Das Buch
Seit die mysteriöse Erscheinung namens Calamity am Himmel erschienen ist, hat sich die Welt verändert. Menschen mit Superkräften, die sogenannten Epics, haben die Herrschaft an sich gerissen. Keiner glaubt, dass einer dieser Epics jemals wieder zu Moral und Gerechtigkeit zurückfinden kann – bis auf den achtzehnjährigen David. Sein Schicksal ist eng mit den Superschurken verknüpft, seit Steelheart ihm den Vater genommen und Firefight sein Herz gestohlen hat. Jetzt ist der Prof, sein bester Freund und der Anführer der Widerstandsgruppe namens Rächer, selbst zu einem unkontrollierbaren Epic geworden. Doch David hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Um zu beweisen, dass auch Epics zu den Guten gehören können, und um den Prof zu retten, werden David und die Rächer es mit dem Mächtigsten von ihnen aufnehmen müssen. Oder bei dem Versuch umkommen …
Brandon Sandersons epische STEELHEART-Trilogie:
Erster Roman: Steelheart
Zweiter Roman: Firefight
Dritter Roman: Calamity
Der Autor
Brandon Sanderson, 1975 in Nebraska geboren, schreibt seit seiner Schulzeit phantastische Geschichten. Er studierte Englische Literatur und unterrichtet Kreatives Schreiben. Seit dem großen Epos um den »Weg der Könige« und dem internationalen Bestsellerroman »Steelheart« gilt Brandon Sanderson auch in Deutschland als einer der großen Stars der Fantasy. Brandon Sanderson lebt mit seiner Familie in Provo, Utah.
Mehr zum Autor und seinen Romanen auf:
www.brandonsanderson.com
Von Brandon Sanderson sind im Wilhelm Heyne Verlag erschienen:
Sturmklänge
Die Seele des Königs
DIE RÄCHER:
Steelheart
Firefight
Calamity
DIE STURMLICHT-CHRONIKEN:
Der Weg der Könige
Der Pfad der Winde
Die Worte des Lichts
Die Stürme des Zorns
BRANDON
SANDERSON
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Jürgen Langowski
Die Originalausgabe ist unter dem Titel Calamity bei Delacorte Press, Random House Children’s Books, New York, erschienen.
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Copyright © 2016 by Dragonsteel Entertainment, LLC
Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,
unter Verwendung eines Motivs von Craig Shields/Angela Carlino
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-17016-5
V001
www.heyne-fliegt.de
Gewidmet Kaylynn ZoBell, einer Autorin, Leserin, Kritikerin und Freundin, die zehn Jahre in einem literarischen Schreibkurs unter einem Haufen Großmäuler verbracht hat und immer noch höflich die Hand hebt, um Kommentare abzugeben, statt uns einfach zu ermorden.
(Danke für deine all die Jahre über geleistete Hilfe, Kaylynn!)
Prolog
ICH HABE DEN SCHRECKLICHEN ABGRUND GESEHEN.
Ich war in Babilar, das man auch Babylon Restored nennt. Das frühere New York City. Ich starrte den rot glühenden Stern an, der Calamity hieß, und ich wusste – daran bestand kein Zweifel –, dass sich in mir etwas verändert hatte.
Der Abgrund hatte mich aufgenommen, als gehörte ich dorthin. Zwar konnte ich die Dunkelheit in mir zurückdrängen, doch die Narbe ist noch da.
Die Finsternis beharrt darauf, mich abermals zu verschlingen.
Erster Teil
1
DIE SONNE LUGTE ÜBER DEN HORIZONT wie der Kopf einer riesigen radioaktiven Seekuh. Kaum zu glauben, aber ich hockte auf einem Baum. Ich hatte ganz vergessen, wie seltsam manche Dinge rochen.
»Alles klar?«, flüsterte ich über Funk. Wir benutzten keine Handys, sondern arbeiteten mit altmodischen Funkgeräten, die wir an die Headsets angepasst hatten. Es knackte und knisterte, wenn ich die Sendetaste drückte. Primitive Technik, aber bei dieser Mission unentbehrlich.
»Warte mal«, antwortete Megan. »Cody, bist du schon in Position?«
»Und ob«, kam die Antwort im gedehnten Tonfall der Südstaaten. »Mädchen, wenn sich von hinten jemand anschleicht, jage ich ihm eine Kugel ins Nasenloch.«
»Bäh«, gab Mizzy über Funk von sich.
»In fünf Sekunden legen wir los«, sagte ich in meinem Ausguck. Cody hatte die Vorrichtung, in der ich hing, als »Baumsitz« bezeichnet. Es war ein wackliger Campingstuhl, der zehn Meter hoch an den Stamm einer Ulme gebunden war. Früher hatten Jäger so etwas benutzt, um dem Wild aufzulauern.
Ich legte das Gottschalk an – ein schlankes militärisches Sturmgewehr – und spähte durch das Zielfernrohr. Normalerweise hätte ich in so einer Situation auf einen Epic gezielt, eines dieser mit Superkräften ausgestatteten Wesen, die unsere Welt terrorisierten. Ich war ein Rächer, genau wie alle anderen in meinem Team, und wir widmeten uns der Aufgabe, gefährliche Epics auszuschalten.
Leider hatte die Mission der Rächer vor etwa zwei Monaten ihren Sinn verloren. Unser Anführer, der Prof, war ebenfalls ein Epic und irgendwie auf den raffinierten Plan einer Rivalin hereingefallen, die einen Nachfolger suchte. Im Rausch seiner eigenen Kräfte hatte er Regalias Reich in Babilar verlassen und all ihre Datenspeicher, ihre Notizen und ihre Geheimnisse mitgenommen. Wir wollten ihn zur Strecke bringen. Deshalb waren wir hier.
Vor einer großen Burg.
Ernsthaft, es war eine Burg. Ich dachte, so etwas gäbe es nur in alten Filmen und fernen Ländern, aber im Wald von West Virginia stand tatsächlich eine Burg. Trotz der modernen Stahltore und der ausgeklügelten Sicherheitssysteme sah der Bau aus, als hätte er schon vor Calamitys Erscheinen dort gestanden. Auf dem Stein wuchsen Flechten, an einer verwitterten Mauer krochen Ranken empor.
Die Menschen der Prä-Calamity-Ära waren sonderbar drauf gewesen. Manchmal schlicht großartig – einen Beweis dafür bildete diese Burg –, aber alles in allem ziemlich verrückt.
Ich drehte mich zu Abraham um, der sich in der Nähe auf einem anderen Baum versteckte. Erkennen konnte ich ihn nur, weil ich genau wusste, worauf ich achten musste. Die dunkle Kleidung war in den gesprenkelten morgendlichen Schatten kaum zu erkennen. Unser Informant hatte uns verraten, dass diese Tageszeit der beste Moment war, um unser Ziel anzugreifen: Shewbrent Castle, auch bekannt als Knighthawk Foundry. Der wichtigste Produzent Epic-basierter Technik. Wir hatten dessen Waffen und Geräte benutzt, um Steelheart und nach ihm Regalia zu bekämpfen.
