Xerubian: Aath Lan‘Tis

Andreas Hagemann


Wie soll man ordentlich ermitteln, wenn der faule Dienstdrache dauernd schläft, die Bürokratie einen erschlägt und die Zeugen zickende Minidrachen sind?

Vor diesem Problem steht Inspektor Dalon, der herausfinden soll, was es mit dem Diebstahl eines uralten Artefakts auf sich hat. Und was haben Gott und Billiard mit der Sache zu tun? Sein einziger Hinweis, eine schwarze Feder, führt ihn direkt auf die Spur einer antiken Zivilisation; doch diese dürfte längst nicht mehr existieren.

Jetzt heißt es einen kühlen Kopf bewahren, denn die Ermittlungen rund um den Mythos des verlorenen Kontinents Aath Lan´Tis sind nichts für schwache Nerven.



Andreas Hagemann


Buchwächter

Das Buch der Illusionen



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Andreas Hagemann
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Buchwächter: Das Buch der Illusionen


1. Auflage


Copyright © Andreas Hagemann, 2021
Gesamtgestaltung, Coverart, Schmuckillustration:

saje design, www.saje-design.de

Titelgestaltung in Anlehnung an Band 1 von Alexander Kopainski
Illustration (ganzseitig): Andreas Hagemann

Lektorat: Nina C. Hasse

Korrektorat: Pia Euteneuer

Druck: booksfactory, 71-063 Szczecin (Polen)


Alle Rechte vorbehalten.


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.



Glaubt an Euch und die Träume, die Euch antreiben.







5


E twas an diesem Mädchen in O’Rileys Buchladen war seltsam gewesen. Zwar kannte sie seinen Namen, dennoch schien sie von seinem Erscheinen überrascht. Er war der Hutmacher, wie konnte man sich nicht über seine Gegenwart freuen? Waren alle Menschen derart skurril?

Nach dieser Begegnung wollte er Vorsicht walten lassen und war Rotkäppchen und dem Wolf nicht weiter gefolgt – auch weil die beiden am Eingang des Ladens einer anderen Dame einen schrillen Schrei entlockten. Allein bei der Erinnerung an diesen Ton kräuselte es ihm das strubbelige Haar unter dem Hut. Er bevorzugte eine illustre Runde mit seinen Vertrauten, doch von ihnen war niemand auszumachen. Aus irgendeinem Grund war er allein hier gelandet. Also schlich er im Schatten eines Regals zwischen Buchtürmen umher, bis das Licht eines riesigen Fensters einen Ausgang bot.

Nun vor dem Laden stehend, zog der Hutmacher die Krempen vor Enttäuschung seitlich über die Ohren. Stein. Alles war aus Stein! Zu seinen Füßen, zu beiden Seiten, geradeaus und selbst nach oben ragte er schier endlos hinauf.

Welch Ödnis die Welt der Menschen ist! Einfallslos! Malträtierende Glanzlosigkeit.

Unter Stöhnen schob er den Hut wieder zurecht. Zugegebenermaßen hatte dieser spontane Ausflug ihm nicht die Zeit gegeben, irgendeine Form der Erwartungshaltung zu entwickeln, aber … das?

Kein Wunder, dass die Menschen uns brauchen, um Farbe in ihr Dasein zu bringen. Steinerne Grässlichkeit!

Zum Glück unterschied sich die Wärme der Sonne nicht von jener in der Welt der Phantasien. Die Luft hingegen schon. Wenig schmeichelnd trieb der Wind eine Böe modrigen Dunstes vor sich her. Worum es sich handelte, wollte der Hutmacher in einem zweiten Atemzug nicht erkunden. Indes zog sie die wenigen positiven Erwartungen an diese Welt mit sich. Es musste doch etwas bei den Menschen geben, das es wert war, hier zu weilen.

Verflixt und zugenäht, ein Tässchen Tee! Der Einfall hätte vom Verrückten Hutmacher kommen können. Ach, ich altes Schlitzohr, das ist ja meine Wenigkeit.

Doch wie nun das Gelüst befriedigen, wenn es nicht einmal den Hauch einer Pflanze, geschweige denn des Tees gab? Er rollte mit den Augen und sprang von der Stufe des Eingangs. Er blickte Rotkäppchen und dem Wolf hinterher, die hastig die Straße überquerten. Mit einem Mal flog ein Schatten über ihn hinweg. Struwwelpeter landete klatschend auf den Pflastersteinen und verschwand hinter der Bordsteinkante. Zwei Katzen sprangen euphorisch hinterher.

Kaum dass er sie sah, riss der Hutmacher die Augen auf.

Oh, nein, bitte keine Ka…

Sein Nieser riss ihn von den Beinen und ließ den Hut über den Boden kullern.

Auf dem Hosenboden sitzend, schnappte er sich hektisch seine Kopfbedeckung und kroch von den beiden fürchterlichen Wesen fort. Die maunzten derweil zur Straße hinab. Struwwelpeter richtete sich auf und warf prüfend einen hastigen Blick über die Bordsteinkante, ob jemand seinen desaströsen Abgang beobachtet hatte. Als sein Blick die eigenen Hände streifte, verzog er weinerlich das Gesicht und fiel auf die Knie.

»Meine Nägel! Ich habe mir die Nägel abgebrochen!«

Wie konnte man so jemanden nur erfinden? Menschlicher Intellekt. Wer sich eine Welt aus Steinen ausdenkt, der bringt auch so etwas zustande.

Eine der Katzen stupste die erhobene Hand mit ihrer Pfote an und entlockte dem Gepeinigten einen weiteren Schwall quäkender Weinerlichkeit.

Der Hutmacher überlegte, ob er den anderen beiden Phantasien nicht doch folgen sollte. Überall in dieser Welt musste es besser sein als hier. Nur einen weiteren Augenblick in der Nähe dieser Katzen und ihm fiele die Nase ab. Am Ende der Straße bog just in diesem Moment ein Pferdegespann ein, das eine Kutsche für zwei Personen zog. Zu Fuß würde die Erkundung der Menschenwelt zu viel Zeit in Anspruch nehmen, er würde versuchen, auf das Gefährt zu gelangen.

Struwwelpeter und die Katzen nahmen bei dem Anblick der riesigen Tiere Reißaus.

Unglücklicherweise hielt es in einigem Abstand zum Laden. Augenrollend setzte der Hutmacher sich in Bewegung und hechtete hinüber. Derweil sprang der Kutscher vom Kutschbock und half den weiblichen Insassen auf den Gehsteig. Der Augenblick hätte nicht günstiger sein können, schließlich war dem Hutmacher nicht daran gelegen, entdeckt zu werden. Auf Höhe der Pferde bemerkten diese das kleine Wesen und erschraken. Das linke bäumte sich auf und weitete angstvoll die Augen.

