GREGORY BENFORD
DAS RENNEN ZUM MARS
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
www.diezukunft.de
Erster Teil – Die Mars-Unternehmer
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
Zweiter Teil – Eine Mars-Odyssee
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
Dritter Teil – Vorposten Mars
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
Vierter Teil – Der Mars braucht Frauen
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
Fünfter Teil – Mars City
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
DANKSAGUNG
ERSTER TEIL
Die Mars-Unternehmer
Es schien … dass, wenn er und andere hohe Herrschaften schon nicht danach strebten, dieses Wissen zu erwerben, die Seefahrer und Kaufleute es gar nicht erst versuchen würden; denn es ist verständlich, dass keiner von ihnen die Mühe sich machen würde, ohne die begründete Aussicht auf Gewinn überhaupt an irgendeinen Ort zu reisen.
– Prinz Heinrich der Seefahrer,
Würdigung der Motive für Forschungsreisen zur See,
um 1420.
11. Januar 2018
»Willkommen daheim auf dem Mars!«
Sie eröffnete diese öffentlichen Sendungen immer auf die gleiche Art. Prononciert, freundlich, aufgeschlossen.
»Viktor und ich befinden uns in der Nähe des Nordrands des Gusev-Kraters und führen letzte Vermessungsarbeiten durch.«
In Wirklichkeit mussten wir das Habitat ein letztes Mal verlassen. Um uns ein letztes Mal umzusehen und noch ein wenig Zeit miteinander zu verbringen, bevor wir uns wieder in dieses Mutterschiff von der Größe eines Schuhkartons quetschen.
»Die meisten von Ihnen werden den wunderschönen Anblick bereits kennen.«
Ich hoffe, ihr langweilt euch nicht jetzt schon und geht an den Kühlschrank.
»Und doch ist es immer wieder ein schönes Bild, wie die hohen Wälle von der Nachmittagssonne angestrahlt werden. Sie sind einen Kilometer hoch.«
Hoffe, sie erinnern sich nicht mehr daran, dass ich fast dasselbe Gelände vor einem Jahr schon einmal abgehandelt habe. Die Vervollständigung eines Koordinatensystems ist nicht aufregend, doch vielleicht sollten wir das Publikum nicht zu sehr verwöhnen. Zumal Axelrods Medienfritzen diesen Teil sowieso einfach rausschneiden würden.
»Wir suchen hier nach außergewöhnlichen vulkanischen Aktivitäten, ob fossile Funde oder sogar aktuelle Emissionen. Und auch nach biologischen Hinweisen – ich habe noch Hoffnung. Wir müssen die Augen offenhalten. Der Mars verbirgt nämlich viele seiner Geheimnisse im Staub! Wir haben zwar noch nichts gefunden, aber ein paar von Ihnen werden sich vielleicht erinnern – Viktor, würdest du die Kamera bitte nach Osten schwenken? –, dass wir dort drüben ein paar Lavaröhren ausgemacht haben, die so groß sind, dass man aufrecht in ihnen stehen könnte. Das war vielleicht spannend! Marc hat mit der Radiokarbonmethode ermittelt, dass die Lava vor fast einer Milliarde Jahren durch die Röhren geflossen ist.«
Genau, und es gibt auch keinerlei Anzeichen für spätere Aktivitäten. Ich wette, Axelrods PR-Manager werden den ganzen Abschnitt rausschneiden.
Nicht, dass ich mir etwas daraus machen würde. Ich muss inzwischen über dreihundert dieser Infotainment-Sendungen moderiert und jedes Mal Begeisterung geheuchelt haben. Zumindest in diesem Beitrag gibt's was fürs Auge. Der Rückflug wird noch schlimmer werden als diese laaaangen sechs Monate, die wir für den Hinflug gebraucht haben. Nichts zu melden außer wissenschaftlichen Details. Es wird uns nicht mehr möglich sein, die Gefahren der Landung zu dramatisieren oder über sensationelle Funde zu spekulieren wie auf dem Hinweg. Vielleicht ein paar Anmerkungen zu den Risiken der Atmosphärenbremsung, doch das sind Kinkerlitzchen. Unsere unbeschadete Rückkehr steht wohl jetzt schon fest, so dass die Buchmacher nicht einmal mehr Wetten dagegen annehmen.
»Also bleiben wir dran. Noch eine Nacht hier draußen, und dann zurück zur Basis, um die Startvorbereitungen zu treffen. Wird sicher spannend!«
Mein Lächeln muss inzwischen gefroren sein …
Mein Lächeln muss inzwischen gefroren sein …
»›Auf Wiedersehen‹, sagt Julia vom Mars.«
* * *
Sie streckte die Zunge heraus. »Arrrgh! Ich mach das nun schon seit zwei Jahren, und ich weiß noch immer nicht, was ich sagen soll.«
Viktor nahm die Kamera herunter. »Sei spontan. Besser ist das.«
»Mein Gott, wenn es im Vertrag nicht so festgelegt wäre …«
»… hättest du nicht mal ein Dutzend Sendungen gemacht. Ich weiß. Das hast du vielleicht schon tausendmal gesagt.«
»Marc kann das viel besser als ich.«
»Marc ist aber nicht hier. Willst du deine Eltern kurz grüßen?«
Das hob ihre Stimmung. »Klar, lass laufen.«
Julia nahm eine nicht mehr ganz so heroische Haltung ein und verlagerte den Körperschwerpunkt aufs andere Bein. Sie steckte im Druckanzug, durch den sie kompakt und massig wirkte, und als Viktor das Bild heranzoomte, sah man auch, dass der Anzug verschrammt und verblichen war. Die Farbe war einmal ein schmuckes Königsblau gewesen, die wohl geschmackvollste Farbe der vier Anzüge, doch unter der UV-Strahlung und den Peroxiden auf dem Mars hatte der Raumanzug arg gelitten. Nun wirkte Viktors Gelb frischer und vorteilhafter.
Viktor winkte, und sie sagte: »Hallo, Mums und Dad. Ich bin mal wieder unterwegs. Hat's euch denn gefallen auf der Känguru-Insel? Fällt mir schwer, die alten Adleraugen offenzuhalten, wo ich weiß, dass wir in ein paar Wochen den Rückflug antreten. Mensch, ich krieche bald auf dem Zahnfleisch! Viktor gönnt mir mal 'ne Pause, 'ne Sause für die Frischvermählten.«
Hups, was rede ich wieder für ein dummes Zeug … ich sollte lieber das Thema wechseln.
»Es ist irgendwie schwierig mit Marc und Raoul. Nichts Grundsätzliches, nur empfindlich und reizbar. Die beiden, meine ich. Ich bin eine Seele von Mensch; wie immer.«
Sie grinste, legte eine Pause ein und ließ den Blick schweifen, wobei sie sich fragte, wie ihren Eltern die Landschaft wohl gefiel. Viktor folgte mit der Kamera ihrem Blick; er beherrschte das inzwischen wirklich gut.
