Dinge alleine zu bewältigen, ist keine Kunst, Insidia. Es ist eine Bürde. Eine Bürde, die du dir selbst auferlegst. Denn es gibt Menschen, die dir helfen. Es gibt Menschen, die dich unterstützen. In allem, was du tust und was du sein willst. Die dir immer wieder den Mut geben, der Mensch zu sein, der du sein kannst.
Verschließe deine Augen nicht vor demjenigen, der dich und deine Seele erkennt und das Beste aus dir herausholen will. Füge dich nicht den Menschen, die nur das in dir sehen, was sie sehen wollen. Die dich nur dann annehmen, wenn du so bist, wie sie es sich vorstellen. Sei nicht die Person, die sie in dir sehen. Sei das, was du tief in dir spürst und verweigere auf dem Weg dahin nicht die Hilfe derer, die dein Herz sehen. Die es nehmen, wie es ist, und es mit ihrem Leben schützen.
Dinge alleine zu bewältigen, ist nicht immer stark – manchmal ist es einfach nur einsam. Und manchmal ist es genau diese Einsamkeit, die dich davon abhält, du zu sein. Mit allen Fehlern und Macken – mit allen Ecken und Kanten.
Sieh hinter die Fassade und lasse auch sie hinter deine Fassade sehen. Und blicke zurück auf den Kreislauf des Lebens. Auf das Neugeborene, das ohne Hilfe sterben würde, und das Alter, das so viel Zuwendung benötigt. Lasse zu, dass Menschen dich kritisieren und loben – solange sie es tun, um das Beste aus dir herauszuholen.
Lies ihr Schweigen und lasse sie auch deines lesen.
Für Mama und Papa
Meine Gedanken sind beschattet von dunklen Gestalten. Sie zupfen an mir herum, berühren mich überall. Tragen mich – lassen mich wieder auf den harten Boden fallen.
Mein Kopf pocht, als würde jemand einen lauten Bass darin spielen, um meine Nervenstränge reißen zu lassen – mich zu verwirren.
Ich ziehe meine Lippen auseinander. Ein brennender Schmerz legt sich über sie und ich schmecke staubiges Blut. Die Trockenheit hat sie zusammengeklebt und jetzt sind sie zwei schmerzende Teile eines Ganzen, das gewaltsam aufgetrennt wurde. Ich lecke mir meine Wunden und bemühe mich, wieder in der Realität anzukommen.
Als ich mühsam meine Augen öffne, entdecke ich Schläuche. Kabel – Messgeräte. Weiße Wände erstrecken sich neben mir. Manchmal bleiben sie. Manchmal ziehen sie an mir vorbei, als würde mich jemand schieben. Ich erkenne Gestalten, die vor mir stehen. Mir die Lider aufreißen und meine Vitalwerte überprüfen. Ich wünschte, einer von ihnen würde mir meine Schmerzen nehmen. Nicht etwa meine körperlichen Schmerzen. Sie sind nur aus dem Grund schrecklich, weil sie mich daran erinnern, dass ich noch am Leben bin.
»Nicht erfolgreich.«
Das ist etwas, das ich ständig höre. Aus verschiedenen Mündern – oder aus denselben. Ich kann es nicht zuordnen.
»Die Muster sind die gleichen geblieben.«
Irgendwann habe ich den Versuch aufgegeben zu verstehen, was sie da sagen. Was ich hier mache. Sie sollen es einfach hinter sich bringen und mich töten. Aber derlei Mitgefühl werden sie nicht aufbringen. Offensichtlich bin ich viel wertvoller, wenn ich halbtot ihr Versuchskaninchen mime.
Als ich mich bewege und versuche aufzustehen, sieht mich eine der vermummten Gestalten einen Moment lang stumm an. Ein Mann. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, aber ich weiß, dass er hämisch dabei zuschaut. Als würde sich ein kleines Kalb das erste Mal bemühen zu gehen – ein Hase sich aus den Fängen eines Wolfes zu befreien versuchen. Erst nach ein paar Sekunden befiehlt er, mich weiterhin ruhig zu stellen, und die Bewusstlosigkeit zieht mich in ihre traumlose Dunkelheit.
Als ich wach werde, grabe ich meine Hände in den Dreck unter mir. Mein Körper schmerzt und der kalte Steinboden treibt mir die Kälte in die Glieder.
Ich weiß, wo ich bin. Ich weiß es und verstehe es nicht. Es ist, als wäre ich nie weg gewesen. Als hätte ich die ganze Zeit in diesem dunklen Kerker gelegen. Habe ich mir das alles nur eingebildet?
Etwas an all dem hier wirkt fremd. Als wäre ich nicht wirklich hier. Als wäre mein Körper noch an einem anderen Ort. Als wäre das hier nur eine Erinnerung.
Mein Verstand ist benebelt. Dunkle Mächte greifen nach ihm. Wollen mir etwas mitteilen. Wollen, dass ich mich erinnere. Aber mein Körper wehrt sich mit Schmerzen dagegen. Als würde er selbst Gift durch meine Adern pumpen, um es zu verhindern.
Was ist real? Die Frage schleicht sich durch meinen Kopf. Berührt mein Herz mit ihren kalten Fingern. Für einen Moment fühlt auch mein Herz sich kalt an. Als würde es nicht mehr zu mir gehören. Als würde es nicht mehr schlagen. Als wäre mein Körper bereits tot.
Als ich vollends begriff, wo ich war, riss ich die Augen auf und suchte nach Kyle. Er war nicht mehr da. Der Schmerz in meiner Brust drängte sich wieder nach vorne. Es war, als wäre Kyle gerade erst gegangen. Seine Enttäuschung brannte sich in mein Bewusstsein, als würde sie immer noch den Raum erfüllen.
Ich hustete und versuchte mich aufzurichten. Plötzlich spürte ich, dass ich nicht alleine war. Es dauerte eine Weile, bis ich die dunkle Gestalt in der Ecke erkannte.
»Er ist nicht hier.« Leos Stimme schnitt eine weitere Wunde in mein Herz. Ich hatte nicht nur Kyle verletzt. Auch in Leo hatte ich etwas zerbrochen. Das konnte ich deutlich spüren und hören.
»Es gibt einige, die dich hängen sehen wollen, Insidia Jones«, murmelte er, als wäre es eine Nebensache.
»Und du?«, krächzte ich und hustete den Staub aus, der meine Stimmbänder belegte. Ich fühlte mich, als wäre ich innerlich vertrocknet.
»Spielt das überhaupt noch eine Rolle für dich? Schließlich bin ich nicht mehr der Kronprinz.« Er spuckte die Worte förmlich aus. Es war, als würde er mir mit jedem Ton zu verstehen geben, wie sehr ich ihn verletzt hatte.
»Ob du willst oder nicht: Du weißt, dass du mir etwas bedeutest, Leo!«
»So viel, wie Kyle dir bedeutet?«
Ein Schauer lief über meinen Rücken, als er seinen Namen aussprach. Was sollte ich sagen? Dass ich Kyle wollte und nicht ihn? Das war für ihn doch nichts Neues.
»Das kannst du nicht vergleichen!«, entgegnete ich mit einem patzigen Unterton. Ich atmete tief durch und versuchte mich wieder zu beruhigen und runterzukommen, schließlich erlaubte meine Lage es nicht, sauer oder zickig zu sein.
