etwas interessierte. Wir fuhren also zu den Eltern meiner Mutter, während er in Quantico ausgebildet wurde. Dann ging es nach Salt Lake City, die erste von vielen Städten, in denen wir über die Jahre wohnten.
Wie sich herausstellte, war die Entscheidung meines Vaters nicht so spontan, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Er war in einer Kleinstadt inmitten der Baumwollfelder im Südosten Missouris aufgewachsen. Ich war bereits ein Teenager, als wir einmal seine Familie besuchten und mir meine Großmutter erzählte, wie er zum ersten Mal dem FBI begegnet war. Im Jahr 1953 wurde in der Gegend eine Bank ausgeraubt, woraufhin ein FBI-Agent den Inhaber des örtlichen Gemischtwarenladens verhörte. Mein damals erst zwölf Jahre alter Vater war gerade beim Einkaufen und versteckte sich hinter einem Regal, um zu lauschen. Als er nach Hause kam, erzählte er seiner Mutter begeistert davon, wie »gut der Mann angezogen war und wie vornehm er gesprochen hat«. Und dass er eines Tages auch ein Agent sein würde. Sie hat nur gelächelt.
Es ist hochinteressant, in einer FBI-Familie aufzuwachsen, aber auch sehr anstrengend. Zum Beispiel muss man dauernd umziehen, wodurch man als Kind irgendwie immer ein Außenseiter bleibt. Und dann die ständige Geheimniskrämerei – wahrscheinlich war es sehr förderlich für meine Karriere als Romanschriftsteller, dass ich die zweideutigen Unterhaltungen, die um mich herum geführt wurden, mit Details aus meiner Fantasie ausschmückte. Diese »Mehr hat dich nicht zu interessieren«-Haltung kann seltsame Blüten treiben. Wenn mein Vater und ich beispielsweise eine Leiter irgendwo hintragen wollten, dann rief er: »Links! Rechts! Himmel, doch nicht so weit rechts!« Jetzt ist er pensioniert, und ich hoffe, ihn irgendwann dazu zu bringen, dass er mir einfach von Anfang an verrät, wo er die Leiter hinhaben will. Aber so weit wird es wohl nie kommen.
Doch letzten Endes überwiegen die positiven Seiten. Wie viele Kinder können schon von sich behaupten, mit einem Mann zu Abend gegessen zu haben, den man von Gesetzes wegen nicht fotografieren darf? Oder mit dem SAS ein Bier getrunken oder mit dem Chef der nordirischen Polizei über Politik diskutiert zu haben? Einmal kam ich von meinem Ferienjob nach Hause, und meine Mutter eröffnete mir, dass ein Versicherungsvertreter zum Abendessen vorbeikommen würde. Er wollte für seinen dritten Roman Erkundigungen über das FBI einholen – zum Dank schenkte er uns eine Ausgabe seines Erstlings. Er war in einem kleinen Verlag erschienen und trug den Titel Jagd auf Roter Oktober.
Oder das feierliche Dinner anlässlich meines Collegeabschlusses. Es fand im Dezember 1988 in London statt, wo mein Vater gerade als Attaché für Rechtsfragen in der amerikanischen Botschaft tätig war. Als die Hors d’œuvres serviert wurden, platzte ein Botschaftsangestellter herein und erzählte uns, dass gerade eine PanAm-Maschine über dem kleinen Städtchen Lockerbie abgestürzt war. Danach bekam ich meinen Vater mehrere Monate lang nicht zu Gesicht.
Aus diesen Erlebnissen rührt wohl auch meine große Begeisterung für die Thrillerliteratur. Das erste spannende Buch, an das ich mich erinnern kann, war Shogun. Das weiß ich noch ganz genau – ich sollte in der siebten Klasse einen Aufsatz darüber schreiben und war schockiert, als ich erfuhr, dass es noch einen zweiten Teil gibt. Aber ich war nicht nur Fan, ich war auch Kritiker. Diejenigen Autoren, die sachliche Fehler machten oder ihre Agenten und Spione nicht mit der nötigen Glaubwürdigkeit ausstatteten, trieben mich in den Wahnsinn. Also konzentrierte ich mich auf die Großmeister des Genres – Schriftsteller wie Jack Higgins, John le Carré und Robert Ludlum.
Daher ist es auch eine große Ehre für mich, dass mein elfter Roman Teil der Covert-One-Serie ist. Ich hoffe, Sie hatten beim Lesen ebenso viel Spaß wie ich beim Schreiben.