»Seht ihr diesen Auswuchs dort drüben? Ich glaube, er wurde von dem Meteor aufgeworfen, der den Thera-Krater geschlagen hat. Spritzeffekt-Signatur, radial nach außen gerichtet. Also schaute ich mich um und versuchte zu ermitteln, wie viel Wasser es hier einmal gegeben hat. Außerdem habe ich ein paar Gesteinsbrocken zertrümmert und den Gehalt an Mineralien bestimmt. Routinearbeit, in anderen Worten. Damit niemand mir vorwerfen kann, ich hätte in meiner Eigenschaft als Hilfskraft das ganze Projekt verzögert!«
Sie seufzte und spürte, wie die alte emotionale Blockade wieder einsetzte: sie war einfach nicht imstande, auf Kommando von »wahrer Befindlichkeit« auf »aufgesetzte Fröhlichkeit« umzuschalten. Sie hätte etwas von dem Thera-Kram in der Sendung bringen sollen. Neuer Versuch.
»Ich vermisse euch. Hoffe, du hast deine Viro-Behandlung gut überstanden, Dad. Auf dem letzten Bild, das ich bekommen habe, hast du großartig ausgesehen. Wir hatten Probleme mit dem Signal im oberen Frequenzbereich. Vielleicht haben wir deine letzten Bilder vor zwei Tagen verloren. Hoffe, es wartet eins auf mich, wenn ich zur Basis zurückkomme. Vergangene Nacht habe ich geträumt, ich würde ein Bad nehmen. Schlicht und einfach ein Bad nehmen. Da seht ihr mal, welche sinnlichen Freuden ich vermisse, was? Eine große Bürste in einer großen Wanne, wie wir sie im alten Haus hatten; wisst ihr noch? Liebe Grüße an den Rest der Familie!«
Sie hatte sich kurz gefasst, denn wenn sie noch mehr gesagt hätte, wäre sie in eine gestelzte Ausdrucksweise verfallen. Vielleicht war es sogar schon passiert. In den ersten Monaten hatte sie die Aufnahmen – die öffentlichen und die privaten – noch einmal abgespielt und geschnitten, bevor die Hochleistungsantenne sie zur Erde abstrahlte. Nun »zensierte« sie die Aufnahmen nicht mehr. Wenn sie die Erde erreichten, waren sie eh schon Geschichte. Und wenn sie sich vor der Kamera kratzte – sei's drum.
»War gut«, sagte Viktor und schaltete mit einer lässigen Handbewegung die Kamera aus.
»Gehen wir.«
Sie setzte sich in Richtung des Rovers in Bewegung, dessen schwefelgelber Anstrich einen schrillen Kontrast zum pinkfarbenen Sand und Gestein darstellte. Gegen Mittag war der Mars eher orange als rot, denn das fast senkrecht einfallende Licht wurde nicht so stark vom feinen Staub gestreut, der ständig in der Luft hing.
In der Ferne wanderte eine der allgegenwärtigen Mars-Windhosen aus Staub über die öde Ebene. Sie hatte schon Hunderte gesehen, fast an jedem Tag eine. Die einen Kilometer hohen Erscheinungen schleuderten die rostigen Sandkörner der Oberfläche wie ein Sandstrahlgebläse in die dünne Atmosphäre.
Sie hatte es schon lang aufgegeben, sich nach grünen Hügeln und weiten Meeren zu sehnen. Nun begnügte sie sich mit der schlichten, aber variantenreichen Palette des Mars, seinen bedeutungsschweren Braun- und Rosatönen. Das Bewusstsein war anpassungsfähig. Dennoch waren Eisenoxide nur ein bescheidenes Ergebnis vom Wirken der Naturkräfte. Der Bildschirmschoner des Notebooks in ihrer Unterkunft zeigte einen Hügel in einer grünen irischen Landschaft, der sanft zur stürmischen See hin abfiel. Wenn sie wieder zu Hause war, würde sie dieses idyllische Fleckchen Erde suchen und dort für eine Weile leben. Vielleicht für immer. Und sich eine Echtzeit-Abbildung des Gusev-Kraters an die Wand hängen.
* * *
»Was ist das?«
Viktor schaute aus dem Sichtfenster und bremste den Rover ab. »Wolken. Ganz in der Nähe.«
Der dünne weiße Nebel lichtete sich. »Wie weit?« Ihr Herz klopfte, und plötzlich waren die Sinne als Biologin wieder geschärft. Wasserdampf zu dieser Tageszeit deutete auf eine Fumarole oder einen Geysir hin.
»Schwer zu sagen. Am Horizont. Jedenfalls in weiter Ferne.«
»Oder in der Nähe. Verdammt, sie ist verschwunden.« Sie hatte den Dunst aus dem Augenwinkel erspäht, und er hatte nur für ein paar Sekunden Bestand gehabt.
»Ist aufgestiegen.«
»Ja, den Eindruck hatte ich auch.«
Sie hatten ein paar kleine Hügel umfahren. Um Zeit zu sparen, fuhr Viktor auf dem kürzesten Weg zur Basis zurück. Die Route führte einen langen sandigen Abhang hinab. Die Wolke hatte über den Hügeln im Osten gehangen; einem Gebiet, das sie wegen der komplexen Topographie noch nicht lückenlos vermessen hatten.
»Schweres Gelände.«
Einen letzten Versuch? »Sehen wir trotzdem nach.« Lieber spät als nie auf eine vulkanische Erscheinung stoßen.
Nach einer Stunde wollte sie aufgeben. Viktor war ein routinierter Fahrer und manövrierte sie geschickt durch ausgetrocknete Rinnen, in denen vielleicht Wasser oder Schlamm geflossen war, noch bevor die ersten Amphibien an die Strände der Erde gekrochen waren. Sie fuhren im Slalom um sandgefüllte Mulden; sie waren vielleicht einmal mit Eisablagerungen gefüllt gewesen, die allerdings längst verdunstet waren. Marc hatte die Region seismologisch untersucht und unterirdische Eisschichten in einer Tiefe von ein paar Dutzend Metern festgestellt, dazu markante Linien, bei denen es sich vielleicht um Lavaröhren handelte. Doch durch Erosion und Staubverwehungen waren die meisten Spuren längst verwischt.
»Dort!«, flüsterte er.
Eine gelbweiße Wolke stieg hinter einem flachen Grat auf. »Es ist ganz in der Nähe!«
Er beschleunigte den Rover, und je schneller er wurde, desto schneller ging auch ihr Puls. So etwas hatten sie noch nicht gesehen in den fünfhundert Tagen, die sie über den Boden des hundertfünfzig Kilometer durchmessenden Gusev-Kraters gekrochen waren. Die ganze Zeit über hatte sie die Hoffnung gehegt, das Leben hätte sich unterirdisch etabliert, geschützt vor der Kälte und Trockenheit. Mit Marc hatte sie jeden Quadratzentimeter des kleineren Thera-Kraters abgesucht, jedoch ohne Erfolg.
Über den Kamm und einen steinigen Abhang hinunter auf eine Grube zu, die sich in nichts von Tausenden anderer unterschied, die sie bereits gesehen hatte. Allerdings stieg über dieser Senke eine tränenförmige Wolke auf und stand schließlich hundert Meter hoch in der pinkfarbenen Luft wie eine Ausdünstung – wovon?
»Vulkanische Erscheinung, was?« Ein Grinsen huschte über Viktors Gesicht.