Jetzt wollten wir ihn ausrauben.
»Habt ihr alle die Handys ausgeschaltet?«, fragte ich über Funk. »Habt ihr die Batterien herausgenommen?«
»Das hast du schon dreimal gefragt, David«, antwortete Megan.
»Seht trotzdem noch mal nach.«
Alle bestätigten, und ich holte tief Luft. Soweit wir es wussten, waren wir die letzte noch existierende Rächer-Zelle. Seit zwei Monaten hatten wir nichts mehr von Tia gehört, was vermutlich bedeutete, dass sie tot war. Damit hatte ich das Kommando, aber das war mehr ein Versehen gewesen. Abraham und Cody hatten gelacht, als ich sie gefragt hatte, ob sie die Führung übernehmen würden. Mizzy hatte sich steif wie ein Brett aufgerichtet und beinahe hyperventiliert.
Jetzt setzten wir also meinen Plan um. Meinen verrückten, tollkühnen, unglaublichen Plan. Ehrlich gesagt, hatte ich schreckliche Angst.
Meine Uhr summte. Das Signal, den Angriff zu starten.
»Megan«, sagte ich ins Funkgerät. »Dein Einsatz.«
»Bin schon dabei.«
Wieder legte ich das Gewehr an und spähte durch die Bäume zu der Stelle, wo Megan den Anfang machen sollte. Dabei fühlte ich mich wie ein Blinder. Mit dem Handy hätte ich Megans Kamera anzapfen und ihre Aktionen direkt verfolgen können, oder ich hätte auf einer Umgebungskarte meine Teammitglieder als bewegliche Punkte verfolgen können. Doch unsere Handys waren von Knighthawk hergestellt und verkauft worden. Die Firma betrieb noch dazu das sichere Netzwerk, in dem die Geräte sendeten. Diese Handys zu benutzen, um einen Angriff auf Knighthawk zu organisieren, wäre ungefähr genauso klug gewesen wie die Idee, Zahnpasta als Salatdressing zu verwenden.
»Greife an«, meldete Megan. Gleich danach waren zwei Explosionen zu hören. Ich blickte noch einmal durch das Zielfernrohr und erkannte die Rauchsäulen, die drüben aufstiegen. Megan selbst konnte ich nicht entdecken, weil sie sich auf der anderen Seite der Burg befand. Es war ihre Aufgabe, den Einsatz mit einem Frontalangriff einzuleiten. Die Explosionen stammten von den beiden Handgranaten, die sie am Haupteingang gezündet hatte.
Es war natürlich reinster Selbstmord, die Knighthawk Foundry anzugreifen. Das wussten wir alle, aber wir waren auch verzweifelt und besaßen kaum noch Ressourcen. Außerdem war Jonathan Phaedrus hinter uns her. Knighthawk hatte sich geweigert, mit uns Geschäfte zu machen, und auf unsere Anfragen nicht reagiert.
Deshalb standen wir vor der Entscheidung, ob wir den Prof ohne Ausrüstung angreifen oder hierherkommen und sehen wollten, was wir stehlen konnten. Letzteres war die bessere von zwei schlechten Möglichkeiten.
»Cody?«, fragte ich.
»Sie macht das gut, Junge«, antwortete er über den knackenden Funkkanal. »Es sieht genauso aus wie im Video. Direkt nach den Explosionen haben sie Drohnen von der Leine gelassen.«
»Schalte aus, was du erwischen kannst«, sagte ich.
»Roger.«
»Mizzy?«, fuhr ich fort. »Jetzt bist du dran.«
»Groovy.«
Ich zögerte. »Groovy? Ist das ein Codewort?«
»Kennst du das nicht? Sparks, David, manchmal bist du ein richtiger Stoffel.« Während sie sprach, hörte ich im Hintergrund weitere und stärkere Explosionen. Die Erschütterungen ließen sogar meinen Baum wackeln.
Ich brauchte nicht einmal das Zielfernrohr, um den Rauch zu sehen, der rechts von mir an der Seite der Burg aufstieg. Kurz nach der Sprengung schoss ein Geschwader basketballgroßer Drohnen heraus – schlank, metallisch und mit Propellern auf dem Dach – und flog zu den Rauchwolken. Aus versteckten Nischen rollten größere Maschinen. Die dürren und annähernd mannshohen Apparate waren jeweils mit einer Feuerwaffe ausgerüstet und fuhren auf Schienen statt auf Rädern.
Ich verfolgte sie mit dem Zielfernrohr, als sie in den Wald auf die Stelle schossen, wo Mizzy Leuchtfeuer in Eimern platziert hatte, um Wärmequellen zu erzeugen. Ferngesteuerte Maschinenpistolen verstärkten die Illusion, dort draußen versteckte sich eine große Truppe Soldaten. Wir schossen absichtlich zu hoch, denn Abraham sollte nicht ins Kreuzfeuer geraten, wenn er an der Reihe war.
Die Verteidigung von Knighthawk lief genauso ab, wie wir es auf dem Video unseres Informanten gesehen hatten. Bisher war noch niemand in die Fabrik eingedrungen, obwohl es schon viele versucht hatten. Eine Gruppe, eine tollkühne paramilitärische Truppe aus Nashville, hatte Videos aufgezeichnet, von denen wir uns Kopien beschafft hatten. Soweit wir es überblicken konnten, waren die Drohnen meist im Inneren unterwegs und kontrollierten die Gänge. Jetzt waren sie draußen und kämpften.
Das riss hoffentlich für uns eine Lücke auf.
»Alles klar, Abraham«, sagte ich über Funk. »Du bist dran. Ich gebe dir Deckung.«
»Dann gehe ich mal los«, antwortete Abraham leise. Der umsichtige dunkelhäutige Mann ließ sich an einem dünnen Kabel aus dem Baum herab und huschte leise über den Waldboden. Obwohl er kräftige Arme und einen Stiernacken hatte, bewegte er sich überraschend geschmeidig zu der Außenmauer, die jetzt, am frühen Morgen, im Schatten lag. Der eng anliegende Infiltrationsanzug schirmte sogar seine Wärmestrahlung ab, solange die Kühler am Gürtel funktionierten.
Es war seine Aufgabe, in die Foundry zu schleichen, alle Waffen und Geräte zu stehlen, die er finden konnte, und in weniger als fünfzehn Minuten wieder herauszukommen. Von unserem Informanten hatten wir einfache Übersichtspläne erhalten, aus denen hervorging, dass sich die Labors und Produktionsanlagen im Erdgeschoss der Burg befanden. Dort warteten die Früchte ihrer Arbeit, die wir nur noch pflücken mussten.