Kyle Mills,
12. Mai 2011
ÜBER NORDUGANDA
12. November, 02:03 Uhr GMT+3
Die Umgebung schien sich in der dröhnenden Dunkelheit aufzulösen. Craig Rivera fragte sich, ob Astronauten auch eine so umfassende Leere erlebten, ob sie so wie er jetzt das Gefühl hatten, nicht weit davon entfernt zu sein, Gott zu sehen.
Er blickte auf das schwache grüne Leuchten des Zifferblatts an seinem Handgelenk. Die Buchstaben waren kyrillisch, aber die Ziffern, die seine Höhe und die Koordinaten anzeigten, waren so, wie er es von seiner Trainingsausrüstung gewohnt war.
Rivera neigte sich leicht in Richtung Norden, während er in freiem Fall die Fünfzehntausend-Fuß-Marke passierte. Ein Hauch feuchter Wärme begann die Haut rund um seine Sauerstoffmaske auftauen zu lassen, und unter ihm wurde die Dunkelheit von vereinzelten schwachen Lichtpunkten durchbrochen.
Lagerfeuer.
Als die GPS-Anzeige bestätigte, dass er sich genau über der Landezone befand, drehte er sich einen Moment lang auf den Rücken und blickte zum Sternenhimmel hinauf, doch die Umrisse des Flugzeugs, aus dem er abgesprungen war, waren nicht mehr auszumachen.
Sie waren allein. Das wenigstens hatte man ihm ganz klar gesagt.
Er wusste nur wenig über das Land, in das er mit 200 km/h hinabstürzte, und noch weniger über den Mann, den sie finden sollten. Caleb Bahame war ein Terrorist und ein grausamer Mörder, über den sich die Leute so furchtbare Geschichten erzählten, dass man nur schwer sagen konnte, ob die Informationen über ihn der Wahrheit entsprachen oder reine Schauermärchen waren. Einige der Geschichten waren jedoch zweifellos wahr. Dass er seinen Männern befahl, kleinen Kindern die Glieder mit heißen Macheten abzuhacken, war durch Fotos belegt. Genauso wie das qualvolle Sterben der Kinder an ihren verbrannten Wunden.
Bilder wie diese ließen Rivera an der Vollkommenheit Gottes zweifeln. Hielt er wohl seine schützende Hand über diese Mission gegen Bahame?
Nicht dass solche philosophischen Fragen irgendeinen Einfluss gehabt hätten auf das, was sich Rivera vorgenommen hatte. Er würde herausfinden, ob dieser Bahame bei all seiner zerstörerischen Energie auch imstande war, Kugeln aufzuhalten, die auf ihn abgefeuert wurden. Für diesen Test würde er mehrere Magazine verfeuern.
Er sah erneut auf den Höhenmesser und drehte sich auf den Bauch. Durch seine Sprungbrille blickte er auf das Blätterdach des Dschungels hinunter. Einige Sekunden später wurde das Leuchten der Ziffern rot; er öffnete den Fallschirm und stürzte auf eine Lichtung zu, die er noch nicht sehen konnte, von der die Geheimdienstleute jedoch geschworen hatten, dass sie da war.
Er war nur noch etwas mehr als hundert Fuß über der Erde, als er seine Landezone erblickte und darauf zusteuerte. In dem Sekundenbruchteil, als er festen Boden unter den Füßen spürte, rollte er sich mit einer fließenden Bewegung ab, die er immer wieder trainiert hatte. Er schnappte seinen Fallschirm und lief zwischen die schützenden Bäume, dann warf er seine Ausrüstung auf den Boden und holte Nachtsichtbrille und Gewehr heraus.
Das etwas abgenutzte AK-47 fühlte sich ein wenig fremd in seinen Händen an, als er es von links nach rechts schwenkte und lauschte, wie seine Leute in Abständen von dreißig Sekunden landeten. Als der Vierte unten war, aktivierte er sein Kehlkopfmikrofon.
»Alles okay bei euch?«
Bei solchen Sprüngen blieb immer ein gewisses Restrisiko, deshalb spürte er, wie sich seine Anspannung ein wenig löste, als sich alle unverletzt meldeten.
Rivera schlich lautlos durch den Dschungel, das Dröhnen des Windes war dem Summen der Insekten und dem Kreischen der tropischen Vögel gewichen. Sie hatten diese Gegend ausgewählt, weil das unwegsame Gelände eine Besiedelung unmöglich machte. Vielleicht würden sie ihre Wahl verfluchen, dachte er, wenn sie erst einmal dreißig Kilometer marschiert waren, aber im Moment zählte vor allem die Tatsache, dass niemand sie mit glühenden Macheten verfolgte.