»Ganz ruhig, was ist los mit dir?«

In Windeseile war der Kutscher bei dem unruhigen Tier. Doch es wollte keine Ruhe geben. In seiner Panik sprang es im Geschirr immer wieder auf, ließ den Kutscher nicht einmal in die Nähe. Von den Damen kamen Schreckensschreie. Sie entfalteten hastig ihre Fächer als Schutz.

Die winzige Hand des Hutmachers presste den Zylinder fest auf den Kopf, damit er so schnell rennen konnte, wie ihn die Beine zu tragen vermochten. Kam er den Tieren zu nahe, wäre es womöglich um ihn geschehen. Es war glücklicherweise nicht mehr weit bis zu einem der großen Räder.

Das Pferd sah keinen anderen Ausweg, als die Flucht zu ergreifen. Es übertrug die Panik auf seinen Gefährten, und so setzten sie ruckend das Gefährt in Bewegung.

Irritiert von dem plötzlichen Richtungswechsel, fiel es dem Hutmacher schwer, noch die Kurve zu bekommen. Immer schneller rauschten die Speichen an ihm vorbei. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich hinauf katapultieren zu lassen.

Wild mit den Armen wirbelnd, wich der Kutscher rückwärts aus und suchte auf dem Pflasterstein Halt. Kaum fand er ihn, rannte er seinem Gefährt hinterher. Gerade noch rechtzeitig packte er den Griff der Tür und kämpfte sich stöhnend zum Bock hinauf.

Der Hutmacher hatte die Kraft der Speiche völlig unterschätzt und wurde mit enormer Kraft mitgezogen. Statt rechtzeitig wieder loszulassen, klammerte er sich ans Holz und drehte zwei Runden im wirbelnden Rad.

Rasch ergriff der Kutscher die Zügel und riss an ihnen. Er musste den Wagen unter Kontrolle bekommen. Alsbald schien das Pferd zu merken, dass die Gefahr gebannt war, und reduzierte das Tempo.

An seinem Arm ließ die Kraft, die daran zog, merklich nach, und so ließ der Hutmacher einfach los. Erst im senkrechten Flug hinauf wurde ihm das Ergebnis seines Handelns bewusst. Er sauste in die richtige Richtung, nur der Flugwind riss ihm den Hut vom Kopf. Im Scheitelpunkt seines Aufwärtsdrangs griff er hektisch nach der Kopfbedeckung. Die Kutsche war nun deutlich kleiner unter ihm, blieb zum Glück aber stehen. Als Phantasie gab es für seine Vorstellungen auch in der Welt der Menschen keine Grenzen. So blies er aus Leibeskräften in den Hut, bis dieser so an Umfang gewann, dass er als Fallschirm fungierte. Der kleine Häwelmann hatte es vorgemacht. Es reichte, um den Sturz zu verlangsamen und mit einem gedämpften Plock! auf dem Dach zu landen.

Wie aufregend! Wenngleich mir ein wenig flau ist. Ein Tässchen Kamillentee wäre nun genau das Richtige.

Genüsslich schmatzte er beim Gedanken an die heiße Köstlichkeit. Die Freude verflog jedoch, als die Kutsche sich nicht wie erwartet wieder in Bewegung setzte. Stattdessen redete der Kutscher beruhigend auf die Pferde ein. Als diese keinen Anschein machten, erneut durchzugehen, stieg er ab und eilte zu den Damen zurück, die, zwei Porzellanpuppen gleich, regungslos dastanden.

Den Hutmacher packte die Ungeduld. Er riss den Hut vom Kopf und fuhr sich wild durchs Haar.

Vermaledeite Langsamkeit!

Für einen Moment kam ihm der Gedanke, selbst zu den Zügeln zu greifen, um seine Fahrt fortzusetzen. Der zweite Gedanke kämpfte gegen diese Vorstellung an und riet ihm zur Vorsicht. Den Zylinder wieder auf dem Haupt fiel er auf den Hosenboden und rutschte über die Dachkante hinab auf die Gepäckablage. Als meinte das Schicksal es gut mit ihm, hob der Kutscher seine Mütze zum Gruß und überließ die Damen sich selbst. Nun war der Hutmacher froh, Schutz hinter einer Kiste zu finden.

Murrend bestieg der andere den Wagen, alsbald gefolgt von einem Peitschenhieb.

Auf in die Welt der Menschen!




Ich hasse die Welt der Menschen!

Seit einer Ewigkeit fuhr dieser orientierungslose Wagenlenker ohne Ziel durch die Straßen. Mal hierhin, mal dorthin, mal schnell, mal langsam. Fuhren sie möglicherweise sogar im Kreis? Hatte ihm das Schicksal unter all diesen Menschen den wohl stümperhaftesten vor die Füße geworfen?

Ein hellrotes Haus. Eines mit dunklem Backstein. Wieder eine hellrote Fassade. Moment!

Diese Kombination war bisher nicht an ihm vorbeigezogen. Er schob den Kopf über den Rand der Kiste und betrachtete die Umgebung mit zusammengekniffenen Augen. Die Straße schien nun breiter, die Gehsteige waren gesäumt von Menschen in vornehmer Kleidung. Wo auch immer dieser Wirrkopf hinsteuerte, hier gefiel es dem Hutmacher schon deutlich besser. Sogar vereinzelte Bäume wagten eine Existenz am Wegesrand und hinter den Passanten waren die Schaufenster einiger Geschäfte auszumachen.

Sei wachsam, sonst verpasst du vielleicht deine Gelegenheit.

Selbstgespräche waren nichts Ungewöhnliches für ihn, wusste er sich doch so stets in guter Gesellschaft.

Ein feines Aroma stieg ihm in die Nase.

Es wird doch nicht …

Ein Strauß Blumen schwebte am Wagen vorbei.

Ist es auch nicht.

Es war gar nicht so selten, dass diese Ziergewächse einen Weg in seinen Tee fanden. Nur wenige Meter weiter kam ein Schild in Sichtweite, auf dem eine viereckige Dose prangte. Doris’s Tea schwangen sich die Lettern zu einem wahren Kunstwerk.