Nervös beobachtete ich Abraham durch das Zielfernrohr. Dabei zielte ich vorsichtshalber rechts neben ihn, um ihn nicht etwa mit einem versehentlich ausgelösten Schuss zu treffen, und vergewisserte mich, dass die Drohnen ihn nicht bemerkten.
Er kam ungehindert voran. Mithilfe einer Wurfleine kletterte er über die niedrige Mauer. Eine zweite Leine half ihm, das Dach der Burg zu erreichen. Hinter einer Mauerzinne versteckte er sich, während er den nächsten Schritt vorbereitete.
»Rechts von dir befindet sich eine Öffnung, Abraham«, sagte ich über Funk. »Unter dem Turmfenster liegt eine Öffnung, aus der eine Drohne gekommen ist.«
»Groovy«, antwortete Abraham. Es klang komisch, als auch er mit seinem singenden französischen Akzent dieses Wort benutzte.
»Bitte sag mir, dass das gar kein richtiges Wort ist«, flehte ich. Dann verfolgte ich ihn mit der Zieloptik, als er sich der Öffnung näherte.
»Warum sollte das kein richtiges Wort sein?«, entgegnete Mizzy.
»Es klingt so seltsam.«
»Und was wir heutzutage sagen, klingt besser? ›Sparks‹ oder ›Schlonz‹ zum Beispiel?«
»Das sind normale Wörter«, antwortete ich. »Die sind überhaupt nicht seltsam.« Eine Drohne flog vorbei, doch glücklicherweise unterdrückte auch mein Anzug die Wärmestrahlung. Das war gut; allerdings trug sich diese Kleidung, die einem Taucheranzug ähnelte, sehr unbequem. Dabei waren meine Sachen noch nicht einmal so schlimm wie Abrahams Montur. Er trug sogar eine Gesichtsmaske und war am ganzen Körper gut isoliert. Aus der Sicht einer Drohne gab ich eine winzige Wärmesignatur ab, die ebenso gut auch von einem Eichhörnchen stammen konnte. Von einem versteckten und äußerst gefährlichen Eichhörnchen.
Abraham erreichte die Nische, auf die ich ihn hingewiesen hatte. Der Mann konnte sich wirklich sehr verstohlen bewegen. Kaum wandte ich den Blick ab, da verlor ich Abraham schon aus den Augen und hatte Mühe, ihn wiederzufinden. Wahrscheinlich hatte er eine Ausbildung bei irgendeiner Spezialeinheit absolviert.
»Leider ist da drin eine Tür, die nach dem Abflug der Maschine geschlossen wird«, berichtete Abraham. »Ich versuche, mir einen Weg hineinzubahnen.«
»Schön«, antwortete ich. »Megan, ist bei dir alles klar?«
»Ich lebe noch«, schnaufte sie. »Fürs Erste jedenfalls.«
»Wie viele Drohnen siehst du gerade?«, fragte ich. »Haben sie schon die größeren Exemplare auf dich losgelassen? Kannst du …«
»Bin grad beschäftigt, Kniescheibe«, fauchte sie.
Ich beruhigte mich und hörte den Schüssen und den Explosionen zu. Nur zu gern hätte ich mich in den Kampf eingeschaltet und geschossen und mitgemischt, aber das wäre sinnlos gewesen. Ich war nicht so gut getarnt wie Abraham und nicht … nun ja, nicht unsterblich wie Megan. Es war auf jeden Fall von Vorteil, eine Epic wie sie im Team zu haben. Die beiden kamen schon zurecht. Meine Aufgabe als Anführer bestand darin, mich zurückzuhalten und Entscheidungen zu treffen.
Was für ein Mist.
Hatte sich der Prof bei den Missionen, die er überwacht hatte, genauso gefühlt wie ich jetzt? Normalerweise war er im Hintergrund geblieben und hatte abgewartet. Mir war nicht bewusst gewesen, wie schwierig das war. Nun ja, wenn ich aus Babilar eines mitgenommen hatte, dann war es die Einsicht, dass ich meine Hitzköpfigkeit zügeln musste. Ich musste … ich durfte nur noch ein halber Hitzkopf sein. Also höchstens ein Hitzkinn?
»Wie ist dein Status, Abraham?«, fragte ich.
»Ich glaube, ich kriege das auf«, erklärte er. »Es dauert nur ein bisschen.«
»Ich …« Dann hielt ich inne. »Warte mal, was ist das denn?«
In der Nähe war ein dumpfes Grollen zu hören. Ich sah mich um und stellte zu meiner Überraschung fest, dass sich der mit Laub bedeckte Waldboden wellte. Blätter und Moos flogen davon und legten eine Metalltür frei, aus der eine weitere Gruppe Drohnen herausflog. Sie sausten an meinem Baum vorbei.
»Mizzy«, flüsterte ich ins Headset. »Dir fallen Drohnen in die Flanke.«
»Grottig«, antwortete sie. Nach einem kurzen Zögern fügte sie hinzu: »Weißt du, was …«
»Ja, ich weiß, was das heißt. Vielleicht musst du mit der nächsten Phase beginnen.« Ich blickte zu der Öffnung, die sich rumpelnd wieder schloss. »Pass auf. Anscheinend hat die Foundry Tunnel bis in den Wald gegraben. Sie können aus unerwarteten Richtungen Drohnen loslassen.«
Die Luke unter mir blieb halb geschlossen stehen. Ich runzelte die Stirn und beugte mich vor, um es mir genauer anzusehen. Anscheinend waren Erde und Steine ins Getriebe gerutscht. Mit solchen Problemen musste man wohl rechnen, wenn man den Hinterausgang mitten in den Wald verlegte.
»Abraham«, sagte ich aufgeregt ins Headset. »Die Öffnung hier klemmt und steht halb offen. Du könntest auch von hier aus eindringen.«
»Das wird schwierig«, antwortete er. Tatsächlich zogen sich zwei Drohnen wieder zurück, nachdem es drüben bei Mizzy mehrere Explosionen gegeben hatte, und schwebten in der Nähe von Abrahams Position.
»Sparks«, flüsterte ich, hob das Gewehr und schoss die beiden Maschinen ab. Wir hatten Patronen geladen, die elektronische Schaltkreise in der Nähe des Einschlags zerstörten. Ich wusste nicht, wie sie funktionierten, aber sie hatten so gut wie alles gekostet, was wir überhaupt noch besaßen, was auch den Hubschrauber einschloss, mit dem Cody und Abraham aus Newcago geflohen waren. Das Fluggerät war sowieso zu auffällig.
»Danke für die Unterstützung«, sagte Abraham, als die Drohnen abgestürzt waren.
