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Praxis Heilpädagogik – Handlungsfelder

Herausgegeben von

Heinrich Greving

Ulrich Heimlich

Joachim Kahlert (Hrsg.)

Inklusion in Schule und Unterricht

Wege zur Bildung für alle

2. Auflage

Verlag W. Kohlhammer

 

 

2. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-025725-2

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-025726-9

epub:    ISBN 978-3-17-025727-6

mobi:    ISBN 978-3-17-025728-3

Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. Vorwort
  2. Einleitung: Inklusion und Sonderpädagogik
  3. Ulrich Heimlich
  4. 1    Geschichte der heil- und sonderpädagogischen Institutionen im schulischen Bereich
  5. Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt
  6. 2    Schulische Organisationsformen sonderpädagogischer Förderung auf dem Weg zur Inklusion
  7. Ulrich Heimlich
  8. 3    Von der Förderschule zum inklusiven Bildungssystem – die Perspektive der Schulentwicklung
  9. Gottfried Biewer & Helga Fasching
  10. 4    Inklusionsdidaktische Netze – Konturen eines Unterrichts für alle (dargestellt am Beispiel des Sachunterrichts)
  11. Joachim Kahlert & Ulrich Heimlich
  12. 5    Sonderpädagogische Professionalität und Inklusion: Welchen Beitrag leistet das Studium der Sonderpädagogik?
  13. Ewald Kiel, Sabine Weiß & Agnes Braune
  14. Autorenverzeichnis
  15. Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

Seit 2009 ist die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (VN-BRK) nunmehr auch in Deutschland in Kraft. Alle Länder der Bundesrepublik Deutschland und alle staatlichen Gliederungen bis hin zu den Kommunen haben sich damit zu der völkerrechtlichen Verpflichtung bekannt, die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft aktiv zu unterstützen und voranzutreiben.

Besonders hoch schlagen gegenwärtig die Wellen der Diskussion über die Umgestaltung des Bildungssystems. Ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen, wie es in Artikel 24 der VN-BRK gefordert wird, muss in Deutschland erst entwickelt werden. Allenthalben wird davon ausgegangen, dass damit vor allem eine grundlegende Reform des Schulsystems einhergehen soll. Die Erfahrungen mit solchen Schulreformen in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland lehren allerdings, dass hochfliegende Pläne nicht selten an mangelhaften Ressourcen scheitern. Auch die Träger der Reform, die Lehrkräfte, Eltern und nicht zuletzt die Schüler/-innen, wurden nur selten als aktiv Beteiligte und Motoren der Reform umfassend eingebunden. Soll die inklusive Schulreform gelingen, so ist es unbedingt erforderlich, alle Beteiligten miteinzubeziehen. Nur im Zusammenwirken der pädagogischen Fachkräfte mit den Eltern, den Schülerinnen und Schülern und der Schuladministration besteht eine Chance, die Inklusion von Kindern und Jugendlichen im Bildungssystem wirksam weiterzuentwickeln.

Nicht außer Acht gelassen werden darf dabei, dass das deutsche Bildungssystem nach 1945 im europäischen Vergleich eine spezifische Struktur ausgebildet hat. Das gilt sowohl für die Dreigliedrigkeit ab Klasse 5 mit der Differenzierung von Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien als auch für das differenzierte Förderschulsystem mit nahezu je einer Förderschule für jede Behinderungsart. Auch die vorhandenen personellen sowie materiellen Ressourcen und die professionellen Kompetenzen sind von dieser Struktur abhängig und werden sicher nur schrittweise in einen Reformprozess eingebunden werden können. Die Autoren und Autorinnen dieses Buches gehen miteinander davon aus, dass der Inklusionsprozess in erster Linie eine Aufgabe der allgemeinen Schulen und ihrer Unterstützungssysteme ist. Ebenso stimmen wir allerdings darin überein, dass die Inklusion in Schulen im deutschsprachigen Raum nur mit Unterstützung der sonderpädagogischen Fachkompetenz gelingen wird.