»Psst. Sonst hören die Mars-Götter dich noch und zaubern sie weg.«
Er stellte den Rover am Rand der Senke ab, während sie schon die Ausrüstung von den Wandhalterungen nahm. Weil die Wände der Senke ziemlich steil abfielen, brauchte sie auch noch die Kletterausrüstung. Sie hatte sich angewöhnt, die Ausrüstung im Rover aufzubewahren, damit der Staub nicht zwischen die beweglichen Teile gelangte. Sogar das starke Seil verschliss durch den wie Scheuerpulver wirkenden Sand.
Viktor teilte Marc über Funk mit, dass sie nach draußen gingen und wo sie sich befanden. Ihren Fund verschwieg er; es hatte keinen Sinn, erst Hoffnungen zu wecken, die sich dann vielleicht als falsch erwiesen.
Durch die Schleuse nach draußen, wobei sie trotz der Aufregung einen kühlen Kopf bewahrte. Eile mit Weile, zumal die Schleuse sich den Öffnungsversuchen zunächst widersetzte. Die Dichtungen klebten zusammen.
Draußen verschaffte sie sich zunächst einen Überblick über das Gelände. Steile, sandige Abhänge waren nicht nach ihrem Geschmack. Der Trichter mit dem Fünfzehn-Grad-Gefälle hatte eine Tiefe von etwa zehn Metern und mündete in einem Loch mit einem Durchmesser von ungefähr drei Metern. Julia stufte den Trichter, dessen Felswände vom allgegenwärtigen Flugsand des Mars überzogen waren und der sie an eine überdimensionierte Ameisenlöwen-Grube erinnerte, als vulkanischen Explosionskrater ein. »Sieht aus wie ein alter Krater.«
»Siehst du diese Felsbrocken am Rand?« Viktor wies auf die entsprechende Stelle.
»Richtig, die gelben und weißen Flecken? Ungewöhnliche Verfärbungen.«
»Vielleicht Kondensat.«
»Hoffe es.«
Sie fühlte den irrationalen Drang, die Luft einzusaugen, um festzustellen, aus welchem Gas die Wolke bestanden hatte. Das Seil und den Flaschenzug befestigten sie an der Seilwinde beziehungsweise am Kabelgeschirr am Heck des Rovers. Der Abstieg hatte seine Tücken, weil die Gefahr bestand, dass sie auf dem feinen Sand ins Rutschen gerieten. Sie hatten das Seil am Karabinerhaken des Anzugs befestigt. Viktor folgte in ihren Fußstapfen. Mit sicheren Schritten ging sie zum Rand des Lochs, doch dann setzte sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um zu sehen, ob die Abbruchkante ihr Gewicht trug. Vor ein paar Monaten war Marc abgestürzt, als ein Felsvorsprung unter ihm weggebrochen war. Er hatte danach wochenlang gehinkt. Beim Blick nach unten sah sie schlierenartige Verfärbungen des felsigen Schlunds, der sich hinab in die Dunkelheit erstreckte.
Viktor kniete neben einem Auswuchs. »Eis.«
»Was? Hier?«
Wasser auf der Marsoberfläche war unwahrscheinlich. Es würde sofort verdunsten. Doch auf den Felsbrocken nahe des Lochs glitzerte eine hellorangefarbene Schicht. »Fumarole«, sagte Viktor.
»Denk an die Götter«, sagte sie geistesabwesend.
»Ich gehe rein«, sagte er und straffte entschlossen das Seil.
»He, ich bin hier die Biologin. Ich werde erst eine Probe von dieser Schicht nehmen …«
»Ich habe nichts dagegen. Und weil ich der Kommandant bin, gehe ich.«
Er seilte sich ab. Er hatte sogar Platz genug, um mit den Füßen Halt zu finden und den Steilhang hinabzusteigen. Sie kniete nieder, kratzte mit einer sterilen Spachtel die Schicht ab und deponierte sie in einem Probenbeutel. Die Probenbeutel gingen ihr allmählich aus, doch nun hatte sie wenigstens …
»Au!«
Sie drehte sich um und sah ihn mit einer gravitätischen Langsamkeit abstürzen, die sie niemals vergessen würde.
»Viktor!« Mit dem Schrei versuchte sie seinen Sturz zu bremsen.
Knapp unterhalb der Kante hatte Viktor sich während eines angetriebenen Abstiegs mit dem linken Fuß verhakt. Beim Versuch, die Stiefelspitze zu befreien, nutzte er die Körpermasse als Gegengewicht. Es gelang ihm auch, den Fuß zu drehen. »Ah!« Sein zweiter Schrei gellte in Julias Helmlautsprecher, als er durch den Rückstoß gegen die Wand des Lochs prallte. Der rechte Arm schlug gegen die Wand, und eine rote Staubwolke quoll aus dem Loch.
»Was ist los?«
Er versuchte, den linken Fuß zu belasten. »Verdammt, tut das weh.«
Der Staub senkte sich schon wieder herab, als sie sich über Viktors Seil beugte. Die Oberseite des Helms wurde noch immer vom Licht beschienen. »Wie schlimm ist es denn?«
»Glaube nicht, dass etwas gebrochen ist.«
»Hoffentlich ist es nur eine Verstauchung.«
»Ich hatte keinen Halt mit dem Stiefel gefunden. Der Fels ist sehr glatt.«
»Sieht so aus, als ob das Gestein vereist wäre. Ist wohl aus der Wolke kondensiert.« Sie würde der Sache später auf den Grund gehen.
Per Fernbedienung betätigte er die Winde und stieg zu ihr empor. Sie zog ihn auf den schmalen Sims des Lochs und sagte ihm, er solle liegenbleiben. Sie öffnete den Reißverschluss am Beinabschluss der Thermo-Gamasche und tastete mit beiden Händen vorsichtig den Beinabschluss des darunterliegenden Druckanzugs ab. »Der Anzug scheint aber nicht beschädigt zu sein. Keine Risse. Was ist mit der Selbstheilung?«
Weil der verdammte Staub sich auf dem Helmvisier niedergeschlagen hatte, sah sie ihn nicht; doch sie wusste, dass er die Anzeigen an der Innenseite des Helms ablesen würde. »Normal.« Seine Stimme klang dünn und angespannt.
»Gut. Wie fühlst du dich?«
Er regte sich. »Wie durchgekaut und ausgespuckt«, sagte er stöhnend. »Ich bin fix und fertig. Der Fuß schmerzt wie die Hölle.«
Beschäftige ihn. Du darfst keinen Schock riskieren. Sie war zwar keine Ärztin, doch rief sie nun das Wissen ab, das sie sich während der einjährigen Sanitätsausbildung angeeignet hatte. »Nun hast du die Quittung für deine Kapriolen bekommen«, sagte sie.
»Ächz. Ich kann ihn nicht bewegen.«
Sie runzelte die Stirn und fragte sich, wie schwierig es wäre, ihn zurück zum Rover zu schaffen. Hilfe war über vierzig Kilometer entfernt, und sie fuhr das einzige Fahrzeug mit Druckkabine auf diesem Planeten. Die Missions-Bestimmungen beschränkten den offenen Rover auf einen Aktionsradius von maximal fünfundzwanzig Kilometern, so dass die beiden es aus eigener Kraft schaffen mussten. Sie zog in Erwägung, Marc auf der Notfrequenz anzurufen; und sei es nur aus dem Grund, um moralischen Beistand zu erhalten. Nein, konzentriere dich auf Viktor. Im Rover hätte sie noch genug Zeit für die Analyse. Falls es ihr gelang, ihn dorthin zu bringen.