»Ach nein? Warum? Weil du ihn liebst und mir nur etwas vorgespielt hast? Oder hast du uns beiden etwas vorgespielt und wolltest dir nur sämtliche Optionen offen halten?«
Wieder hätte ich am liebsten wütend geantwortet. Aber ich zügelte mich.
»Ich habe Kyle nie etwas vorgespielt!«, murmelte ich wahrheitsgetreu. Vielleicht gab es eine Zeit, in der ich ihm nicht sagen konnte, dass ich eine Agentin war. Aber er hatte immer gewusst, dass ich ihn wollte und Leo wählen musste. Das hatte ich ihm mehr als einmal deutlich zu verstehen gegeben.
»Ach so, und mir schon?« Leos Stimme klang so verbittert, dass ich zusammenzuckte.
»Ja … Nein … Ich weiß es nicht!«, schrie ich, wobei mein »Schreien« eher einem armseligen Krächzen glich.
»Du weißt es also nicht.« Er lachte kühl.
»Ich habe etwas für dich gefühlt, Leo. Ich tue es auch jetzt noch. Aber ich weiß nicht, was es ist. Ich wusste es nie. Du warst ein Auftrag. Ich begann dich zu mögen. Aber ich habe auch Kyle gemocht. Und als ich dich kennengelernt habe, sind die Grenzen verschwommen. Ich wusste nicht mehr, was Auftrag und was echt ist.« Auch wenn es wehtat. Ihm und mir. Es war die Wahrheit.
Leo schwieg eine Weile und ich ließ mir alle Gefühle der letzten Wochen noch einmal durch den Kopf gehen. Ich war mir sicher, was ich für Kyle empfand. Bei Leo war das etwas völlig anderes. Er war ein ehrlicher und aufrichtiger Mensch. In seiner Nähe hatte ich mich stets wohlgefühlt. Aber irgendetwas hatte immer gefehlt. Fehlte auch jetzt noch. Und doch verletzte seine Wut mich. Dass er so kalt und herzlos mit mir redete, obwohl er einer der wärmsten Menschen war, die ich kannte. Aber es raubte mir nicht so sehr den Atem wie bei Kyle, als er an seiner Stelle gestanden hatte. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als ich daran dachte.
»Und ihr seid natürlich fein raus! Ihr habt nie gelogen! Ihr habt nicht versucht mir weiszumachen, du seiest der Kronprinz und er nur der abtrünnige Cousin. Kyle sagte einmal zu mir, ich sei selbstgerecht. Und ja, ich stimme ihm zu. Aber ihr beide seid nicht besser!« Jetzt war die Wut in mir doch zum Vorschein gekommen. Und sie musste raus.
Ja, ich verstand die beiden. Ich wollte mich meiner Schuld auch nicht entziehen. Dennoch hatten sie ihren Beitrag dazu geleistet. Sie hatten gewusst, wer ich war. Was für einen Auftrag ich hatte. Und waren mir mit diesem Wissen näher gekommen. Und das alles nur, damit ich mich für Kyle entschied, ohne zu realisieren, wer er wirklich war.
»Ihr habt bei all dem vergessen, wie sehr ich mich bereits gegen das PG gestellt habe. Wie sehr ich mich selbst und auch andere Menschen in Gefahr gebracht habe, weil ich liebend gern mit offenen Karten gespielt hätte. Ihr habt vergessen, dass es bei all dem nicht nur um mich und meine Gefühle und euren Stolz ging. Ihr habt keine Ahnung, wer sie sind und wozu sie fähig sein könnten!«, knurrte ich, angstachelt von meinem Zorn.
»Etwa den König Insidias zu töten?«
Ich sah Leo einen Moment lang stumm an. Dann nickte ich. Mir war klar, dass er mir die Schuld dafür gab. Aber es war mir egal. Ich hatte davon nie etwas gewusst.
Er schwieg wieder eine Weile und wandte sich dann zum Gehen.
»Eins noch …«, raunte ich.
Leo drehte sich zu mir um und beäugte mich mit einem abwertenden Blick. Aber ich wusste, dass es in ihm anders aussah.
»Seit ich denken kann, war das PG mein Zuhause. Die Leute dort haben mich großgezogen. Mich erzogen. Mich zum Kämpfen ausgebildet und mir erklärt, wie die Welt funktioniert. Sie haben mich konditioniert und mir keinen Platz für menschliche Gefühle eingeräumt. Als ich hier angekommen bin, hat mich diese Welt erschlagen. Ich habe das alles in Frage gestellt und mich deshalb verloren gefühlt. Weil ich nun einmal nichts anderes kannte!«
Meine Stimme war so hasserfüllt, dass ich sie kaum wiedererkannte. Leos Blick wurde ein wenig weicher.
»Ich bin nicht mit einem Menschen aufgewachsen, der für mich wie ein Bruder war. Ich hatte nie Eltern, die sich um mich gekümmert haben. Die mich in den Arm genommen haben, wenn ich traurig war, oder mir meine Wunden gepustet haben. Denn Traurigsein und Weinen waren mir nicht gestattet. Ich hatte niemanden, der mir behutsam gezeigt hat, wie Liebe funktioniert und wie man damit umgeht. Ich hatte nur jemanden, der mir mit zehn Jahren eine Waffe in die Hand gedrückt hat, damit ich einen Mann erschieße. Ich hatte nie das, was ihr hattet! Ich war immer alleine. Ich hatte keine Mutter, keinen Vater, keine Geschwister und keine beste Freundin! Ich hatte immer nur mich – und das PG! Und du solltest wissen, wie schwer es ist, die einzigen Menschen, die immer da waren, zu hintergehen. Auch wenn sie schlechte Menschen sind. Sie sind alles, was ich je hatte und kannte.«
Leos Augen glitzerten. Das, was ich gesagt hatte, traf ihn. Ich konnte es deutlich sehen.
Er machte einen Schritt auf mich zu und öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen.
»Es reicht!« Die Stimme zerriss mein Herz. Woher kam sie?
Die Tür wurde aufgestoßen und Kyle stürmte wütend auf Leo zu.
»Sie ist eine geschulte Lügnerin, Leonard!«, knurrte Kyle.
Ich atmete stoßartig. »Kyle …« Sein Name verließ automatisch meinen Mund.
Er warf mir einen kalten Blick zu. »Weißt du, was du bei all dem vergessen hast, kleine Verräterin?!«, fuhr er mich an.
Ich presste die Lippen aufeinander. Tränen verließen meine Augen. Ich war nicht imstande, sie aufzuhalten.
»Wir haben dir all das gegeben. All das, was du von ihnen nie bekommen hast. Und du hast es mit Füßen getreten! Du warst nie allein. Nicht in der Zeit, als du Emili, Leo und mich hattest. Doch jetzt bist du es. Und das für immer!«
Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte: An seinen Worten war etwas dran.
Meine Gedanken wanderten zu Emili. Was sie wohl von mir dachte? Sie musste mich hassen.
Immer mehr nasse Perlen verließen meine Augen. Weinen war etwas so Seltsames.
»Ich wollte euch doch nur beschützen!«, schrie ich und setzte mich ein wenig auf. »Du warst dabei, als das PG in das Schloss eingedrungen ist. Du hast gesehen, wie sie dich zugerichtet haben. Ich hatte Angst um euch. Angst, die Menschen zu verlieren, die mir etwas bedeuten!«
Kyle starrte mich entsetzt an. Bei all meiner Wut hatte ich vergessen, dass er nicht wusste, dass der Angriff im Schloss nicht von Aufständischen durchgeführt worden war.