Seine Leute reihten sich in exakt bemessenen Abständen hintereinander ein, dann ging es los in Richtung Norden. Rivera marschierte hinter einem kleinen drahtigen Mann, der einen schwarzen Pullover mit abgeschnittenen Ärmeln trug, aus dem die grün bemalten Arme herausragten. Er schwenkte sein israelisches Maschinengewehr ständig hin und her, während er über das Gelände glitt, auf dem ein gewöhnlicher Mann hilflos von einem Baum zum nächsten gestolpert wäre. Doch er war kein gewöhnlicher Mann. Das war keiner von ihnen.
Ihre Ausrüstung und Kleidung war ein Mosaik von Bestandteilen aus aller Welt. Keiner von ihnen hatte Tätowierungen oder andere Kennzeichen, an denen sie sich identifizieren ließen – ja sogar ihre Zahnfüllungen waren so verändert worden, dass man ihre Herkunft nicht mehr bestimmen konnte. Sollten sie in Gefangenschaft geraten oder getötet werden, so würde ihnen kein Ruhm zuteilwerden. Niemand würde heroische Geschichten über sie verbreiten, die den Angehörigen ein wenig Trost gespendet hätten. Alles, was an sie erinnern würde, war ein kleiner Grabstein auf einem leeren Grab.
»Wir nähern uns dem Treffpunkt.« Die Stimme des Mannes an der Spitze klang leicht verzerrt in Riveras Ohr. »Etwa zehn Meter.«
Die geordnete Reihe löste sich im Dschungel auf, und die Männer verteilten sich um ein kleines Stück Land, das erst vor Kurzem durch einen Blitzeinschlag verbrannt war. Rivera spähte zwischen den Blättern hindurch auf die verkohlten Bäume und erkannte schließlich den groß gewachsenen Ugander, der allein in der Asche stand. Er rührte sich nicht – nur sein Kopf zuckte bei jedem Geräusch, so als wäre da immer noch ein Rest von Elektrizität, die in kleinen Stromstößen aus der verbrannten Erde kam.
»Jetzt«, sprach Rivera in sein Mikrofon.
Er hatte es hundertmal im Training miterlebt, aber es machte ihn immer wieder stolz zu sehen, wie seine Männer aus dem Dschungel auftauchten. Auf neutralem Boden konnten sie es mit jedem Gegner aufnehmen, selbst mit dem britischen SAS, der israelischen Schajetet 13 oder der Armee des Teufels, wenn es sein musste.
Der Mann auf der Lichtung stieß einen überraschten Laut aus, dann riss er den Arm hoch, um sein Gesicht zu bedecken. »Nehmt eure Nachtsichtbrillen ab!« Er sprach Englisch mit starkem Akzent. »So war es ausgemacht.«
»Warum?«, erwiderte Rivera, nahm aber seine Brille ab und bedeutete seinen Männern, es ebenso zu machen. Es war eine etwas seltsame Bedingung, aber sie hatten es tatsächlich so vereinbart.
»Ihr dürft mein Gesicht nicht sehen«, antwortete der Mann. »Bahame kann durch deine Augen sehen. Er kann Gedanken lesen.«
»Dann kennen Sie ihn also?«, fragte Rivera.
Der Ugander war nur noch als schattenhafte Gestalt zu erkennen, doch man sah deutlich, wie er die Schultern hängen ließ, als er antwortete. »Er hat mich als Kind von zu Hause weggeholt. Ich habe viele Jahre in seiner Armee gekämpft. Ich habe Dinge getan, die man gar nicht aussprechen kann.«
»Aber Sie sind entkommen.«
»Ja. Ich habe eine Familie verfolgt, die in den Dschungel flüchtete, als wir ihr Dorf angriffen. Ich habe ihnen aber nichts getan, sondern bin einfach nur gelaufen. Tagelang.«
»Sie haben unseren Leuten gesagt, Sie wüssten, wo man ihn findet.«
Er antwortete nicht, deshalb holte Rivera einen Beutel voll Euroscheine aus seinem Rucksack und hielt ihn dem Mann hin. Der Ugander nahm das Geld, sagte aber immer noch nichts. Er starrte auf den Nylonbeutel in seinen Händen hinunter.
