Ich hatte nie vorgehabt, das Leben einer anderen zu stehlen. Wirklich. Schließlich war ich jung, gesund und klug. Sicher, mein Titel hätte noch ein bisschen glanzvoller sein können, wenn das Vermögen meiner Familie nicht dahingeschmolzen wäre, aber das ließ sich leicht in Ordnung bringen. Ich musste mich lediglich gut verheiraten. Und da fingen meine Probleme an. Elizabeth steht nach dem Tod ihrer adligen Eltern vor dem finanziellen Ruin. Entsprechend sind die Anwärter, die bereit sind, sie zu heiraten, entweder uninteressant, unattraktiv oder beides. Doch als eine der Bediensteten Besuch von dem jungen und gut aussehenden Cedric bekommt, der sie für den »Goldenen Hof« anwerben will, wittert sie ihre Chance. Dort werden nämlich hübsche, aber gewöhnliche Mädchen zu echten Damen ausgebildet, die im aufstrebenden Nachbarland Adoria an den Mann gebracht werden. Kurzerhand nimmt Elizabeth den Platz der Bediensteten ein und gelangt so in die Ausbildung am Goldenen Hof. Doch schnell wird klar, dass sie nicht erst nach Adoria reisen muss, um ihren Traummann zu finden. Denn zwischen ihr und Cedric knistert es gewaltig ...
Richelle Mead wurde in Michigan geboren. Sie studierte Kunst, Religion und Englisch. Mit ihrer Jugendbuchserie Vampire Academy gelang ihr auf Anhieb der Sprung auf die internationalen Bestsellerlisten. Bloodlines führt die Geschichte der Vampire Academy fort.
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch
von Susann Friedrich
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Glittering Court« bei Razorbill, einem Imprint von Penguin Random House, New York.
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2016 by Richelle Mead
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung von Motiven von © Stephanie Frey/Trevillion Images und © Nikki Zalewski/Shutterstock
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-4928-3
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Jay,
sieht aus, als hätte ich den Code entschlüsselt.
Ich hatte nie vorgehabt, das Leben einer anderen zu stehlen. Wirklich, auf den ersten Blick hätte man nicht geglaubt, dass mit meinem alten Leben etwas nicht stimmte. Ich war jung und gesund. Ich hielt mich für klug. Ich gehörte einer der nobelsten Familien in Osfrid an, einer Familie, die von den Gründern des Landes abstammte. Sicher, mein Titel hätte noch ein bisschen glanzvoller sein können, wenn das Vermögen meiner Familie nicht dahingeschmolzen wäre, aber das ließ sich leicht in Ordnung bringen. Ich musste mich lediglich gut verheiraten.
Und da fingen meine Probleme an.
Die meisten Aristokraten bewunderten eine Nachfahrin von Rupert, dem Ersten Grafen von Rothford, dem großen Helden Osfrids. Vor Jahrhunderten hatte er dazu beigetragen, den Ureinwohnern dieses Land zu entreißen und damit die große Nation geschaffen, derer wir uns heute erfreuten. Aber nur wenige Adlige bewunderten meine fehlenden Mittel, vor allem in diesen Zeiten. Andere Familien hatten selbst mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, und ein hübsches Gesicht mit einem hochrangigen Titel bot nicht mehr den gleichen Anreiz, den es früher vielleicht geboten hätte.
Ich brauchte ein Wunder, und zwar schnell.
»Liebes, ein Wunder ist geschehen.«
Den Kopf voller düsterer Gedanken hatte ich im Ballsaal auf die samtene Prägetapete gestarrt. Jetzt blinzelte ich und wandte mich wieder dem lärmenden Fest und meiner näher kommenden Großmutter zu. Obwohl ihr Gesicht voller Falten und ihr Haar schneeweiß war, machten die Leute ständig Bemerkungen darüber, was für eine attraktive Frau Lady Alice Witmore war. Ich war derselben Meinung, obwohl ich den Eindruck hatte, dass sie in den Jahren, seit meine Eltern gestorben waren, stärker gealtert war. Doch jetzt gerade leuchtete ihr Gesicht, wie ich es seit Langem nicht mehr gesehen hatte.