»Das waren deine Leute?! Hast du es gewusst?«
»Das sind nicht meine Leute!«
Kyle kam auf mich zu und riss mich an meinem Oberteil zu sich hoch.
»Kyle! Du tust mir weh!«, stöhnte ich.
»Hast. Du. Es. Gewusst???«
Ich presste meine Lippen zusammen. Er roch so gut, dass ich mich nicht mehr auf die Schmerzen konzentrieren konnte. Alles, was ich wollte, war, bei ihm zu sein.
»Kyle, bitte!«
Seine Augen funkelten mich wütend an. Wütend und voller Abscheu. Ja, jetzt wusste ich, was Abscheu wirklich war.
»Ich habe einen von ihnen erkannt«, stammelte ich. »Aber ich hatte Angst, dass –«
Er ließ mich abrupt auf den Boden zurückfallen. Ich landete unsanft auf meinem Knie und schrie auf.
»Ich will deine Lügen nicht mehr hören, Insidia!«
Er ging wieder zu Leo, zog ihn mit sich zur Tür und drehte sich noch einmal um. »Meine Mutter wird über dein Schicksal entscheiden. Und vergiss nicht: Deinetwegen ist ihr Mann gestorben!«
Mit einem metallischen Geräusch schob er die Tür wieder zu und ließ mich mit all dem alleine.
Ich hörte ihre Schritte schon von Weitem. Dennoch öffnete ich meine Augen nicht, sondern hoffte nur inständig, dass sie mich einfach umbrachte. Auch wenn ich nichts mit dem Tod des Königs zu tun hatte. Ich wollte nicht mehr. Nichts ergab noch einen Sinn. Mein Leben war so oder so bereits zu Ende.
Als die Tür aufgeschoben wurde, richtete ich mich auf. Ich wollte einer Königin wenigstens ehrenvoll entgegentreten.
Als sie auf mich zukam, war ich geblendet von ihrer Schönheit. Wenigstens etwas, das mich von all dem hier ablenkte. Ich hatte sie zwar bei den Wettbewerben ein paar Mal aus der Ferne betrachtet, aber sie so nah vor mir stehen zu sehen, ihre Augen starr auf mich gerichtet, war etwas völlig anderes. Sie besaß eine solche Anmut, dass ich kaum glauben konnte, dass sie auch einmal zum PG gehört hatte.
»Das ist sie also …«, murmelte sie nachdenklich. Ich atmete schwer. Dass sie von mir in der dritten Person sprach, war kein gutes Zeichen. Es wirkte, als sei ich ein Ding.
»Du bist das Mädchen, das meinem Sohn den Kopf verdreht hat. Er ist ziemlich wütend.« Aus irgendeinem Grund wirkte ihre Stimme beruhigend auf mich. Sie klang warm und liebevoll. War das bloß Fassade?
»Ich habe nichts davon gewusst, dass sie den König töten wollten.«
»Ich weiß«, entgegnete sie gelassen, »Ich jedoch habe es gewusst.«
Ich keuchte. Wie bitte?!
»Aber am besten fange ich von vorne an«, murmelte sie nachdenklich und grinste. So als würde sie gerade in alten Zeiten schwelgen. Was war hier los?
»Als ich Ferdinand kennengelernt habe, gab es einen solchen Wettbewerb noch nicht. Damals lief alles über die Empfehlungen der Generäle und – nun ja. Du weißt ja, welchen Einfluss das PG hat.« Sie räusperte sich.
»Zuerst war er nur ein Auftrag. Ich war bereit, die Beta-Phase mit Bravour zu bestehen – und es gelang mir auch sehr gut. Bis ich mich in Ferdinand verliebte. Ich verstehe deine Gefühle für Eduard Kilian nur zu gut, meine Liebe. Er ist in vielen Belangen genauso wie sein Vater. Nach und nach bröckelte die Fassade.«
Ich zog meine Augenbrauen zusammen. Genau das hatte auch Philipp gesagt. Wenn die Fassade bröckelt. Was hatte das zu bedeuten?
»Ich verliebte mich und das PG erschien mir plötzlich falsch und ungerecht. Ich wollte Ferdinand nicht in die Richtung lenken, die ihnen vorschwebte – und eines Tages erzählte ich ihm alles. Oh, er war wütend. Das kannst du mir glauben. Nicht so wütend, wie Kilian jetzt, aber er war auch kaum zu bändigen. Dennoch fanden wir wieder einen Weg zueinander und ich schwor ihm, dass ich auf seiner Seite war und wir zusammen gegen das PG vorgehen würden. Deshalb auch das Spiel mit Leonard und Kilian.«
Sie schwieg. War sie etwa fertig? Wollte sie, dass ich etwas dazu sagte?
»Werden Sie mich nun töten?« Jetzt, da ich es ausgesprochen hatte, wusste ich, dass ich es nicht wollte. Ich wollte nicht sterben. Ich wollte ihn wiederhaben.
»O nein, nein, meine Liebe. Ich werde dich nicht töten und auch kein anderer wird das tun.«
Ich warf ihr einen irritierten Blick zu. »Also werde ich mein Leben lang in diesem Kerker hocken?«
Sie lachte leise vor sich hin. »Für wie unmenschlich hältst du mich?«
Ich zuckte mit den Schultern. Was wollte sie dann von mir?
»Er liebt dich.« Ihre Worte erschütterten mich bis ins Mark. Und trotzdem musste ich es hören.
»Leo oder Kyle?«
Nun lächelte sie warm. »Sie lieben dich beide, kleine Spionin – oder sagen wir, sie sind verliebt. Aber Kilian wird ohne dich nie wieder glücklich sein.«
Ich atmete schwer. Ihre Worte taten mehr weh, als dass sie mich hätten freuen können. Ich wollte nicht, dass Kyle unglücklich war.
»Ich werde dich aus drei Gründen nicht töten, meine Liebe.
Du hast von Ferdinands bevorstehender Ermordung nichts gewusst. Du liebst meinen Sohn wirklich und er liebt dich.
Und: Du erinnerst mich an mich selbst. Ich denke, dass das reicht, um dich zu verschonen. Allerdings kann ich nicht für Kilian sprechen. Es ist …«
Sie hielt kurz inne. So als würde sie darüber nachdenken, wie sie mir das Folgende am schonendsten beibringen könnte.
»Das Volk weiß jetzt, wer der Prinz … König ist. Und die Menschen wollen eine Königin an seiner Seite sehen. Sie wollen aber auch, dass es fair bleibt, deshalb wird es einen weiteren Wettbewerb geben. Nur für den König.«
Mein Herz blieb stehen. Vor ein paar Minuten hatte ich noch geglaubt, dass das alles nicht schlimmer werden könnte, und jetzt sollte Kyle bald schon ein anderes Mädchen als mich zur Frau erwählen? Innerlich hasste ich mich dafür, dass meine Wahl nicht auf ihn gefallen war. Warum war ich nur so dumm gewesen?
»Ich möchte, dass du dabei bist!«
Meine Augen weiteten sich. Das war unmöglich!