Die Erlösung möge mich …

Beim Versuch, zur Kante der Gepäckablage zu gelangen, blieb das dunkelgrüne Mäntelchen an einem Kofferscharnier hängen und warf ihn zu Boden. Das reißende Geräusch, das dabei zu hören war, gefiel dem Hutmacher gar nicht. Gott sei Dank hing ihm der Hut im Gesicht, damit er den Schaden nicht gleich sah. Viel wichtiger war ohnehin der Tee! Murrend zupfte er am Stoff und schaute auf.

Als zöge die Liebe seines Lebens in langsamen Bildern an ihm vorüber, passierten sie den Laden.

»Unnütze Tollpatschigkeit! Mein Gaumen wird mir das nicht verzeihen.«

Er zwängte sich durch einen Spalt zwischen den Koffern, spähte in Fahrtrichtung an der Kutsche vorbei und entschied sich für einen spontanen Sprung auf den ausladenden Schirm einer gänzlich in Blau gekleideten Dame.

Und hopp!

Doch auf dem samtigen Stoff fand er keinen Halt. Kurzerhand warf er den Hut als Rettungsanker über die Spitze des Schirms. An der Krempe hängend drohte er hinunterzurutschen.

»Was ist das?«, näselte die Dame unter dem Schirm. Sie fackelte nicht lange, senkte den Schirm ein wenig und faltete ihn zusammen, nur um ihn gleich wieder aufschnellen zu lassen. Juchzend katapultierte es den Hutmacher durch die Luft. Ironischerweise direkt auf die riesige Teedose zu.

Das Scheppern des Aufpralls war im Lärm der Stadt kaum zu hören, und so blieb ihm die Peinlichkeit, dabei beobachtet zu werden, erspart. Mit Mühe konnte er sich an einer großen Schraube festhalten. Ein Sturz zwischen die Menschen würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Da war es gewiss kein Zufall, sondern Bestimmung, dass ein Fenster im Obergeschoss des Teegeschäfts einen Spalt breit offen stand.

Endlich ein Ziel, das sich wahrlich lohnte.




7


Z unächst hielt er den Anblick des unscheinbaren Mädchens für eine Einbildung. Irgendein Gespinst, das der aktuelle Stress in seinem Kopf erschuf. Warum hätte er an sie denken sollen? Mehrmals hatte er ihr gegenübergestanden, doch dieses Mal war es anders. Weiß Gott konnte sich seine Vorstellungskraft nicht einen derartigen Hass ausdenken.

Die Hände zu Fäusten geballt, die Kiefer fest aufeinandergepresst und ein Blick, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie ihn in winzige Stücke zerfetzen würde, wenn sie könnte. Ihre Erscheinung war pure Aggression.

Sie tat einen einzigen Schritt auf ihn zu und er stolperte zurück wie ein verängstigtes Reh.

»Du wirst nirgendwohin gehen!«

Blaues Licht durchdrang ihre Augen und Finn verharrte dort, wo er stand. Irgendeine unsichtbare Kraft schlang sich um seine Glieder, kroch bis zum Hals hinauf. Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, was Desiree vor wenigen Augenblicken gemeint hatte: Ava war eines der Wesen, die auf gar keinen Fall den magischen Büchern entkommen sollten.

»Welche Freude, die Angst in deinen Augen zu sehen«, sprach sie ruhig und mit fester Stimme. Ihr Grinsen wirkte geradezu diabolisch.

Sie hat für die Ablenkung gesorgt. Verdammt, die anderen werden so schnell nicht wieder hier sein. Ich muss sie unschädlich machen!

Leider fiel ihm statt einer Lösung lediglich ein, dass man sie in einem Gefängnisbuch eingeschlossen hatte. Es wusste nur, dass es ein furchtbarer Ort war. Selbst wenn es nur wenige Tage gewesen waren.

»Ich würde sagen, es ist Schicksal, dass wir beide uns noch einmal begegnen. Da gibt es noch eine Kleinigkeit zu klären.«

Ich halte das für ganz großes Pech.

»Was willst du?«, presste er hervor.

Insgeheim ging er die Phantasien durch, die er zur Hilfe rufen konnte. Doch plötzlich wurde ihm bewusst, dass keine von ihnen seinem Ruf folgen würde. In der Welt der Phantasien gab es so gut wie niemanden mehr.

»Mir scheint, du möchtest die Antwort auf diese Frage gar nicht wissen.«

Sie schlenderte um den Tisch herum, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Den magischen Griff behielt sie weiter aufrecht. Ava ging an Finn vorbei zum Fenster und blickte hinaus.

»Wenn man bedenkt, dass sie die geheime Garde der Buchwächter sind, ist es beinahe peinlich, wie leicht man sie hinters Licht führen kann.«

Das sind hinterhältige Angriffe immer.

»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet«, versuchte er, das Gespräch am Laufen zu halten. Vielleicht konnte er Zeit schinden, bis Minerva und Desiree zurückkamen. »Zumindest willst du mich nicht gleich aus dem Weg räumen, sonst hättest du es längst getan.«

Finn wusste, dass er sich aus dem Fenster lehnte. Ihm fiel jedoch kein besserer Weg ein, um herauszufinden, was sie vorhatte. Wut funktionierte wie Alkohol: Sie löste den Menschen die Zunge.

Avas Körper spannte sich an. Die Hände hinter dem Rücken schnellten zu Fäusten geballt hervor.

»In Urfanor hatte ich die Möglichkeit, mir über einige Dinge klar zu werden.« Sie trat neben ihn ins Sichtfeld. »Ich hasse die Welt der Buchwächter. Dieser Hokuspokus ist erbärmlich. Er sorgt für Unterdrückung und Leid. Oder täusche ich mich? Was meinst du, Finn?«

Sie lächelte spöttisch. Offenbar wollte sie auf etwas Bestimmtes hinaus.

Die Geschichte mit Gordon? Weiß sie davon?

Nein. Kane würde niemals darüber sprechen, dass Gordon Finn das Leben im Auftrag des Rates zur Hölle gemacht hatte. Nicht einmal mit seiner eigenen Tochter. Oder?

»Bisher hast nur du mir wehgetan!«

Trotz des magischen Griffes legte er so viel Verachtung wie möglich in den Satz. Ihr Grinsen ärgerte ihn. Aus Prinzip schon.

»Wenn ich mich recht entsinne, habe nicht ich die Entscheidung getroffen, deinen Freund Arthur loszulassen. Es war dein Egoismus, der die Ereignisse ausgelöst hat.« Ava trat so nah an ihn heran, dass ihre Worte von ihrem warmen Atem begleitet wurden. »Und für deinen Fehler sollte ich büßen!«

Das blaue Leuchten in ihren Augen intensivierte sich, brannte auf seiner Haut.