»Und wie, Großmama?«
»Es gibt einen Bewerber. Einen Bewerber. Er ist alles, was wir uns erhofft haben. Jung. Ein beträchtliches Vermögen. Und seine Familie ist so glanzvoll wie unsere.«
Letzteres überraschte mich. Mit dem Stammbaum des hochverehrten Rupert ließ sich fast nichts vergleichen. »Bist du sicher?«
»Aber gewiss. Er ist dein … Cousin.«
Es kam nicht oft vor, dass es mir die Sprache verschlug. Einen Moment lang fiel mir nur mein Cousin Peter ein. Etwa doppelt so alt wie ich – und verheiratet. Nach der Erbfolgeregelung würde der Rothford-Titel an ihn übergehen, falls ich kinderlos starb. Wann immer er in der Stadt war, kam er vorbei und erkundigte sich nach meinem Befinden.
»Welcher?«, fragte ich schließlich und entspannte mich ein wenig. Der Begriff »Cousin« wurde manchmal recht großzügig verwendet, und wenn man die Stammbäume weit genug zurückverfolgte, war der halbe osfridische Adel mit der anderen Hälfte verwandt. Großmutter konnte sich auf jede Menge Männer beziehen.
»Lionel Belshire, Baron von Ashby.«
Ich schüttelte den Kopf. Er war mir unbekannt.
Großmutter hakte sich bei mir unter und zog mich auf die gegenüberliegende Seite des Ballsaals, wobei sie sich an einigen der einflussreichsten Personen der Stadt vorbeischlängelte. Sie waren in Samt und Seide gehüllt und hatten sich mit Perlen und Edelsteinen geschmückt. Überall an der Decke hingen Kristalllüster – als ob unser Gastgeber die Sterne übertreffen wollte. So lebte die Aristokratie von Osfro.
»Seine Großmutter und ich waren früher Hofdamen bei der Herzogin von Samford. Leider ist er nur ein Baron.« Großmama beugte ihren Kopf zu mir, damit sie leiser sprechen konnte. Das perlenbesetzte Cape, das sie trug, war tadellos, aber seit mindestens zwei Jahren unmodern. Sie gab unser Geld aus, um mich einzukleiden. »Aber er ist trotzdem von sehr guter Herkunft. Er stammt von einem von Ruperts unbedeutenderen Söhnen ab, obwohl es da ein Gerücht gab, dass Rupert vielleicht nicht sein leiblicher Vater gewesen sei. Doch seine Mutter war eine Adelige, wir sind also von beiden Seiten abgesichert.«
Ich war noch dabei, die Neuigkeiten zu verdauen, als wir vor einem bodentiefen Fenster stehen blieben, das einen Ausblick auf Harlington Park bot. Ein junger Mann und eine Frau in Großmutters Alter standen dort und unterhielten sich in leisem Ton. Sobald sie uns bemerkten, blickten beide mit gespanntem Interesse auf.
Großmama ließ meine Hand los. »Meine Enkeltochter Elizabeth, die Gräfin von Rothford. Liebes, das sind Baron Belshire und seine Großmutter, Lady Dorothy.«
Lionel beugte sich vor und küsste mir die Hand, während seine Großmutter einen Knicks machte. Doch ihre Ehrerbietung war nur vorgetäuscht. Mit scharfem Blick musterte sie jedes Detail an mir. Wenn der Anstand es erlaubt hätte, hätte sie wahrscheinlich auch meine Zähne begutachtet.
Ich wandte mich Lionel zu, der sich gerade wieder aufrichtete. Er war derjenige, den ich taxieren musste. »Gräfin, ich freue mich, Sie kennenzulernen. Es ist eine Schande, dass wir uns nicht schon früher begegnet sind, da wir zur selben Familie gehören und beide Abkömmlinge von Graf Rupert sind.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Großmama skeptisch eine Braue hochzog.
Ich schenkte ihm ein sittsames Lächeln, nicht unterwürfig genug, um meinen höheren Rang herabzumindern, aber ausreichend, um ihn glauben zu lassen, dass sein Charme bei mir nicht ohne Wirkung geblieben war. Natürlich musste er diesen Charme zunächst noch unter Beweis stellen. Auf den ersten Blick war er vielleicht alles, was überhaupt für ihn sprechen könnte. Lionels Gesicht war lang und spitz, seine Haut fahl. Wenn man bedachte, wie die Menschenmenge den Saal aufgeheizt hatte, hätte ich zumindest rote Wangen erwartet. Seine hängenden, schmalen Schultern vermittelten den Eindruck, dass er sich in sich selbst verkriechen wollte. Doch nichts davon spielte eine Rolle. Allein die Absicherung durch diese Ehe zählte. Eine Liebesheirat hatte ich ohnehin nie erwartet.