»Ich habe sechs Kinder. Eines – mein Sohn – ist sehr krank.«
»Mit dem Geld können Sie ihm helfen.«
»Ja.«
Er hielt ihm ein Blatt Papier hin, und Rivera nahm es entgegen. Er hielt die Nachtsichtbrille vor die Augen, um die handgezeichnete Karte zu begutachten. Es war beeindruckend, wie detailliert sie war; die Karte schien mehr oder weniger den Satellitenfotos von dem Gebiet zu entsprechen.
»Ich habe meinen Teil getan«, sagte der Ugander.
Rivera nickte und wandte sich zum Gehen, doch der Mann hielt ihn an der Schulter zurück.
»Lauft weg«, riet er. »Sagt dem Mann, der euch hergeschickt hat, dass ihr ihn nicht finden könnt.«
»Warum sollten wir das tun?«
»Er führt eine Armee von Dämonen an. Nichts kann ihnen Angst machen. Man kann sie auch nicht töten. Manche sagen sogar, dass sie fliegen können.«
Rivera schüttelte die Hand des Mannes ab und verschwand im dichten Dschungel.
Die Armee des Teufels.
VOR DER OSTKÜSTE AFRIKAS
12. November, 04:12 Uhr GMT+3
»Sie müssen verstehen, Admiral, es ist gerade die zerstörerische Herrschaft von Idi Amin, die Uganda heute zu so einem leuchtenden Vorbild macht. Wir haben enorme Anstrengungen unternommen – wirtschaftlich, politisch, in der Krankheitsbekämpfung. Aber die Welt will es nicht anerkennen. Sie will nicht einsehen, wie weit mein Land schon gekommen ist. Deshalb sind die Investoren sehr zurückhaltend, und Probleme tauchen wieder auf, die wir schon fast überwunden hatten.«
Der Zigarrenrauch stieg aus Charles Sembutus Mund auf – er rauchte ein Exemplar aus Admiral Jamison Kayes privatem Vorrat von Arturo-Fuente-Zigarren, während er seinen Vortrag über die moralische Verpflichtung der Welt gegenüber dem Land, das er regierte, hielt.
Kaye hörte mit ausdrucksloser Miene zu und ließ sich seine generelle Abneigung gegen Politiker nicht anmerken. Er war selbst in ärmlichen Verhältnissen auf einer Farm in Kentucky aufgewachsen, und seine Familie hatte auch in den schlimmsten Zeiten nie irgendeine Unterstützung erwartet. Sein Vater sagte immer, dass einen niemand wieder auf die Beine bringen könne. Entweder man stand allein wieder auf oder man blieb am Boden.
»Sie werden also verstehen, Admiral, warum es so wichtig ist, was wir hier tun. Und wie ernst die Lage ist.«
»Ja, Sir, Mr. President.«
Seine Frau ermahnte ihn oft, nicht so streng über Politiker zu urteilen, und sie hatte meistens recht. Aber nicht diesmal. Sembutu hatte die Macht in Uganda durch einen blutigen Umsturz an sich gerissen, bei dem nicht nur der frühere Präsident und seine Familie ermordet worden waren, sondern auch Tausende seiner Anhänger.
Es klopfte leise an der Tür, und der Admiral war froh, seinen Captain hereinkommen zu sehen.
»Gentlemen, wir haben die Livebilder auf den Monitoren. Wenn Sie mir bitte folgen.«
Die Kommandozentrale für diese Operation war in den Tiefen des Flugzeugträgers untergebracht – in einem engen Raum, der dazu da war, Ereignisse zu überwachen, über die keine Zeitung je berichten würde.
Die beiden Frauen, die die komplexen elektronischen Geräte bedienten, sprangen auf, als der Admiral und sein Gast eintraten, doch eine abwinkende Handbewegung ließ sie sogleich wieder an ihre Plätze zurückkehren.
»Das sind Bilder von Ihren Soldaten?« Sembutu zeigte auf die fünf Monitore. Grünlich leuchtend zog der Dschungel langsam auf dem Bildschirm vorbei.
»Jeder der Männer trägt eine Kamera an seiner Uniform, von der die Bilder via Satellit zu uns kommen«, erklärte Kaye.
Sembutu trat vor und las die Namen der Männer unter dem jeweiligen Monitor, während Kaye auf einem sicheren Telefon eine Nummer wählte.