»Du sollst nicht daran teilnehmen. Aber ich möchte, dass du dich in Kilians Nähe aufhältst, damit er seine Gefühle für dich nicht vergisst oder verdrängt.«
Ich musterte sie argwöhnisch. Was für einen Plan heckte sie da aus? Sie hatte vorher von dem geplanten Mord an ihrem Mann gewusst, aber nichts getan, und jetzt wollte sie, dass ich – also eine PG-Agentin – mich ihrem Sohn näherte? Gehörte sie etwa doch noch dazu?
»Warum?«, fragte ich skeptisch. Ich bemühte mich nicht einmal anders zu klingen, als ich mich fühlte.
»Ich bin eine Mutter, die ihren Sohn liebt. Das kannst du mir glauben. Genauso wie du hatte ich nie eine Familie. Und jetzt habe ich sie. Ich werde nicht zulassen, dass das PG sie mir wegnimmt …« Sie machte eine kleine Pause. »Mir noch mehr meiner Familie wegnimmt«, fügte sie dann nachdenklich hinzu.
»Und Sie wollen das PG ruhigstellen, indem Sie ihn mit einer von ihnen verheiraten?«
Die Königin entgegnete nichts mehr. Das war dann wohl Antwort genug.
»Dann bringen Sie mich lieber um! Ich werde Kyle kein zweites Mal belügen und ihn für irgendwelche Zwecke benutzen!«, knurrte ich sie an. Am liebsten hätte ich sie geschlagen. Aber mal abgesehen von meiner schlechten körperlichen Verfassung, schickte es sich mit Sicherheit nicht, eine Königin zu schlagen. Und ihr Echo wäre höchstwahrscheinlich nicht ohne. Schließlich war sie selbst ausgebildete Agentin.
»Manchmal heiligt der Zweck die Mittel.«
Ich schüttelte den Kopf. »Deshalb habe ich das alles getan. Um ihn zu schützen! Und dafür hasst er mich! Und abgesehen davon wird er mich niemals wieder lieben können!«
Die Königin strich sich nachdenklich über ihre Wange. »Schön«, murmelte sie, »du wirst in die Dienste eines der Mädchen gestellt.« Sie stand auf und wollte gehen. Ich hielt sie fest. So schnell ich konnte, zog ich meinen Arm zurück. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
Sie warf mir einen fragenden Blick zu.
»Was soll das heißen, in ihre Dienste?«, flüsterte ich ängstlich.
»Du bist ihre Hofdame«, erklärte sie ruhig und ging davon.
Ich wollte mir nicht einmal vorstellen, wie sehr Kyles Zorn jetzt steigen würde.
Die Tür wurde nicht geschlossen. Nachdem die Königin hinausgegangen war, kam ein Mann herein und schmiss Kleidung vor mich auf den Boden. »Anziehen!« Dann trat er wieder rasch vor die Tür.
Ich betrachtete das schwarzweiße Gewand. Ich hatte es bereits bei den Bediensteten gesehen.
Als ich daran zurückdachte, kam mir ein ganz anderer Gedanke. Kyle würde mit Sicherheit in dem kleinen Anwesen wohnen und nicht im Schloss. Also würde ich ihm vielleicht nicht über den Weg laufen müssen. Außer, die Mädchen würden bei ihm leben. Eine Woge der Erleichterung durchfuhr mich, gemischt mit Enttäuschung. Ich musste ihn daran hindern, sich in jemand anderes zu verlieben!
Sogleich schüttelte ich den Kopf. Nein, das durfte ich nicht! Ich durfte jetzt nicht mehr egoistisch sein. Er sollte glücklich werden. Nicht ich.
Ich zog meine schmutzigen Klamotten aus und mir die Angestellten-Kleidung über, bevor ich dem Wachmann Bescheid gab.
Unsanft begleitete er mich nach draußen.
Als ich die Gänge vor mir erblickte, blieb ich irritiert stehen. War ich zwischendurch in einen anderen Kerker gebracht worden? Ich war mir sicher, dass das hier das Schloss und nicht das Kolosseum war.
Jäh wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, da die Wache mir in den Rücken stieß. Ich setzte mich in Bewegung.
Spätestens, als wir die Treppe erklommen hatten, wusste ich genau, dass wir uns im Schloss befanden.
Wir schritten durch die Gänge und Türen, hinaus in den Garten, auf – das Anwesen zu. Wieder blieb ich stehen.
»Du hast echt Lust zu sterben, Mädchen!«, knurrte der Wachmann und schlug mir mit einem metallenen Stab in mein Kreuz. Ich krümmte mich vor Schmerzen und sank zu Boden. Ging man hier etwa so mit Hofdamen um oder galt diese spezielle Behandlung nur mir?
»Ich könnte Sie mit einem Schlag töten!«, fauchte ich, während ich auf dem kalten Rasen saß. Ohne darüber nachzudenken, trat ich ihm mit voller Wucht in die Kniekehlen und holte ihn so von seinen Beinen.
Wütend fuchtelte er noch auf dem Boden liegend herum und versuchte meine Haare zu greifen, doch ich war schneller. Ich richtete mich auf und trat ihn zwei Mal in die Hüfte. Er stöhnte.
Erst jetzt bemerkte ich, dass der Wachmann nicht viel älter sein konnte als ich.
»Ich finde den Weg alleine, du Mistkerl!«, sagte ich siegessicher und schritt davon.
Obwohl ich wusste, dass es nicht lange dauern würde, schmerzte es, als er mich von hinten zu Boden riss und mir seine Faust ins Gesicht rammte.
»Was ist denn bitte mit dir los?!«, schrie ich. »Ich bin ein Mädchen!«
Er lachte laut auf. »Du bist kein Mädchen! Du bist eine Agentin. Und ich habe keinen Bock mehr auf dein Gezicke. Also. Komm. Jetzt. Mit! Ohne Murren!«
Ich atmete wütend durch, entschied mich dann aber mitzugehen und währenddessen meine blutige Nase zu befühlen. Der Typ hatte sie doch nicht mehr alle! Mein Auge pochte und ich konnte förmlich spüren, wie es immer dicker wurde.
Super! Jetzt war ich nicht mehr nur die miese Verräterin, sondern auch noch die hässliche, entstellte miese Verräterin. Es konnte wirklich nicht mehr schlimmer werden.
Als wir beim kleinen Schloss ankamen, zog sich alles in mir zusammen. Am liebsten hätte ich die dämliche Wache erneut außer Gefecht gesetzt und wäre abgehauen – was natürlich wenig dienlich gewesen wäre. Früher oder später würde mich jemand aufhalten.
Als wir eintraten, vernahm ich lautes Geschrei. Ich kannte die Stimme. Mein Herz verbrannte mich von innen. So als wollte es mich bestrafen. Ich verzog den Mund. Schlimmer konnte es also immer werden.
»Nein! NEIN! Das kannst du mir nicht antun!«
»Ich tue dir gar nichts an, Kilian!« Die Stimme der Königin klang immer noch genauso ruhig wie gerade in meinem Kerker. Irgendwie sehnte ich mich dahin zurück.
»Ich will sie hier nicht haben!«
»Ich will sie aber hier haben! Und du hältst dich jetzt zurück. Ich bin deine Mutter und du tust, was ich sage!«
Stille. Es war verwunderlich, dass eine Mutter selbst auf einen König einen dermaßen großen Einfluss besaß.
Die Tür mir gegenüber wurde aufgeschlagen und Kyle stapfte wütend den Gang entlang auf uns zu. Bis er vor mir zum Halten kam. Schnell senkte ich den Kopf.