Unter mir knirschte das Getriebe und versuchte abermals, die Luke zu schließen. Die Metallplatte bewegte sich ein paar Zentimeter.
»Der Zugang steht nur noch ein paar Sekunden offen«, warnte ich. »Komm schnell rüber.«
»Unbemerkt und schnell passen nicht gut zusammen, David«, widersprach Abraham.
Ich blickte zu der Öffnung. Newcago war für uns verloren. Der Prof hatte bereits zugeschlagen und unsere versteckten Stützpunkte geplündert. Es war uns gerade noch gelungen, Edmund – einen unserer Epic-Verbündeten – in einen sicheren Unterschlupf zu bringen.
Die Einwohner Newcagos hatten Angst. In Babilar sah es kaum besser aus. Dort war nicht mehr viel zu holen, und Regalias frühere Untertanen dienten jetzt dem Prof und bewachten die Gegend.
Wenn dieser Raubzug scheiterte, waren wir pleite. Dann mussten wir uns verkriechen und ein ganzes Jahr lang alles Stück für Stück wieder aufbauen, während der Prof ungehindert wüten konnte. Ich war nicht sicher, was er vorhatte und warum er Babilar so schnell verlassen hatte, aber sein Verhalten sprach dafür, dass er einen Plan verfolgte. Jonathan Phaedrus, inzwischen ganz und gar im Bann seiner Kräfte, gab sich bestimmt nicht damit zufrieden, auf Dauer irgendeine Stadt zu beherrschen. Der Mann war ehrgeizig.
Möglicherweise war er der gefährlichste Epic auf der Welt. Es drehte mir den Magen um. Jede weitere Verzögerung wäre verhängnisvoll.
»Cody«, sagte ich. »Siehst du Abraham? Kannst du ihm Deckung geben?«
»Warte mal. Ja, ich hab ihn«, antwortete er.
»Gut. Ich gehe rein. Du hast jetzt die Einsatzleitung.«
2
ICH RUTSCHTE AN MEINEM SEIL HINAB, landete auf dem Waldboden und trampelte über totes Laub. Vor mir setzte sich die Luke über dem Loch wieder in Bewegung. Mit einem erschrockenen Schrei lief ich hinüber und sprang hinein. Ich schlitterte eine kurze Rampe hinunter, und dann schloss sich hinter mir knirschend die Tür.
Ich war drin. Und vermutlich saß ich in der Falle.
Also … juhu?
Die schwach glühende Notbeleuchtung an den Seitenwänden zeigte mir einen abschüssigen Tunnel, der oben gewölbt war wie die Kehle eines Riesen. Die Neigung war nicht stark, also rappelte ich mich auf und schlich mit angelegter Waffe den Gang hinunter. Das Funkgerät, das ich an der Hüfte trug, schaltete ich, um mich besser konzentrieren zu können, auf einen anderen Kanal um. So war es für die Leute vorgesehen, die in die Foundry eindrangen. Die anderen wussten, wie sie mich erreichen konnten.
In diesem Zwielicht hätte ich am liebsten mein Handy aktiviert und die Hilfsbeleuchtung benutzt, aber ich hielt mich zurück. Wer wusste schon, welche Hintertüren die Knighthawk Foundry in die Geräte eingebaut hatte? Wer wusste schon, wozu die Handys tatsächlich fähig waren? Sie beruhten auf irgendeiner von den Epics abgeleiteten Technik. Telefone, die unter jedweden Bedingungen funktionierten und deren Signale man nicht abhören konnte? Ich war in einem Loch unter Newcago aufgewachsen, aber selbst dort hatte ich schon begriffen, wie unglaublich das war.
Ich erreichte das untere Ende des Ganges und schaltete die Nachtsicht- und die Infrarotoptik meines Zielfernrohrs ein. Sparks, das war ein Wahnsinnsgewehr. Vor mir erstreckte sich der verlassene Gang. Nichts als glattes Metall vom Boden bis zur Decke. Er war lang genug, um unter den Mauern der Foundry hindurch bis in das Fabrikgelände zu führen. Vermutlich bot er mir also tatsächlich einen brauchbaren Zugang.
Herausgeschmuggelte Fotos zeigten im Inneren der Foundry alle möglichen Motivatoren und Geräte, die auf Werkbänken herumlagen. Das hatte uns verleitet, uns auf diesen riskanten Plan zu verlegen. Alles schnappen und verschwinden und hoffen, dass wir etwas Nützliches abgreifen konnten.
Diese Technik wurde auf irgendeine Weise aus den Körpern der Epics konstruiert. Schon bevor ich entdeckt hatte, dass auch der Prof solche Kräfte besaß, hätte mir bewusst werden sollen, wie sehr wir von den Epics abhängig waren. Ich hatte mir immer eingeredet, die Rächer wären eine reine, menschliche Kraft, die sich für die Freiheit einsetzte. Gewöhnliche Menschen, die gegen einen außergewöhnlichen Feind kämpften.
Aber so war das noch nie gelaufen. Perseus hatte sein Zauberpferd, Aladin die Lampe, David im Alten Testament hatte Jehovas Segen. Wenn du gegen einen Gott kämpfen willst, dann sorge dafür, dass ein anderer Gott auf deiner Seite steht.
Wir hatten den Göttern Teile herausgeschnitten, in Kisten gesteckt und ihre Kräfte gebändigt. Vieles davon kam aus diesem Werk. Die Knighthawk Foundry verwandelte die Körper der Epics in Waffen.
Als es in meinem Headset knackte, zuckte ich zusammen.
»David?« Megan hatte auf den Zweitkanal umgeschaltet. »Was machst du da?«
Ich schnitt eine Grimasse. »Ich habe im Wald einen Zugangstunnel für Drohnen gefunden und konnte mich hineinschleichen«, flüsterte ich.
Schweigen. Dann ein einziges Wort: »Schlonz.«
»Was denn? Weil es so waghalsig ist?«
»Nein. Weil du mich nicht mitgenommen hast.«
In der Nähe explodierte irgendetwas.
»Anscheinend kommst du durchaus auf deine Kosten«, sagte ich. Mit angelegtem Gewehr lief ich weiter und hielt nach Drohnen Ausschau.
»Ja, klar«, erwiderte sie. »Ich fange mit bloßen Händen Miniraketen ab. Macht wirklich Spaß.«
Ich lächelte. So ging es mir oft, wenn ich ihre Stimme hörte. Teufel, ich ließ mich lieber von Megan anschreien, als von irgendjemand anders loben. Außerdem konnte sie nur deshalb mit mir reden, weil sie keineswegs Miniraketen mit bloßen Händen abgefangen hatte. Sie war unsterblich, denn sie wurde nach jedem Tod wiedergeboren, aber sonst war sie so anfällig für Verletzungen wie jeder andere. Aufgrund gewisser Probleme, die sich unlängst ergeben hatten, setzte sie ihre Epic-Kräfte so selten wie möglich ein.