Er hatte ein ziemlich ungutes Gefühl im Bauch, als es klingelte. Seiner Ansicht nach war Krieg so etwas wie der Normalzustand in Afrika – gelegentliche Perioden des Friedens waren eher die Ausnahme. Seine Jungs in eine Situation zu schicken, die sie nur teilweise kannten und die seiner Meinung nach Amerika auch gar nichts anging, erinnerte ihn verdammt stark an Somalia. Doch er hatte keine Wahl. Das war keine verrückte Operation, die sich irgendjemand in einem vergessenen Winkel des Pentagons ausgedacht hatte.
Das Telefon klickte, und die unverkennbare Stimme von Sam Adams Castilla war zu hören.
»Ja, Admiral?«
»Sie sind gelandet und unterwegs zu ihrem Ziel.«
»Sind alle sicher gelandet?«
»Ja, Mr. President. Bis jetzt läuft alles nach Plan.«
NORDUGANDA
12. November, 06:09 Uhr GMT+3
Das Licht der Morgendämmerung sickerte allmählich durch das Blätterdach und vertrieb die Dunkelheit, die sich als sehr angenehm erwiesen hatte. Lieutenant Craig Rivera schlüpfte an dem Mann vor ihm vorbei; er wollte selbst die Führung übernehmen, bis die verwirrende Dämmerung schließlich dem Tag wich.
Der Tau auf den Blättern begann bereits zu verdunsten und erfüllte die Luft mit dieser drückenden Feuchtigkeit, die einem das Atmen schwer machte. Er stieg einen steilen felsigen Abhang hinauf, an dessen Spitze er sich in Bauchlage begab. Mehr als eine Minute lang suchte er das Gewirr von Blättern und Zweigen nach einer menschlichen Gestalt ab. Nichts. Nur das endlose Schimmern feuchter Blätter.
Er wollte schon weitergehen, als ihn ein Knacken in seinem Ohrhörer erstarren ließ, gefolgt von einer Stimme. »Behaltet den Himmel im Auge.«
Rivera drückte sich an einen dicken Baumstamm und blickte nach oben, während seine Hand zu seinem Kehlkopfmikro ging. »Was gibt’s?«
»Bahame könnte jederzeit zuschlagen und Kugelblitze aus seinem Arsch abschießen.«
Das leise Kichern seiner Männer durchzog die Stille, und er ging weiter und überlegte, was er antworten sollte. »Funkdisziplin, Leute. Vergessen wir nicht, was mit den anderen passiert ist.«
Eine Einheit der Afrikanischen Union hatte vor sechs Monaten einen Hinweis auf Bahames Aufenthaltsort bekommen und die Verfolgung aufgenommen. Eine Audioaufnahme war alles, was noch von ihnen übrig war.
Rivera würde es seinen Männern nie erzählen, aber das ruhige Geplauder am Lagerfeuer, die plötzlichen Schüsse und automatisches Gewehrfeuer, die Schreie der Angreifer, die nichts Menschliches an sich hatten, gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Und schließlich der brutale Kampf Mann gegen Mann, das Stöhnen, das Röcheln der Sterbenden.
Seine Leute hatten den Vorfall als etwas abgetan, was ihnen selbst nie passieren hätte können. Diese Truppen der Afrikanischen Union – waren das nicht die Typen, die einen Stoffpudel als Maskottchen hatten? Jede Pfadfindergruppe sei schlagkräftiger, meinten sie abschätzig.
Als Teamführer hatte Rivera jedoch die Akten der toten Soldaten gesehen. Das waren keine Politessen aus dem Kongo, wie einer seiner Männer nach ein paar Bieren gescherzt hatte.
Rivera reckte eine Faust in die Höhe und duckte sich, während er sein AK-47 zwischen den Bäumen auf einen braunen Fleck richtete, der in dem grünen Meer auftauchte. Hinter sich hörte er nichts, doch er wusste, dass seine Männer bereits ausschwärmten und in Verteidigungsposition gingen.
Er kroch langsam vorwärts und konzentrierte sich darauf, gleichmäßig zu atmen und keine Blätter über sich zu bewegen. Fünf Minuten und zwanzig Meter später lichtete sich der Wald und sie hatten den Rand eines kleinen Dorfes erreicht.
Die Strohwand der Hütte vor ihm war so ziemlich das Einzige, was nicht verbrannt war – und das schloss die Dorfbewohner mit ein. Es war schwer zu sagen, wie viele verkohlte Leichen neben den Überresten eines Fußballtors aufgestapelt waren, aber vierzig waren es bestimmt. Offenbar waren sie nicht mehr weit von ihrem Ziel entfernt. Sie waren auf Bahames Territorium angekommen.