»Wenn du es wagst, in meiner Gegenwart auch nur irgendeinen Ton von dir zu geben, dann lasse ich dich wieder einsperren!«
Ich antwortete nichts. Bemühte mich nur die Tränen zurückzuhalten, die wie aus dem Nichts wieder in meinen Augen brannten.
»Hast du mich verstanden?« Unsanft fasste er mich am Kinn und zog mein Gesicht hoch, sodass ich ihn ansehen musste.
»O mein Gott! Was ist passiert?«, fragte er geschockt und berührte mein Auge. Der Wachmann hinter mir änderte nervös seine Haltung.
»Warst du das?«, knurrte Kyle ihn an.
War das etwa Fürsorge? Bedeutete ich ihm doch noch etwas?
»Sie wollte fliehen, Eure Majestät!«, rechtfertigte sich der Wachmann.
Kyle wandte seinen Blick wieder mir zu. Ein schelmisches Lächeln huschte über seine Lippen. »Immer noch die gleiche kleine Rebellin, hm?«, flüsterte er.
Ich starrte ihn mit großen Augen an. Na ja. Eines von ihnen war wahrscheinlich nicht ganz so groß, aber mein Erstaunen konnte ich kaum zurückhalten.
Als Kyle klar wurde, was er da gerade machte, ließ er mich abrupt los. Ich konnte die Königin hinter ihm lächeln sehen.
»Wie gesagt: kein Wort! Und am besten gehst du mir, soweit es dir möglich ist, aus dem Weg!«, knurrte er wieder kühl und ging davon.
Zurück blieb ich, die nicht mehr wusste, wohin mit all diesen widerstreitenden Gefühlen. Am liebsten hätte ich geweint. Aber ich musste stark bleiben.
Nur, wie sollte ich das schaffen? Als Hofdame eines dieser Mädchen? Niemals würde mir das gelingen!
Zum Glück erlaubten sie mir erst einmal zu duschen, bevor ich was auch immer tun sollte. Wahrscheinlich hatten sie bei Tageslicht dann endlich realisiert, dass ich viel zu schmutzig und blutig war, als dass ich hier unbemerkt hätte herumspazieren können.
Immer noch war ich nicht in der Lage, meinen eigenen nackten Körper anzusehen. Schon im Kerker, als ich meine Klamotten wechseln sollte, hatte ich es nicht über mich gebracht. Vielleicht hatte ich keine Angst vor den Blessuren, die mir die leichten Schmerzen im Bauch verursachten, sondern vielmehr vor mir selbst. Vor dem, was ich war und was aus mir geworden war. Nichts Halbes und nichts Ganzes. Ich war weder eine Agentin, ich hatte mich die letzten Wochen nicht einmal ansatzweise so verhalten, noch war ich wirklich einfach nur Insidia aus Sves. Und mein nackter Körper würde mir nur allzu deutlich vor Augen führen, dass kaum noch etwas von dem Menschen übrig war, der ich gewesen war und der ich sein wollte.
Nachdem ich fertig war, setzte ich mich noch einen Moment lang auf das knarrende Bett in meinem neuen Zimmer. Der Raum war sehr klein und nur spartanisch eingerichtet. Ich kannte es vom PG zwar nicht anders, aber ich wünschte mir mein Zimmer bei Emili zurück.
Emili. Sobald ich an sie dachte, verkrampfte sich mein Magen. Wenn ich wenigstens wüsste, ob sie mich ebenfalls hasste. Schließlich hatte ich auch sie angelogen. Aber das war doch alles nur zu ihrem Schutz gewesen. Vielleicht hatte ich am Anfang noch an meinen »Auftrag« geglaubt. Aber danach hätte ich alles dafür gegeben, es ihr sagen zu können.
Wahrscheinlich hatte ich sie, wie die anderen, auch verloren. Ich stand also wieder an demselben Punkt wie zu Beginn meiner Reise hierher. Aber warum fühlte sich das nun so anders an? Weil ich jetzt wusste, wie es war, etwas zu haben? War ich nicht eigentlich darauf trainiert, so etwas wegzustecken? Einfach weiterzumachen?
Aber diese blöden Gefühle standen dem im Wege. Ich war nicht in der Lage, sie abzuschalten, und allmählich verstand ich, warum das PG uns von ihnen ferngehalten hatte. Sie überschatteten jegliche Vernunft, alles, was ich je gelernt hatte. Und sie schmerzten. Sie schmerzten mehr als jeder Schlag, jede Kampfeinheit und jede Nacht, in der das PG uns mit Psycho-Spielchen wachgehalten hatte.
Dieser Schmerz, den ich jetzt spürte, war mit nichts vergleichbar. Wie also konnte Kyle so kalt sein? Wie hatte er es geschafft, seine Gefühle für mich einfach so auszuschalten?
Oder hatte er das gar nicht? Waren sie noch da? Hinter einer Mauer aus Enttäuschung und Wut, die er aufgebaut hatte?
Ein Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Irritiert schüttelte ich den Kopf. »Ja?«
»Sie sollen sich zur Begrüßung einfinden, Miss …« Der Wachmann in meiner Tür unterbrach sich selbst. Er wusste offensichtlich nicht, ob er mich weiterhin Miss nennen sollte. Und ja – wahrscheinlich war das die falsche Anrede für ein Dienstmädchen.
Ich atmete tief durch, stand auf, strich das schwarze Kleid und die weiße Schürze glatt und ging ihm hinterher. Ich war mir sicher: Mit diesem Tag würde mein Leben enden. Auch wenn ich nicht getötet wurde.
Wir liefen an einigen Räumen vorbei. Die Tür zur Blauen Lagune stand offen und mein Herz versetzte mir einen Stich. Es kam mir so vor, als wären Jahre vergangen, seit ich hier das letzte Mal auf die Aufgabe gewartet hatte und dieses ekelhafte PG das Schloss eingenommen hatte. Irgendwann würden diese Leute dafür büßen. Das schwor ich mir. Jetzt, wo mein Leben nicht endete, war das alles, woran ich mich festhielt.
Wir traten in die große Empfangshalle und ich erkannte Kyle, der neben seiner Mutter und Leo stand und auf die Tür starrte.
Gleich würden hier jede Menge junger Damen hereinspazieren, wahrscheinlich eine schöner als die andere, und nicht so dumm sein wie ich – sie würden alles dafür tun, Kyle für sich zu gewinnen. Galle kroch mir die Kehle hinauf. Das brennende bittere Zeug vernebelte meine Sinne.
Ich stellte mich zu den anderen Hofdamen, die links neben Kyle in einer Reihe standen. Das alles kam mir plötzlich vor wie ein schlechter Scherz.
Die Königin warf mir einen unauffälligen Blick zu und lächelte. Ich wollte mich an ihren Intrigen jedoch nicht beteiligen und hoffte, dass sie das verstanden hatte.
Obwohl sie warm und liebevoll wirkte, war da etwas an ihr, das ich nicht einschätzen konnte. Etwas Falsches. Etwas Undefinierbares. Ich wusste nur, dass ich mich von dieser Frau fernhalten musste. Komme, was wolle.
Als ich Kyle ansah, trafen sich unsere Blicke. Es versetzte mir einen solchen Schlag, als hätte ich in ein offenes Kabel gegriffen. Seine Augen musterten mich, bevor er ohne eine Regung wieder zur Tür starrte.