»Genug gefaulenzt. Hoch mit dir!«
»Au … in Ordnung.« Seine leicht nuschelnde Stimme beunruhigte sie. Sie waren beide erschöpft, und es bestand die akute Gefahr eines Schocks.
Umständlich legte sie ihm den linken Arm um die Hüfte, wobei sie sich vorkam wie ein Kind in einem Skianzug. Erfolgte zwischen Personen, die einen Raumanzug trugen, Körperkontakt, mutete das irgendwie irreal an, weil keine Rückmeldung von der Haut kam. Dennoch gefiel es ihr, ihn zu umarmen; selbst auf diese Art. Seit sie vor einem Jahr aus dem Erdorbit ausgeschert waren, hatten sie auf engem Raum zusammengelebt.
»Ich habe da ein tolles Zeug im Rover, bei dem du dich wie ein neuer Mensch fühlen wirst.«
»Will mich wieder wie der Mensch fühlen, der ich war.«
»Komm schon, steh auf!«
»Wieso ziehst du mich nicht am Seil hoch? Ich bleibe liegen …«
»Ich glaube nicht, dass ich das könnte.«
»Zieh mit dem Rover.«
»He, ich hab hier das Sagen.«
»Auuuu!«
Mit ihrer Hilfe hievte er sich auf das rechte Bein und stützte sich schwer auf sie. Gemeinsam versuchten sie die Balance zu halten. Fast wären sie ins Loch gestürzt, doch dann bekamen sie einen festen Stand. Sie hatte längst den Überblick verloren, wie oft die 0,38 Ge des Mars ihnen schon aus der Patsche geholfen hatten. Das war aber auch das einzig Gute an dem Planeten.
»Super. Du hast es geschafft, Liebling.« Behalte diese Linie bei und versetze ihn nicht in Panik. »Fertig? Ich werde gehen, und du hüpfst neben mir her.«
Wie ein betrunkenes dreibeiniges Sackhüpf-Team quälten sie sich von der Winde gezogen die Kraterwand hinauf. Ihr werdet als ein Team arbeiten, hatte der Ausbildungsleiter ihnen eingehämmert, doch dass es darauf hinauslaufen würde, hätte sie sich nicht träumen lassen. Aus dem Lautsprecher drang sein Schnaufen und Keuchen. Der geringen Schwerkraft zum Trotz raubte das Hüpfen über körnige Staubverwehungen Victor die Kraft. Zum Glück war der Rover nur ein Dutzend Meter entfernt.
Langsam, aber stetig näherten sie sich ihrem Ziel. Er lehnte sich gegen den Rover, während sie zuerst ihre Gurte löste und dann seine. Sie rollte ihn in die Schleuse und aktivierte die Durchlaufsequenz. Keine Zeit, den Staub abzubürsten, doch streifte sie ihm wenigstens den Overall ab, den sie über dem Anzug trugen, um die Staubbelastung so gering wie möglich zu halten. Sie hängte ihn zusammen mit ihrem Anzug an die Haken neben der Schleuse. Auf die übliche Dusche am Eingang verzichteten sie ebenfalls. Sie stieg mit ihm in die Schleuse und verriegelte sie. Dann betätigte sie den Schalter für die Pumpe, und aus einem halben Dutzend Düsen strömte mit einem Pfeifen Sauerstoff in die Schleuse.
Schnaufend schaltete die Durchlaufsteuerung sich ab. Sie steckte in der Schleuse fest und vermochte sich nicht zu ihm umzudrehen. Sie spürte, wie der Aufbau des Rovers wankte. Gut; er hatte sich aus der Schleuse gerollt und lag auf dem Boden.
Das Klingelzeichen ertönte: maximaler Druck, der neunzig Prozent des irdischen Werts entsprach. Sie unterbrach die Sauerstoffzufuhr zum Anzug, löste die Helmverschlüsse und schälte sich hastig aus dem Parka, den Überschuhen und aus dem Anzug. Sie fröstelte, als sie die kühle Kabine betrat: sie hatte doch tatsächlich auf dem Mars geschwitzt – eine ganz neue Erfahrung.
Plötzlich spürte sie ein Kribbeln und Jucken im Gesicht und am Hals und wünschte sich, sie hätte sich abgestaubt. Die übliche Prozedur bestand darin, die Anzüge draußen mit einer weichen Bürste abzubürsten. Ein Genie von der Missions-Planung, das anscheinend über Camping-Erfahrung verfügte, hatte mitgedacht und den Rover mit einer Bürste ausgestattet, die alsbald zu ihrem wertvollsten Besitz zählte. Die Marsoberfläche war nämlich dick mit feinem, rostroten Staub überzogen, der wiederum mit hautreizenden Peroxiden gesättigt war. Ihre Haut hatte sich angefühlt, als ob sie während der ganzen Monate in der Basis mit feinkörnigem Sandpapier abgeschmirgelt worden wäre – vor allem, wenn sie so müde war wie jetzt.
Sie schüttelte den Kopf, um den Staub aus den Haaren zu entfernen, setzte sich eine Fliegerkappe auf und ging in die Kabine, um Viktor zu helfen. Sie erhöhte den Druck im Rover, um die Sauerstoffversorgung zu verbessern, und dann schälte er sich mit ihrer Hilfe aus dem Thermo-Überzug und dem Raumanzug. Ein Blick auf sein Bein bestätigte ihre Vermutung: der Knöchel war verstaucht und schwoll schnell an.
Von nun an musste sie nur noch dem Sicherheits-Handbuch folgen: verbinden, Medikamente verabreichen, hoffen, dass er durchhielt.
»Ich liebe dich, selbst wenn du mit Schmerzmitteln vollgedröhnt bist«, murmelte sie dem schlafenden Kameraden ins Ohr, nachdem sie alles fünfmal kontrolliert hatte.
Er war beunruhigend schnell weggetreten. Bisher hatte er eine Fassade unerschütterlicher Härte aufrechterhalten, was sie jedoch alle bis zu einem gewissen Grad taten. Sonst wären sie schon am psychologischen Eignungstest gescheitert. Doch er befand sich nun im Zustand völliger Erschöpfung, welche von einer schwierigen Mission herrührte, die mit vollem Einsatz durchgeführt wurde. Er sprach zwar nicht viel darüber, doch der bevorstehende Start bereitete ihm Sorge.
Sie war plötzlich selbst hundemüde. Emotionale Reaktion, diagnostizierte sie mit Selbstironie. Dennoch wäre es ein Fehler gewesen, die Signale des Körpers zu ignorieren.
Auf dem Mars lernte man, es langsam angehen zu lassen. Zeit für eine Tasse Tee.
Zuerst schaute sie sich nach ihrem Teewärmer um, den sie im »Handgepäck« von der Erde mitgebracht hatte. Um nichts in der Welt wäre sie ohne ihn geflogen – ihr Zuhause war dort, wo der Teewärmer war. Sie fand ihn in einer Ecke der Kochnische. Das ursprünglich hellblau und beige kolorierte Teil war nun mit einer dauerhaften braunen Staubschicht überzogen. Immer wenn die Lage kritisch wurde, gönnte sie sich erst einmal den Luxus einer Tasse guten Tees, der in einem Teekessel aufgebrüht worden war. Es gab kaum einen Notfall, der nicht auch bis nach einem Tässchen Tee warten konnte.