Also ging sie auf die altmodische Art und Weise vor. Sie duckte sich zwischen die Bäume, warf Handgranaten und schoss, während Cody und Mizzy ihr Deckung gaben. Ich stellte mir vor, wie sie leise fluchte und schwitzte, während sie auf eine vorbeifliegende Drohne zielte, wie sie gekonnt das Ziel erfasste, wie ihr Gesicht …
… äh, ja, natürlich. Ich musste mich auf meine Aufgabe konzentrieren.
»Ich beschäftige sie hier oben«, erklärte Megan. »Aber sei vorsichtig, David. Du hast keinen kompletten Infiltrationsanzug. Die Drohnen bemerken deine Wärmestrahlung, wenn sie genau hinschauen.«
»Groovy«, flüsterte ich. Was auch immer das bedeuten sollte.
Vor mir wurde es im Tunnel heller, deshalb schaltete ich die Nachtsichtfunktion aus und ging langsamer. Ein Stück weit schlich ich vorsichtig voran, dann blieb ich ganz stehen. Der Tunnel mündete in einen großen, weißen Korridor, der sich nach links und rechts erstreckte. Er war hell erleuchtet, der Boden war gekachelt und die Wände aus Stahl konstruiert. Und er war völlig verlassen. Leer wie ein Büro, wenn es im Laden an der Ecke kostenlose Donuts gab.
Ich nahm unsere Karten, sofern man sie überhaupt so nennen durfte, aus der Tasche und sah nach. Viel ging nicht daraus hervor, allerdings erinnerte ein Foto an diesen Korridor. Nun ja, ich musste irgendwo nützliche Bauteile finden, sie stehlen und verschwinden.
Dem Prof oder Tia wäre sicherlich ein besserer Plan eingefallen, aber sie waren nicht da. Deshalb ging ich aufs Geratewohl in eine Richtung weiter. Als die angespannte Stille einige Minuten später von Geräuschen gestört wurde, die im Korridor hallten und sich rasch näherten, war ich tatsächlich erleichtert.
Ich lief den Geräuschen entgegen, aber nicht, um die Verursacher zu treffen, sondern um ein Stück weiter unten im Flur hinter einer Tür zu verschwinden. Gerade rechtzeitig kam ich dort an, zog sie auf – glücklicherweise war sie nicht verschlossen – und betrat einen dunklen Raum. Mit dem Rücken an die Tür geschmiegt, hörte ich einen Trupp Drohnen vorbeisausen. Ich drehte mich um und beobachtete sie durch ein kleines Fenster in der Tür, wie sie durch den weißen Korridor schossen und im Zugangstunnel verschwanden.
Sie hatten meine Wärmestrahlung nicht bemerkt. Ich schaltete auf die offene Frequenz um und flüsterte: »Da sind schon wieder Drohnen in die Richtung unterwegs, aus der ich gekommen bin. Cody, wie ist dein Status?«
»Wir haben noch ein paar Asse im Ärmel«, antwortete Cody. »Aber es wird hier draußen hektisch. Abraham konnte durch das Dach eindringen. Ihr zwei solltet schnappen, was ihr könnt, und so schnell wie möglich verschwinden.«
»Roger«, antwortete Abraham.
»Verstanden«, funkte ich zurück. Ich sah mich in dem Raum um, den ich betreten hatte. Es war völlig finster, aber dem sterilen Geruch nach zu urteilen, handelte es sich um eine Art Labor. Ich schaltete die Nachtsicht ein und sah mich um.
Wie sich herausstellte, war ich von Leichen umgeben.
3
ICH UNTERDRÜCKTE EINEN ERSCHROCKENEN SCHREI. Mit angelegtem Gewehr und pochendem Herzen sah ich mich genauer um. Der Raum war mit Metalltischen und Ausgüssen eingerichtet, dazwischen standen mehrere große Wannen. An den Wänden lagerten auf deckenhohen Regalen Behälter unterschiedlicher Größe. Ich beugte mich vor und spähte in die Behälter, die mir am nächsten waren. Körperteile. Finger, Lungen, Gehirne. Alle menschlich, wenn ich den Etiketten glauben konnte. Anscheinend handelte es sich um ein Labor, in dem Leichen zerlegt wurden.
Ich schüttelte die aufkommende Übelkeit ab und konzentrierte mich. Ob in einem solchen Raum Motivatoren aufbewahrt wurden? Alles, was Epic-Technologie benutzte, benötigte einen Motivator, um zu funktionieren. Die Mission wäre gescheitert, wenn ich nicht ein paar davon entdeckte.
Also sah ich mich gründlich um. Motivatoren waren kleine Metallkästchen in der Größe einer Handybatterie. Mist. Dank des Nachtsichtgeräts war alles grün gefärbt, und durch den Tunnelblick des Zielfernrohrs wirkte der Raum erst recht gespenstisch.
»He«, drang Mizzys Stimme aus dem Funkgerät. Erneut zuckte ich vor Schreck zusammen. »David, bist du da?«
»Ja«, flüsterte ich.
»Die Kämpfe haben sich in Megans Richtung verlagert, deshalb lege ich hier gerade eine Verschnaufpause ein«, berichtete Mizzy. »Cody sagt, ich soll dich fragen, ob du irgendetwas brauchst.«
Ich war nicht sicher, wie sie mir aus dieser Entfernung helfen konnte, aber es tat gut, eine menschliche Stimme zu hören. »Ich bin in einer Art Labor«, antwortete ich. »In Behältern sind Körperteile gelagert, und …« Mir wurde wieder übel. Ich nahm das Gewehr herum und betrachtete durch das Zielfernrohr die Badewannen in der Nähe. Durch die Glasdeckel konnte ich erkennen, dass sie voll waren. Ich würgte und wich zurück. » … und hier sind Wannen, in denen irgendwelche Brocken schwimmen. Das ist, als bereiteten sich Kannibalen darauf vor, Apfeltauchen zu spielen. Auch wenn es vielleicht Adamsäpfel sind.«
Ich öffnete einen Schrank und fand ein ganzes Fach voller eingelegter Herzen. Als ich weiterging, setzte ich den Fuß auf irgendetwas, das schmatzte. Ich fuhr zurück und richtete die Waffe auf den Boden. Es war nur ein Lappen.
»Mizzy«, flüsterte ich, »es ist wirklich unheimlich hier. Meinst du, ich kann gefahrlos das Licht einschalten?«
»Oh, das wäre sicher unglaublich klug. Die Besitzer eines hochmodernen Bunkers und fliegender Angriffsdrohnen haben ganz bestimmt keine Überwachungskameras im Labor. Auf gar keinen Fall.«
»Ich hab’s verstanden.«
»Oder sie haben dich längst bemerkt, und ein Trupp Killer-Hubschrauber ist bereits zu dir unterwegs. Kann aber auch sein, dass ich mich irre und mir viel zu große Sorgen mache.«
Sie sagte es fröhlich und beinahe aufgeregt. Mizzy konnte frecher sein als ein Sack junger Hunde unter Koffein. Normalerweise fand ich das erfrischend. Normalerweise schlich ich aber auch nicht durch einen Raum voller Leichenteile.
