Instrumentelle Normen galten in Philosophie, Ökonomie und Soziologie lange Zeit als der einzig unkontroverse Teil praktischer Normativität. Neuere Diskussionen stellen diesen Konsens jedoch radikal in Frage. Sie zeigen, dass die These, der zufolge Absichten oder Präferenzen uns Gründe geben, zu absurden Konsequenzen führt. Damit gerät die instrumentelle Vernunft in die Defensive, und während einige Autoren die Normativität dieser Spielart von Rationalität zu retten versuchen, erklären andere sie zu einem »Mythos«. Mit dieser Diskussion rückt die neue analytische Debatte in die Nähe kontinentaler Traditionen, die das Konzept und die Vorherrschaft instrumenteller Rationalität seit Langem kritisch sehen. Mit Texten von John Broome, Niko Kolodny, Joseph Raz und Christine Korsgaard.
Christoph Halbig ist Professor für Praktische Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Im Suhrkamp Verlag ist erschienen: Hegels Erbe (stw 1699, hg. zusammen mit Michael Quante und Ludwig Siep).
Tim Henning ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Die neue Kritik
der instrumentellen Vernunft
Texte aus der analytischen Debatte
um instrumentelle Rationalität
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
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Christoph Halbig und Tim Henning
Die neue Kritik der instrumentellen Vernunft
Michael Bratman
Absichten und Zweck-Mittel-Überlegungen
John Broome
Normative Erfordernisse
R. Jay Wallace
Normativität, Festlegung und instrumentelle Vernunft
Christine Korsgaard
Die Normativität der instrumentellen Vernunft
Stephen Darwall
Weil ich es möchte
John Gibbons
Dinge, die Dinge vernünftig machen
Niko Kolodny
Warum rational sein?
Joseph Raz
Der Mythos der instrumentellen Rationalität
Nachweise
7Christoph Halbig und Tim Henning
Die neue Kritik der instrumentellen Vernunft
Rationale Wesen ergreifen die Mittel zu ihren Zielen. Wer ein Fußballspiel sehen möchte, geht ins Stadion; wer Mehl und Eier benötigt, geht zum Supermarkt; wer Kant verstehen möchte, greift zu dessen Büchern. Umgekehrt liegt Irrationalität darin, die Mittel zu den eigenen Zielen (vorausgesetzt, diese Mittel sind bekannt und geeignet) nicht zu ergreifen. »Du möchtest doch den Zug nach Münster erreichen?«, fragen wir unseren Freund irritiert. »Oh, ja, unbedingt«, versichert dieser. »Du weißt, dass du den Zug nur erreichst, wenn du dich spätestens jetzt auf den Weg machst?«, fragen wir weiter. »Natürlich«, sagt unser Freund – und bleibt sitzen.
In Fällen wie diesem liegt eine spezielle Form von Inkohärenz vor. Jemand hat sich ein Ziel gesetzt, kennt die erforderlichen Mittel und lässt sie sehenden Auges ungenutzt, ohne zu erkennen zu geben, dass er das Ziel aufgeben möchte. Die Einstellungen einer solchen Person – ihre Absicht, ein Ziel zu erreichen, ihre Überzeugungen hinsichtlich der nötigen Mittel und ihre Absichten in Bezug auf diese Mittel – scheinen einfach nicht zueinander zu passen. Eine solche Form der Inkohärenz gilt uns gewöhnlich als normativ bedeutsam. Wir betrachten es im Alltag oft als selbstverständlich, dass Handelnde Mittel zu ihren Zielen ergreifen sollten. Angesichts instrumenteller Inkohärenz sind wir nicht nur verblüfft, sondern wir kritisieren sie auch. In der Philosophie und in verschiedenen Sozialwissenschaften galt dies sogar lange Zeit als der einzig unkontroverse Aspekt praktischer Normativität. Spätestens seit Humes wirkmächtigem Angriff auf die Idee, dass bestimmte Ziele vernünftiger seien als andere, tröstete man sich mit der Idee, dass sich zumindest die Wahl der Mittel zu gegebenen Zielen als mehr oder minder vernünftig qualifizieren lasse. Sogar Kant stimmt dieser Ansicht insofern zu, als er behauptet, dass es »wohl keiner besondern Erörterung« bedürfe, die Gültigkeit hypothetischer Imperative zu erklären, während die Gültigkeit kategorischer Im8perative, die bestimmte Zwecke verbindlich machen, »die einzige der Auflösung bedürftige Frage« (1900 ff./1785, S. 417 und 419) sei. In der Entscheidungstheorie schließlich, wie sie in den Sozialwissenschaften betrieben wird, steht die Bewertung von Endresultaten jenseits aller normativen Prinzipien der Theorie. Der Nutzen, den Handlungsresultate für einen Handelnden haben, wird auf der Grundlage der Präferenzordnung des Handelnden definiert. Normative Vorschriften ergeben sich dann einzig angesichts der Frage, ob der Handelnde diejenigen Handlungen wählt, die optimal diesen Präferenzen dienen bzw. den Nutzen maximieren.
Die moderne Tendenz, praktische Normativität auf instrumentelle Normen zu reduzieren, hat natürlich schon seit Langem ihre Kritiker (vgl. Abschnitt 4). Kaum jemand hat jedoch die Gültigkeit instrumenteller Normen rundheraus in Frage gestellt. Selten wurde also bezweifelt, dass die Norm, Mittel zu unseren Zielen zu ergreifen, in irgendeiner angemessenen Formulierung ein Teil unserer normativen Verbindlichkeiten ist. Seit einiger Zeit jedoch erhalten Kritiker der instrumentalistischen »Halbierung« der Vernunft (Horkheimer) Unterstützung aus unerwarteter Richtung: Analytische Philosophen kritisieren den Status instrumenteller Normen auf radikale Weise. Ihre Arbeiten zeigen, dass es auch unabhängig von dem Streit um die normative Verbindlichkeit bestimmter Ziele alles andere als selbstverständlich ist, dass die Norm, wir sollten rationalerweise die uns bekannten Mittel zu unseren Zielen nutzen, überhaupt kohärent ist.
Das Grundproblem lässt sich leicht erläutern, wenn man den Begriff eines normativen Handlungsgrundes heranzieht. Dieser Begriff ist uns aus der Alltagssprache vertraut und ist aus der praktischen Philosophie der letzten Jahrzehnte kaum wegzudenken. Folgendes scheint nun ein gültiges Prinzip zu sein: Wer keinen hinreichenden Grund hat, ein bestimmtes Ziel anzustreben, hat auch keinen Grund, die Mittel zur Erreichung desselben zu ergreifen (zumindest sofern sie als Mittel betrachtet werden). Wer also keinen hinreichenden Grund hat, sein Haus in Brand zu setzen, hat keinen Grund, Benzin in seinem Haus zu verschütten und ein Streichholz anzureißen.