»Dass wir uns begegnen, war definitiv überfällig«, stimmte ich ihm zu. »Wirklich, zu Ehren unseres Stammvaters sollten wir regelmäßig Rupert-Treffen abhalten: Alle zusammentrommeln und dann im Grünen ein Picknick veranstalten. Wir könnten es mit Drei-Bein-Rennen versuchen, wie es die Leute auf dem Land machen. Das schaffe ich bestimmt auch mit meinen Röcken.«
Lionel sah mich ungerührt an und kratzte sich am Handgelenk. »Graf Ruperts Nachfahren sind über ganz Osfrid verteilt. Ich bezweifle, dass eine solche Zusammenkunft durchführbar wäre. Und es ist nicht nur für den Adel ungebührlich, solche Drei-Bein-Rennen abzuhalten; ich gestatte es auch den Pächtern auf meinem Besitz nicht. Der große Gott Uros hat uns zwei Beine geschenkt, nicht drei. Etwas anderes vorzugaukeln, ist abscheulich.« Er schwieg einen Moment. »Auch Sackhüpfen schätze ich nicht.«
»Selbstverständlich haben Sie recht«, sagte ich und lächelte krampfhaft weiter. Neben mir räusperte sich Großmama. »Der Baron baut mit großem Erfolg Gerste an«, sagte sie mit erzwungener Munterkeit. »Sehr wahrscheinlich ist er der erfolgreichste Produzent von Gerste im ganzen Land.«
Lionel kratzte sich am linken Ohr. »Meine Pächter haben mehr als achtzig Prozent der Felder in Gerstenfelder umgewandelt. Kürzlich haben wir ein neues Anwesen erworben, und auch auf dessen Feldern fahren wir nun eine reiche Ernte ein. Gerste, so weit das Auge reicht. Morgen um Morgen. Meine Bediensteten in den beiden Gutshäusern lasse ich zu jedem Frühstück Gerste essen. Um die Moral zu stärken.«
»Das ist … eine Menge Gerste«, erwiderte ich. Seine Bediensteten begannen mir leidzutun. »Nun, ich hoffe, Sie gestatten ihnen, ab und zu mal ein bisschen über die Stränge zu schlagen. Mit Hafer. Oder Roggen, wenn Ihnen nach etwas Exotischerem der Sinn steht.«
Sein früherer verdutzter Ausdruck kehrte zurück, während er sich am rechten Ohr kratzte. »Warum sollte ich das tun? Gerste ist unsere Lebensgrundlage, es schadet ihnen nicht, daran erinnert zu werden. Für mich gilt das Gleiche – tatsächlich gehe ich sogar noch weiter, denn ich sorge dafür, dass in all meinen Mahlzeiten Gerste enthalten ist. Als positives Beispiel.«
»Sie sind ein Mann des Volkes«, sagte ich und musterte das Fenster hinter ihm. Könnte ich vielleicht dort hinausspringen?
Es entstand ein peinliches Schweigen, das Lady Dorothy zu füllen suchte. »Wo wir gerade von Anwesen sprechen, habe ich es richtig verstanden, dass Sie gerade Ihr letztes verkauft haben?« Da war sie, die Erinnerung an unsere finanzielle Lage. Rasch versuchte Großmama, unsere Ehre zu verteidigen.