Ich kniete nieder und berührte den Lappen. Da er noch feucht war, hatte vielleicht jemand über Nacht hier gearbeitet und war durch unseren Angriff gestört worden.
»Kannst du was klauen?«, fragte Mizzy.
»Nein. Es sei denn, du willst dir einen neuen Freund zusammennähen.«
»Igitt. Hör mal, schnapp dir einfach, was du kannst, und verschwinde von dort. Wir haben schon die Zeit überzogen.«
»In Ordnung.« Ich öffnete einen weiteren Schrank. Chirurgische Geräte. »Ich beeile mich. Das … warte mal.«
Ich blieb wie angewurzelt stehen und lauschte. Hatte ich da nicht ein Geräusch gehört?
Ja, eine Art Klappern. Ich versuchte, nicht an eine Leiche zu denken, die gerade aus einer dieser Wannen stieg. Das Geräusch war aus der Nähe der Tür gekommen. Dicht über dem Boden flammte dort ein winziges Licht auf.
Mit gerunzelter Stirn schlich ich näher heran. Es war eine kleine Drohne, flach und rund, mit wirbelnden Bürsten unter dem Bauch. Sie war durch eine Art Katzenklappe hereingefahren und wischte jetzt den Boden.
Ich entspannte mich. »Nur ein Putzbot«, sagte ich über Funk.
Der Bot hielt an wie vom Blitz getroffen. Mizzy wollte etwas antworten, doch ich hörte bereits nicht mehr hin, weil die kleine Maschine wieder aktiv wurde und zurück zur Tür huschte. Ich warf mich zu Boden, streckte eine Hand aus und konnte die kleine Drohne gerade noch packen, ehe sie durch die Klappe verschwand.
»David?«, fragte Mizzy besorgt. »Was war das?«
»Ich bin ein Idiot«, erklärte ich und schnitt eine Grimasse. Bei dem Sprung war ich mit dem Ellenbogen auf den Boden geschlagen. »Der Bot hat bemerkt, dass etwas faul ist, und wollte abhauen. Ich habe ihn aber erwischt, ehe er sich verdrücken konnte. Vielleicht hat er jemanden gewarnt.«
»Kann sein«, meinte Mizzy. »Vielleicht steht er mit den Sicherheitskräften des Gebäudes in Verbindung.«
»Ich beeile mich«, versprach ich und rappelte mich auf. Den Putzbot verstaute ich neben einem kleinen Kühlschrank mit Glastür, der mehrere Beutel mit Blut enthielt, mit den Bürsten nach oben auf einem Regal. Gleich daneben lagen einige weitere Beutel auf einer Art Theke. Igitt.
»Vielleicht sind das Körperteile von Epics«, überlegte ich. »Ich könnte sie mitnehmen, dann hätten wir DNA-Proben. Können wir so was gebrauchen?«
»Wozu denn?«
»Keine Ahnung«, gestand ich. »Vielleicht könnten wir irgendwie Waffen daraus basteln?«
»Jaaaaaa«, antwortete Mizzy gedehnt. »Ich tackere mir einen abgehackten Fuß an den Lauf meines Gewehrs und hoffe, dass es danach mit Laserstrahlen schießt oder so.«
Ich errötete in der Dunkelheit, fand jedoch, dass der Seitenhieb nicht nötig gewesen wäre. Wenn ich wertvolle DNA stahl, konnten wir sie doch gegen Vorräte eintauschen, oder? Zugegebenermaßen würden diese Körperteile aber vermutlich nicht ausreichen. Die wichtigen Bestandteile der Epic-DNA zerfielen sehr schnell. Wenn ich etwas Verkäufliches bekommen wollte, musste ich gefrorenes Gewebe finden.
Gefrierschränke. Wo gab es hier Gefrierschränke? Ich überprüfte eine Badewanne und hob den Deckel ab. Die Flüssigkeit darin war kalt, aber nicht gefroren. Also legte ich den Deckel wieder darauf und sah mich weiter um. Hinten gab es eine zweite Tür, genau gegenüber derjenigen, durch die ich vom Flur aus hereingekommen war.
»Irgendwie ist das hier genauso, wie ich es mir vorgestellt habe«, sagte ich zu Mizzy, als ich zu der Tür ging.
»Hast du wirklich damit gerechnet, einen Raum voller Leichenteile zu finden?«
»In gewisser Weise schon«, antwortete ich. »Ich meine, verrückte Wissenschaftler, die aus toten Epics Apparate konstruieren? Warum sollten die nicht einen Raum voller Leichenteile haben?«
»Ich weiß nicht, worauf du jetzt hinauswillst, David. Mal davon abgesehen, dass ich eine Gänsehaut habe.«
»Warte mal.« Ich hatte die Tür erreicht, die jedoch verschlossen war.
Nach mehreren Tritten flog sie auf. Wegen des Lärms machte ich mir keine großen Sorgen. Falls jemand in der Nähe war, hatte er auch schon meinen Kampf mit der kleinen Drohne gehört. Hinter der Tür lag ein dunkler Flur, schmaler als der andere Gang und völlig unbeleuchtet. Ich lauschte, hörte nichts und beschloss, nachzusehen, wohin er führte.
»Jedenfalls bin ich neugierig, wie sie eigentlich aus Epics Waffen herstellen«, fuhr ich fort.
»Keine Ahnung«, erklärte Mizzy. »Ich kann die Sachen reparieren, die wir haben, aber mit Motivatoren kenne ich mich nicht aus.«
»Wenn ein Epic stirbt, lösen sich die Zellen sofort auf«, sagte ich. »Das weiß doch jeder.«
»Jeder, der ein Nerd ist.«
»Ich bin kein …«
»Schon gut, Kumpel«, beruhigte Mizzy mich. »Bekenne dich zu dem, was du bist. Sei du selbst und so weiter. Im Grunde sind wir doch alle Nerds, nur auf verschiedenen Gebieten. Mit Ausnahme von Cody. Ich glaube, der ist ein Geek oder so was … aber ich kenne mich mit den Begriffen nicht so aus. Es hat damit zu tun, dass er Hühnerköpfe isst.«
Ich seufzte. »Wenn ein Epic stirbt und man schnell genug vorgeht, kann man eine Probe der Zellen nehmen. Die Mitochondrien sind angeblich besonders wichtig. Man friert sie ein und kann sie auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Irgendwie werden sie dann in Technologie verwandelt. Das Problem ist nur, dass Obliteration sich von Regalia operieren ließ. Ich habe die Narben gesehen. Sie haben aus seinen Kräften eine Bombe hergestellt.«
»Und …?«
»Warum die Operation?«, fragte ich. »Er hätte ihnen doch einfach eine Blutprobe abtreten können, oder? Warum hat Regalia einen Starchirurgen hinzugezogen?«
Mizzy schwieg. »Oh«, machte sie schließlich.