Ich dachte an unser Spiel im Zug – sein Spiel. Und wünschte mir, ich könnte zu diesem Augenblick zurückkehren. Aber das war nicht möglich. Was geschehen war, war geschehen, und ich musste für immer damit leben.
Als zwei Wachen die Türen aufmachten, hätte ich mich beinahe übergeben. Ich musste mich sehr darauf konzentrieren, die Übelkeit, die mich überkam, wegzudrücken. Als hätte ich Säure getrunken, die sich nun langsam und genüsslich durch meinen Körper fraß.
Am liebsten wäre ich vor die Tür gesprungen. Hätte sie gewaltsam wieder verschlossen und Kyle gebeten, mich zu wählen. Aber die Vorstellung davon war mit Sicherheit um einiges heldenhafter und romantischer, als sie im Nachhinein gewirkt hätte. Eine um sich schlagende Irre, die von den Wachen davongetragen wurde. Vor den Augen aller. Nein, das war keineswegs romantisch. Mit dem echten Leben war es so, wie Emili immer gesagt hatte: Das, was in Filmen total mutig und romantisch war, wirkte in der Realität irre und verzweifelt. Also ließ ich es und blieb stumm neben den anderen Dienstmädchen stehen.
Die Mädchen trudelten nach und nach ein und stellten sich Kyle vor. Ich bekam es kaum mit. Eigentlich hatte ich mir geschworen, jede einzelne von ihnen genauestens unter die Lupe zu nehmen, aber der Schmerz betäubte mich und ich fühlte rein gar nichts mehr. Alles war wie in einem düsteren Traum. Kyle, verfolgt von hundert Blondinen. Ein echter Horrortrip!
Ich warf Leo während des Schauspiels einen verstohlenen Blick zu. Er wirkte nicht gerade begeistert von all dem hier. Ganz plötzlich war er nicht mehr der Prinz und auch nicht mehr der Mittelpunkt hysterischer junger Mädchen.
Ich wandte meinen Blick wieder zur Tür, als die Königin mich auffordernd ansah. Da bemerkte ich – sie. Emili. Sie war es wirklich. Bevor ich es verhindern konnte, verließ ein hoher Schrei meinen Mund, und alle Augen waren ganz plötzlich auf mich gerichtet.
Emili lächelte mich an. Mein Herz drohte mir aus der Brust zu hüpfen. Ich blickte zu Kyle. Auf seinen Lippen erkannte ich ebenfalls ein Lächeln. Und es war echt. Es war nicht hämisch oder selbstgerecht. Es war ehrlich und warm. Er wollte Emili nicht. Sie war meinetwegen hier.
Ich spürte förmlich, wie sich ein kleiner Funke Hoffnung zurück in mein Herz schlich und ein warmes Gefühl hinterließ.
Ich betete, dass ich ganz bald die Möglichkeit bekommen würde, mit Emili zu sprechen. Allein.
Nachdem alle Mädchen in der nun überfüllten Eingangshalle standen, sollten die Dienstmädchen sie auf ihre Zimmer geleiten. Eine ältere Frau teilte uns zu. Ich sollte Emili ihr Zimmer zeigen. Ich konnte es kaum glauben. Kam das alles von Kyle? Oder war es die Königin, die mich friedlich stimmen wollte? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.
Emili schwieg auf dem Weg nach oben und ich sagte auch nichts. Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Auch wenn sie gelächelt hatte: Ich war mir sicher, dass sie sauer war. Schließlich hatte ich sie die ganze Zeit über belogen.
Als wir in ihrem Zimmer ankamen, musterte sie mich einen Augenblick lang mit einem seltsamen Blick, den ich bei ihr nie zuvor gesehen hatte. Dann ging sie zur Tür und schloss sie.
»Sag mal, haben die mich verarscht oder bist du wirklich ne Geheimagentin?«, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen.
»Sie haben die Wahrheit gesagt«, gab ich kleinlaut zurück.
»Ach du Scheiße! Wie krass ist das denn bitte?!«
Ich sah sie irritiert an. War sie begeistert oder entsetzt?
Sie kam auf mich zu und als ich schon glaubte, sie würde mich schlagen, nahm sie mich in den Arm. Es war das erste Mal, dass ich mich wirklich wohl dabei fühlte. So wohl, dass ich zu weinen begann. Ich schluchzte und sie strich mir sanft über den Rücken.
»Meine arme kleine Insidia. Wie konntest du nur so lange mit so einem Geheimnis leben? Das muss schrecklich gewesen sein! Jetzt wird mir einiges klar!«
Ich drückte mich von ihrer Brust weg und sah sie an. Wie konnte ein Mensch nur so gut sein wie sie? So liebevoll und selbstlos? Trotzdem war da noch etwas anderes in ihrem Blick. Schuld. Doch warum sollte ausgerechnet sie sich schuldig fühlen?
»Aber mal abgesehen davon, ist es ehrlich gesagt auch ziemlich cool! Kannst du auch so Saltos in der Luft und so was?«
Ich warf den Kopf zurück und begann lauthals zu lachen. So glücklich wie in diesem Moment war ich schon lange nicht mehr gewesen. Es kam mir vor, als lägen zwischen unserem Wiedersehen Monate.
»Ich dachte, du bist sauer auf mich!«, keuchte ich.
»Sauer? Warum denn?« Emili musterte mich irritiert und wieder war da dieses seltsame Aufblitzen von Schuld in ihren Augen. Aber ich ignorierte es. »Ich habe mir eher Sorgen gemacht!«
»Na, weil ich dir nichts gesagt habe«, murmelte ich schuldbewusst, »ich wollte es dir ja sagen, ehrlich.«
»Es hat schon seinen Sinn, dass in Geheimagent das Wort ›geheim‹ steckt«, lachte sie.
Ich konnte nicht anders, als sie erneut in den Arm zu nehmen, obwohl das eigentlich so gar nicht meine Art war.
»Du bist ja heute so liebesbedürftig!«
Da stimmte ich in ihr Lachen ein, bis ich ganz plötzlich verstummte. »Kyle hasst mich.«
»Kyle hasst dich nicht, Insidia. Er ist verletzt.«
»Er hasst mich trotzdem. Er ist so kalt zu mir.«
Sie verzog den Mund und nickte. »Ehrlich gesagt, raff ich diesen Jungen nicht. So wie ich das mitbekommen habe, wusste er das doch alles schon vorher. Dann stellt er dich auf die Probe – und ist sauer. Du solltest sauer sein. Er hat dich genauso verarscht.«
Ich biss mir auf die Unterlippe. Natürlich war an dem, was Emili da sagte, etwas Wahres dran. Aber sie wusste nicht genug. Sie konnte es nicht voll und ganz verstehen. Ich selbst verstand es ja nicht einmal. Kyle war enttäuscht, ja. Und verletzt. Aber da war noch etwas anderes.
»Was machst du eigentlich hier?«, fragte ich Emili, während wir uns nebeneinander auf ihr Bett setzten.
»Kyle hat mich gebeten. Ich habe ihm gesagt, dass er nicht mein Typ ist, aber er hat nicht lockergelassen. Und jetzt, wo Philipp irgendwie verschwunden ist und Nasti in Kyles alter Wohnung eine Party nach der anderen veranstaltet, dachte ich, ein wenig Ablenkung täte mir ganz gut und hatte gehofft, dass ich dich dann in deiner Agenten-Zelle besuchen könnte.«
Ich lachte erneut bei ihren Worten. Wie war es möglich, dass ein einziger Mensch so viel Freude in mir auslösen konnte?