»Wir haben es nicht genutzt.« Sie reckte das Kinn in die Luft. »Ich bin nicht so töricht, Geld für ein leer stehendes Haus und Dienstboten zu verschwenden, die ohne Aufsicht nur bequem werden. Unser Haus in der Stadt ist viel komfortabler, und wir sind am Puls der Gesellschaft. Allein diesen Winter waren wir dreimal bei Hofe eingeladen.«
»Ja, im Winter«, sagte Lady Dorothy herablassend. »Aber die Sommer in der Stadt sind zweifellos öde. Vor allem wenn so viele Adelige auf ihren Anwesen auf dem Land weilen. Wenn Sie Lionel heiraten, Lady Elizabeth, werden Sie in seinem Haus in Northshire leben – wo auch ich wohne –, und es wird Ihnen an nichts mangeln. Sie können so viele Gesellschaften planen, wie Sie mögen. Natürlich nur unter meiner Aufsicht. Das ist doch eine wundervolle Aussicht für Sie. Ich meine, ich möchte Sie nicht kränken, Gräfin, Lady Alice. Sie halten sich so gut, dass niemand Ihre wahre Lage erraten würde. Aber ich bin mir sicher, es wird eine Erleichterung sein, unter besseren Umständen zu leben.«
»Bessere Umstände für mich. Einen besseren Titel für ihn«, murmelte ich.
Während wir uns unterhielten, kratzte sich Lionel zuerst an der Stirn und dann in der Armbeuge. Er kratzte sich eine ganze Weile dort, und ich versuchte nicht hinzusehen. Was war mit ihm los? Warum juckte es ihn so sehr? Und warum am ganzen Körper? Ich konnte nirgendwo ein Ekzem entdecken. Und schlimmer: Je länger ich ihn beobachtete, desto stärker war plötzlich der Drang, mich selbst zu kratzen. Ich musste die Hände ineinander verschränken, um mich zu bremsen.
Die quälende Konversation ging noch für einige Minuten so weiter, und unsere Großmütter schmiedeten Pläne für eine Eheschließung, von der ich gerade erst erfahren hatte. Lionel fuhr fort, sich zu kratzen. Als wir uns endlich von ihnen losgerissen hatten, wartete ich ganze dreißig Sekunden, bevor ich Großmama meine Meinung kundtat.
»Nein«, sagte ich.
»Pst!« Sie lächelte diversen Gästen zu, die wir kannten, während wir Richtung Ausgang gingen, und wies dann einen der Bediensteten unseres Gastgebers an, unsere Kutsche vorfahren zu lassen. Ich verkniff mir meine Worte, bis wir allein waren.
»Nein«, wiederholte ich und ließ mich in den Plüschsitz sinken. »Auf gar keinen Fall.«
»Sei nicht so dramatisch.«
»Das bin ich nicht! Ich bin nur bei Verstand. Ich kann nicht fassen, dass du diesen Bewerber akzeptiert hast, ohne dich zuvor mit mir zu beraten.«
»Nun, es war zweifellos schwer, sich zwischen ihm und deinen zahlreichen anderen Bewerbern zu entscheiden.« Sie begegnete meinem zornigen Funkeln mit gleichmütigem Blick. »Ja, meine Liebe, du bist nicht die Einzige hier, die schnippisch sein kann. Allerdings bist du die Einzige, die uns vor dem letztendlichen Ruin bewahren kann.«
»Wer ist hier dramatisch? Du könntest mit Lady Branson ins Haus ihrer Tochter ziehen. Du würdest dort ein sehr gutes Leben führen.«
»Und was geschieht mit dir, während ich ein sehr gutes Leben führe?«
»Keine Ahnung. Ich finde einen anderen.« Ich dachte an die Vielzahl von Gästen, denen ich an diesem Abend auf dem Fest begegnet war. »Was ist mit diesem Kaufmann, der auch da war? Donald Crosby? Wie ich hörte, hat er ein ziemlich großes Vermögen angehäuft.«
»Pfui.« Großmama rieb sich die Schläfen. »Bitte sprich nicht über diese Neureichen. Du weißt, dass ich davon Kopfschmerzen bekomme.«
Ich schnaubte. »Was stimmt nicht mit ihm? Sein Geschäft blüht. Und er hat über all meine Witze gelacht – was man von Lionel nicht gerade sagen kann.«