Hinter sich hörte er ein leises Stöhnen und etwas, das so klang als würde ein Körper auf die weiche Erde fallen. Er stieß einen leisen Fluch hervor und eilte zu dem Geräusch zurück, den Finger am Abzug seiner Waffe.
»Sorry, Boss. Ich hab sie auch erst im letzten Moment gesehen.«
Die Frau kauerte sich gegen einen Baum, die Hände in erstarrter Panik gehoben. Ihre Augen sprangen hin und her, als seine Männer aus dem Buschwerk auftauchten.
»Was glaubt ihr, wer sie ist?«, fragte einer von ihnen leise.
»Da vorne ist ein Dorf«, antwortete Rivera. »Oder zumindest war da eins. Bahame war hier. Sie muss ihm entwischt sein. Wahrscheinlich lebt sie schon ein paar Tage allein hier draußen.«
Sie hatte eine klaffende Wunde am Arm, die offensichtlich infiziert war, und ihr Fußknöchel war nach rechts verdreht, die Knochen drückten gegen die Haut, ohne sie jedoch ganz zu durchstoßen. Rivera versuchte ihr Alter zu schätzen, doch da waren zu viele widersprüchliche Merkmale; ihre Haut sah aus wie ein alter Reifen, sie hatte kräftige drahtige Arme und gerade weiße Zähne. Er musste sich eingestehen, dass er in Wahrheit gar nichts über sie wusste und auch nie etwas wissen würde.
»Was machen wir mit ihr?«, fragte einer seiner Männer.
»Sprechen Sie Englisch?«, fragte Rivera langsam und deutlich.
Sie begann in ihrer Muttersprache zu reden, und die Männer erschraken angesichts ihrer lauten Stimme. Rivera drückte ihr eine Hand auf den Mund und hob einen Finger an die Lippen. »Sprechen Sie ein bisschen Englisch?«, wiederholte er.
Als er die Hand wegnahm, sprach sie leiser, aber immer noch in ihrer Sprache.
»Was meinst du, Boss?«
Rivera trat einen Schritt zurück, und ein paar salzige Schweißtropfen liefen ihm über die Oberlippe und in den Mund. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Er wollte die Kommandozentrale anrufen, aber er wusste, was Admiral Kaye sagen würde – dass er nicht selbst vor Ort war. Dass er das nicht entscheiden könne.
»Sie ist keine Anhängerin von Bahame – nach dem, was er mit ihrem Dorf gemacht hat.«
»Ja«, stimmte einer seiner Männer zu. »Aber die Leute haben Angst vor ihm und wollen ihn nicht ärgern. Sie halten ihn für einen Zauberer.«
»Also, was meint ihr?«, fragte Rivera.
»Wenn wir sie laufen lassen – woher sollen wir wissen, dass sie nicht redet? Verdammt, wir können ihr ja nicht einmal sagen, dass sie nichts von uns erzählen soll.«
Er hatte recht. Was hatte ihr Kontaktmann gesagt? Dass Bahame durch die Augen der Leute sehen konnte? Legenden hatten ihre Wurzeln meistens in der Realität. Vielleicht hatten die Menschen solche Angst vor ihm, dass sogar diejenigen, die ihn hassten, ihm alles erzählten, damit er sie in Ruhe ließ.
»Wir könnten sie an den Baum fesseln und knebeln«, schlug ein anderer vor.
Was sie hier machten, war Wahnsinn. Sie standen schutzlos herum und vergeudeten wertvolle Zeit.
»Boss, das können wir nicht machen. Sie würde verdursten oder ein wildes Tier würde sie sich holen.«
Der Mann, der direkt hinter ihr stand, zog sein Messer. »Sie wird sowieso nicht überleben, ganz allein. Wir würden ihr einen Gefallen tun.«
Rivera stand wie versteinert da – viel zu lange für einen Teamführer. Unentschlossenheit zu zeigen war in seiner Position nicht unbedingt ratsam. Die logische Reaktion war immer, es so zu machen, wie man es in der Ausbildung gelernt hatte – aber die ganze Ausbildung half einem wenig, wenn man in einer solchen Situation war, wenn man ganz real vor der Frage stand, ob man das Leben einer unschuldigen Frau beenden sollte, nur weil es die Sache vielleicht vereinfacht hätte.