Und Kyle – Kyle hatte sie meinetwegen hergeholt. Die Hoffnung in mir wuchs.
»Philipp ist weg?«
Emili nickte.
»Er gehört zum PG!«, sagte ich, so schnell ich konnte. So schnell, dass mein Verstand es mir nicht verbieten konnte. Ich wollte keine Geheimnisse mehr haben. Diesen Fehler würde ich nicht noch einmal machen.
»Habe ich mir ehrlich gesagt gedacht, als Kyle mir das mit dir erzählt hat. Du und Philipp, ihr habt nie wie Fremde gewirkt, und er war wirklich sehr geheimnisvoll.«
Wie aus dem Nichts begann mein Kopf schmerzhaft zu stechen. Ich hielt mir die Hand vor die Stirn und stöhnte auf.
»Was ist los?«, fragte Emili erschrocken.
Ich schüttelte nur den Kopf, war nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen. So sehr schmerzte es.
Bilder tauchten vor mir auf. Die weißen Wände zogen wieder an mir vorbei.
Ein Mann in einem weißen Schutzanzug stand vor mir. In seiner Hand hielt er ein Klemmbrett und einen Stift. Er beäugte mich. Bewegte den Kopf abschätzig von der einen zur anderen Seite. Meine Beine waren so kalt. Ich zitterte. Der Mann kam näher und berührte meine Schläfe.
Der Schmerz ließ wieder nach.
»Insidia, ich mache mir Sorgen! Was ist mit dir?«
»Nur Kopfschmerzen. Geht schon wieder«, murmelte ich wie in Trance. Wann war das gewesen? Wer waren diese Männer und wo hatte das alles stattgefunden? Waren das nur Alpträume, die ich im Kerker gehabt hatte, oder war das Realität?
Emili stand auf und holte mir ein Glas Wasser, das ich dankend entgegennahm.
»Kein Wunder, so wie dein Gesicht aussieht«, murmelte sie traurig.
Ich nickte ihr zu. Insgeheim war mir aber klar, dass der Schmerz nicht von meinen Blessuren herrührte. Aber solange ich selbst nicht genau wusste, was es war, würde ich Emili nicht damit beunruhigen.
Bevor wir weiterreden konnten, klopfte eine Wache und gab uns Bescheid, dass Emili beim Essen erscheinen sollte.
Ich ging ihr nach, blieb dann aber vor dem Speisesaal stehen und schritt in einen Nebenraum, in den die Bediensteten gerufen wurden.
Die Tische hier waren vollgeladen mit Getränken und allerlei Köstlichkeiten, welche ein Mädchen nach dem anderen hineintrug. Durch einen kleinen Aufzug kam immer neues Essen nach. Wahrscheinlich befand sich die Küche im Keller.
Ich verzog den Mund. Ich hatte mir vorher nie Gedanken darüber gemacht, welch eine Arbeit hinter all dem steckte – und wer sie verrichtete. Jetzt wusste ich es.
Eine ältere Frau, die ebenfalls die schwarzweiße Kluft trug, schubste mich auf die Tische zu und befahl mir, etwas hinauszutragen.
Alles in mir sträubte sich dagegen. Für keinen Penny wollte ich dort hinein. Mit einer Karaffe oder einem Tablett in der Hand. Zu ihnen. Zu Kyle – und diesen Mädchen. Ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen.
Wofür hatte ich Kyle eigentlich geopfert? Das PG selbst hatte den Plan der Königin nicht durchschaut. Ich hatte meinen Auftrag also erledigt. Auch wenn er nicht so ausgegangen war, wie sie sich das vorgestellt hatten, war das alles nicht meine Schuld.
Und dennoch war ich jetzt abgeschrieben und sie ließen mich hier versauern? Ich hasste sie. Hasste sie abgrundtief.
Mal ganz abgesehen davon, dass ich beim besten Willen nicht von ihnen gerettet werden wollte.
Die ältere Frau stieß mich erneut an, und ich stand kurz davor, ihr meine Faust in ihr verbittertes Gesicht zu rammen. Was bildete sie sich eigentlich ein? Hatten die hier alle vergessen, dass ich sie noch vor ein paar Wochen gerettet hatte? Vermeintlich gerettet – und ja, vor den Leuten, für die ich gearbeitet hatte. Trotzdem: Gerettet war gerettet.
Widerwillig nahm ich eine Karaffe in die Hand und ging ein paar Runden durch den Raum. Darauf hoffend, dass niemandem auffallen möge, dass ich das Zimmer nicht verließ. Doch die alte Frau hatte mich offensichtlich auf dem Kieker und warf mir einen vernichtenden Blick zu.
Resigniert schritt ich, bewaffnet mit der riesigen Karaffe, auf die Tür zu. Ich atmete schwer. Wie hatte sich mein Leben in dieser kurzen Zeit nur so verändern können?
Jemand schubste mich von hinten und ich stieß mit einem lauten Knall gegen die Flügeltür, die sich weit öffnete. Mal wieder waren alle Blicke auf mich gerichtet. Ich hasste das alles jetzt schon.
Ich schüttelte den Kopf und schritt dann an den Tisch, um diesen blöden Tussis Wein nachzuschenken. Sie beachteten mich kaum. Eine von ihnen musterte mich abfällig, das war aber auch schon alles.
Verstohlen inspizierte ich die Gläser, die allesamt gefüllt waren – bis auf eines. Kyles. Ich schluckte schwer und machte mich auf den Weg zu ihm. Neben ihm saß Leo.
Wie schön, dass sie ihre Brüderschaft wiedergefunden haben, dachte ich wütend.
Ich drängte mich sanft zwischen Kyle und das Mädchen, das auf seiner anderen Seite saß, und füllte sein Glas. So langsam es ging. Obwohl ich diese Schmach eigentlich schnell hinter mich bringen wollte, saß mir diese blöde Kuh definitiv viel zu nah dran an Kyle. Ihre Augen glitzerten bei jedem seiner Worte und sie lächelte falsch. Merkte er das denn gar nicht?
Als er ihr ein verschmitztes Lächeln zuwarf, räusperte ich mich lauter, als ich eigentlich wollte.
Die beiden starrten mich an. Aber ich hatte nur Augen für Kyle. Er musterte mich mit einer Mischung aus Mitleid und Freude. Was sollte das? Ich war kurz davor, ihm und ihr die Karaffe über den Kopf zu hauen, als das Mädchen entsetzt zu quieken begann.
»Pass doch auf, du unnützes Ding!«, fauchte sie mich an und sprang auf. Geschockt warf ich einen Blick auf Kyles Glas, das bereits übergelaufen war. Der Rotwein hatte einen Bach gebildet und tröpfelte am Rand des Tisches als Rinnsal auf das weiße Kleid des Mädchens.
Meine Augen weiteten sich. Ich musste ein Lachen unterdrücken.
Ich sah Kyle an, der nur Augen für das Mädchen hatte. Aber er sah keineswegs mitleidig oder bedrückt aus. Er war sauer. Auf sie!
»Nenn sie noch einmal so und du kannst deine Sachen packen!«, knurrte er so leise, dass nur wir drei es hören konnten. Mein Herz machte einen Satz. Am liebsten wäre ich Kyle an den Hals gesprungen.