Deshalb erfolgt an dieser Stelle zunächst eine Klärung des Zusammenhangs von Inklusion und Sonderpädagogik (Ulrich Heimlich: Einleitung), bevor in einem historischen Rückblick gezeigt wird, wie sich sonderpädagogische Förderung von der Entstehungszeit bis in die Gegenwart hinein immer wieder verändert hat (Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt: Geschichte der heil- und sonderpädagogischen Institutionen im schulischen Bereich). Sodann wird der heutige Stand der Entwicklung sonderpädagogischer Organisationsformen bilanziert und auf die zukünftige Entwicklung hin zur Inklusion bezogen (Ulrich Heimlich: Schulische Organisationsformen sonderpädagogischer Förderung auf dem Weg zur Inklusion). Zur konkreten Umsetzung der inklusiven Schulreform sind darauf aufbauend zwei Schritte erforderlich: Zunächst muss die Inklusion als Aufgabe der Schulentwicklung und damit als Prozess der Veränderung eines Systems betrachtet werden (Gottfried Biewer & Helga Fasching: Von der Förderschule zum inklusiven Bildungssystem – die Perspektive der Schulentwicklung). Des Weiteren bedeutet Inklusion in der Schule eine grundlegende Veränderung des Unterrichts wie auch seiner Methodik und Didaktik, um für alle Schüler/-innen einen Zugang zu den Bildungsinhalten zu eröffnen (Joachim Kahlert & Ulrich Heimlich: Inklusionsdidaktische Netze – Konturen eines Unterrichts für alle). Schließlich stellt sich die Frage nach der professionellen Qualifikation für eine inklusive Schule und einen inklusiven Unterricht, wobei davon ausgegangen werden muss, dass hier durchaus eine Vielfalt an Kompetenzprofilen vorzuhalten ist (Ewald Kiel, Sabine Weiß & Agnes Braune: Sonderpädagogische Professionalität und Inklusion: Welchen Beitrag leistet das Studium der Sonderpädagogik?). Die Beiträge verbinden jeweils grundlegende Aussagen mit Befunden der Forschung und Ansätzen zur praktischen Umsetzung. Kurze Inhaltsübersichten leiten das jeweilige Thema ein. Die ausführliche Literaturliste am Schluss der einzelnen Kapitel eröffnet auch Perspektiven für die weitere Vertiefung der Thematik. Ein großer Dank geht an Petra Weidner und Andrea Bistrich, die das aufwändige Korrekturlesen übernommen haben.

Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass wir mit der Unterzeichnung der VN-BRK am Anfang eines Prozesses der Schulreform stehen. Nicht nur in den Schulen ist dazu ein Dialog aller Beteiligten erforderlich. Auch die einzelnen Disziplinen der Erziehungswissenschaft sollten versuchen, begleitend zu dieser Reform wieder intensiver ins Gespräch zu kommen. Der vorliegende Band versteht sich als Einladung dazu.

München, im Januar 2012

Ulrich Heimlich, Joachim Kahlert

Einleitung: Inklusion und Sonderpädagogik1

Ulrich Heimlich

  1. Vorbemerkung
  2. 1    Inklusive Bildung – Zielsetzungen
  3. 2    Sonderpädagogische Förderung in Deutschland seit 1994 – Ausgangsbedingungen
  4. 3    Perspektiven zur Umsetzung der VN-Konvention – nächste Schritte
  5. Ausblick: Dialog zur inklusiven Bildung zwischen Schulpädagogik und Sonderpädagogik?
  6. Literatur

Vorbemerkung

Mit Inkrafttreten der „VN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (VN-BRK)“ im Jahre 2009 tritt die sonderpädagogische Förderung in Deutschland in ein neues Entwicklungsstadium ein. Vorrang hat nunmehr die Gestaltung eines inklusiven Bildungssystems auf allen Ebenen, wie es in Artikel 24 der VN-BRK gefordert wird. Die Konvention fungiert nach der Ratifizierung im Range eines Bundesgesetzes. Insofern ergibt sich eine rechtliche Verpflichtung in Deutschland, die Ziele der Konvention politisch umzusetzen. Diese Verpflichtung gilt ebenso für die Bundesländer. Im föderalistisch strukturierten Deutschland hat zwar die Kulturhoheit der Bundesländer nach wie vor einen hohen Stellenwert bei der Gestaltung der Bildungspolitik. Zugleich macht die VN-BRK aber auch deutlich, dass sich die Bildungspolitik zunehmend globalisiert und international vernetzt (vgl. Ellger-Rüttgardt 2008). Insofern sieht sich die sonderpädagogische Förderung in Deutschland ebenfalls in ein Spannungsverhältnis von regionalen und internationalen Politikebenen eingebunden. Der Blick über die Grenzen beispielsweise in die europäischen Nachbarländer wird in Zukunft wohl zum festen Bestandteil in der Weiterentwicklung der eigenen Konzepte und Strukturen zählen müssen (vgl. Biewer 2009; Bürli/Strasser/Stein 2009).