Auf keinen Fall durfte er ihre Macht, vor allem aber nicht ihre Wut unterschätzen. Dass Ava keinerlei Skrupel kannte, hatte sie unter Beweis gestellt.

»Jeder ist für seine Taten selbst verantwortlich.« Finn kämpfte gegen den fester werdenden Druck um seinen Hals an. »Jemand anderem die Schuld zuzuschieben, ist feige.«

Er schien einen wunden Punkt zu treffen, denn Ava verzog den Mund zur wütenden Fratze. »Feige ist, wenn man sich seiner Gegner auf unfaire Weise entledigt, anstatt sich ihnen zu stellen.«

Ihre Faust mochte ihm zwar drohen, aber es bewirkte nichts. Im Gegenteil, Finn konnte nicht anders, als zu grinsen. »Das habe ich bereits. Und ich habe gewonnen, falls du das vergessen hast.«

Mit immenser Wucht stieß sie ihm die flache Hand gegen die Brust. Der Schlag trieb ihm die Luft aus der Lunge und schleuderte ihn fort, nur um gleich darauf wieder von ihr herangezogen zu werden. Direkt vor seinem Gesicht fing ihre Faust Feuer. Die plötzliche Hitze schmerzte.

»Du glaubst, du wärst bereits durch die Hölle gegangen? Bisher hast du nur einen Freund verloren. Warte ab, bis ich deine Familie auslösche. Einen nach dem anderen.«

Sie weiß nichts von Arthurs Rettung! Und das muss so bleiben.

Erst im nächsten Moment drang die Drohung gegen seine Familie zu ihm durch. Die Wut lockerte ungewollt auch seine Zunge.

»Also bleibst du feige! Anstatt …«

Ava drehte die Faust und drückte ihm die Luft ab.

»Du unterschätzt meine Möglichkeiten, Finn Oliver Ward. Du magst Phantasien zum Leben erwecken, aber die sind genauso verwundbar wie du. Ich weiß, wie du tickst, und es ist ein Leichtes, dich auszuschalten. Aber nicht hier, nicht heute.«

Eine Figur oder Phantasie würde genau das hervorbringen, womit Ava rechnete. Er musste etwas Neues erschaffen, um sie abzulenken. Von den Buchwächtern hatte er gelernt, dass die menschliche Vorstellungskraft selbst eine besondere Fähigkeit ist. Er musste einen Weg finden, seine eigene Vorstellung real werden zu lassen. Als er die Augen schloss, um seine Gedanken zu bündeln, ließ die Kraft um seinen Hals nach.

»Wie niedlich. Willst du dir ein paar Freunde zu Hilfe holen?«, spottete Ava.

Flackernd erlosch das Sonnenlicht vor dem Fenster und wich einem roten Schimmer, der zäh über die Wände des Raumes floss. Knackend begannen die Steinblöcke zu vibrieren, ließen Mörtel aus den Fugen rieseln. Sie verschafften sich Platz, um einer nach dem anderen nach hinten, in eine fremde Welt gesogen zu werden. Wo zuvor die Bergwelt von Silim gelegen hatte, erstreckte sich nun blutrote Erde zwischen schwarzen Felsen. Ein erschreckendes Spiegelbild des Himmels, der im gleichen Farbenspiel drückend über der Szenerie hing.

Selbst der Boden des Raumes war verschwunden. Stattdessen standen sie auf einem Plateau, der Fels bildete die Umrandung einer winzigen Arena. In der Ferne thronte ein riesiges Gebäude auf einem Massiv. Ein Bollwerk ohne Zuweg. Hier gab es nichts außer dieser gleichförmigen Einöde.

Ava wich zurück. Ihre Augen waren zusammengekniffen, als sie Finn musterte. Ihr Fuß schabte über den Boden, doch der Sand bewegte sich nicht. Zwei schnelle Schritte später war sie bei ihm und boxte ihm mit Wucht in den Magen.

Der Schmerz raubte Finn die Konzentration, die von ihm erschaffene Welt verflog.

»Glaubst du wirklich, mich beeindrucken derlei billige Tricks?«

Dein Gesicht hat etwas anderes gesagt.

Zum Sprechen fehlte ihm die Luft.

»Spar dir diesen Blödsinn für jemand anderen.« Ava baute sich wieder vor ihm auf. »Du, mein lieber Finn, bist erst am Ende dran. Vorher muss deine Familie dran glauben. Kannst du sie ebenso gut beschützen wie deinen Freund Arthur?«

Sie genoss seine Anspannung sichtlich. Der Wunsch, sich zu wehren, wurde schier übermächtig, doch er konnte nur zusehen.

Das ist es!

Etwas packte Ava und riss sie von den Füßen. Die unsichtbare Klammer, die seinen Körper umschlossen hatte, war verschwunden. Finn nutzte die gleiche Herangehensweise und dachte einfach an eine große unsichtbare Hand. Die Idee, sie mit den eigenen Waffen zu schlagen, hätte ihm früher kommen sollen.

Ava blieb unbeeindruckt und sprang flink wieder auf die Beine. Energie sirrte in ihren Händen.

Über den Flur drangen Geräusche. Hatten die Buchagenten das Ablenkungsmanöver durchschaut?

Plötzlich war Ava ihm so nah, dass er ihren Atem an seinem Ohr spüren konnte. »Wollen wir doch mal sehen, wer zuerst bei deinen Eltern ist«, flüsterte sie.

Die Tür krachte gegen die Steinwand und Minerva schoss in den Raum, Desiree und ein paar andere Agenten dicht auf den Fersen.

Als Finn sich wieder umdrehte, stand niemand mehr neben ihm. Ava war verschwunden.



8


A rthurs Sturz wurde von zwei Fässern gebremst. Sie beschwerten sich knirschend, als er über sie hinwegrollte. Die Umgebung drehte sich und sein Magen hatte sich selten so flau angefühlt. Sosehr er auch den Drang verspürte, sich zu bewegen, den Beinen war es egal. Lediglich die Arme vermochten ihn nach einigen Anläufen zur Seite zu drehen. Zum Glück war dies eine Gasse und nicht einer der Gehwege von Shawbroke. Nicht auszudenken, er wäre von Passanten gesehen worden! Sie hätten wegen dieses Fremden, der sich wie ein Trunkenbold verhielt, gewiss die Polizei gerufen.

Arthur tastete hinter sich und bekam den Backsteinsims eines zugemauerten Fensters zu greifen. Er bot genug Halt, um sich auf die Knie zu ziehen.