»Du weißt, was an Mister Crosby nicht stimmt. Man hätte ihn nie zu dem Fest einladen dürfen. Ich weiß nicht, was sich Lord Gilman dabei gedacht hat.« Sie verstummte, während ein besonders großes Schlagloch im Kopfsteinpflaster unsere Kutsche zum Schlingern brachte. »Was glaubst du, was dein bedeutender Urahn Rupert davon halten würde, wenn du seinen Stammbaum mit solch gewöhnlichem Blut vermischen würdest?«
Ich stöhnte. In letzter Zeit schien es, als könnten wir keine Unterhaltung führen, ohne dass dabei Ruperts Name fiel. »Ich glaube, jemand, der seinem Herrscher über den Kanal folgt, um ein Imperium aus dem Boden zu stampfen, würde ziemlich viel Wert darauf legen, dass man seine Selbstachtung behält. Und sich nicht an einen langweiligen Cousin und dessen tyrannische Großmutter verkauft. Hast du mitgezählt, wie oft sie ›unter meiner Aufsicht‹ gesagt hat, als wir über die Zukunft gesprochen haben? Ich habe es getan. Fünfmal. Siebenmal weniger, als sich Lionel irgendwo gekratzt hat.«
»Glaubst du, du bist die Erste, die eine arrangierte Ehe eingehen muss?«, sagte Großmutter mit erschöpftem Gesichtsausdruck. »Glaubst, du bist die Erste, der das zuwider ist? Erzählungen und Lieder sind voll von Geschichten über beklagenswerte Jungfern, gefangen in solchen Situationen, die dann in eine glanzvolle Zukunft entfliehen. Aber das sind Märchen. Die Wahrheit ist, dass die meisten in deiner Lage … es einfach erdulden. Dir bleibt kein anderer Ausweg. Du kannst nirgendwo hin. Das ist der Preis, den du für die Welt zahlst, in der du lebst. Für deinen Rang.«
»Meine Eltern hätten mich nie gezwungen, so etwas zu erdulden«, murrte ich.
Großmamas Blick verhärtete sich. »Deine Eltern und ihre leichtsinnigen Investitionen sind der Grund, warum wir uns in dieser Lage befinden. Wir haben kein Geld mehr. Der Verkauf von Bentley hat es uns ermöglicht, weiter so zu leben wie bisher. Aber das wird sich ändern. Und es wird dir nicht gefallen, wenn es passiert.« Als ich weiter störrisch vor mich hin stierte, fügte sie hinzu: »Dein Leben lang werden Menschen Entscheidungen für dich treffen. Gewöhn dich daran.«
Unser Haus lag in einem anderen – aber gleichfalls vornehmen – Bezirk der Stadt als das Haus von Lord Gilman. Bei unserer Ankunft eilten Dienstboten herbei, um sich unserer anzunehmen. Sie halfen uns aus der Kutsche, nahmen uns Umhänge und Schals ab. Ich hatte eine eigene Schar von Zofen, die mich zu meinen Gemächern begleiteten und mir das Ballkleid auszogen. Ich sah zu, wie sie das rote Samtüberkleid mit den Trompetenärmeln und Goldstickereien glattstrichen. Sie hängten es zu den zahllosen anderen dekadenten Gewändern, und nachdem sie verschwunden waren, ertappte ich mich dabei, dass ich den Schrank anstarrte. Ein Großteil vom schwindenden Reichtum unserer Familie wurde für Kleider ausgegeben, die es mir ermöglichen sollten, mein Leben zum Besseren zu ändern.
Zweifellos war mein Leben gerade dabei, sich zu verändern, aber zum Besseren? Da war ich skeptisch.
Und darum tat ich so, als wäre das alles gar nicht real. So war ich auch mit dem Tod meiner Eltern umgegangen. Ich hatte mich geweigert zu glauben, dass sie gestorben waren – sogar angesichts des konkreten Beweises in Form ihrer Gräber. Es war unmöglich, dass jemand, den ich so sehr liebte, jemand, der einen so großen Platz in meinem Herzen einnahm, nicht länger existieren sollte. Also versuchte ich mir einzureden, sie würden eines Tages wieder durch meine Tür treten. Und als mir das nicht gelang, dachte ich einfach gar nicht mehr daran.
Genauso verfuhr ich auch mit Lionel. Ich verbannte ihn aus meinen Gedanken und führte mein Leben weiter, als wäre bei dem Fest gar nichts passiert.