Wie verhält sich nun das Prinzip, das von Gründen spricht, zu der Vorschrift, dass rationale Wesen die Mittel zu ihren Zielen ergreifen sollten? Hier bietet sich eine dritte Annahme an, die wiede9rum harmlos, sogar selbstverständlich anmutet: Wenn ein rationales Wesen etwas tun sollte, dann kann nicht zugleich gelten, dass es keinen hinreichenden Grund dazu hat. Oder, etwas umformuliert: Es ist nur dann der Fall, dass wir rationalerweise etwas tun sollten, wenn gilt, dass wir hinreichenden Grund dazu haben. Was immer normative Gründe genau sein mögen, eines erscheint als gewiss: Sie sind begrifflich auf das Engste mit Rationalität verknüpft.
Dies sind die drei besagten Annahmen in übersichtlicher Form:
(1) Ein Handelnder sollte rationalerweise die (bekannten, geeigneten) Mittel zu seinen Zielen ergreifen.
(2) Ein Handelnder hat nur dann hinreichenden Grund, ein Mittel zu einem Ziel zu ergreifen, wenn er hinreichenden Grund hat, das Ziel zu verwirklichen.
(3) Es ist nur dann der Fall, dass ein Handelnder rationalerweise eine Handlung vollziehen sollte, wenn er hinreichenden Grund hat, sie zu vollziehen.
Aus diesen drei Annahmen lassen sich problematische Konsequenzen ableiten. Angenommen, jemand beabsichtigt, irgendein beliebiges Ziel zu erreichen. Er weiß, dass das notwendige Mittel zu diesem Ziel M ist. Dann ergibt sich aus (1), dass er rationalerweise M ergreifen sollte. Aus (3) folgt dann weiter, dass der Handelnde hinreichenden Grund hat, M zu ergreifen. Dann aber folgt aus (2) schließlich, dass der Handelnde auch hinreichenden Grund hat, das Ziel zu verfolgen.
Es mag nicht gleich ins Auge fallen, aber diese Schlussfolgerung ist verblüffend. Aus dem bloßen Umstand, dass jemand sich irgendein Ziel setzt (und aus dem Umstand, dass er ein Mittel zu diesem Ziel kennt), ließ sich ableiten, dass er hinreichenden Grund zur Verwirklichung des Ziels selbst hat. Wir haben, wohlgemerkt, keinerlei substantielle Annahmen über den Handelnden, seine Situation und die Natur seines Zieles gemacht. Für jeden beliebigen Handelnden würde gelten, dass er hinreichende Gründe zur Verfolgung jedes beliebigen Ziels hat. Durch bloßes Beabsichtigen irgendeines Ziels wird es also wahr, dass die Verfolgung dieses Ziels normativ gut begründet ist.
Das wäre mehr als nur absurd. Würde es zutreffen, brauchten wir uns niemals Gedanken darüber machen, ob wir dabei sind, Ziele zu verfolgen, die zu verfolgen wir Grund haben. Die bloße Tatsache, dass wir ein bestimmtes Ziel wählen, führte dazu, dass 10diese Wahl gut begründet wäre. Auch Kritik an unseren Zielen in Begriffen von Gründen wäre a priori verfehlt, denn dass wir ein bestimmtes Ziel hätten, implizierte (gegeben die obigen Annahmen), dass wir hinreichende Gründe hätten. Und sogar noch mehr würde überflüssig werden: Die Frage nach Gründen könnte uns bei der Wahl von Zielen nicht anleiten. Egal, welches Ziel wir wählten, gute Gründe für das Anstreben dieses Ziels würden sich ipso facto ergeben. Kurzum: Träfe die Schlussfolgerung zu, wären normative Gründe nicht normativ – was natürlich heißt, dass jene Schlussfolgerung nicht zutreffen kann.
Dieses Problem wird seit einem Aufsatz von Bratman (1983; dt. in diesem Band) als das Problem des Bootstrapping bezeichnet. Das Verb to bootstrap ist eine künstliche Wortschöpfung und steht für einen längeren Ausdruck wie to lift oneself by one’s own bootstraps – was bedeutet, sich an den eigenen Schnürsenkeln in die Luft zu heben. (Im deutschsprachigen Raum ist uns ein ähnliches Bild geläufig: das des Barons Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus einem Sumpf gezogen haben will.) Von Bootstrapping spricht man dort, wo etwas, für das eine unabhängige Begründung gefordert ist, selbst zur eigenen Begründung herangezogen wird. In Bezug auf das vorliegende Problem bedeutet dies: Wenn wir nach Gründen für die Wahl bestimmter Handlungsziele fragen, suchen wir nach Gründen, die unabhängig davon sind, dass wir die Wahl bereits getroffen haben. Ansonsten würde das zu Rechtfertigende zur Quelle seiner eigenen Rechtfertigung. Jede Zielwahl würde sich quasi am eigenen Schopf selbst in den Rang einer gut begründeten Zielwahl erheben.
Angenommen also, wir sind überzeugt, dass es keinen vernünftigen Grund für Hans gibt, sein eigenes Haus anzuzünden. Aus unerfindlichen Gründen verfällt er aber auf die unselige Idee, es zu tun. Man würde denken, dass diese Entscheidung das Ziel nicht etwa richtig machte; im Gegenteil sollte man glauben, dass das Fehlen guter Gründe für die Verfolgung dieses Ziels einfach dagegen spräche, sich dieses Ziel zu eigen zu machen. Die obige Schlussfolgerung ergibt jedoch ein anderes Bild: Kaum verfällt Hans auf jene Absicht, so liegen wir nicht mehr richtig mit der Behauptung, dass Hans keinen guten Grund habe, es zu tun. Er hat einen Grund, denn er will es. Entscheidungen, die zuvor verrückt erschienen, gestalten den Raum der Gründe automatisch um.
11Kaum ein Autor in der gegenwärtigen Debatte bestreitet, dass diese Konsequenz unhaltbar ist. Daraus erwächst freilich das Erfordernis, eine der Annahmen, aus denen sie folgt, begründet zurückzuweisen. Beteiligt sind die obigen Thesen (1) bis (3). Keine dieser Thesen ist offenkundig fehlerhaft; vielmehr muten sie alle nachgerade wie Selbstverständlichkeiten an. Das Problem des Bootstrapping nötigt uns mithin dazu, eine vermeintliche Selbstverständlichkeit aufzugeben.