»Das ist nicht mal in der Nähe des Buchladens«, stellte er fest. »Verdammt, was ist nur mit meinem Kopf los?«

Mit einem kräftigen Zug schaffte Arthur es in den Stand. Den Rücken gegen den kalten Stein gelehnt, sammelte er Kraft, während er die Gasse in Augenschein nahm. Es musste einen Anhaltspunkt geben, wo er sich befand. Eines der Fässer drängte sich ihm auf, Gulliver’s stand auf seinem runden Bauch.

»Gulliver’s?« Er schnaubte verächtlich. »Sein Pub ist einen ganzen Block entfernt. Ich hätte mich besser konzentrieren sollen. Immerhin bin ich noch im gleichen Viertel.«

Genau genommen direkt an der Grenze zu Bilton.

Der innere Drang, sich bewegen zu müssen, kribbelte in den Gliedern. Wenn auch wacklig, schaffte Arthur es wenigstens aufrecht ans Ende der Gasse. Es war zum Glück der Zuweg zum Liefereingang des Pubs und kein Abwasser getränkter Moloch. Das Sonnenlicht traf ihn wie ein Hieb auf die Stirn. Sein überraschter Ausruf ließ zwei Damen sich erschrocken umdrehen, die sein Auftauchen nicht bemerkt hatten.

Eine Hand vor den Augen hob er die andere zum Gruß. »Einen angenehmen Tag, die Damen.«

Ihr gezwungenes Lächeln musste als Beruhigung genügen.

Nichts wie auf zum Laden, ich habe hier einen Ruf zu verlieren!

Vor jedem zweiten Geschäft musste Arthur innehalten, weil ihm die Kraft ausging. Also tat er, als betrachtete er die Auslagen in den Schaufenstern. Es hatte sogar etwas Erfrischendes, denn es musste Monate her sein, dass ihm Zeit für einen Schaufensterbummel geblieben war. Zudem waren die kühlen Scheiben angenehm auf der Stirn. Den inneren Dämon, der ihn stetig antrieb, interessierte dies herzlich wenig. Was immer Schwester Maria ihm in Esidor verabreicht hatte, es musste ein Teufelszeug sein.

Das kleine schwarze Metallschild, das aus der Hausfassade ragte und Robinson Books & Antiques ankündigte, erschien ihm wie ein Leuchtturm in einem Sturm. Nun war es nicht mehr weit. Dennoch konnte er seinen wackligen Beinen nicht so viel zumuten, wie er wollte. Den Schwung des Laufens nutzend, packte er den Griff und donnerte ungebremst gegen Tür. Das Scheppern musste in der ganzen Straße zu hören gewesen sein.

»Was zum Henker …?«

Er spähte durch die Scheibe. Das Schild mit der Aufschrift Offen starrte ihn ebenso verdutzt an. Just in dem Moment ging die Tür auf. Rings schmales Gesicht blickte ihm entgeistert entgegen.

»Du hättst och klopfn könn. Is weenja uffällich.«

Für einen grimmigen Blick reichte Arthurs Kraft alle Mal.

»Dafür müsste das Schild andersrum hängen«, murrte er und wankte in den Laden. Die papierdicke Luft fühlte sich wie die Umarmung nach einer langen Reise an.

»Wat machstn du schon hier? Warum liegste nich im Bett und ruhst dee aus?«

»Ist das deine Art, deine Wiedersehensfreude auszudrücken?«, grummelte Arthur und stützte sich auf dem Tresen ab.

Ka-Tsching stürmte aus dem Arbeitszimmer und fiel dem Buchhändler um die Brust.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich dich vermisst habe.« Der runde Buchwächter hielt ihn ein Stück von sich weg und begutachtete ihn wie ein Gemälde. »Was ist das schön, dich auf den Beinen zu sehen.«

Arthur blickte verstohlen zur Glocke. »Das nenne ich eine Begrüßung.«

Ring verschränkte die Arme und rollte mit den Augen. »Schleimknödel.«

»Wir können dich hören, mein schlaksiger Freund«, säuselte die Kasse. »Aber Ring hat recht, wieso bist du nicht mehr in Esidor auf der Krankenstation? Die werden dich kaum nach einem halben Tag entlassen haben.«

Arthur sah durch ihn hindurch und ging unsicheren Fußes am Verkaufstresen vorbei ins Arbeitszimmer. Er steuerte den großen Ledersessel an und sank stöhnend in die Polster. Den Kopf in den Nacken gelegt, holte er tief Luft und genoss das erleichternde Gefühl, das in seinen Gliedern kribbelte. Dann zog er hastig die mittlere Schublade des Schreibtisches auf, fand jedoch nicht, wonach er suchte.

»Wo ist denn meine Schokolade?«

»Du brauchst nicht schreien, wir sind hier!«

»Entschuldigung.« Sein fordernder Blick hielt die Frage dennoch aufrecht.

Die Glocke räusperte sich. »Ick glob, der Junge hatse jejessen. Warn paar schwierige Tage.«

»Beantwortest du auch unsere Frage?«, hakte die Kasse nach.

»Mmh?« Arthur überlegte kurz. »Ich weiß nicht einmal, wie ich dort überhaupt hingekommen bin, geschweige denn, was ich dort zu suchen hatte. Offensichtlich geht es mir prächtig.«

Beim wenig überzeugten Blick der Buchwächter setzte er nach: »Na ja, so gut wie.«

»Du kannst dee an nüscht erinnan?«

Die Glocke ging zum Schreibtisch und nahm im Sessel davor Platz. Arthur sah ihn erwartungsvoll an, erwiderte jedoch nichts.

»Ick nehm dit mal als een Nein.«

Ka-Tsching holte tief Luft. »Dann sollten wir dir wohl einiges erklären.«




»Und das alles hat Finn auf sich genommen, um mich zu retten?«

Arthur sank gegen die Lehne und starrte vor sich hin. Eine Armada an Gedanken schoss ihm durch den Kopf. Wie sollte er das je wiedergutmachen? Der Junge musste deutlich über seine Grenzen hinausgegangen sein. Wenngleich ihm eine derartige Leistung vor Stolz die Brust schwellen ließ.

»Wo ist er jetzt?«

»Ick glob in Silim.«

Arthur verstand nicht.

»Ach so, da jibbet noch ne Kleeinichkeit, die du wissn solltest. Deene Rettung … wie soll ick et sagn?«

»Versuche es mit Worten.«

Arthurs überraschend sarkastischer Einwurf brachte die Glocke aus dem Konzept.