»Genau.« Bislang hatte ich angenommen, ein Epic müsste tot sein, ehe man seine Fähigkeiten in etwas Technisches verwandeln konnte. Regalia und Obliteration bewiesen, dass ich mich geirrt hatte. Aber wenn man Technologie aus lebenden Epics herstellen konnte, warum hatte Steelheart sich nicht einfach eine ganze Legion unbezwingbarer Soldaten erschaffen? Vielleicht hatte er Angst, sie könnten sich eines Tages gegen ihn wenden, aber er hätte völlig gefahrlos ein paar Hundert Kopien von Edmund konstruieren können. Edmund war der Epic, der Steelhearts Stadt mit Strom versorgt hatte.
Ich erreichte in dem dunklen Gang eine Ecke. Mit der Infrarotoptik des Zielfernrohrs spähte ich darum herum und suchte nach Gefahren. Ich sah einen kleinen Raum mit mehreren großen Gefrierschränken. Wärmequellen gab es hier offenbar nicht, aber der Timer in der Anzeige des Zielfernrohrs warnte mich, dass ich umkehren musste. Doch wenn ich jetzt umkehrte und auch Abraham nichts entdeckt hatte, waren wir erledigt. Ich musste irgendetwas finden.
Ich ging in die Hocke. Einerseits machte ich mir Sorgen, weil die Zeit knapp wurde, andererseits beunruhigte mich das, was ich bisher gesehen hatte. Abgesehen von der Frage, ob man aus lebenden Epics Motivatoren herstellen konnte, gab es noch ein weiteres Problem. Wenn die Menschen über die von Epics abgeleitete Technik sprachen, gingen sie davon aus, dass alle Geräte durch einen ähnlichen Prozess entstanden. Aber wie war das möglich? Die Waffen unterschieden sich beispielsweise stark von dem Zeiger, mit dem wir feststellen konnten, ob wir einen Epic vor uns hatten. Beides war wiederum etwas ganz anderes als der Spyril. Dieses Gerät, das ebenfalls auf Epic-Technologie beruhte, hatte es mir ermöglicht, auf Rückstoßstrahlen über Wasser zu fliegen.
Ich war kein Nerd, wusste aber genug, um zu erkennen, dass diese Technologien zu völlig unterschiedlichen Bereichen gehörten. Man rief keinen Spezialisten für Rennmäuse, wenn das Pferd erkrankte. Aber wenn es um die Epic-Technologie ging, reichte anscheinend ein einziges Fachgebiet aus, um gänzlich unterschiedliche Gegenstände herzustellen.
Endlich gab ich vor mir selbst zu, was ich wirklich wollte. Diese Fragen waren der wahre Grund dafür, dass wir Knighthawk überfallen hatten. Der Prof hatte Geheimnisse gehütet, und zwar schon bevor seine Kräfte ihn in den Abgrund gerissen hatten. Ich hegte den Eindruck, dass diesbezüglich noch nie jemand wirklich aufrichtig mir gegenüber gewesen war.
Ich wollte Antworten. Wahrscheinlich waren sie hier irgendwo zu finden. Vielleicht fand ich sie mithilfe der Kampfdrohnen, die gerade hinter den Gefrierschränken auftauchten und die Feuerwaffen auf mich richteten.
Oh.
4
DIE DROHNEN SCHALTETEN GLEICHZEITIG die Scheinwerfer ein und blendeten mich, dann eröffneten sie das Feuer. Glücklicherweise hatte ich sie rechtzeitig bemerkt und konnte mich hinter die Ecke zurückziehen, ehe ich getroffen wurde.
Ich drehte mich um und flüchtete vor ihnen durch den Korridor. Die Schüsse übertönten Mizzys Stimme in meinem Ohr, als mich die Kampfdrohnen verfolgten. An den unteren Enden hatten sie quadratische Antriebskästen mit frei beweglichen Rädern, der dünne Aufbau trug ein Sturmgewehr. Sie waren perfekt dafür geeignet, zwischen Möbeln und in Gängen zu manövrieren. Sparks, ich fand es trotzdem demütigend, vor ihnen zu fliehen. Sie erinnerten mich eher an fahrbare Garderobenständer als an Kriegsmaschinen.
Ich erreichte die Tür des Labors mit den Körperteilen und lief hindurch, hielt schlitternd an und presste mich neben der Tür mit dem Rücken an die Wand. Ein Knopfdruck lenkte das Bild aus dem Zielfernrohr auf einen kleinen Bildschirm an der Seite des Gottschalk-Gewehrs um, sodass ich gefahrlos um die Ecke feuern konnte.
Die Roboter sausten wie ein Schwarm Besen auf Rädern heran. Mir wäre es peinlich gewesen, wenn ich derart lächerliche Maschinen erfunden hätte. Ich schaltete auf Feuerstoß um und zielte nicht lange. Der Korridor war so schmal, dass ich die Angreifer im Grunde gar nicht verfehlen konnte. Als ich mehrere Roboter erledigt hatte, wurden die anderen langsamer, weil sie sich durch die Trümmer wühlen mussten. Nachdem ich noch ein paar weitere ausgeschaltet hatte, zogen sie sich um die Ecke in den Raum mit den Gefrierschränken zurück.
»David?«, hörte ich Mizzys hektischen Ruf. »Was ist los?«
»Mir geht es gut, aber sie haben mich bemerkt«, antwortete ich.
»Komm da raus.«
Ich zögerte.
»David?«
»Ich habe etwas entdeckt, Mizzy. Einen Raum, der verschlossen und von Drohnen bewacht war. Ich möchte wetten, dass sie sich dorthin zurückgezogen haben, nachdem unser Angriff begonnen hatte. Entweder das, oder der Raum ist ständig bewacht. Das bedeutet …«
»Oh, Calamity. Du wirst wieder du selbst sein, was?«
»Genau das hast du mir vorhin empfohlen. Wenn ich zitieren darf: ›Bekenne dich zu dem, was du bist.‹« Ich schoss eine weitere Salve ab, weil ich am Ende des Korridors eine Bewegung bemerkt hatte. »Sag Abraham und den anderen, dass ich aufgeflogen bin. Brecht alle ab, und bereitet euch auf den Rückzug vor.«
»Und du?«
»Ich finde heraus, was in dem Raum ist.« Ich zögerte. »Möglicherweise muss ich mich anschießen lassen, um das zu erreichen.«
»Was?«
»Ich halte jetzt vorübergehend Funkstille. Tut mir leid.«
Ich legte das Funkgerät und das Headset ab und drückte auf einen Knopf an der Seite des Gewehrs, um ein kleines Dreibein auszufahren. Dann richtete ich die Waffe schräg auf das Ende des Tunnels aus und hoffte, die Kugeln würden von der Metallwand abprallen und in die Richtung der Roboter fliegen. Vor allem aber brauchte ich eine Ablenkung. Ich konnte das Gewehr mit der leicht angeschmolzenen Fernbedienung bedienen, die ich einer Einbuchtung an der Seite entnahm.