Die volle Tragweite des Problems wird deutlicher, wenn man bedenkt, dass auf den ersten Blick naheliegende Strategien, es zu bewältigen, aussichtslos zu sein scheinen. Man mag versucht sein, These (2) zurückzuweisen. Handelnde könnten demnach Gründe für das Ergreifen von Mitteln haben, ohne Grund für die Realisierung der Ziele zu haben. Das klingt zwar widersinnig, aber zur Vermeidung des absurden Bootstrapping werden wir eine der Thesen zurückweisen müssen. Und die Kritik der zweiten These steht immerhin im Einklang mit der beschriebenen philosophischen Tradition, welche Normativität allein auf die Wahl von Mitteln beschränkt. Gleichwohl ist diese Alternative keine Lösung. Zunächst ergibt sich das logische Problem, dass jede Bedingung eine notwendige Bedingung für sich selbst ist. Man kann kein Haus anzünden, ohne ein Haus anzuzünden. Das ist keine bloße Spitzfindigkeit, sondern es zeigt, dass sich das Problem nur lösen lässt, wenn sich notwendige Mittel in einer Weise definieren lassen, die nicht jede notwendige Bedingung im logischen Sinne umfasst. Aber dieses Problem wäre vielleicht zu lösen.
Problematischer ist, dass auch die Zurückweisung der zweiten These noch immer absurde Formen von Bootstrapping zulässt. Selbst wenn Hansens verrückte Zielsetzung ihm keinen hinreichenden Grund gibt, sein Haus anzuzünden, so gäbe sie ihm immer noch hinreichenden Grund, viel Benzin zu kaufen, es in seinem Haus zu verschütten, ein Streichholz anzureißen usw. Denn solcherlei werden die Mittel sein, die ein instrumentell-rationaler Handelnder zu jenem Ziel ergreifen sollte. Schon dies aber ist absurd. Natürlich, so möchte man ausrufen, generiert eine verrückte Zielsetzung keinen hinreichenden Grund, alle diese nicht minder verrückten Dinge zu tun. Zusätzlich ergibt sich die bizarre Konsequenz, dass Hans zwar guten Grund hat, Benzin zu verschütten, ein Streichholz anzureißen, es in die Nähe des Benzins zu bewegen – dass ihm aber 12plötzlich, an irgendeinem Punkt dieser Bewegung (welchem?) seine guten Gründe ausgehen.
Damit ist bereits klar, dass diese Strategie uns nicht vor haltlosen Absurditäten bewahrt. Zu allem Überfluss ergibt sich aber, dass es für Hans noch immer lächerlich einfach wäre, sich durch ein bloßes dezisionistisches fiat einen hinreichenden normativen Grund für das Anzünden des Hauses zu verschaffen. Alles, was er tun muss, ist, ein weiteres Ziel zu beabsichtigen, zu dem das Anzünden ein notwendiges (oder auch nur ein geeignetes) Mittel ist. Zum Beispiel könnte er die Absicht fassen, stimmungsvolle Fotos der Rauchschwaden zu machen, die sein Haus in die Dämmerung schickt. Kaum ist diese Absicht gefasst, gibt es hinreichenden Grund zu zündeln.
Autoren in der aktuellen Debatte haben daher nach anderen Wegen gesucht, Bootstrapping zu vermeiden. Eine weitere scheinbar naheliegende Lösung findet aus gutem Grund nur wenige Anhänger. Sie besteht in dem Vorschlag, dass die Begriffe des Grundes und der (instrumentellen) Rationalität fundamental verschiedene normative Grundbegriffe seien. Keiner von beiden ließe sich durch den anderen erklären, und es bestünde kein notwendiger begrifflicher Zusammenhang. In unserer schematischen Darstellung würde dies bedeuten, das Prinzip (3) zurückzuweisen, dem zufolge etwas nur dann rational gefordert ist, wenn es auch hinreichende Gründe dafür gibt.
Gegen diese Lösung spricht zunächst, dass das Prinzip (3) intuitiv wie eine begriffliche Wahrheit daherkommt. Wo sonst sollte ein begrifflicher Zusammenhang bestehen, wenn nicht zwischen Rationalität und Gründen? Noch schwerer wiegt die folgende Überlegung: So wie der Begriff eines normativen Grundes in unserem Alltagsdiskurs funktioniert, lässt er sich nicht als ein normativer Grundbegriff anderen solchen Grundbegriffen nebenordnen. Angenommen, wir sagen Hans, dass es für ihn rational geboten sei, eine bestimmte Einstellung an den Tag zu legen. Hans fragt nach: »Welchen Grund habe ich dafür?« Wir antworten: »Welchen Grund? Oh, du hast keinerlei Grund, das zu tun.« Hans würde dies so verstehen, dass unsere Empfehlung keinen normativen Charakter hat. Wo es keine Gründe gibt, scheint Normativität zu fehlen. Wenn die Erfordernisse instrumenteller Rationalität normativ sind, müssen sie uns Gründe geben können.
13Die Herausforderung, vor der die Debatte steht, ist also diese: Die Normativität instrumenteller Rationalität muss entweder verteidigt werden, indem instrumentelle Rationalitätserfordernisse so mit Gründen in Verbindung gebracht werden, dass absurdes Bootstrapping vermieden wird. Oder es muss die radikale Konsequenz verteidigt werden, dass die Erfordernisse instrumenteller Rationalität gar keine normative Kraft besitzen – und dass also ein Großteil des modernen praktischen Denkens, wie Raz formuliert, einem »Mythos« gefolgt ist.
Bevor die Positionen der Debatte und die Beiträge im vorliegenden Band vorgestellt werden, soll das spezifische Problem der instrumentellen Normativität in einen umfassenderen Kontext eingeordnet werden. Bei der instrumentellen Normativität hat die kritische Diskussion, die hier vorgestellt wird, nicht haltgemacht. Vielmehr wird die Normativität sogenannter struktureller Erfordernisse der Rationalität ganz allgemein in Zweifel gezogen. Das betrifft weitere Erfordernisse, die bisher als nicht minder grundlegend als instrumentelle Normen galten.
Die Vorschrift, dass rationale Handelnde die Mittel zu ihren Zielen ergreifen sollten, schien zu absurden Konsequenzen zu führen, als wir die Natur dieses Sollens in Begriffen normativer Gründe zu erläutern versuchten. Dies gab Anlass zu bezweifeln, dass wir Gründe haben, instrumentell rational zu handeln, und dass wir es also mit einer gültigen Norm zu tun haben.