Als eines Tages ein Brief von Lady Dorothy eintraf, musste ich seine Existenz schließlich doch wieder zur Kenntnis nehmen. Sie wollte ein Datum für die Hochzeit festlegen, was ja zu erwarten war. Nicht zu erwarten war allerdings ihre Anweisung, wir sollten die Hälfte unserer Bediensteten entlassen und die Mehrzahl unserer Besitztümer veräußern. Sie werden sie nicht brauchen, wenn Sie nach Northshire ziehen, schrieb sie. Unter meiner Aufsicht werden Ihnen die nötigen Dienstboten zugeteilt, und Sie werden mit allem Notwendigen versorgt.
»Ach du lieber Uros«, sagte ich, als ich den Brief gelesen hatte.
»Missbrauche nicht den Namen des Herrn«, fuhr mich Großmama an. Trotz ihrer scharfen Worte spürte ich ihre Anspannung. Unter der Fuchtel einer anderen zu stehen, würde auch für sie nicht leicht sein. »Ach ja. Lionel hat dir ein Geschenk geschickt.«
Das »Geschenk« war ein Behälter mit Lionels eigener Gerstenflocken-Mischung, die er jeden Morgen zum Frühstück aß. Dazu eine kurze Nachricht, dass mir dieses Geschenk einen Vorgeschmack auf das geben würde, was mich erwartete. Ich hätte gern geglaubt, dass das Wortspiel Absicht war, aber ich bezweifelte es ernstlich.
Großmutter begann darüber zu brüten, wie sie die Dienerschaft halbieren sollte, und ich ging aus dem Zimmer. Und dann einfach weiter. Ich ging aus dem Haus und durch den Vorgarten. Ich trat durch das Tor, das unser Grundstück von der geschäftigen, breiten Straße abschirmte, und erntete einen verblüfften Blick von dem Lakaien, der dort seinen Dienst versah.
»Mylady? Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
Ich winkte ihn zurück an seinen Platz, als er sich erheben wollte. »Nein«, sagte ich. Er blickte sich um und wusste nicht, was er tun sollte. Nie zuvor hatte er erlebt, dass ich allein das Haus verließ. Niemand hatte es je erlebt. Es geschah einfach nicht.
Seine Verwirrung hielt ihn auf seinem Platz, und alsbald wurde ich vom Fußgängerstrom auf der Straße verschluckt. Das hier war natürlich nicht die Oberschicht. Es waren Dienstboten, Kaufleute, Laufburschen … all die Menschen, deren Arbeit das Überleben der Reichen in der Stadt sicherte. Ich passte mich ihrem Trott an und wusste nicht recht, wohin ich gehen sollte.
Ein verrückter Teil von mir kam auf den Gedanken, dass ich mich an Donald Crosby wenden sollte. Während unserer kurzen Unterhaltung hatte er den Eindruck gemacht, als könnte er mich ganz gut leiden. Oder vielleicht könnte ich mich auch irgendwohin einschiffen. Auf den Kontinent reisen und dort irgendeinen belsianischen Adligen bezirzen. Vielleicht könnte ich mich auch einfach nur in der Menge verlieren, nur ein weiteres anonymes Gesicht sein, das im Gewühl der Stadt verschwand.
»Kann ich Ihnen helfen, Mylady? Sind Sie von Ihren Dienern getrennt worden?«
Offensichtlich war ich doch nicht ganz so anonym.
Ich war am Rand eines der vielen Geschäftsviertel der Stadt gelandet. Der Sprecher war ein älterer Mann, der Pakete auf dem Rücken trug, die viel zu schwer für seine schmale Gestalt wirkten.
»Woher wissen Sie, dass ich eine Lady bin?«, brach es aus mir heraus.
Er grinste und entblößte dabei ein paar Zahnlücken. »Sind nicht gerade viele allein unterwegs, die wie Sie angezogen sind.«
Ich schaute mich um und stellte fest, dass er recht hatte. Mein violettes Jacquardkleid war für meine Verhältnisse eher leger, aber es ließ mich in dem Meer graubrauner Kleidung hervorstechen. Es gab noch ein paar andere aus der Oberschicht, die hier einkauften, aber sie waren von pflichtbewussten Dienstboten umgeben, die bereit waren, sie vor jeglichen widerwärtigen Subjekten zu beschützen.
»Alles bestens«, sagte ich und drängte mich an ihm vorbei. Aber ich kam nicht sehr weit, bis mich ein anderer aufhielt: ein rotgesichtiger Junge, der seinen Lebensunterhalt offensichtlich mit dem Überbringen von Botschaften bestritt.