Danach rannte ich durch den Raum und gab immer wieder kurze Feuerstöße ab, um den Eindruck zu erwecken, ich sei weiterhin wachsam, und zielte auf die Drohnen. Deren helle Scheinwerfer wurden vom Glas und Metall in diesem Raum reflektiert, wodurch ich genügend Licht hatte, um mich zu bewegen. Ich holte den kleinen Putzroboter, dessen Räder immer noch hektisch surrten, vom Regal herunter, nahm einen Beutel mit Blut von der Theke und schnappte mir eine Rolle chirurgisches Klebeband, das ich schon vorher in einer Schublade bemerkt hatte.
Ich riss ein Stück Klebeband ab und fixierte den Blutbeutel oben auf dem Roboter, dann stach ich mit meinem Messer ein Loch in den Beutel. Anschließend ging ich zu der Tür, durch die ich ursprünglich eingedrungen war, öffnete sie einen Spalt weit und setzte die Maschine draußen ab. Sie huschte eilig den weißen Gang hinunter und hinterließ eine breite Spur von Blutstropfen, die so auffällig waren wie ein Tuba-Solo in einem Rap-Stück.
Schön. Jetzt musste ich nur noch so tun, als sei ich angeschossen worden. Ich schnappte mir einen weiteren Blutbeutel und stach mit dem Messer ein Loch hinein. Dann rannte ich zu der anderen Tür, wo die Drohnen immer noch auf mein Gottschalk schossen.
Die Roboter machten Fortschritte, stießen die gefallenen Kameraden beiseite und rückten weiter vor. Ich duckte mich, als sie wieder auf mich schossen, dann stieß ich einen Schrei aus und sprühte etwas Blut an die Wand. Von dort aus lief ich zu einer Badewanne und legte eine weitere Blutspur bis zum Ausgang.
Da mir das Zielfernrohr nicht mehr zur Verfügung stand, konnte ich nicht erkennen, was sich in der Badewanne befand. Trotzdem zog ich den Deckel weg, knirschte mit den Zähnen und stieg hinein. Dabei berührte ich ein paar glitschige Dinge, bei denen es sich meiner Vorstellung nach um Lebern handelte. Während ich mich in der eiskalten Flüssigkeit einrichtete, war mir schmerzhaft deutlich bewusst, wie widerwärtig all das war. Glücklicherweise war ich daran gewöhnt, dass mich der Vollzug meiner Pläne auf die eine oder andere Weise erniedrigte. Dieses Mal tat ich es lediglich absichtlich. Immerhin, ein Fortschritt.
Ich lag ruhig da und hoffte, die Kühlung der Badewanne und die eiskalte Flüssigkeit würden mich vor den Infrarotsensoren der Roboter verbergen. Um nicht aufzufallen, musste ich leider den Deckel schließen und die Luft anhalten. So lag ich zwischen den tanzenden Körperteilen und sah über mir die Lichter blitzen, als die Roboter mit ihren Scheinwerfern in das Labor eindrangen. Durch das Wasser und den Glasdeckel konnte ich nicht viel erkennen, stellte mir aber vor, wie sich die Roboter um meine Badewanne versammelten, mich anstarrten und sich über meine lächerlichen Versuche amüsierten, mich vor ihnen zu verstecken.
Ich hielt den Atem an, bis ich fast platzte. Mein Gesicht, das nicht vom Infiltrationsanzug geschützt war, wurde eiskalt. Glücklicherweise verschwanden die Lichter. Ich hielt noch ein wenig länger durch, stieß den Deckel weg und sah mich schaudernd im Labor um. Es war stockfinster.
Anscheinend waren die Roboter auf den Trick hereingefallen. Ich wischte mir die Flüssigkeit aus den Augen und stieg heraus. Oh Mann, als wäre dieser Laden nicht schon unheimlich genug gewesen, bevor ich beschlossen hatte, in eine Wanne voller Lebern zu klettern, um mich vor tödlichen Robotern zu verstecken. Ich schüttelte den Kopf und holte das Funkgerät und das Gewehr. Auf das Headset war Blut geraten. Anscheinend war es kaputt.
Ich musste das Funkgerät auf die altmodische Art und Weise bedienen. »Bin wieder da«, sagte ich leise, während ich auf den Sendeknopf drückte.
»David, du bist verrückt«, antwortete jemand.
Ich lächelte. »Hallo, Megan.« Ich huschte in den schmaleren Korridor und lief an den zerstörten Robotern vorbei. »Ziehen sich alle zurück?«
»Alle, die klug sind.«
»Ich liebe dich auch«, sagte ich und hielt an der Ecke an, wo ich vorher auf die Roboter aufmerksam geworden war. Der Raum dahinter war dunkel wie zuvor. Mit dem Zielfernrohr suchte ich nach lauernden Robotern. »Bin fast bereit zu verschwinden. Nur noch ein paar Minuten.«
»Roger.«
Ich schaltete den Empfangsteil des Funkgeräts ab, um etwaige Feinde in der Nähe nicht zu warnen. Leider hatte ich keine Zeit, besonders vorsichtig vorzugehen. Mein Trick mit der falschen Fährte würde bald auffliegen. Und wie um mich an die Gefahr zu erinnern, erschütterte eine ferne Explosion das Gebäude.
Ich tastete mich an der Wand entlang und schaltete das Licht ein, dann ging ich zu einem der großen Gefrierschränke. Auf der Edelstahlfläche spiegelte sich mein Gesicht mit den zwei Wochen alten Bartstoppeln. Ich fand, ich sah damit gefährlich aus. Megan kicherte immer darüber.
Mit pochendem Herzen zog ich den ersten Gefrierschrank auf. Ein eiskalter Luftschwall schlug mir entgegen. Drinnen fand ich zahllose Reihen tiefgefrorener Ampullen mit bunten Stöpseln. Nicht die Motivatoren, die ich gesucht hatte, aber höchstwahrscheinlich Proben von Epic-DNA.
»Tja«, flüsterte ich. »Wenigstens ist es kein Lager für Tiefkühlproviant.«
»Nein«, antwortete jemand. »Den bewahre ich in dem anderen Kühlschrank auf.«