Wie zuletzt angedeutet, ergibt sich ein ähnliches Problem beunruhigenderweise auch für andere Prinzipien. Und auch diese Prinzipien wurden bisher ganz selbstverständlich als normative Erfordernisse der Rationalität betrachtet. Dies gilt etwa für die These, dass rationale Wesen keine widersprüchlichen Überzeugungen haben sollten – zumindest nicht bewusst. Man nehme wieder an, dass ein rationales Wesen nur dann eine Überzeugung haben sollte, wenn es hinreichenden Grund hat, sie zu haben. Dieses weitere Prinzip, das von normativen Gründen für Überzeugungen spricht, führt nun in Kombination mit dem Konsistenzerfordernis wiede14rum zu unhaltbaren Konsequenzen. Angenommen, Hans gelangt aus unerfindlichen Ursachen zu der völlig willkürlichen Überzeugung, dass Julius Cäsar drei Muttermale auf seiner linken Schulter hatte. Obgleich diese Überzeugung vollkommen unbegründet ist, verlangt das Erfordernis der Konsistenz, dass Hans nicht zugleich die Überzeugung haben sollte, dass Cäsar keine drei Muttermale auf seiner linken Schulter hatte. Wenn dieses rationale Sollen nun in dem Sinne normativ ist, der Gründe einschließt, scheint zu folgen, dass Hans normativen Grund hat, die Überzeugung, Cäsar habe keine drei Muttermale auf seiner linken Schulter gehabt, zurückzuweisen.
Auch eine solche Konsequenz erscheint absurd. Ein normativer Grund, der für die Zurückweisung einer Überzeugung spricht, ist etwas, das dagegen spricht, dass diese Überzeugung wahr ist. Aber der bloße Umstand, dass Hans unbegründet auf eine anderslautende Überzeugung verfallen ist, spricht natürlich überhaupt nicht dagegen, dass jene andere Überzeugung wahr ist. Allgemeiner gesagt: Der bloße Umstand, dass jemand überzeugt ist, dass p, macht es keinen Deut wahrscheinlicher, dass non-p. Mithin ist dieser Umstand allein kein normativer epistemischer Grund, der gegen die letztere Überzeugung spricht. Das gilt aber natürlich auch für das Subjekt, das überzeugt ist, dass p. Der bloße Umstand, dass ichglaube, dass heute Dienstag ist, spricht gar nicht dagegen, dass heute faktisch Montag ist. Also ist dies für niemanden, auch nicht für mich selbst, ein Grund dagegen zu glauben, dass heute Montag ist.
Natürlich gilt im Falle inkonsistenter Überzeugungsmengen, dass mindestens eines der Elemente eine falsche Überzeugung ist. Käme Hans also auch zu der zweiten Überzeugung, dass Cäsar keine drei Muttermale auf seiner linken Schulter hatte, so ist gewiss, dass eine der beiden Überzeugungen falsch ist. Das erklärt jedoch nicht, warum wir die Inkonsistenz selbst kritisieren. Wäre schon Hansens erste Überzeugung falsch gewesen, so würde ihm der Erwerb der zweiten, gegenteiligen Überzeugung doch immerhin eine wahre Ansicht einbringen. So läge er in Bezug auf Cäsars linke Schulter immerhin nicht mehr nur falsch. Die Bilanz des Wahrheitsgehalts seiner Überzeugungen würde sich durch die Inkonsistenz daher allenfalls verbessern. Wenn wir also inkonsistente Überzeugungen kritisieren, so tun wir es mit Blick auf die Inkonsistenz selbst, ganz 15unabhängig von den Folgen für die Gesamtbilanz des Wahrheitsgehalts unserer Überzeugungen.
Ähnliches gilt für die Forderung der deduktiven Abgeschlossenheit von Überzeugungsmengen (belief closure). Ein rationales Wesen sollte auch die logischen Konsequenzen seiner Überzeugungen glauben – zumindest dann, wenn sie einigermaßen offenkundig folgen. Wenn Hans also auf die Überzeugung verfällt, dass Cäsar drei Muttermale auf seiner linken Schulter hatte, so sollte er auch glauben, dass Cäsar mindestens zwei Muttermale auf seiner linken Schulter hatte. Drücken wir dieses »sollte« wiederum in Begriffen von normativen Gründen aus, so ergibt sich, dass Hans normative epistemische Gründe hat zu glauben, dass Cäsar mindestens zwei Muttermale auf seiner linken Schulter hatte. Aber seine ursprüngliche Überzeugung war völlig unbegründet. Wie kann es nun mit einem Male epistemisch gut begründet für Hans sein, eine Überzeugung über die Zahl der Muttermale Cäsars zu haben? Ähnlich wie im Falle der instrumentellen Rationalität scheinen uns unsere Einstellungen hier in absurder Weise eine Form der Rechtfertigung zu verschaffen, die intuitiv nur durch unabhängige Gründe möglich sein kann.
Ein letztes Beispiel, nun wieder aus dem Bereich der praktischen Vernunft: Eine weitere plausible Vorschrift lautet, dass die Absichten und Handlungen eines rationalen Handelnden im Einklang mit seinen Überzeugungen darüber stehen sollten, was zu tun er die besten Gründe hat. Glaubt man also, man habe zwingende Gründe, nach seinem Kind zu sehen, so sollte man es rationalerweise auch zu tun beabsichtigen. Sagen wir wieder, dass ein rationaler Handelnder nur dann etwas beabsichtigen sollte, wenn er guten Grund hat, es zu beabsichtigen. Dann ergibt sich, dass man immer dann, wenn man glaubt, zwingende Gründe für eine Handlung zu haben, tatsächlich zwingende Gründe hat, ihren Vollzug zu beabsichtigen. Aber daraus erwüchse unseren Überzeugungen über Gründe geradezu eine Art der Unfehlbarkeit. Wann immer man der Überzeugung wäre, man habe zwingenden Grund, etwas zu tun, hätte man in der Tat zwingenden Grund, die entsprechende Absicht zu fassen. Aber wir gehen sehr wohl davon aus, dass wir Entscheidungen fällen können, von denen wir fälschlich annehmen, dass zwingende Gründe für sie sprechen. Die bloße Überzeugung, es gebe solche Gründe, kann kaum selbst solche Gründe generieren. Auch hier 16erscheint es, als würden uns unsere Überzeugungen in einer Weise Rechtfertigung verschaffen, für die es intuitiv eigentlich einer unabhängigen Quelle bedürfte.