Das gilt umso mehr, als Deutschland nach 1945 europaweit mit dem Aufbau eines differenzierten „Sonderschulsystems“ einen eigenständigen Weg beschritten hat. Dies ist zugleich die Ausgangssituation für die inklusive Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung. Nach wie vor besuchen in Deutschland etwa 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf die Förderschulen und nur ca. 20 Prozent die allgemeinen Schulen. In einem inklusiven Bildungssystem müsste dieser Anteil umgekehrt werden: 80 Prozent besuchen die allgemeinen Schulen und nur 20 Prozent Förderschulen. In vielen europäischen Nachbarländern wird derzeit nicht mehr darüber diskutiert, ob die inklusive Bildung im gesamten Bildungssystem realisiert werden soll, sondern vielmehr über die Frage, wie dieses allgemein akzeptierte Ziel realisiert werden kann. Die Entwicklung inklusiver Schulen ist zu einer globalen Bewegung angewachsen. Viele praktische Schulbeispiele auch aus armen Regionen der Erde zeigen, dass inklusive Schulen entwickelt werden können und nicht an geringen Mitteln scheitern müssen (vgl. die umfangreiche Projektdokumentation bei Richard Rieser 2008). Zugleich wird beim genaueren Blick in diese inklusiven Schulprojekte deutlich, dass auch die Arbeit in inklusiven Schulen nicht ohne sonderpädagogische Förderung im Sinne von „special needs education“ auskommt. Inklusive Bildung ist deshalb kein Plädoyer für die Abschaffung der Sonderpädagogik, sondern vielmehr eine Aufforderung, sich zu modernisieren und sich an einem pädagogischen Reformprozess von gesamtgesellschaftlichen Ausmaßen zu beteiligen.

Vergessen wird bei der aktuellen bildungspolitischen Debatte zur Inklusion in Deutschland allerdings noch häufig, dass nicht nur die Sonderpädagogik vor einem Wandlungsprozess steht, sondern auch die allgemeine Pädagogik und die allgemeinen Schulen verändert werden müssen. Inklusive Schulen zu entwickeln bedeutet sicher, dass Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen und sonderpädagogische Fachkompetenz zum festen Bestandteil aller allgemeinen Schulen auf allen Ebenen des Bildungssystems werden müssen. Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen dürfen nicht länger nur stundenweise in allgemeinen Schulen sein, sondern müssen vielmehr mit ihrer gesamten Stundenzahl dem System „allgemeine Schule“ zugeordnet werden. Aber letztlich zielt auch diese Neuorientierung der Sonderpädagogik auf eine Veränderung der allgemeinen Schulen ab. Wie diese Veränderung aussehen könnte und welche Rolle die Sonderpädagogik dabei spielt, ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Zielsetzung ist dabei, der Forderung der VN-BRK nach einem inklusiven Bildungssystem Nachdruck zu verleihen und zugleich ein konkretes Entwicklungsprogramm vorzustellen, das die Bildungspolitik und Schulentwicklung der nächsten Jahre unterstützen kann.

Wer sich auf neue Wege begibt, tut gut daran, sich seiner Ziele bewusst zu werden und sich gleichzeitig zu versichern, welche Ausgangsbedingungen bzw. Ressourcen für die Reise zur Verfügung stehen. Nur so kann etwas über die jeweils nächsten Schritte gesagt werden. Ziele (1), Ausgangsbedingungen (2) und nächste Schritte (3) der Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems sollen deshalb nun vorab kurz analysiert werden. Dabei steht jeweils der Anteil der Sonderpädagogik und der allgemeinen Schulen besonders im Mittelpunkt.