Während das Wasser erhitzt wurde, ging sie auf die Notfrequenz und versuchte, die beiden Kameraden im Habitat zu erreichen. Keine Antwort. Sie steckten wahrscheinlich tief im Bauch der Wiederaufstiegsstufe und nahmen die letzten Vorbereitungen für die bevorstehende Testzündung vor. Sie hinterließ im elektronischen Briefkasten des Schiffs eine Nachricht, die besagte, dass sie einen Verwundeten hätten und so schnell wie möglich zurückkommen würden. Es gab nichts mehr, was sie hier draußen noch auszurichten vermocht hätte. Zumal Viktor sowieso Vorrang hatte und Einzelaktionen gegen die Sicherheitsbestimmungen verstoßen hätten.
Mit dem vorderen robotischen Greifarm nahm sie den letzten mit Sonnenenergie betriebenen Peilsender vom Außenträger und platzierte ihn an einer Stelle, die, wie sie hoffte, günstig gelegen war. Es war Glückssache. Der Wind drehte ständig, und die Wanderdünen hatten schon mehr als einen Mars-Rover unter sich begraben.
Sie schaute aus dem vorderen Sichtfenster auf die fahlen pinkfarbenen Hügel und versuchte die Folgen dieses Unfalls für die Mission abzuschätzen. Vielleicht war es nur ein dummes Missgeschick? Doch Viktor war unentbehrlich für die Startvorbereitungen. Nein, der Unfall würde den Zeitplan auf jeden Fall über den Haufen werfen. Ihre eigene Arbeit würde zur Randnotiz verkommen.
Und die Fumarole – würde sie sie jemals wiedersehen? Für eine Mikrosekunde spielte sie mit dem Gedanken, selbst ins Loch abzusteigen. Nein, das widersprach den Missionsbestimmungen. Noch schlimmer, es wäre leichtsinnig gewesen.
Du musst die Dinge so sehen, wie sie sind, sagte sie sich – Biologie hatte keine Priorität mehr. Sie hatte ihre große Entdeckung gemacht. Für die Welt war die Expedition jetzt schon ein großer Erfolg – sie hatten fossiles Leben gefunden. Doch sie wollte sich nicht mit toten Mikroben begnügen.
Und nun wurden die Dinge auch noch durch einen Unfall kompliziert. Und wenn man noch so perfekt geplant hat, der Mars ist immer für eine Überraschung gut.
Wie der Zufall, der sie alle hierhergeführt hatte.
März 2015
»Verdammt, wieder festgefahren!«
Sie hatte den Rover Boy gefahren, wie sie das Gerät nannten.
Rover war der Telepräsenz-Explorer, der die Landezone auf dem Mars erkundet hatte. Als eine Hinterlassenschaft des Mars-Vorposten-Programms funktionierte er auch nach nunmehr fünf Jahren noch. Eine chemische Anlage versorgte den Rover und den Notstromgenerator der Basis mit Strom. Eine Mikrowellen-Antennenschüssel hielt über drei stationäre Nachrichtensatelliten am Marshimmel den Kontakt mit der Erde aufrecht. Sie hatte mit dem Rover, der im Johnson-Raumfahrtzentrum entwickelt worden war, jahrelang trainiert. Nun manövrierte Julia ihn durch das schwierige Gelände, wie eine Mutter, die ihrem ängstlichen Kind das Laufen beibringt.
Sie bugsierte ihn am Umfang des Thera-Kraters entlang, wobei der Autopilot des Fahrzeugs die Böschung und das Gestein untersuchte. Das war die einzige Möglichkeit, wenn die Zeitverzögerung mehr als eine halbe Stunde betrug. Das Rover Boy-Modell stellte den aktuellen Stand der Technik dar, doch gab es Probleme. Große, schier unüberwindliche Probleme.
»Wo ist er?«, fragte Viktor neben ihr.
»Sieht so aus, als ob er in einer Sanddüne feststecken würde.«
Sie gab Befehle für Vergrößerung ein, wobei die Finger auf der Konsole einen wahren Trommelwirbel schlugen. In der Nähe summten die Labors des Jet Propulsion Lab{1}, die für die Abstandsstabilisierung der Nachrichtensatelliten verantwortlich waren!
Mit zweiunddreißig hatte sie noch ein genauso ungestümes Naturell wie früher. Mehr noch, sie wollte auch gar nicht zur Ruhe kommen. Wenn sie hätte durchblicken lassen, wie sehr die enormen Verzögerungen bei der Steuerung von Rover Boy ihr zusetzten, hätte sie den Ausschluss von der Mars-Mission riskiert. Also huschten ihre Finger nutzlos über die Konsole, anstatt mit dem Rover Boy Gas zu geben und zu versuchen, ihn aus dem fünfundachtzig Millionen Kilometer entfernten Treibsand herauszufühlen.
»Ja, die Düne zur Linken. Dort hat er sich schon einmal festgefahren.«
»Das Navigationssystem muss ihn in diese Richtung gelotst haben.«
»Vielleicht bringt's was, nach links einzuschlagen und zurückzusetzen«, sagte Viktor. Er hielt das wohl für einen guten Rat.
»Einen Arbeitstag nur dafür zu vergeuden, um aus einem Schlagloch rauszukommen«, quengelte sie. Dann schickte sie den Rückwärts-Befehl ab und schlug die Räder des Rovers nach rechts ein. Ihre Schicht wäre zu Ende, noch bevor das Fahrzeug wieder freigekommen war.
Sie warf einen Blick auf das gerahmte Bild des kleinen Sojourner-Rovers, der bei ihr im Alter von vierzehn Jahren die Weltraumbegeisterung überhaupt erst ausgelöst hatte. Das war im Jahr 1997 gewesen. Sojourner hatte am gleichen Zeitverzögerungs-Problem gekrankt – schneller als mit Lichtgeschwindigkeit ging es eben nicht! –, doch seine unbeholfenen Fahrversuche waren die Ursache für Julias Mars-Fixierung gewesen. Sie nahm das Bild von Sojourner immer zur Arbeit mit. Es sollte ihr Glück bringen. Doch heute war Fortuna zickig.
Rover Boy war wesentlich größer und moderner, aber … »Im Zeitlupentempo werden wir uns wohl nicht allzu weit von Thera entfernen.«
Viktor deutete auf eine Schliere am Horizont. »Ist das etwa eine Wolke?«
»Hmmm.« Sie vergrößerte die letzte Darstellung in dieser Richtung – Nordwest. »War vorhin noch nicht da.«
»Wolken am Mittag sind ungewöhnlich. Normalerweise lösen sie sich schon am Morgen auf.«
»Handelt sich vielleicht um einen Übertragungsfehler.« Es würde über eine Stunde dauern, bis dieser Abschnitt wieder ins Blickfeld rückte. Sie sendete den Befehl, die Fernsehkameras zu schwenken.