»Wir gehen weiter«, beschloss er und schlug einen Weg ein, der um das ausgebrannte Dorf herumführte. Er würde ohnehin schon genug zu erklären haben, im unwahrscheinlichen Fall, dass er eines Tages vor der Himmelstür stehen würde. Einen Mord an einer wehrlosen Frau wollte er nicht auch noch auf seiner Liste haben.
SÜDNAMIBIA
12. November, 13:58 Uhr GMT+3
Dr. Sarie van Keuren streckte die Hand aus und verzog das Gesicht, als sich ihre Finger um einen dornigen Zweig schlossen. Es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet, und die Erde der Uferböschung, die sie hochkletterte, konnte ihre vierundfünfzig Kilo kaum tragen.
Sie ignorierte das Blut, das ihr über die schwitzenden Hände lief, und schleppte sich weiter, bis zu dem Stativ mit der Videokamera oben auf der Hügelkuppe.
Sie blies den Staub vom Objektiv und blickte in die Büsche, auf die die Kamera gerichtet war. Trotz der grellen afrikanischen Sonne brauchte sie einige Augenblicke, um zwischen den Beeren zu finden, was sie suchte – eine Ameise aus einer Kolonie ganz in der Nähe.
Normalerweise waren die Exemplare dieser Art zierlich und schwarz glänzend. Doch dieses Individuum war durch einen winzigen Parasiten verändert worden. Sein Hinterleib war angeschwollen und leuchtete rot, die perfekte Nachahmung der Beeren, zwischen denen sich die Ameise aufhielt. Der Parasit hatte jedoch auch das Gehirn der Ameise infiziert, sodass sie gezwungen wurde, in den Busch zu klettern, ihre Kiefer um einen Stängel zu schließen und den Hinterleib in die Luft zu strecken.
Zuerst hatte sie sich dagegen gewehrt und mit allen sechs Beinen versucht, sich von dem Stängel zu lösen. Doch jetzt schienen ihre Gliedmaßen gelähmt zu sein – wahrscheinlich weil der schlaue kleine Eindringling sich durch ihre Nerven fraß.
Sie blickte in das ausgewaschene Blau des Himmels, auf der Suche nach den Vögeln, die der Parasit anzulocken versuchte. Dieser spezielle Fadenwurm konnte sich nur im Darm eines Vogels vermehren und verfügte selbst über keine Möglichkeit der Fortbewegung. Die Ameise war der perfekte Partner, wenn auch unfreiwillig.
Van Keuren setzte sich hin und schlang die Arme um die Knie, um so viel wie möglich von sich in den Schatten des riesigen Huts zu bekommen, den sie aufhatte. Vor ihr erstreckte sich trockenes Land in allen Richtungen. Das Einzige, was sie daran erinnerte, dass es da draußen eine moderne Welt gab, war ihr Land Cruiser, der am Fuße des Hügels liegen geblieben war.
Sie versuchte auszurechnen, wie viele Spezies sie im Laufe der Jahre entdeckt hatte, doch ihre Gedanken schweiften schon bald zu ihrer allerersten Entdeckung. Es war vor fünfundzwanzig Jahren gewesen. Ihr Vater war mit einem leicht verbeulten Videorekorder und einer Schachtel Kassetten nach Hause gekommen – ein unbekannter Luxus in dem namibischen Bauerndorf, in dem sie aufwuchs. Sie war damals noch nicht einmal acht Jahre alt und fasziniert von den Kinderfilmen. Stundenlang saß sie vor dem Fernseher und nahm jedes Detail in sich auf, bis sie jedes gesprochene Wort auswendig wusste.
Nach einer Weile begannen ihr die Filme jedoch langweilig zu werden und sie wühlte erneut in der Kiste und fand ein abgenutztes Exemplar von Alien. Ihr Vater hatte sie gewarnt, dass sie davon Albträume bekommen würde, doch sie sah sich den Film trotzdem an und verfolgte wie gebannt die Geschichte von dieser krakenförmigen Kreatur, die sich an das Gesicht der Menschen klammerte und sich in ihren Körpern vermehrte.
Wer hätte gedacht, dass ein Horrorfilm, der ganz unten in einer alten Schachtel versteckt war, eine Besessenheit auslösen würde, die ihr ganzes zukünftiges Leben bestimmen sollte? Gott sei Dank hatte sie keine Kassette von Rocky gefunden, denn dann würde sie jetzt wahrscheinlich in irgendeinem Boxring verprügelt werden.