1          Inklusive Bildung – Zielsetzungen

Auf der Konferenz von Salamanca im Jahre 1994 wurde der Begriff der Inklusion in die internationale schulpädagogische Diskussion eingeführt. Auf Einladung der Vereinten Nationen beschlossen Regierungsvertreter/-innen aus nahezu 90 Staaten der Welt und zahlreiche weltweit tätige Behindertenselbsthilfeverbände das Programm einer inklusiven Schule. „Pädagogik für besondere Bedürfnisse“ lautete seinerzeit der beziehungsreiche Titel, der an die internationale Debatte zur „special needs education“ anknüpfen sollte (vgl. Österreichische UNESCO-Kommission 1996). In der deutschen Übersetzung wurde der neue Begriff „inclusion“ noch mit „Integration“ übersetzt. Dies hat bis heute im bundesdeutschen Sprachraum zu dem Missverständnis beigetragen, dass von einer Gleichsetzung zwischen Inklusion und Integration auszugehen sei. Auch mit Inkrafttreten der VN-BRK konnte dieses Missverständnis im Jahre 2009 noch nicht ausgeräumt werden. In Artikel 24, Abs. 1 wird von den unterzeichnenden Staaten die Selbstverpflichtung akzeptiert:

„Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen…“ (Vereinte Nationen 2010).

Die ratifizierte Fassung ist allerdings die englische, in der es heißt: „inclusive education system at all levels“ (United Nations 2010). Die Bundesregierung hat dazu einen Gesetzentwurf vorgelegt, der vom Bundestag beschlossen wurde und von daher als bundesgesetzliche Grundlage der Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems fungiert. Trotz der föderalistischen Struktur Deutschlands ist damit auch für die Bundesländer eine rechtliche Verpflichtung gegeben, Maßnahmen zur Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems auf den Weg zu bringen (vgl. Art. 4, Abs. 5, BRK):

„Die Bestimmungen dieses Übereinkommens gelten ohne Einschränkung oder Ausnahme für alle Teile eines Bundesstaates“ (ebd.).

Insofern ist es im gegenwärtigen Diskurs über inklusive Bildung und angesichts der begrifflichen Verunsicherung angezeigt, die Vorstellung eines inklusiven Bildungssystems, wie sie sich gegenwärtig vor dem Hintergrund des internationalen Entwicklungsstands abzeichnet, genau zu bestimmen (Booth/Ainscow 2002; Rustemeier/Booth 2005; Reiser 2008).

Im Ergebnis lässt sich zunächst festhalten, dass Inklusion nicht nur als Übersetzung von Integration gelten kann. Der Begriff geht auch weit über eine optimierte Form der Integration im Sinne von Qualitätssteigerung hinaus. Inklusion meint vielmehr eine substanzielle Weiterentwicklung der Integration. Inklusive Bildungseinrichtungen verzichten von vornherein auf jegliche Formen von Aussonderung. Alle Kinder und Jugendlichen eines Stadtteils, Wohngebietes oder Quartiers sind willkommen. Die Unterschiedlichkeit ihrer Lernbedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten wird als Ausgangsbedingung jeglichen Bildungsangebotes angesehen. Heterogenität wird damit – zumindest konzeptionell – nicht als Belastung angesehen, sondern vielmehr als Bereicherung und Chance für die Gestaltung eines Bildungsangebotes, das sich an alle Kinder und Jugendlichen richtet. Damit einher geht die Öffnung von Bildungseinrichtungen hin zu ihrem Stadtteil und dem aktiven wechselseitigen Austausch zwischen Schulen und ihrem Umfeld.

Inklusive Bildung enthält somit auch die Dimension der Einbeziehung gesellschaftlicher Probleme der Teilhabe. Ein inklusives Bildungssystem ist von daher keine Insel, in der ideale Formen des gesellschaftlichen Umgangs gefördert werden. Sie ist vielmehr Bestandteil der Gesellschaft und ein Beitrag zu einer inklusiven Gesellschaft. Ebenso wie eine demokratische Gesellschaft demokratische Schulen benötigt, wie es John Dewey in „Demokratie und Erziehung“ im Jahre 1916 beschrieben hat (vgl. Dewey 1916/1993), ist eine inklusive Gesellschaft auf eine inklusive Schule angewiesen. Das bedeutet aber auch, dass Schulen allenfalls einen Beitrag zu einer inklusiven Gesellschaft leisten können, nicht jedoch für den gesellschaftlichen Inklusionsprozess gänzlich allein verantwortlich gemacht werden dürfen.