Ka-Tsching plapperte indes wie ein Wasserfall dazwischen: »Die Tinte, die Finn verwendet hat, hat alle Phantasien freigesetzt und jetzt schwirren sie hier irgendwo in der Welt der Menschen herum.«

Das begleitende Lächeln wirkte völlig deplatziert.

»Was?«

»Wollteste dazu noch tanzen? Hör uff zu grinsen, Speckbäckchen«, murrte Ring seinen Partner an. »Katastrophn erzählt ma mit Theatralik, nich wie een Jedicht uff na Feija.«

»Du druckst ja nur rum. Wenn du dich …«

Arthur schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Was soll das heißen, die Phantasien sind frei?«

Ka-Tsching setzte zu einer Erklärung an, brachte jedoch nur ein Quieken heraus.

Ring gluckste.

Arthur sah ihn bissig an.

»Dit heißt, dat diese Tinte irjendwie dafür jesorgt hat, dat Phantasien die Bücha valassn könn’.«

Arthur ließ sich erneut in die Polster sinken. Die beiden trieben den ganzen Tag Schabernack, das musste einfach ein Scherz sein. Gleichzeitig traute er ihnen einen derart schamlosen Spaß nicht zu. Es musste also wirklich so sein, wie sie gesagt hatten.

»Und der Rat?«

»Sucht eine Lösung«, gab Ka-Tsching kleinlaut zurück.

»Finn ist in Silim«, wiederholte Arthur mehr für sich selbst.

»Und de Phantasien hamm Spaß«, sah Ring sich genötigt, die Situation vollständig zusammenzufassen.

»Das ist nicht witzig!«, knurrte der Buchhändler.

»Hab ick vülleicht jelacht?« Die Glocke verschränkte die Arme und verzog beleidigt das Gesicht.

Arthur machte Anstalten, sich zu erheben, wusste jedoch nicht, was er danach tun sollte. In seinem Laden gab es für diese Misere keinen Lösungsansatz. Die beiden magischen Bücher in seinem Versteck dienten anderen Zwecken.

»Hat der Rat nicht konkret gesagt, was zu tun ist?«

Er konnte nicht fassen, dass die Situation so prekär war und sie hier rumsaßen. Zu gern würde er Finn hinterherreisen, um seinem Schützling zu helfen. Doch in Silim warteten Desiree und Minerva. Sie jetzt wiederzusehen, würde seinen Geist völlig überfordern. Und genau den brauchte er.

»Was ist eure Aufgabe?«

Die beiden Buchwächter sahen sich an und zuckten mit den Schultern.

»Das darf nicht wahr sein!«

Nun konnte Arthur einfach nicht mehr still sitzen. Er wollte durch den Laden marschieren, um seine Gedanken auf Trab zu bringen.

Just in diesem Moment war das glasige Rasseln der Ladentür zu hören. Die Glocke konnte sie ja nicht vorwarnen, die stand vor ihm.

»Ich komme!«

Er schob sich am Schreibtisch vorbei, stampfte durchs Arbeitszimmer zum Verkaufsraum und trat mit Schwung durch den Türbogen. Als er den vermeintlichen Kunden erblickte, blieb er abrupt stehen. Nie und nimmer konnte das möglich sein.



9


I n unerbittlicher Regelmäßigkeit ging der Gehstock auf den Pflastersteinen nieder. Ein stetes Klicken, das einer Drohung gleichkam. In den Rhythmus mischte sich der Klang harter Sohlen. Erreichte dieses harsche Duett die Ohren der Passanten, so hielten sie für einen Moment inne. Niemand von ihnen würde derart energisch die Gehwege von Shawbroke entlang flanieren – falls man eine solche Gangart überhaupt noch als Flanieren bezeichnen konnte. Da war es besser, man gab Obacht und trat im Notfall beiseite.

Kaum dass sie den Mann sahen, klappten einige Kinnladen herunter. Manch einer begann erst wieder zu sprechen, als er vorüber war.

Es interessierte ihn herzlich wenig, was diese Fremden dachten. Wobei er nicht umhinkam, sich einzugestehen, ihre Überraschung ein Stück weit zu genießen. Dennoch verzog er keine Miene, dafür war sein Inneres zu sehr von Wut verzehrt. Noch knapp einen Block musste er gehen, bis er den Laden mit dem schwarzen Eisenschild erreicht hatte.

Für jemanden wie ihn ziemte es sich nicht, die Straßen von Turweston entlang zu hetzen, also passte er sich strammen Schrittes dem Fluss der Stadt an. Das war immer noch flink genug.

Ein unbestimmtes Kribbeln breitete sich in seiner Magengegend aus. Ein Gefühl, das ihm fremd war. Es konnte die Anspannung und Erregung sein, möglicherweise aber auch ein Funken Vorfreude auf die sich anbahnende Begegnung.

Die letzten einhundert Meter kamen ihm so lang vor wie der Rest des Fußmarsches aus Greenhill. Er brauchte die frische Luft, auch um die Gedanken zu sortieren. Seine Kutsche folgte derweil in einigem Abstand und verärgerte aufgrund der geringen Geschwindigkeit zahlreiche Verkehrsteilnehmer. Ihn kümmerte es wenig, hier ging es nur um ihn.

Das Schild hing an der Fassade, wie es ihm in Erinnerung war. Nun war es jeden Augenblick so weit. Er verdrängte die aufkeimende Euphorie und schob die Türe auf.

Zunächst lag das Geschäft in Ruhe da, es fehlte sogar das Läuten der Glocke. Eigentlich hatte er gehofft, die Betriebsamkeit zu stören, doch hier fehlte jedes Leben. Keine Bücherstapel auf dem Tresen, nicht einmal die Kasse stand an ihrem Platz. Vielleicht ging es Arthur Robinson finanziell nicht gut, dann würde es noch einfacher werden.

Plötzlich war dessen Stimme zu hören, gefolgt von seinem Erscheinen in der Tür zum Büro. Zunächst erging es ihm wie den anderen Passanten. Ein ungläubiger Blick, dann die Vermutung, einer Geistererscheinung aufzusitzen.

»Was hast du Abschaum hier zu suchen?«, donnerte er ihm entgegen.

Nepomuk Burke tat sich schwer, seinen Unmut im Zaum zu halten. Mit einer derart impulsiven Reaktion hatte er nicht gerechnet. Doch dies war sein Moment und er allein würde die Situation kontrollieren.

»Ist das die feine Art, einen alten Freund zu begrüßen?«, versuchte er sich in gespielt freundlichem Ton.