Die Schwierigkeiten, denen wir hier begegnen, haben eine gemeinsame Form. Alle rationalen Erfordernisse, die erwähnt wurden, betreffen strukturelle Merkmale der Einstellungen eines Subjekts (vgl. Scanlon 2007) – Merkmale also, die es mit Relationen zwischen Einstellungen zu tun haben. Im Falle der Überzeugungen ging es um Relationen der logischen Konsistenz und der deduktiven Abgeschlossenheit, im Falle der Absichten um Relationen der instrumentellen Kohärenz und der Stimmigkeit von Absichten und Überzeugungen über Gründe. Nun neigen wir, wie gesagt, dazu, Erfordernisse struktureller Rationalität als normativ zu verstehen und strukturelle Irrationalität zu kritisieren. Dies legt es nahe, solche Erfordernisse in Begriffen normativer Gründe zu formulieren – etwa zu sagen, die Tatsache, dass eine Einstellung gegen ein solches Erfordernis verstoßen würde, stelle einen Grund dar, sie nicht zu akzeptieren. Die Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, besteht in jedem Falle darin, dass normative Gründe eine unabhängige Basis zu verlangen scheinen. Der normative Begriff eines Grundes misst Einstellungen an relevanten Tatsachen oder an verfügbaren Belegen, die für diese Einstellungen sprechen. Interne strukturelle Relationen können diese normative Rolle, scheint es, nicht spielen.
Die Frage nach der normativen Verbindlichkeit struktureller rationaler Erfordernisse wirft so das Problem auf, wie sich eine solche Verbindlichkeit zur Normativität unabhängiger Gründe verhalten kann. Wie bereits im ersten Abschnitt erwähnt, geben sich nur wenige Autoren mit der »Lösung« zufrieden, die kurzerhand erklärt, unsere normativen Begriffe bildeten nun einmal zwei fundamental unterschiedliche und voneinander isolierte Begriffsfamilien – normative Begriffe der Rationalität und normative Begriffe der Gründe. Diese Lösung steht nicht nur deshalb in keinem guten Ruf, weil sie einen Keil zwischen Gründe und Rationalität treibt – zwei Größen, deren Zusammenhang man für analytisch halten sollte (vgl. Gibbons 2010; dt. in diesem Band). Außerdem gilt, wie im ersten Abschnitt betont, dass der Begriff des normativen Grundes in unseren Alltagsdiskussionen als zentraler normativer Begriff funktioniert. Wenn wir jemandem gegenüber zugeben, dass er keinen Grund habe, das zu tun, was wir ihm als »rational« empfehlen – so 17wird er dies als das Eingeständnis begreifen, dass unsere Empfehlung keinen normativen Impetus hat.
Im Folgenden werden nun verschiedene Versuche, das Verhältnis von struktureller Rationalität und normativen Gründen zu verstehen, vorgestellt.
Angesichts der Probleme, die sich aus einer unverbundenen Koexistenz zweier gleichermaßen grundlegender Formen von Normativität, nämlich der der Rationalität und der der Gründe, ergeben würden, liegt der Versuch nahe, das Problem entweder (i) durch die Einführung geeigneter Unterscheidungen zu entschärfen oder aber (ii) es dadurch zu lösen, dass die eine Form von Normativität durch Rekurs auf die andere erklärt oder sogar eine von ihnen als Mythos entlarvt wird und damit eben nur eine grundlegende Form von Normativität zurückbleibt.
Bratman, Broome und Wallace beschreiten in je unterschiedlicher Weise den ersten Weg: Für Bratman (siehe Abschnitt 3.1) lässt sich die ambivalente Bewertung desjenigen, der es etwa unterlässt, die notwendigen Mittel für die Verwirklichung eines Zwecks zu ergreifen, für den er jedoch gar keine hinreichenden Gründe hat, dadurch erklären, dass sich die Kritik an einer solchen Person zu Recht an dem Verstoß gegen grundlegende Normen der Konsistenz und Zweck-Mittel-Rationalität entzündet, während sich die Zustimmung (»Gut, dass sie nicht getan hat, wofür sie ohnehin keinen Grund hatte!«) lediglich auf die Bilanz der guten Gründe, die tatsächlich in diesem Fall für eine solche Person bestehen, stützen kann. Broome wiederum unterscheidet unterschiedliche Formen normativer Relationen und versucht nachzuweisen, dass Bootstrapping-Probleme nur dann entstehen, wenn die Normativität instrumenteller Rationalität mit Hilfe von ihr nicht angemessenen Relationen (wie sie vielmehr die Orientierung an Gründen leiten) charakterisiert wird. Für Wallace schließlich verdankt sich der Anschein der Unlösbarkeit des Ausgangsproblems einer verarmten Moralpsychologie, die sich allein auf die Kategorien von Wünschen und Überzeugungen stützt, jedoch die der Fähigkeit zur rationa18len Selbstbestimmung außer Acht lässt. Nach Wallace kann sich ein selbstbestimmt Handelnder durchaus auf Ziele festlegen, die er selbst durch keine guten Gründe gedeckt sieht; dennoch sieht er sich auch in diesem Fall auf Rationalitätserfordernisse wie die instrumenteller Rationalität festgelegt. In kritischer Fortführung von Broomes Argumentation versucht Wallace diese Erfordernisse aus theoretischen Beschränkungen unserer Überzeugungsbildung abzuleiten, die jedoch auch auf die Bildung unserer Absichten durchschlagen.
Kolodny und Raz wiederum beschreiten den zweiten Weg ausgehend von der Annahme, dass es sich bei der Normativität der Gründe um die einzige grundlegende Form von Normativität handelt. Kolodny (vgl. Abschnitt 3.2) führt die Bedeutung von Rationalitätserfordernissen einerseits auf evaluative Gesichtspunkte zurück und erklärt andererseits ihren normativen ›Rest‹ im Rahmen einer Art von Irrtumstheorie, die erklären soll, wie es zu dem Anschein kommt, dass diese Erfordernisse uns Gründe liefern. Auch Raz spricht von einem Mythos instrumenteller Rationalität, der einer näheren Prüfung nicht standhält und nach einer Irrtumstheorie verlangt: An die Stelle einer Vorstellung von instrumenteller Rationalität als in sich geschlossene und basale Form von Rationalität tritt ein komplexes Bild von Förderlichkeitsgründen, die in Werten völlig unabhängig von unseren Zielsetzungen fundiert sind, einerseits, von dem Wert, den unser gutes Funktionieren als rationale Handelnde besitzt, andererseits, ohne dass sich aus den Rationalitätserfordernissen, die dieses Funktionieren sicherstellen, im konkreten Fall gute Gründe ableiten ließen, ihnen in bestimmter Weise zu entsprechen.