Julia seufzte. Sie hatte sich noch immer nicht mit der schlichten Tatsache abgefunden, dass sie, Viktor und der Rest – durchweg gute Leute – nicht zur sechsköpfigen Besatzung gehören würden, die in einem Jahr zum Mars flog. Natürlich hatten sie von vornherein gewusst, dass die Hälfte der in der Ausbildung befindlichen Astronauten eine Ersatzmannschaft bilden würde. Natürlich würden sie an der zweiten Expedition teilnehmen. Falls es eine zweite gab. Und das war unwahrscheinlich; es sei denn, die erste Besatzung machte einen spektakulären Fund. Die NASA hatte das Budget für den ersten Flug jetzt schon gesprengt.
Also musste sie die Hände in den Schoß legen und auf das Rücksignal warten: der Rover würde wahrscheinlich melden, dass er noch immer feststeckte. Mit einem Fingerschnippen legte Viktor die Schalter für die Bildschirmkontrolle um. »Schau'n wir mal, was in den Nachrichten kommt.«
Mit einem Anflug von Niedergeschlagenheit betrachtete sie die TV-Bilder von Cape Canaveral. Da stand sie, nur noch ein paar Minuten bis zum Start: der Big Boy Booster, wie die medienwirksame Bezeichnung lautete. Sie sagte sich streiflichtartig, dass alles bei dieser Mission – Rover Boy, Big Boy und andere Boys – irgendwie jungenhaft klang. Woran das wohl lag?
Das Mars-Landemodul wirkte winzig im Vergleich zur zigarrenförmigen Trägerrakete, auf deren Spitze es saß. Gleich würde sie in den Orbit geschossen werden, um die ersten Testflüge im All zu absolvieren. Sie dachte an ihre Freunde, die darauf warteten, auf dieser Rakete in den schwarzen Himmel zu reiten und den silbrigen Zylinder auszusetzen. Sie würden ihn mit der letzten Booster-Stufe als Gegengewicht in Rotation versetzen und für einen Monat physiologische Tests in einer Schwerkraft von 0,38 Ge durchführen – und wieder schlug eine Woge des Neids über ihr zusammen.
Nun liefen die letzten zwanzig Sekunden. Sie streckte den Arm aus und fasste Viktor bei der Hand. Sie würde es mit dem Moment der Anspannung und so weiter begründen – falls überhaupt jemand es bemerkte. (Oder hatte man es schon vor langer Zeit bemerkt, bevor sie und Viktor sich noch gefunden hatten – und beide für die zweite Besatzung eingeteilt?)
»Zündung«, sagte die monotone, nüchterne Stimme, die nun schon seit über einem halben Jahrhundert am Cape ertönte.
Der riesige weiße Booster, noch größer als die Saturn V, stieg majestätisch auf – und ein gelber Feuerball blähte sich am Triebwerkskranz auf. Die Explosion zerriss die Zuleitungen über den Düsen. Das gleißende Gelb stieg an den Seiten empor und hüllte in einem Lidschlag die Nutzlast ein. Der Booster hatte bereits deutlich Schräglage.
* * *
Es war ein GAU, der größte anzunehmende Unfall.
Die Raumfahrt lebte in ständiger Angst davor, zumal es unmöglich war, das Risiko ganz auszuschließen. Es genügte ein defekter Wandpuffer am Hochdruckpunkt. Ein Brennstoff-Rückstau. Eine druckinduzierte chemische Reaktion.
Die gewaltige, konzentrisch sich ausbreitende Explosion zerstörte den Startturm, Stützgerüste – letztlich den gesamten Startkomplex. Die aus sechs Personen bestehende Besatzung versuchte, mit dem Schleudersitz auszusteigen, doch lief der ganze Vorgang selbst für Astronautenreflexe viel zu schnell ab. Sie alle starben einen schnellen, gnädigen Tod. Wie auch ein Elektriker, der noch in einer Entfernung von achthundert Metern von einem Metallsplitter tödlich getroffen wurde.
Julia durchlebte die darauffolgenden Tage der öffentlichen Empörung wie in Trance. Trauerte um Freunde. Ging Fernsehreportern aus dem Weg. Sah, wie das Debakel den Rückhalt der NASA im Kongress unterminierte. Sie lebte in den Tag hinein, während das graue Leichentuch über ihrem Leben langsam gelüftet wurde.
Bald forderten die Vollstrecker des Repräsentantenhauses ein noch größeres Opfer als den Booster. Die gesamte Mars-Mission wurde »für die gesamte Dauer suspendiert«, wie ein altgedienter Politiker sich ausdrückte. Die gesamte Dauer wovon? Anscheinend bis zum Minimalenergie-Fenster, das 2016 sich öffnen würde. Und das nächste Startfenster würde sich dann 2018 auftun. Doch würde das Mars-Programm jemals wieder in Angriff genommen werden, wenn es erst einmal auf Eis gelegt worden war?
Langsam versank Julia in Depression. Die Aussicht auf eine Teilnahme hatte sie für lange Zeit mit Energie erfüllt. Als diese Hoffnung nun wie eine Seifenblase zerplatzte, stürzte sie in ein tiefes Loch.
Für sie hatte das »Prinzip Hoffnung« gegolten, seit die USA vor sechs Jahren das Mars-Abkommen geschlossen hatten. Seinerzeit schien es ein brillanter Schachzug zu sein. Die entscheidende Frage mit Blick auf den Mars lautete, wie man dort hinkam, ohne dass das gesamte Bruttosozialprodukt dafür verschleudert wurde. Als Präsident George Bush im Jahr 1989 für den fünfzigsten Jahrestag der Mondlandung eine bemannte Mission zum Mars forderte, erstellte die NASA sogleich einen Kostenvoranschlag: vierhundertfünfzig Milliarden Dollar. Angesichts dieser Preisvorstellung war Bushs Initiative im Kongress gestorben. Der Preis war aus dem Grund so hoch, weil die NASA und die Unternehmen der Luft- und Raumfahrtindustrie die Mission mit allen nur erdenklichen Extras ausstatten wollten. Eine erweiterte Raumstation. Eine Mondbasis. Redundanz.
Multiple Reservesysteme sind ein Garant für Sicherheit – doch je tiefer die Systeme gestaffelt sind, desto höher sind auch die Kosten. Die Vierhundertfünfzig-Milliarden-Dollar-Rechnung der NASA hätte die Regierung an den Rand des Ruins gebracht.
Also wurden innovative Lösungswege beschritten: den wohlhabenden Industrienationen bot sich die Gelegenheit, billig in dieses Abenteuer einzusteigen, indem man ein Preisgeld von dreißig Milliarden Dollar für die erste erfolgreiche bemannte Mars-Expedition auslobte.
Diese Strategie, welche die europäischen Regierungen für riskante Forschungsreisen schon seit langem nutzten, war im fünfzehnten Jahrhundert erstmals von den Portugiesen angewandt worden. Im Jahre 1911 setzte William Randolph Hearst{2} ein Preisgeld von fünfzigtausend Dollar für denjenigen aus, der Amerika als Erster in weniger als dreißig Tagen überflog. Fliegen mit Muskelkraft erfuhr einen Popularitätsschub durch den Zweihunderttausend-Dollar-Preis, der im Jahre 1978 vom Gossamer Albatross ausgeschrieben wurde. Die Methode funktionierte.