Die Sonne begann allmählich wieder mit ihrem Abstieg am Firmament, doch das änderte nichts an der drückenden Hitze, die, so schätzte sie, bei fünfundvierzig Grad liegen musste. Es war Zeit, sich in den Schatten ihres Wagens zurückzuziehen.
Hinunter ging es leichter, sie schlitterte einfach auf der lockeren Erde dahin. Als sie festen Boden unter sich hatte, beträufelte sie einen Lumpen mit etwas Wasser und sah in den Außenspiegel, um sich die blonden Haare, die an den Wangen klebten, aus dem Gesicht zu streichen und Staub und Salz abzuwischen.
Ihr Hut war fast so groß wie ein Sombrero, doch er konnte nicht verhindern, dass sich ihre Haut tiefrot verfärbte und sich auf ihrer Nase beinahe zu schälen begann. Obwohl ihre Familie schon seit Generationen in Namibia lebte, war sie mit der hellen Haut geschlagen, auf die ihre Mutter so stolz gewesen war.
Resignierend griff sie in die Kühlbox mit geschmolzenem Eis und nahm die Zutaten für einen Gin Tonic heraus. Vor sechs Tagen waren zwei Männer vorbeigekommen, die in der Gegend nach Bodenschätzen suchten, und sie hatten ihr versprochen, den Toyota-Leuten in Windhoek zu sagen, dass sie hier draußen war, doch jetzt bereute sie, dass sie ihr Angebot, mitzufahren, abgelehnt hatte. Ihre Beharrlichkeit war manchmal eine wertvolle Tugend, aber oft genug brachte sie ihr auch Ärger ein.
Sarie lehnte sich gegen das heiße Metall des Wagens und rutschte ein Stück zur Seite, bis sie den etwas kühleren Hinterreifen im Rücken spürte. Sie hatte nur noch Wasser für einen Tag, doch es gab eine Quelle wenige Kilometer entfernt. Mit den Essensvorräten sah es etwas besser aus, doch das machte ihr ohnehin keine Sorgen; sie hätte hier draußen jederzeit genug Nahrung zum Überleben gefunden. Das einzige echte Problem war der Gin. Nur noch wenige Zentimeter bedeckten den Boden der Flasche, und das war einfach unerträglich.
Sie zog die Stirn in Falten und seufzte leise. Wenn die Sonne unterging, würde sie losmarschieren müssen. Sie würde ungefähr zwei Tage bis zur Straße brauchen, und dann würde sie wahrscheinlich noch einen Tag warten müssen, bis jemand vorbeikam. Was war nur mit der Notiz passiert, die sie sich gemacht hatte, dass sie sich ein Satellitentelefon zulegen musste? Wahrscheinlich lag der Zettel im Handschuhfach, zusammen mit all den anderen ungelesenen Notizen.
Sie war gerade bei ihrem dritten Drink, als sie im fernen Hitzeflimmern etwas auftauchen sah. Zuerst dachte sie, sie hätte zu viel getrunken, doch bald erkannte sie, dass es eine menschliche Gestalt war. Sie griff nach hinten, zog ihr Gewehr aus dem Wagen und spähte durch das Zielfernrohr.
Es war ein Junge von ungefähr sechzehn Jahren, dessen Haut vom Leben im Freien fast schwarz verfärbt war. Er war barfuß und nur mit Khakishorts bekleidet; über der nackten Schulter trug er einen Leinensack.
Sie schenkte sich den letzten Rest Gin ein, um das Ereignis zu feiern, und nippte zufrieden die scharfe Flüssigkeit, während er allmählich näher kam.
»Howzit!«, rief sie, als er in Hörweite war. »Wenn du eine Lichtmaschine in deinem Sack hast, dann bist du mein Held.«
Er blieb vor ihr stehen und sah sie mit einem leicht verwirrten, aber konzentrierten Blick an. Sie versuchte es mit Afrikaans, aber genauso vergeblich, und hatte schließlich mit Ndonga Erfolg, das sie von den Leuten gelernt hatte, die auf der Farm ihrer Eltern gearbeitet hatten.
»Ja«, antwortete der Junge und nickte müde. »Die Autoleute in Windhoek haben sie meinem Vater gegeben, und er hat gesagt, ich soll sie hierherbringen.«
Sie holte eine Cola und etwas zu essen aus ihrer glühend heißen Kühlbox und reichte es ihm, dann kroch sie in ihren Wagen, um Werkzeug zu holen. »Ruh dich im Schatten aus. Wenn wir Glück haben, können wir fahren, bevor es dunkel wird.«