Korsgaard, Darwall und Gibbons verfolgen dieselbe Art von Strategie wie Kolodny und Raz, auch sie beschreiten also den zweiten Weg, allerdings in umgekehrter Richtung: Sie (vgl. Abschnitt 3.3) halten Rationalität für die einzige grundlegende Form von Normativität und versuchen, praktische Gründe aus ihr abzuleiten – wobei sie freilich unterschiedliche Theorien sowohl der Rationalität als auch der gesuchten Ableitung vertreten: Korsgaard und Darwall wollen im Rahmen einer transzendentalen Argumentation zeigen, dass uns unser Status als selbstbestimmt handelnde, rationale Personen ipso facto darauf festlegt, bestimmte Gesichtspunkte als Gründe anzusehen; Darwall erweitert dabei gegenüber Korsgaard 19den Ansatzpunkt des transzendentalen Arguments von der erstpersönlichen Perspektive der rationalen Person auf die zweitpersönliche Perspektive einer Pluralität von Personen, die sich wechselseitig innerhalb von Aufforderungs- und Anerkennungsprozessen erst als solche konstituieren. Gibbons hingegen geht nicht von einer transzendentalen Theorie von Personalität überhaupt aus, sondern definiert Gründe durch die Aufgabe, für eine bestimmte Person zu einem bestimmten Zeitpunkt theoretische und praktische Einstellungen vernünftig zu machen – Gründe erweisen sich damit als ontologisch wie epistemologisch und funktional gebunden an die je konkreten Perspektiven solcher Personen.
3.1 Bratman versucht, angesichts des Ausgangsproblems einen Mittelweg zu beschreiten, der einerseits anerkennt, dass sich aus unseren Absichten selbst zusätzliche Gründe ergeben, der andererseits jedoch das daraus resultierende Problem der Bootstrapping-Rationalität zu entschärfen versucht. Doch wie können sich aus unseren Absichten überhaupt solche zusätzlichen Gründe, die für ihre Verwirklichung notwendigen Mittel zu ergreifen, ergeben? Wenn angesichts der Alternative zwischen A und B meine Gründe alles in allem dafür sprechen, A zu beabsichtigen, und ich dennoch B beabsichtige, warum sollte ich allein aufgrund dieser Absicht nun einen zusätzlichen Grund dafür haben, die zur Verwirklichung von B notwendigen Mittel zu ergreifen? Bratman beantwortet diese Frage mit Verweis darauf, dass unsere Pläne (i) konsistent (alle Absichten, die in meinen Plänen vorkommen, sollten sich zusammen verwirklichen lassen, und die Pläne sollten vor dem Hintergrund der eigenen Überzeugungen ein schlüssiges Bild der Zukunft entwerfen, in der sie verwirklicht sind) und (ii) Zweck-Mittel-kohärent (die Pläne müssen detaillierte Überlegungen über die geeigneten Mittel zu ihrer Verwirklichung enthalten) sein sollten. Wer nun in der dargestellten Konstellation beabsichtigt, die für die Verwirklichung von B notwendigen Mittel zu ergreifen, der handelt vor dem Hintergrund seiner ursprünglichen Absicht, B zu verwirklichen, im Einklang mit ebendiesen beiden Forderungen der internen Rationalität von Plänen. Und gleichwohl bleibt nach Bratman Raum für den berechtigten Eindruck, dass sich eine solche Person dennoch irrational verhält, wenn sie die für die Verwirklichung von B notwendigen Mittel ergreift. Denn qua Voraussetzung hatte sie ja nun 20einmal keinen hinreichenden Grund für ihre ursprüngliche Absicht, B zu verwirklichen – und dieser grundlegende Defekt schlägt doch auch, so die Intuition, auf die Mittel für B durch. Nach Bratman verhält sich eine Person, die die notwendigen Mittel zu B ergreift, nun in der Tat irrational, aber lediglich in Bezug auf eine, wenn auch privilegierte, Teilmenge der gründegebenden Einstellungen von Personen: Wie wir gesehen haben, gehören Absichten und Pläne nach Bratman zu der Gesamtmenge der gründegebenden Einstellungen, nicht aber zu der hier relevanten Teilmenge. Zu dieser rechnet Bratman Wünsche und Überzeugungen; Wünsche stehen hier für die Quelle der ursprünglichen Gründe, deren Bilanz zugunsten der Option A sprach, die in unserem Beispiel jedoch gerade nicht ergriffen wurde. Doch warum bildet diese Teilmenge nicht das Ganze der gründegebenden Einstellungen von Personen? Warum gibt die Absicht, B zu verwirklichen, überhaupt einen zusätzlichen Grund, die für sie notwendigen Mittel zu ergreifen?
Bratmans Antwort besteht darin, dass auf diese Weise den Rationalitätserfordernissen der Konsistenz und Zweck-Mittel-Kohärenz Rechnung getragen wird, wie wir sie an unsere Pläne richten. Nun hält Bratman diese Rationalitätserfordernisse aber keineswegs für fundamental. Vielmehr sind auch sie in den Wünschen als Bratmans Kandidaten für die Quelle normativer Gründe fundiert: Konsistente und Zweck-Mittel-kohärente Pläne zu bilden stellt ebendie beste Strategie dar, die eigenen Wünsche als Quelle normativer Gründe zu verwirklichen. Wer sich inkonsistenter oder inkohärenter Pläne bedient, der bekommt bestenfalls aus purem Zufall das, was er will. Die Rationalitätserfordernisse für Pläne haben für Bratman damit einen prekären Status: Sie erfahren einerseits eine Begründung als instrumentell nützlich für die Verwirklichung unserer Wünsche, andererseits genießen sie aber in dem Sinne Autonomie, dass ihre Forderungen auch dann verbindlich sind, wenn ihre Befolgung im konkreten Fall auf Kosten ebendieser Wünsche geht. Genau das ist in unserem Beispiel der Fall: Wenn ich die Absicht fasse, die für die Ausführung meiner Absicht B notwendigen Mittel zu ergreifen, dann genüge ich den Rationalitätserfordernissen für meine Pläne und habe insofern durchaus einen zusätzlichen Grund (über die Gründe hinaus, die ohnehin schon für B sprechen), die für B notwendigen Mittel zu ergreifen. Dennoch stehe ich gerade so der Verwirklichung der durch stär21kere Wünsche und damit bessere Gründe gedeckten Absicht A im Wege. Sehe ich vom Einzelfall ab, stellt die Befolgung der Rationalitätserfordernisse für Pläne jedoch wiederum die aussichtsreichste Strategie zur Befriedigung meiner Wünsche dar. Bratman sieht hier eine Parallele zur Diskussion um den Regelutilitarismus: Dieser Position der normativen Ethik zufolge sind moralische Regeln auch dann zu befolgen, wenn sie im konkreten Fall dazu führen, dass der Gesamtnutzen nicht maximiert wird (worin dem Utilitarismus zufolge das Ziel der Ethik besteht); die Befolgung der Regeln als das auf lange Sicht verlässlichste Mittel zur Nutzenmaximierung gewinnt hier also normative Autonomie gegenüber dem konkreten Fall, auch auf Kosten ebender Nutzenmaximierung, die seine eigene Rechtfertigung bildet.