Aus den mannigfaltigen Vorteilen stach der politische Nutzen hervor: die jeweilige Regierung musste erst nach getaner Arbeit ihren Beitrag leisten, und auch nur in Form eines Erfolgshonorars – und für ein Scheitern des Projekts kam dann der Steuerzahler auf. Die Politiker vermochten sich als weitsichtige Förderer der Forschung zu profilieren und gleichzeitig als Feinde arbeitsintensiver bürokratischer Programme. Und kam ein Astronaut zu Tode, dann ging es auf die Kappe des Investors und brachte nicht gleich die ganze Regierung in Misskredit.
Um den Mars-Preis zu gewinnen, wäre es mit Flaggenhissen und ein paar Fußabdrücken aber nicht getan. Das Abkommen sah vielmehr eine Art »Schnitzeljagd« mit einer Reihe wissenschaftlicher Arbeiten vor – geologische Kartierung, seismische Untersuchungen, das Studium atmosphärischer Phänomene, das Niederbringen von Kernbohrungen, die Suche nach Wasser und natürlich nach Spuren von (fossilem) Leben. Die Proben vom Mars wären enorm wertvoll: für eine komplette Probenpalette mit einem Gewicht von dreihundert Kilogramm würde das aus Vertretern der Signatarstaaten bestehende Gremium dreißig Milliarden Dollar hinblättern. Alles, was darüber hinausging, würde den Investoren als Rendite zufließen.
Vordergründig enthielt das Mars-Abkommen Klauseln für eine internationale Erschließung des Mars. In Wirklichkeit handelte es sich um eine konzertierte Aktion zugunsten der NASA, die von Anfang an als Sieger gehandelt wurde. Julia und die anderen Astronauten hatten ihre Ausbildung unter dieser Prämisse absolviert.
Diesmal hatte die NASA jedoch mit Zitronen gehandelt. Niemand wollte sich der Herausforderung stellen, und nun arbeitete die NASA mit bescheidenen Mitteln darauf hin, 2016 das minimalenergetische planetar-orbitale Fenster zu durchstoßen.
Eine Woche nach der Explosion und einen Tag nach dem feierlichen Staatsbegräbnis gab Präsidentin Feinstein bekannt, dass die Vereinigten Staaten »ihre Energie in erdnahe Projekte investieren würden«. So sollte die Raumstation zum Beispiel mit einem weiteren Sonnensegel bestückt werden – für solche Dinge ließ der Kongress aus politischem Kalkül immer ein paar Dollar springen.
Der Mars schien tot. Die Astronauten waren am Boden zerstört, denn sie hatten Jahre für eine sinnlose Ausbildung vergeudet. Ein paar nahmen erst einmal Urlaub. Einer vergnügte sich mit Fallschirmspringen. Wieder andere hingen in Bars herum, was der im Arbeitsvertrag verlangten gesunden Lebensweise nicht eben entsprach.
Julia versuchte während der ganzen Zeit ihre fröhliche Maske aufzubehalten, doch sie verrutschte immer wieder. Sie tröstete Marc und Raoul, Männer, die verheißungsvolle Karrieren für das Marstraining aufgegeben hatten. Selbst in dieser Zeit bewahrte sie Stillschweigen über ihre romantische Verstrickung mit Viktor. In der festgefügten kleinen Welt der Astronautenpolitik musste man immer mit Überraschungen rechnen. Möglicherweise bedeutete gerade diese Geheimhaltung ihren Abschied von den Raumstation-Missionen – das einzige »Weltraumspiel«, das überhaupt noch stattfand.
Dann besuchte ein schlanker, gut gekleideter Mann das Marsastronauten-Team im Johnson-Raumfahrtzentrum.
Ihm folgte ein Geschwader von Männern in Anzügen und Frauen in Kostümen. Sie machten einen aufmerksamen und interessierten Eindruck. Während er die Parade abnahm, verneigten sie sich so tief, dass eine Welle durch die in Linie angetretenen Leute lief. Das war ein spektakulärer Auftritt. Er schüttelte ein paar Hände, wechselte ein paar Worte und gebärdete sich ganz wie ein Politiker. Julia wusste, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte. Sein Blick bestrich das NASA-Personal wie ein Suchscheinwerfer. Die Leute brachen die Unterhaltung ab und sahen ihn an. Der ganze Raum schien sich auf ihn zu konzentrieren.
Schließlich blieb sein Blick an dem Dutzend Astronauten hängen. Er legte eine Kunstpause ein und stellte dann die Frage: »Möchte noch jemand zum Mars fliegen? Aber nur mit einem Billigflug.«
John Axelrod. Strahlendes Lächeln, gesunde Bräune, blaue Augen, die blitzschnell die Lage einschätzten. Er hatte sie vom ersten Moment auf eine eigentümliche Art und Weise fasziniert.
Sein Geld war ursprünglich von Genesmart gekommen, einer Gentechnik-Firma, an deren Gründung er beteiligt gewesen war. Das Unternehmen hatte Tourex auf den Markt gebracht, ein antibakterielles Präparat gegen Durchfallerkrankungen. Das Mittel war zum unverzichtbaren Reisebegleiter für Touristen und Geschäftsreisende in aller Welt geworden. Nach dem Börsengang von Genesmart avancierte er über Nacht zum Multimilliardär. Doch war er auch die Art von Mensch, der wettete, wessen Koffer zuerst auf dem Gepäckausgabe-Karussell auftauchte. Sein Interesse für den Mars reichte bis in die Kindheit zurück. Obwohl er nicht einmal die erste Stufe der Astronautenausbildung geschafft hatte, interessierte er sich nach wie vor für die Raumfahrt und verfügte noch aus den »guten, alten Zeiten« über Kontakte zur NASA.
Er wusste, dass das unbemannte Rückkehr-Schiff der NASA, das ERV, vor über einem Jahr zum Mars geflogen war. Es war im Gusev-Krater gelandet und hatte mit Kondensaten der Mars-Atmosphäre aufgetankt. Nun stand das Schiff bereit, eine Besatzung zur Erde zurückzubringen. Und er wollte nicht, dass die Mars-Mission zu Grabe getragen wurde.
»Zumal«, so hatte er den Astronauten gesagt, »das eine profitable Sache ist.«
Binnen weniger Tage hatte der zupackende Axelrod ein Konsortium aus großen Unternehmen auf die Beine gestellt, um den Mars-Preis in Höhe von dreißig Milliarden Dollar abzustauben.
»Wir hatten doch sechzig Milliarden Dollar für den Flug veranschlagt«, warf ein Astronaut ein.
»Das ist die Bürokraten- und Planwirtschaftsrechnung.« Axelrod grinste, wobei die weißen Zähne mit dem braunen Teint kontrastierten. Er schien Mitte Vierzig zu sein und war ein ausgesprochenes Energiebündel. »In der freien Marktwirtschaft gibt's den Flug für den halben Preis.«
Er griff auf eine riskante, aber kostengünstige Methode für den Flug zum roten Planeten zurück, die schon Anfang der 90er entwickelt worden war. Anstatt sich des teuren, im Orbit stehenden NASA-Mutterschiffs zu bedienen, würde die Konsortiums-Besatzung mit einem kleineren Schiff einen Direktflug zur Erde unternehmen; und zwar mit dem NASA-Rückkehr-Schiff, das bereits auf dem Mars wartete.
»Das ERV ist aber Regierungseigentum«, gab ein Astronaut zu bedenken.