Die größte Herausforderung für die Schulpädagogik wie für die Sonderpädagogik enthält jedoch die Forderung der inklusiven Bildung, auf eine Unterscheidung zwischen Menschen mit und Menschen ohne Behinderung zu verzichten, sondern vielmehr von Menschen mit individuellen Bedürfnissen auszugehen. Demnach hätten alle Kinder und Jugendlichen in der inklusiven Schule Anspruch auf ein individuell für sie zugeschnittenes Bildungsangebot. Wird die Individualisierung in dieser Konsequenz im Bildungssystem umgesetzt, so die Hoffnung, dann ist die Rede von unterschiedlichen Gruppen von Kindern und Jugendlichen hinfällig geworden. Unter dem Anspruch einer inklusiven Bildung sollten Schulen demnach in der Lage sein, die vielen unterschiedlichen Bedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen zu erkennen und individuell passgenaue Lern- und Förderangebote zu entwickeln. Aus sonderpädagogischer Sicht muss schon auf dieser konzeptionellen Ebene des Nachdenkens über inklusive Bildung der Schluss gezogen werden, dass diese anspruchsvolle Aufgabe nicht ohne sonderpädagogische Fachkompetenz im gesamten Bildungssystem erfüllt werden kann.

Aber was ist nun mit Inklusion gemeint? Inklusion im Sinne der ursprünglichen lateinischen Wortbedeutung von „Einschluss“ bzw. „Enthaltensein“ umfasst mehr als ein schulisches Verständnis von Integration. Inklusion zielt auf eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe in möglichst weitgehender Selbstbestimmung. Von der Zielvorstellung her ist dabei angestrebt, die Grenzen zwischen „Behinderten“ und „Nichtbehinderten“ aufzuheben und das selbstbestimmte Miteinander mitten in der Gesellschaft zu verankern. Dies entspricht einer stark normativ geprägten Vorstellung von Inklusion, wie sie in der schul- und sonderpädagogischen Debatte derzeit vorherrscht (vgl. Schnell/Sander 2004; Bürli/Strasser/Stein 2009).

Ein Blick in das soziologische Begriffsverständnis von Inklusion lehrt jedoch, dass auch diese konzeptionelle Diskussion zur inklusiven Bildung vor dem Hintergrund konkreter gesellschaftlicher Entwicklungen der Gegenwart gesehen werden muss. Dabei zeigt sich insbesondere, dass sich die gesellschaftlichen Inklusionsmuster in modernen westlichen Industriegesellschaften in den letzten 150 Jahren nachhaltig verschoben haben. Während ursprünglich gesellschaftliche Inklusion über feste soziale Bindungen im sozialen Nahraum über Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen sowie innerhalb der Nachbarschaft organisiert wurde, reißt die Gesellschaft der „Zweiten Moderne“ (vgl. Beck 1986) ihre Mitglieder immer stärker aus gewachsenen sozialen Strukturen heraus. Soziale Beziehungen und Identitäten (vgl. Keupp u.a. 1999) müssen selbst gesucht und konstruiert werden. Inklusion wird in diesem Zusammenhang mehr und mehr zur Aufgabe jedes Einzelnen. Es ist unschwer vorstellbar, dass Menschen mit Behinderungen oder sozialen Benachteiligungen rasch aus diesem selbst zu organisierenden Inklusionsprozess herausfallen und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Der soziologische Blick lehrt von daher, auch das Gegenteil von gesellschaftlicher Inklusion nicht außer Acht zu lassen. Westliche Industriegesellschaften haben eindeutige Tendenzen zur Exklusion. Deutschland leistet sich als eines der reichsten Länder der Erde bei Kindern und Jugendlichen eine Armutsquote, die bei ca. 16 Prozent liegt – mit steigender Tendenz (vgl. Heimlich 2008 a). Kinder sind für Familien heute das Armutsrisiko Nr. 1. Alleinerziehende Eltern, insbesondere Mütter und Migrantenfamilien, sind nach wie vor besonders betroffen. Inklusion und Exklusion sind von daher in modernen Gesellschaften unauflöslich miteinander verknüpfte Prozesse (vgl. Luhmann 2002, S. 135 ff.; Nassehi 1997). Der schul- und sonderpädagogische Blick auf die Inklusion sollte dieses Spannungsverhältnis also miteinbeziehen. Inklusion im pädagogischen Sinne weist somit weit über das Bildungssystem hinaus in die Gesellschaft.

Inklusion im pädagogischen Sinne zielt vor diesem Hintergrund auf die Schaffung netzwerkartiger Strukturen in Schule und Gesellschaft ab, die zur Unterstützung der selbstbestimmten sozialen Teilhabe aller Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen beitragen und Tendenzen zum Ausschluss bestimmter Gruppen aus der Gesellschaft aktiv entgegentreten.