»Ein Freund? Würde es nicht gegen die guten Sitten verstoßen, würde ich dich aufknüpfen, an den Haken der Glocke hängen und genüsslich dabei zusehen, wie dir dein hässliches Grinsen aus der Visage fällt!«

Arthurs enthemmter Ausbruch vertrieb Nepomuk die Worte. Doch er bemerkte den unsicheren Stand des Buchhändlers. Wie es schien, hatte sich nicht nur für ihn selbst einiges verändert. Auch der Junge war nirgends zu sehen.

»Wunderbar, dann hat sich an unseren ursprünglichen Absichten ja nichts geändert.«

Er trat einen Schritt näher an den Tresen und bemerkte zufrieden, dass Arthur die Fäuste ballte und am hüfthohen Holz Halt suchte.

»Es ist gut, wenn man sich auf Altbewährtes verlassen kann. Nun, wir sind bei unserer letzten Begegnung irgendwie unglücklich auseinandergegangen. Dabei hatte ich so große Pläne.«

Nepomuks Finger tänzelten über den Verkaufstisch in Richtung des hellen Fleckes, auf dem sonst die Kasse stand.

»Mir scheint, mit deinen Plänen steht es nicht so gut. Keine Kunden, weder Glocke noch Kasse sind da und auch der Junge ist nirgends auszumachen. Man könnte meinen, das Schild über der Tür gaukle ein noch existierendes Geschäft vor.«

Sein Lächeln war der Ausdruck höchster Genugtuung. Was immer es mit Arthur Robinson auf sich hatte, es war gut zu wissen, dass es ihm schlecht ging.

Der Buchhändler zog sich an der Kante entlang. »Wie immer ziehst du voreilige Schlüsse und verstehst die Dinge falsch.«

Für einen Moment hielt Nepomuk inne und horchte auf die dunkle Energie in seinem knorrigen schwarzen Gehstock. Übersah er etwas und begab sich womöglich auf zu dünnes Eis? Sein magischer Helfer machte allerdings keine Anstalten, auf irgendwelche Besonderheiten zu reagieren. Er würde es also darauf ankommen lassen.

»Dann formuliere ich es eben auf andere Weise: Es sieht danach aus, als könnten wir dort weitermachen, wo wir einst aufgehört haben.«

»Niemals wirst du dieses Buch in die Finger bekommen!«, donnerte Arthurs kräftige Stimme ihm entgegen. »Nicht noch einmal!«

Nepomuk musste herzhaft lachen. Er stützte sich auf den Gehstock und lehnte sich auf die Fersen, um seinem Gegenüber mit durchgedrücktem Rücken und erhobenem Kinn seine volle Verachtung mitzuteilen.

»Wer ist es nun, der voreilige Schlüsse zieht, mein lieber Arthur? Ich benötige dieses Buch nicht, um dir alles zu nehmen. Zudem gibt es andere, wesentlich interessantere magische Bücher. Das weiß ich nun.«

Durch Arthurs Blick flackerte ein Hauch von Irritation.

Welch ein Vergnügen!

»Vielleicht helfe ich deinem schwächelnden Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge: Ich werde dieses Gebäude wie auch alle angrenzenden Bauten kaufen. In diesem Zuge wird Robinson Books & Antiques dem Erdboden gleichgemacht. Bloß weil es mir danach beliebt!«

Nepomuks Stimme hob sich, klang beinahe so schrill wie ein junges Mädchen. Die erhoffte Wirkung auf den Buchhändler stellte sich jedoch nicht ein. Sein Bart zuckte nur, in den Augen lag Gleichgültigkeit.

»Gott sei es gedankt, dass für derlei Hirngespinste nicht der bloße Wille genügt.«

Arthurs Anspannung ließ sichtbar nach. Er machte sogar Anstalten, einen Schritt zurückzutreten. »Auch mit Geld lassen sich Gesetze nicht aushebeln. Sofern du überhaupt noch welches hast, nach dem die Geier bei dir waren.«

Nun traf ihn selbst der Hohn und der war wahrlich nicht unbegründet. Kaum hatte es geheißen, er sei verschollen, hatten sich Diebe in sein Anwesen geschlichen und sämtliche Wertsachen entwendet. Dem Geld auf der Bank konnten sie indes nicht habhaft werden.

»Geld verändert zwar die Welt, aber Macht formt sie«, entgegnete Nepomuk, um Festigkeit in der Stimme bemüht. An diesen Grundprinzipien konnte niemand rütteln, nicht einmal er selbst, falls er dies überhaupt wollte.

»Meine Faust kann och jut form’«, kam es aus dem Hintergrund. »Is jut möchlich, dat et dann och deine Welt vaändert. Ick werd mir dafür jedenfalls Mühe jeben.«

Ein hochgewachsener junger Mann trat aus Arthurs Schatten. Eindeutig nicht Mr. Ward.

Nepomuk stutzte. Bei seinen Nachforschungen zu den magischen Büchern hatte er davon gehört, dass es Wesen gab, die diese Exemplare beschützen. Deshalb hatte er sich seinerzeit auch Gillian Cleverdon bedienen müssen, um diese beiden auszuschalten. Er hatte sämtliche Fallen und Sicherungen in Arthurs Laden konstruiert. Aber gesehen hatte er bis dato wahrlich keines. So überkam ihn mehr Freude als Furcht, auch weil er wusste, dass diese Wesen nicht unfehlbar waren. Insbesondere die in Arthurs Laden.

Nun trat eine weitere Gestalt hervor. Kräftiger in der Figur, das runde Gesicht aber ebenso von Unmut dominiert.

»Ich muss gestehen, dass es mir wie meinem Freund geht«, sagte sie, blieb jedoch hinter Arthur. Der Buchhändler wandte sich nicht einmal um. Entweder konnte er sich blind auf die beiden verlassen oder er wollte sich das Zepter nicht durch eine Ablenkung aus der Hand nehmen lassen.

Nepomuk lehnte sich nach rechts und links, um tiefer in den Laden zu spähen. Gut möglich, dass es noch weitere Überraschungen gab. Dabei kam ihm der leere Platz auf dem Tresen ins Blickfeld. Mit einem Mal erhellte sich seine Miene.

Sie sind die Kasse und die Türglocke! Deshalb sind ihre Plätze verwaist. Welch Kuriosum! Kein Wunder, dass sie mir nie zuvor aufgefallen sind.

»Ich schlage vor, du gehst, denn an dem Umstand, dass du hier unerwünscht bist, hat sich nichts geändert«, sagte der Buchhändler unvermittelt.

Was Arthur an Standfestigkeit fehlte, glich seine Stimme aus. Nepomuk unterschätzte seine Entschlossenheit besser nicht. Dennoch kam ihm ein Lächeln über die Lippen.