»Das Schiff ist aufgegeben worden. Meine Anwälte werden dahingehend argumentieren, dass hier im übertragenen Sinne das Seerecht gilt. Ohne Besatzung gehört es demjenigen, der es in Besitz nimmt.«
»Das ist nicht fair!«
»Was ist schon fair im Leben.«
Eine auf vier Mann verringerte Besatzung ermöglichte es dem Konsortium zudem, ein kleineres bemanntes Habitat-Fahrzeug zu starten. Die vierköpfige Besatzung würde in der Nähe des ERV landen.
»Das ist zum einen gefährlich, und zum anderen sieht die Einsatzplanung das nicht vor.«
»Der Mars ist an sich gefährlich und entzieht sich jeder Planung. Ich muss die Kosten minimieren.«
»Mit nur vier Leuten haben wir keine Auffangposition.«
»Ich brauche keine Auffangposition. Ich will schließlich vorwärts marschieren.«
»Wenn jemand krank wird …«
»Es wird ein qualifizierter Arzt an Bord sein. Aber er – oder sie – wird auch andere Arbeiten übernehmen. Alle sind allzeit beschäftigt.«
»Vier sind trotzdem zu wenig!«
»He, je weniger Leute wir hochschicken, desto weniger haben wir zu verlieren.«
Da war etwas dran.
Aber … die Orbitalmechanik war ebenso eindeutig wie kompromisslos. Der Rundflug würde zweieinhalb Jahre dauern. Wegen der veränderlichen Planetenkonstellationen folgen die Startfenster für Trajektorien mit dem geringsten Brennstoffverbrauch in Abständen von etwa sechsundzwanzig Monaten aufeinander. Hin- und Rückflug dauern jeweils ein halbes Jahr, so dass für den Aufenthalt auf dem Mars zirka anderthalb Jahre zur Verfügung stehen.
Nachdem er den Vortrag beendet hatte, trat Axelrod zurück, hakte die Daumen in den Gürtel und wartete auf weitere Protestkundgebungen. Doch es herrschte Schweigen. Seine direkte, unprätentiöse Art hatte die Astronauten ernüchtert. Im Rahmen des großkotzigen NASA-Plans hätte der Rundflug nicht einmal ein Jahr gedauert – horrende Spritkosten, aber nur ein kurzer Spaziergang für die Besatzung. Die Vier vom Konsortium indes würden auf dem Mars ausharren, arbeiten und überleben müssen – ein brutaler Härtetest.
Dafür wäre es billig. Und sie würden alle reich werden … falls sie zurückkamen. Die Vergütung würde sich auf einen siebenstelligen Betrag belaufen. »Im Erlebensfall«, sagte Axelrod. »Oder für die Hinterbliebenen.«
»Und ihr kriegt das alles für dreißig Milliarden Piepen gebacken?«, fragte jemand.
»Nee, für zwanzig. Schließlich muss noch was dabei 'rausspringen, Leute.«
Ein langes Schweigen.
»Freiwillige?«, fragte Axelrod. Das Dutzend Astronauten wechselte Blicke. Einer verlor die Beherrschung und schalt Axelrod einen Wahnsinnigen. Drei andere äußerten Bedenken und verließen den Raum.
Doch acht Personen waren bereit, das Wagnis einzugehen. Geradezu begierig. Einschließlich Julia und Viktor, Raoul und Marc.
* * *
Während der nächsten paar Wochen vertieften die acht Kandidaten sich in die Planung von Axelrods riskantem »Mars Direkt«-Konzept, so wie die Mercury-Astronauten sich seinerzeit aktiv an der Entwicklung des ersten Raumschiffs beteiligt hatten. In der Theorie war der Flug schon seit einer Weile möglich, wobei die Mars Society federführend gewesen war. Axelrod musste die Theorie nur noch in die Praxis umsetzen. Bob Zubrin stattete ihnen einen Besuch ab – der Tom Paine{3} des Mars, der das Konzept des Billigflugs überhaupt erst entwickelt hatte. Zubrin war inzwischen ergraut, was seiner Dynamik aber keinen Abbruch tat und nahm mit missionarischem Eifer an der Personalversammlung teil.
Gewiss, Axelrod glaubte an den Segen privaten Kapitals, doch weil durch das unerbittliche Wirken planetarer Orbits das Startfenster immer näher rückte, verstand er es auch, Zeit zu sparen. Er mietete vom Johnson-Raumfahrtzentrum die Astronauten-Trainingseinrichtung an – die billigste, effektivste und gleichzeitig schnellste Art, sie auf den Flug vorzubereiten.
Sich als privater Parasit bei der NASA einzunisten war nicht leicht. Die Wankelmütigkeit des Kongresses in Bezug auf den Flug hatte aber auch ein Gutes: man freute sich über das Sprudeln privater Geldquellen. Die befürchtete Krise der Sozial- und Krankenversicherung und anderer überlasteter sozialer Sicherungssysteme machte kräftige Finanzspritzen erforderlich. Axelrod kam und gab dem Kongress eine wohltuende Spritze. Im nächsten Jahr würde der Kongress schmerzhafte Einschnitte beschließen müssen, doch zum Teufel, das war erst im nächsten Jahr.
Dann verkaufte der umtriebige Axelrod Kamerateams das Recht, am JSC die intensive Ausbildung der Besatzung zu filmen. Gravitations-Belastungstests für die Luftbremsung. Eventuelle Pannen bei der Integration und Bedienung der Nahrungsmittel-, Wasser- und Entsorgungssysteme. Nicht zuletzt die medizinischen Albträume, die während des sechsmonatigen freien Falls zum Mars auftreten würden. Die Ärzte prognostizierten, dass die Besatzung bei der Ankunft zu geschwächt wäre, um zu überleben. Das war einer der Gründe, weshalb die NASA für eine kürzere, aber auch teurere Route optiert hatte. Nie zuvor hatten Redakteure der Abendnachrichten sich mit Schwerelosigkeits-Effekten, Strahlungsdosen und den Feinheiten der Orbitalmechanik beschäftigt.
Noch besser, sie präsentierten dem Publikum ein großes Geheimnis. Axelrods ganzer Plan war darauf gegründet, die Raumfahrttechnik-Prototypen der gescheiterten NASA-Mission billig aufzukaufen, um sie dann zu Flugmodulen umzurüsten. Allerdings fehlten bestimmte Schlüsselkomponenten. Kein Kommentar, tut uns leid.
Die abhanden gekommene Ausrüstung betraf vor allem die Lebenserhaltungssysteme. Julia hegte den Verdacht, dass nachgeordnete Stellen der NASA die Geräte für eine andere Unternehmung horteten, die anstelle der gestrichenen Mars-Mission stattfinden würde. Wer hätte sonst ein Interesse daran haben sollen?
Deshalb musste Axelrod noch tiefer in die Tasche greifen, um sie zu ersetzen. Er tat es nur widerwillig. Julia war dabei, wie er großherzig einen Scheck über 2,3 Milliarden Dollar ausstellte. Natürlich hielten die Kameras die Sache in allen Einzelheiten fest.
Die Kosten uferten aus. Und die Prognosen für zukünftige Ausgaben waren noch düsterer.
Die ganze Welt sah zu, und es wurden schon Wetten darauf abgeschlossen, dass Axelrod auf den unterfinanzierten Bauch fallen würde, bevor der Start auch nur in greifbare Nähe gerückt war.
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