»Soll ich Sie nach Hause begleiten, Mylady?«, fragte er. »Drei Kupfermünzen und ich bring Sie hier raus.«
»Nein, ich …« Ich sprach nicht weiter, als mir etwas dämmerte. »Ich habe kein Geld. Jedenfalls nicht bei mir.« Er wandte sich zum Gehen, und ich rief: »Warte. Hier.« Ich zog mein Perlenarmband ab und hielt es ihm hin. »Kannst du mich zur Kirche des Glorreichen Vaiel bringen?«
Beim Anblick der Perlen bekam er große Augen, trotzdem zögerte er. »Das ist zu viel, Mylady. Die Kirche ist gleich da drüben in der Cunningham Street.«
Ich drückte ihm das Armband in die Hand. »Ich habe keine Ahnung, wo das ist. Bring mich hin.«
Wie sich zeigte, lag die Kirche wirklich nur drei Straßen weit entfernt. Ich kannte alle zentralen Stadtviertel von Osfro, wusste aber nicht viel darüber, wie man von einem zum anderen gelangte. Es hatte nie die Notwendigkeit bestanden, es zu wissen.
Heute wurden keine Gottesdienste abgehalten, aber die Haupttüren standen ein Stück weit auf und hießen alle Rat suchenden Seelen willkommen. Ich ging an der eleganten Kirche vorbei zum Friedhof, durchquerte den Teil für das gewöhnliche Volk, den Teil für Bessergestellte und kam schließlich zu den Gräbern der Aristokraten. Sie waren von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben und mehr mit Monumenten und Mausoleen bestückt als mit gewöhnlichen Grabsteinen.
Vielleicht kannte ich mich nicht gut auf Osfros Straßen aus, aber ich wusste ganz genau, wo sich auf diesem Friedhof das Mausoleum meiner Familie befand. Mein Führer wartete in der Nähe des Eisenzauns, während ich hinüber zu dem hübschen Steingebäude ging, auf dem WITMORE stand. Es war nicht das größte auf diesem Friedhof, aber ich fand, es war eines der schönsten. Mein Vater hatte die schönen Künste geliebt, und wir hatten für die Außenwände erlesen gearbeitete Statuen der sechs glorreichen Engel in Auftrag gegeben.
Ohne vorherige Rücksprache mit einem Verantwortlichen der Kirche konnte ich das Mausoleum nicht betreten, deshalb ließ ich mich einfach auf den Stufen nieder. Mit den Fingern fuhr ich über die Namen, die auf der Steintafel eingraviert waren: LORD ROGER WITMORE, SECHZEHNTER GRAF VON ROTHFORD, UND LADY AMELIA ROTHFORD. Über ihnen stand der Name meines Großvaters: LORD AUGUSTUS WITMORE, FÜNFZEHNTER GRAF VON ROTHFORD. Der Name meiner Großmutter würde sich eines Tages zu seinem gesellen, und dann wäre das Mausoleum voll. »Du wirst dir deinen eigenen Platz suchen müssen«, hatte Großmutter bei Vaters Beerdigung zu mir gesagt.
Meine Mutter war zuerst gestorben, sie hatte sich mit einer der vielen Krankheiten infiziert, die in den ärmeren Stadtvierteln grassierten. Meine Eltern hatten großes Interesse an der Förderung wohltätiger Einrichtungen für die weniger Begünstigten gehabt, und das hatte sie das Leben gekostet. In einem Sommer erkrankte meine Mutter, im nächsten mein Vater. Ihre wohltätigen Unternehmen gingen zugrunde. Manche sagten, meine Eltern seien Heilige gewesen. Die meisten hielten sie für Narren.
Ich betrachtete die große Steintür mit der Statue des glorreichen Engels Ariniel, Uros’ Wächterin. Sie war prachtvoll gearbeitet, aber ich fand schon immer, dass Ariniel der am wenigsten interessante Engel war. Sie tat nichts weiter als anderen das Tor zu öffnen und sie bei ihrem Übergang ins Jenseits zu unterstützen. Gab es einen Ort, an dem sie lieber gewesen wäre? Etwas, das sie lieber getan hätte? War sie zufrieden mit einer Existenz, die es anderen ermöglichte, ihre Ziele zu erreichen, während sie immer nur an Ort und Stelle verharrte? Großmama hatte gesagt, mein Leben lang würden andere die Entscheidungen für mich treffen. Galt das nicht nur für Menschen, sondern auch für Engel? In der Heiligen Schrift waren solche Fragen nie gestellt worden. Sehr wahrscheinlich war das Blasphemie.