»Und du …« Seine Augen wanderten nun wieder zu mir.
Ich hielt die Luft an. Mein Herz hatte die Euphorie von gerade eben längst vergessen.
Er machte eine lange Pause. So als müsste er überlegen, was er sagen sollte. Wie und ob er mich maßregeln sollte. Vielleicht sogar, ob er mich anschreien sollte?
»Pass das nächste Mal besser auf!« Seine Stimme wirkte herrisch. Ganz anders, als ich ihn kannte. Lag es daran, dass er jetzt der König war? Oder an seinem Hass auf mich?
Als ich zum Gehen ansetzte, räusperte er sich leise, und ich drehte mich noch einmal um.
»Am ersten Tag kann so etwas schon mal passieren«, murmelte er und schenkte mir ein leichtes Lächeln.
Ich schluckte und ging, bevor ich etwas sagen konnte. Mein Mund war oftmals schneller als mein Verstand und Kyle hatte mir ein ausdrückliches Redeverbot erteilt.
Als ich noch einen schnellen Blick zurückwarf, musterte Kyle mich nachdenklich. Aber er sah mich nicht. Es war, als würde er durch mich hindurchsehen, weil er so vertieft in seine Gedanken war.
Ich erinnerte mich an unseren ersten Kuss. Als wir den kompletten Inhalt des Gefrierschranks auf den Boden geleert hatten und an Emilis argwöhnischen Blick.
Dieses Gefühl, ihn zu küssen. Es durchfuhr mich bei den Bildern, die vor mir auftauchten.
Ob es jemals wieder so sein würde?
Ich schüttelte den Kopf. Nein! Das war ausgeschlossen. Es war zu viel zwischen uns vorgefallen. Vieles war kaputt. Und er war nicht mehr einfach nur der Junge von nebenan. Er war jetzt nicht mehr Kyle. Er war König Eduard Kilian Windsor, und ich war nicht mehr das Mädchen aus Sves – sondern eine Verräterin.
Als ich alles erledigt hatte, was mir aufgetragen worden war, legte ich mich auf mein Bett und starrte die Decke an. Gedanken und Erinnerungen erdrückten mich. Und obwohl ich gefühlte Tage nicht richtig geschlafen hatte, war ich hellwach.
Entnervt stand ich auf, vergewisserte mich, dass der Flur leer war, und stahl mich, so leise ich konnte, aus meinem Zimmer.
Wir Dienstmädchen waren im dunklen Keller untergebracht. Nur die Treppe auf der anderen Seite des Flurs war durch den Mond, der durch ein Fenster im oberen Stockwerk hereinschien, beleuchtet.
Ich ging auf sie zu und schlich hinauf.
Zwar hatte ich mein bisheriges Leben fast nur in einem tageslichtlosen Bunker verbracht, aber ich hatte mich zu sehr an Fenster, die Sonne und den Mondschein gewöhnt und fühlte mich erdrückt in meinem neuen Keller-Zimmer.
Mit klopfendem Herzen stieg ich eine weitere Treppe hinauf, bis ich zu der Tür kam. Der Tür, hinter der das Zimmer lag, in dem Kyle und ich aus dem Fenster gesprungen waren. Das Zimmer, in dem ich später gewohnt hatte.
Ein Stich durchfuhr mich, als ich an den Verrat dachte, der mit all dem einherging. Dass ich damals gewusst hatte, dass es das PG war und dass sie hinter Kyle her gewesen waren.
So leise ich konnte, legte ich mein Ohr an die Tür und bevor ich mein Gleichgewicht halten konnte, schob sich die Tür nach vorne und ich knallte mit voller Wucht auf den Boden.
»Du bist in letzter Zeit ziemlich unbeholfen für eine Geheimagentin!« Kyles Stimme trieb mir die Schamröte ins Gesicht. Ich konnte förmlich spüren, wie es glühend heiß wurde.
Ich wollte ihm erklären, dass ich dachte, die Tür sei zugeschlossen. Und dass ich nur horchen wollte, ob jemand darin wohnte. Aber ich traute mich nicht zu reden.
»Spionierst du mich aus oder was sollte das werden?«
Ich musterte Kyle, der an einem Schreibtisch saß. Vor ihm brannte eine Kerze und auf dem Tisch lag ein ganzer Berg Unterlagen, die er offensichtlich gerade studierte.
Ich schüttelte den Kopf.
»Ist dein komischer Verein hier wieder eingedrungen und hat dir die Zunge rausgeschnitten, damit du nichts preisgeben kannst, oder warum hat es dir die Sprache verschlagen?«, lachte er kalt. »Du hast mir doch verboten zu reden, du Superdetektiv!«, fauchte ich und funkelte ihn böse an. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich immer noch auf dem Boden saß.
Er strich sich mit der Zunge über seine Lippen, die sich zu einem schiefen Lächeln formten.
»Hast du ja lange durchgehalten«, knurrte er und wendete sich wieder seinen Unterlagen zu.
»Was ist eigentlich dein Scheißproblem?« Ich sprang auf, knallte die Tür zu und ging auf ihn zu. Ohne darüber nachzudenken, riss ich ihm das Blatt aus den Händen, das ja sooo interessant war, und warf es hinter mich auf den Boden.
Kyle zog die Augenbrauen zusammen und musterte mich einen Augenblick lang.
»Hasst du mich? Oder hasst du mich nicht? Entscheid dich vielleicht mal!«
»Ich habe mich bereits entschieden!«, knurrte er.
Ich schnaubte. »Und deshalb holst du Emili hierher, verteidigst mich vor dieser blöden Pute und bist mal so und mal so zu mir? Gestern wolltest du mich noch töten!«, schrie ich. Ich kam mir irgendwie blöd und unauthentisch vor, wie ich da vor ihm stand. Darüber hatte ich mir vorher keine Gedanken gemacht. Ich wusste nicht, wohin mit meinen Händen und wie ich am besten stehen sollte, während er ganz gelassen auf seinem Stuhl saß und mich musterte. Wäre ich doch nur auf dem Boden geblieben.
»Gestern?« Er hob die Brauen.
»Ja, als du mich hast einsperren lassen!«
Kyle starrte mich an, als zweifelte er an meinem Geisteszustand. »Das war vor drei Wochen, Insidia.«
»Was?« Ich keuchte und nutzte die Möglichkeit, mich auf die Tischkante zu setzen. Er ließ es zu. Mir kam jetzt erst der Gedanke, dass das wohl irgendwie unangebracht war.
Wie konnte ich drei Wochen lang weggetreten gewesen sein?
»War ich irgendwo anders?«
»Als in dem Kerker? – Nein. Du hast aber dauerhaft geschlafen.«
»Ich habe drei Wochen lang geschlafen? Willst du mich verarschen, Kyle?«
Er schüttelte genervt den Kopf. »Ich weiß überhaupt nicht, warum ich mit dir rede. Verschwinde einfach aus meinem Zimmer, Insidia!«
Eine Erinnerung schoss mir in den Kopf. Damals, als Kyle mir gesagt hatte, ich sollte gehen. Damals war er auch so kalt gewesen. Doch dann hatte er mir noch etwas Zeit gegeben. Ich biss mir auf die Lippe. Und ich hatte trotzdem Leo gewählt.
»Ich brauche deine Hilfe …«, murmelte ich nachdenklich.
Kyle lachte laut auf. »Hast du sie noch alle?«