Vor diesem Hintergrund besteht aus Bratmans Sicht kein Anlass, unsere ambivalente Einstellung gegenüber Fällen von Bootstrapping-Rationalität in eine bestimmte Richtung theoretisch aufzulösen. Sie spiegelt getreu eine Ambivalenz in der Sache wider: Wer die für die Verwirklichung einer Absicht, für die er keine hinreichenden Gründe hat, notwendigen Mittel ergreift, der handelt in der Tat insofern rational, als ihm die genannten Rationalitätserfordernisse Grund geben, durch die Bildung einer entsprechenden Absicht die notwendigen Mittel zu ergreifen, die Konsistenz und Kohärenz seiner Pläne zu wahren. Und doch behält der Verdacht eines zweifelhaften Bootstrapping sein Recht, da sich eine solche Person, gerade insofern sie sich in dieser Hinsicht als rational erweist, mit Blick auf die Quelle guter Gründe, nämlich die Verwirklichung ihrer Wünsche, in einer entscheidenden Hinsicht als irrational erweist.
Für Broome zeigt unsere ambivalente Einstellung zu Fällen, in denen jemand es unterlässt, die Mittel zu Zwecken zu ergreifen, für die er keine hinreichenden Gründe hat, keine Schwierigkeit in der Sache auf; vielmehr erwächst sie aus einem unzureichenden Verständnis praktischer Rationalität. Sofern diese nämlich in toto durch Rekurs auf die Orientierung an praktischen Gründen verstanden wird, lässt sich das Problem nicht lösen, inwiefern sich doch irrational verhält, wer es unterlässt, die notwendigen Mittel für Zwecke zu ergreifen, für die er keine hinreichenden Gründe hat. Broome setzt diesem Verständnis die Unterscheidung mehrerer normativer Relationen entgegen; die Relation ›x liefert einen Grund für y‹ bildet eine, aber eben nur eine dieser Relationen. Instrumentelle 22Rationalität jedoch charakterisiert Broome mit Hilfe der Relation ›x erfordert y‹. Diese letztere Relation kann dabei durchaus durch das gewöhnliche normative »Sollen« ausgedrückt werden, das auch dann Verwendung findet, wenn (zwingende) normative Gründe vorliegen. Aber dieses normative »Sollen« wird hier innerhalb eines Urteils mit einer besonderen logischen Struktur verwendet. Es erhält das, was Logiker einen »weiten Skopus« nennen. Dies lässt sich halbformal durch Klammerung veranschaulichen:
(a) Wenn du das Spiel sehen möchtest, gilt: (Du solltest zum Stadion gehen.)
(b) Du solltest: (Wenn du das Spiel sehen möchtest, zum Stadion gehen.)
In (a) wird gesagt, dass der Adressat eine Handlung vollziehen soll, wenn die Bedingung erfüllt ist, dass er oder sie das Spiel sehen möchte. In (b) hingegen betrifft der Operator »Du solltest« das gesamte Konditional in Klammern und damit nicht nur eine Handlung, sondern eine komplexe Bedingung. Hier gibt es zwei Möglichkeiten zu tun, was gesollt ist: Man kann entweder dafür sorgen, dass das Antezedens nicht zutrifft, sich also von dem etwaigen Wunsch verabschieden, das Spiel zu sehen. Oder man kann die Wahrheit des Konsequens herbeiführen und zum Stadion gehen.
Darin liegt der Unterschied zwischen (a) und (b). Laut (a) gilt: Möchte der Adressat das Spiel sehen, so gibt es nur noch eines, das gesollt ist, nämlich den Gang zum Stadion. Das Konditional (a) lässt sich also einer »Abtrennung« durch einen Modus-Ponens-Schluss unterwerfen. Im Falle von (b) gilt: Auch wenn der Adressat das Spiel sehen möchte, betrifft das Sollen noch immer die Alternative, entweder zum Stadion zu gehen oder den Wunsch aufzugeben. Auch aus dem Vorliegen des Wunsches folgt kein spezifisches Sollen in Bezug auf die instrumentelle Handlung.
Ein Satz wie (b) ist es nun, der die Relation ›x erfordert y‹ ausdrückt. Es ist, wie gesagt, diese Relation, die Broome mit der Relation des ›x liefert einen Grund für y‹ kontrastiert. Diese beiden Relationen unterscheiden sich nach Broome in zwei entscheidenden strukturellen Hinsichten:
Letztere lässt, wie gesagt, eine Abtrennung des Konsequens zu, erstere tut dies nicht; letztere ist locker, erstere streng. Wenn jemand tatsächlich Durst hat, dann gibt ihm das einen Grund, zu dem Getränk vor ihm zu greifen; das Konsequens »sie hat einen 23Grund, zu dem Getränk zu greifen«, lässt sich hier abtrennen. Zugleich ist die Relation ›x liefert einen Grund für y‹ insofern locker, als jemand, der in dieser Situation nicht zum Getränk greift, möglicherweise gar nichts falsch macht, dann nämlich, wenn er zusätzliche Gründe hat, die insgesamt dagegen sprechen, zu dem Getränk zu greifen (z. B. mag er wissen, dass es vergiftet oder abgestanden ist). Wenn jemand jedoch seinen Kollegen in Verruf bringen will, und er glaubt, das Streuen übler Gerüchte stelle das notwendige Mittel dafür dar, dann folgt keineswegs, dass es von ihm gefordert ist, üble Gerüchte zu streuen – das Konsequens darf hier nicht abgetrennt werden. Vielmehr ist von ihm gefordert, entweder die Gerüchte zu streuen oder aber sein Vorhaben, den Kollegen in Verruf zu bringen, aufzugeben. Auf jede dieser beiden Weisen wird er dem normativen Erfordernis gerecht. Dies ergibt sich eben, formal gesagt, aus dem »weiten Skopus« des Sollens-Operators. Gleichzeitig gelten normative Erfordernisse, da sie sich mit dem normativen »Sollen« formulieren lassen, aber im strengen Sinne: Wenn jemand an seinem fragwürdigen Vorhaben festhält und dennoch keine Gerüchte streut, dann macht er zwingend (und zwar ganz unabhängig von den Gründen, die für oder gegen den Zweck und die notwendigen Mittel sprechen) etwas falsch, das ihm die berechtigte Kritik irrationalen Verhaltens eintragen mag.