Da für die gegenwärtige bildungspolitische Debatte zum inklusiven Bildungssystem in Deutschland die Unterscheidung von Inklusion und Integration eine so zentrale Bedeutung bekommen hat, sollen die derzeit bekannten Differenzen besonders mit Blick auf unterschiedliche konzeptionelle Grundsätze noch einmal im Einzelnen gegenübergestellt werden (vgl. Hinz 2002; Sander 2004 sowie die Kritik von Lee 2010 und Speck 2010).

Konzept der Integration Konzept der Inklusion

Abb. 1: Vergleich integrativer und inklusiver Bildungsangebote als Konzept

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Das Konzept der Integration konnte in der Vergangenheit nur einsetzen, wenn Kindern und Jugendlichen ein sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wurde. Der Vorteil dieses Systems ist sicher die klare Individuumszentrierung. Zum Nachteil gereichte der Integrationspraxis das Festhalten an einer weitgehend defizitorientierten Diagnostik. Es ist zwar auf der Ebene von Publikationen sehr umfassend über förderdiagnostische Konzeptionen berichtet worden (vgl. Bundschuh 2010). Auch entsprechende förderdiagnostische Methoden und Materialien (vgl. Heimlich/Lotter/März 2005) liegen in praxisnaher Aufbereitung vor. Es ist jedoch in der integrativen Praxis nicht gelungen, sich konsequent von einem schädigungsbezogenen Denken zu verabschieden und zur Förderung hin umzuorientieren. Noch immer steht in der Praxis der sonderpädagogischen Diagnostik die Zuweisung zum Förderort im Vordergrund und nicht die Entwicklung von individuellen Fördermaßnahmen. Dadurch wurde in integrativen Bildungsangeboten auch der Abgrenzung von zwei Gruppen Vorschub geleistet und das Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma (vgl. Füssel/Kretschmann 1993) letztlich nicht überwunden. Personelle, räumliche und sächliche Ausstattung konnten integrative Bildungsangebote nur erreichen, wenn sie eine möglichst große Zahl von Kindern und Jugendlichen mit dem Etikett „sonderpädagogischer Förderbedarf“ behafteten. Die Integration blieb deshalb auch häufig auf einer institutionellen Ebene des bloßen Beieinanderseins stehen, ohne zu intensiven sozialen Austauschprozessen zu gelangen. In der Konsequenz hieß das, dass auch die heil- und sonderpädagogische Fachkompetenz nur den Kindern und Jugendlichen zugute kommen konnte, die einen gutachterlich festgestellten Förderbedarf vorweisen konnten. Mit der Entwicklung integrativer Bildungsangebote ist es also durchaus gelungen, die speziellen Förderangebote der Heil- und Sonderpädagogik in die allgemeinen Schulen zu verlagern. Ihr Charakter als spezielle Förderung für „Behinderte“ ist dabei jedoch prinzipiell nie verändert worden. Insofern galt der Grundsatz der Individualisierung in integrativen Bildungsangeboten eben nicht für alle, sondern nur für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf.

Diese Einschränkungen einer integrativen Praxis sind in der Vergangenheit immer wieder zum Problem geworden. Sonderpädagogische Lehrkräfte und Lehrkräfte der allgemeine Schulen haben darauf aufmerksam gemacht, dass individuelle Förderung nicht nur für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf erforderlich ist. Vielmehr gibt es in der Schulpraxis eine ganze Reihe von Kindern und Jugendlichen, die vorübergehend oder in einzelnen Lernbereichen einen Bedarf an individueller Förderung haben. Auch diagnostische Fragen stellen sich in der Praxis laufend über die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf hinaus. Ähnliches gilt für einen hohen Beratungsbedarf bei Lehrkräften der allgemeinen Schulen beispielsweise bei Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensproblemen. Das System der integrativen Bildung mit heil- und sonderpädagogischer Unterstützung ist somit in Deutschland an seine Grenzen gestoßen, was sich nicht zuletzt in den lange Jahre stagnierenden Anteilen der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in allgemeinen Schulen zeigt (vgl. Daten der KMK unter: www.kmk.org/statistik/schule/statistiken/sonderpaedagogische-foerderung-in-schulen.html).