»Wann immer ich diesen Laden zur Sprache bringe, wirst du zum Griesgram, lieber Arthur. Wäre es nicht eine Erlösung, die schmerzlichen Erinnerungen loszulassen?«

Arthur tat einen großen Schritt auf ihn zu. Nepomuks knorriger Gehstock zuckte gierig in seine Richtung.

»Jemand, der stets nur Macht und Geld geliebt hat, wird die wahre Bedeutung solch eines Geschäftes nie verstehen. Bücher sind ein Geschenk, eine Bereicherung. Sie vor jemandem wie dir zu schützen, ist das, wonach die Buchwächter streben. Und nun verschwinde, bevor ich mich zu drastischeren Maßnahmen gezwungen sehe.«

Der Buchhändler packte Nepomuk am Arm, um ihn vor die Tür zu befördern. Ruckartig schwang sein Gehstock herum und hieb gegen Arthurs Unterarm. Der stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus und ging in die Knie.

»Wie mir scheint, ist mir noch nicht nach gehen«, erwiderte Nepomuk süffisant.

Kurzerhand trat der Buchhändler gegen das untere Ende des Stockes und beförderte es gegen sein Schienbein. Dem Pochen im Bein folgte eine Welle des Zorns.

Nepomuk umfasste den Stock mit fester Hand und stieß Arthur das runde Ende in den Bauch.

Überraschenderweise taumelte der Riese nur für einen Moment, dann packte er das knorrige Schwarz und drückte es samt seiner Person mit ungeheurer Kraft in Richtung Tür.

»Du hast nicht den blassesten Schimmer, wer ich bin.«

Die große Gestalt wirkte wie eine Flutwelle. Nepomuk beschlich das Gefühl, vielleicht doch übertrieben zu haben. Doch er hatte seinen Beschützer unterschätzt. Der Gehstock bremste Arthurs Eifer und stemmte sich gegen ihn.

Aus dem Nichts traf ein seitlicher Tritt den Gehstock. Der schmächtige Buchwächter stand plötzlich neben ihnen, beraubte ihn nun seiner Verteidigung. Ohne Gleichgewicht taumelte Nepomuk in Arthurs Arme. Der machte kurzen Prozess, schloss die große Hand um sein Gesicht und drückte so fest zu, dass er blindlings der fremden Bewegung folgen musste. Im nächsten Moment packte jemand ihn an den Armen und zerrte ihn zum Ausgang.

Er spürte das wilde Zucken des Stockes, der nach weiteren Möglichkeiten zum Angriff suchte. Dumpf traf er auf etwas und Nepomuks linker Arm war plötzlich frei.

»Du zappeliges Biest!«, hörte er den rundlichen Wächter brüllen.

Dem wutentbrannten Ausruf folgte ein Ruck, der ihm das Handgelenk verdrehte. Bevor der Schmerz zu groß wurde, ließ Nepomuk los. Mit Wucht flog er gegen die Tür. Glas schepperte beim Aufprall seines Kopfes.

Arthurs riesige Hand zog sich zurück, um den Türknauf zu packen.

»Sieh zu, dass du verschwindest.«

Der dürre Buchwächter schubste ihn erneut in Richtung der sich öffnenden Tür. Hinter ihm kämpfte der andere mit seinem Gehstock. Wie magnetisch angezogen schoss der Stock plötzlich in den Türrahmen und verkeilte sich in der Öffnung.

Der runde Kerl stürmte auf ihn zu.

»Das darf doch nicht wahr sein!«

Nepomuk unterdrückte ein Lachen. Noch nie hatte sein Helfer ihm so tatkräftig beistehen müssen. Umso unterhaltsamer war es, mit welcher Kreativität er dies tat. Als der schlaksige Buchwächter ihn nun jedoch mit aller Kraft gegen den Stock presste, um ihn mit roher Gewalt nach draußen zu befördern, nahm der Spaß ein abruptes Ende. Diese Gruppe war wahrlich voller Aggressionen und ging nicht zimperlich mit ihm um. Dem Ziehen und Zerren seiner Angreifer nach zu urteilen, musste der Gehstock wahrlich fest sitzen.

»Lasst von ihm ab«, befahl Arthur in barschem Ton.

»Aba diesa Kackvojel hat hier nüscht …«

Ein eindringlicher Blick des Buchhändlers und der Buchwächter verstummte. Auch der andere ließ von ihm ab. Der plötzliche Sinneswandel irritierte Nepomuk, wenngleich der nachlassende Schmerz und Druck eine Wohltat waren. Nur langsam glitt der Gehstock vom Türrahmen zurück in seine Hand. Mit ihm an seiner Seite stellte sich endlich wieder das Gefühl von Kontrolle ein.

Arthur riss mit einem Mal die Tür auf und verpasste Nepomuk einen kräftigen Stoß gegen die Brust. Der Schlag presste ihm die Luft aus der Lunge und beförderte ihn unsanft auf die Pflastersteine vor dem Laden. Schmerz zuckte durch die Ellenbogen, machte es ihm unmöglich, sich aufzurichten. Stöhnend rollte Nepomuk auf die Seite.

»Wage es nie wieder, auch nur in die Nähe meines Geschäftes zu kommen, du …« Arthur stoppte urplötzlich.

Der schwarze Stock schoss in die Senkrechte, doch das war nicht der Grund seines abrupten Innehaltens. Der Schatten einer Dame lag auf Arthur, die die Szene mit aufgerissenen Augen und der behandschuhten Hand vor dem Mund verfolgte.

»Niemals werde ich …« Sein kläglicher Versuch aufzustehen endete in unbeholfenem Wegknicken. »Was du willst, Arthur« – der Gehstock bot ihm nun genug Halt, um zumindest auf die Beine zu gelangen – »interessiert mich einen feuchten Kehricht. Natürlich werde ich wiederkommen. Und ganz gewiss nicht allein.« Nepomuk hielt sich einen der brennenden Ellenbogen. »Das, mein alter Freund, war erst der Anfang!«

Arthur machte einen Satz auf ihn zu. Eine Geste, die ihn ausweichen ließ. Aus dem Hintergrund zogen Pferde eine Kutsche herbei. Ein rettendes Eiland, das Nepomuk schleunigst aufsuchte. Sein gehässiges Grinsen bei der Vorbeifahrt durch die Scheibe sollte dem Buchhändler ruhig noch lange im Gedächtnis bleiben. Er wusste, dass er keine Chance hatte, wenn er die richtigen Kaliber auffuhr.