»Mylady!«
Ich wandte den Blick von Ariniels gleichmütigem Gesicht ab und sah ein Gewusel von Farben am Tor. Drei meiner Zofen eilten auf mich zu. Weit hinter ihnen, in der Nähe des Kircheneingangs, wartete unsere Kutsche. Sofort war ich von meinen Zofen umringt.
»Oh, Mylady, was haben Sie sich bloß dabei gedacht?«, rief Vanessa. »Hat sich dieser Junge etwa unangemessen verhalten?«
»Sie müssen doch frieren!« Ada warf einen schweren Umhang über meine Schultern.
»Bitte lassen Sie mich den Dreck von Ihrem Saum bürsten«, sagte Thea.
»Nein, schon gut«, sagte ich zu ihr. »Alles in Ordnung. Wie habt ihr mich gefunden?«
Sie begannen alle durcheinanderzureden, aber im Grunde lief es darauf hinaus, dass sie mein Verschwinden bemerkt, den Lakaien am Tor unseres Stadthauses und dann so ziemlich jeden Menschen befragt hatten, an dem ich bei meinem Ausflug vorbeigekommen war. Offensichtlich hatte ich einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
»Ihre Großmutter weiß noch nichts«, sagte Vanessa und drängte mich zu gehen. Sie war die Schlauste der drei. »Lassen Sie uns rasch zurückfahren.«
Bevor ich mich abwandte, schaute ich noch einmal auf den Engel und auf die Namen meiner Eltern. »Schlimme Dinge werden immer geschehen«, hatte mein Vater in seinem letzten Jahr zu mir gesagt. »Es gibt keine Möglichkeit, sie zu verhindern. Bestimmen können wir nur, wie wir ihnen begegnen. Lassen wir zu, dass sie uns zerstören, uns entmutigen? Oder treten wir ihnen entschlossen entgegen und ertragen den Schmerz? Überlisten wir sie vielleicht sogar?« Ich fragte ihn, wie man es anstellen sollte, eine schlimme Sache zu überlisten. »Wenn der Zeitpunkt kommt, wirst du es wissen. Und wenn er da ist, musst du rasch handeln.«
Meine Zofen hörten gar nicht mehr auf zu lamentieren, selbst auf der Kutschfahrt nach Hause. »Mylady, wenn Sie das Mausoleum besuchen wollten, hätten Sie uns einfach beauftragen sollen, einen offiziellen Besuch zusammen mit einem Priester zu arrangieren«, sagte Thea.
»Ich habe nicht nachgedacht«, murmelte ich. Ganz bestimmt würde ich ihnen nicht erzählen, dass der Brief von Lady Dorothy mir fast einen Nervenzusammenbruch beschert hatte. »Ich brauchte frische Luft und habe beschlossen, einfach alleine einen Spaziergang dorthin zu unternehmen.«
Sie starrten mich ungläubig an. »Das dürfen Sie nicht«, sagte Ada. »Alleine dürfen Sie das nicht. Sie … Sie dürfen überhaupt nichts alleine tun.«
»Und warum nicht?«, fuhr ich sie an und verspürte nur ein geringes Schuldgefühl, als sie zusammenzuckte. »Ich gehöre dem Hochadel des Königreichs an. Mein Familienname gebietet überall Respekt. Warum sollte ich also nicht frei sein, überall hinzugehen? Und zu tun, was immer mir gefällt?«
Darauf sagte zunächst keine von ihnen etwas, und es überraschte mich nicht, dass es schließlich Vanessa war, die mir antwortete: »Weil Sie die Gräfin von Rothford sind. Jemand mit einem solchen Namen kann sich nicht frei unter den Namenlosen bewegen. Und wenn es darum geht, wer Sie sind, Mylady … nun, das ist etwas, das wir nie frei wählen können.«