Wer das für seinen Zweck notwendige Mittel nicht ergreift, handelt also nach Broome einem Rationalitätserfordernis zuwider und verhält sich insofern irrational; er handelt aber eben nicht notwendigerweise einem Grund zuwider, der ihm bereits daraus erwachsen würde, dass er sich für den Zweck entschieden hat, und der sich auf das notwendige Mittel übertragen würde. Die Rationalität praktischen Schließens – gegen deren Erfordernisse verstößt, wer das für seinen Zweck notwendige Mittel nicht ergreift –, steht also nicht im Dienste der Orientierung an normativen Gründen, sondern bildet eine eigene, der Orientierung an Gründen systematisch nebengeordnete Dimension praktischer Rationalität. Dabei ist erneut zu betonen, dass Broome keine neuen normativen Grundbegriffe einführt. Auch normative Erfordernisse der Rationalität enthalten das gewöhnliche normative Sollen. Der Unterschied betrifft die logische Form.
Vor diesem Hintergrund bleibt für das Entstehen eines Bootstrapping-Problems gar kein Raum – und noch weniger besteht 24die Notwendigkeit, der an ihm deutlich werdenden Ambivalenz theoretisch Rechnung zu tragen, wie Bratman dies versucht. Die bloße Tatsache, dass jemand etwas beabsichtigt, gibt ihm keinerlei Grund für dessen Verwirklichung. Aber sie kann das Konstituens eines Erfordernisses der Rationalität bilden, das auch unter der von Broome als »ungünstig« bezeichneten Bedingung normativ verpflichtend bleibt, dass wir in unseren Absichten und Überzeugungen die Orientierung an guten Gründen verloren haben.
Auch Wallace sieht wie Bratman eine fundamentale Ambivalenz in unseren Intuitionen in Bezug auf instrumentelle Rationalität: Zum einen nehmen wir an (Wallace spricht hier von einer »moralisierenden Tendenz«), dass wir nur dann die notwendigen Mittel ergreifen sollten, wenn die Ziele, in deren Dienst sie stehen, von uns in irgendeiner Weise als wertvoll oder wünschenswert bejaht werden können. Zum anderen erkennen wir jedoch die Cleverness von jemandem, der die notwendigen Mittel für Ziele, die ihm selbst zweifelhaft erscheinen mögen (etwa einer nötigen Aussprache mit der eigenen Partnerin aus dem Wege zu gehen), mit großer Sicherheit und Konsequenz ergreift, als eine Form instrumenteller Rationalität an – und wir kritisieren den, der sich dabei eben nicht als clever erweist. Anders als Bratman verfolgt Wallace das ehrgeizige Ziel, diese Ambivalenz aufzulösen, anstatt ihr in der eigenen Theorie Rechnung zu tragen.
Er tut dies auf der Grundlage einer volitionalistischen Theorie, der zufolge der Handelnde nicht bloß seinen eigenen Überzeugungen und Wünschen gerecht werden soll, sondern darüber hinaus als fähig zu Akten selbstbestimmter Wahl verstanden wird. Nun wendet sich Wallace gegen eine normative Deutung dieser Fähigkeit; ein Akt selbstbestimmter Wahl beinhaltet – wie etwa Fälle akratischer Wahl oder volitionaler Trägheit, bei denen wir eine Entscheidung einfach weiter ausführen, obwohl wir sie längst im Lichte besserer Gründe revidiert haben, belegen – keineswegs notwendig die Zustimmung zu einem normativen Urteil, das die Wahl als insgesamt wohlbegründet erscheinen ließe. Wir können uns entscheiden, unserem eigenen, wohlüberlegten Urteil darüber, was wir insgesamt tun sollten, zuwiderzuhandeln. Hier zeigt sich für Wallace ein grundlegender Unterschied zwischen Überzeugungen und Akten der Wahl: Wer davon überzeugt ist, dass p, legt sich darauf fest, dass p wahr ist – bei Überzeugungen handelt es sich daher 25in der Tat um intrinsisch normative Einstellungen. Wer die Wahl trifft zu p, legt sich eben keineswegs ipso facto darauf fest, dass p zu tun das Beste sei.
Nun greift nach Wallace das instrumentelle Prinzip, dem zufolge wir die für unsere Ziele notwendigen Mittel ergreifen sollten, auch dann, wenn die Ziele dem Handelnden selbst als zweifelhaft erscheinen. Wer die Aussprache mit der eigenen Partnerin, die ihm selbst als notwendig erscheinen mag, vermeiden will, der handelt im Sinne des instrumentellen Prinzips irrational, wenn er einer Begegnung mit ihr nicht ausweicht – obwohl genau dies zu der von ihm selbst als notwendig und insofern wünschenswert beurteilten Aussprache führen würde. Andererseits hat er in einem solchen Fall Wallace zufolge keinen normativen Grund, ihr auszuweichen – da aus seiner eigenen Sicht kein Grund für das Ziel des Ausweichens besteht, kann er auch nicht auf das Ergreifen der dafür notwendigen Mittel übertragen werden. Wie aber kann das instrumentelle Prinzip den Einstellungen des Handelnden eine normative Beschränkung auferlegen, die im Falle eines Verstoßes gegen sie den Vorwurf der Irrationalität rechtfertigt, ohne dass es ihm zugleich Gründe für das Ergreifen der notwendigen Mittel für seine Ziele geben würde?
Wallace folgt insofern zunächst Broomes Grundidee, als er wie dieser das instrumentelle Prinzip so versteht, dass es ein normatives Erfordernis für Mengen von Einstellungen darstellt, die die Absicht zu p und die Überzeugung, dass man nur p könne, wenn man die nötigen Mittel q dazu ergreife, beinhalten. Die Normativität dieses Erfordernisses zeichnet sich durch einen weiten Skopus aus, der eine Abtrennung der Verpflichtung, die nötigen Mittel zu ergreifen, verbietet: Man kann ihm sowohl dadurch gerecht werden, dass man die nötigen Mittel ergreift, als auch dadurch, dass man die ursprüngliche Absicht aufgibt. Doch warum bilden Absichten im Gegensatz etwa zu Wünschen (wer einen Wunsch nach p verspürt, aber nicht die dazu nötigen Mittel ergreift, erscheint keineswegs als ipso facto irrational) die Quelle einer solchen Form von Normativität? Für Wallace legt sich jemand, der eine Absicht zu p bildet, in einer Weise auf p fest, wie das bei jemandem, der bloß den Wunsch nach p verspürt, nicht der Fall ist. Ein entscheidender Unterschied zwischen Wünschen und Absichten besteht zudem darin, dass jemand p nur dann beabsichtigen kann, wenn er es für möglich 26hält, während er sich auch Unmögliches durchaus wünschen kann (wäre das Attentat auf Hitler doch geglückt!). Wer nun also p beabsichtigt, aber nicht die notwendigen Mittel dazu ergreifen will, der verwickelt sich in inkonsistente Überzeugungen: Er hält es für möglich, p zu verwirklichen (sonst könnte er p gar nicht beabsichtigen), er glaubt, dass die Verwirklichung von p Überzeugungen