Das Konzept der Inklusion ist demgegenüber bis in die Gegenwart hinein in Deutschland noch weitgehend Zukunftsentwurf – im Gegensatz zu vielen anderen Staaten der Welt (vgl. den Überblick über inklusive Schulen bei Richard Reiser 2008). Inklusive Bildungsangebote sollen als ein System für alle das gemeinsame Leben und Lernen für alle gewährleisten. Hier wird auf die Unterscheidung von Gruppen mit verschiedenen Kindern zugunsten heterogen zusammengesetzter Gruppen verzichtet. Kinder und Jugendliche in inklusiven Schulen sollen sich nicht nur sporadisch begegnen, sondern in intensive selbst gewählte und dauerhafte soziale Kontakte eintreten können (soziale Ebene) und so neben der institutionellen Ebene Inklusion auch persönlich erleben können (emotionale Ebene). In der Konsequenz bedeutet dies nun, dass die Zuweisung von Ressourcen für das System „inklusive Schule“ erfolgt. Inklusive Schulen entwickeln inklusive Bildungskonzeptionen im Sinne eines eigenständigen Schulprogramms bzw. -profils. Darin versichern sie, dass sie alle Kinder und Jugendlichen eines Stadtteils aufnehmen – auch mit Migrationshintergrund und mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Unter dem Eindruck gegenwärtiger Ressourcenverteilung im Bildungssystem dürfte darin eine der größten Herausforderungen bei der Realisierung inklusiver Schulen liegen. Die Bielefelder Laborschule ist in diesem Zusammenhang bereits dazu übergegangen, die Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den entsprechenden sonderpädagogischen Gutachten und Förderplänen nicht mehr namentlich zu erwähnen, sondern anonymisiert an die zuständigen Behörden (Schulaufsicht und Schulträger) weiterzuleiten. Insofern wird der Bedarf an Ressourcen für die inklusive Schule hier nachgewiesen, ohne dass Kinder und Jugendliche etikettiert werden müssen (vgl. Thoma/Rehle 2009). Wer mit dem Anspruch der Individualisierung des Bildungsangebotes für alle Kinder in inklusiven Schulen allerdings ernst machen will, der wird auch nicht umhin können, die individuellen Lern- und Förderbedürfnisse aller Kinder und Jugendlichen differenziert zu diagnostizieren und entsprechend individuelle Förderpläne für alle zu erstellen. Die Heil- und Sonderpädagogik verfügt hier über langjährige und reichhaltige Erfahrungen, die in einem inklusiven Bildungssystem (von der Kinderkrippe bis zum Abitur) noch umfassender nachgefragt wird als bisher. Der Anspruch des inklusiven Bildungssystems nach individueller Förderung führt also nicht zu einem Abbau der Heil- und Sonderpädagogik, sondern vielmehr zu einem Ausbau auf allen Ebenen des Bildungssystems.

In einer kurzen Formel zusammengefasst können Integration und Inklusion folgendermaßen unterschieden werden: In integrativen Bildungssystemen werden Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf verändert, damit sie in die allgemeine Schule gehen können, in inklusiven Bildungssystemen werden die allgemeinen Schulen hingegen verändert, damit sie den Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten aller Kinder und Jugendlichen entsprechen können (vgl. Wilhelm/Eggertsdóttir/Marinósson 2006).

Fazit Nr. 1: Ein inklusives Bildungssystem zu entwickeln, bedeutet für die allgemeinen Schulen in Deutschland einen nachhaltigen Umgestaltungsprozess. Wenn Heterogenität in inklusiven Schulen bewusst gewollt ist und ausdrücklich begrüßt wird, dann sollten die Unterrichtskonzepte und die Schulorganisation insgesamt auf den Prüfstand gestellt werden. Eine konsequente Individualisierung des Bildungsangebotes bei gleichzeitiger Wahrung der gemeinsamen thematischen und inhaltlichen Schwerpunktsetzung auch im Sinne von Bildungsabschlüssen dürfte dabei eine der größten didaktisch-methodischen Herausforderungen darstellen. Inklusive Schulen erfordern jedoch zusätzlich einen Schulentwicklungsprozess, in dem alle Beteiligten (Lehrkräfte, Eltern und Schüler/-innen) miteinbezogen sind.

Sicher befinden sich einige Schulen in Deutschland schon heute auf dem Weg zu einer inklusiven Schule. Zugleich wird angesichts dieser anspruchsvollen Zielsetzung deutlich, dass im gesamten deutschen Bildungssystem erhebliche Anstrengungen erforderlich sind, um der Selbstverpflichtung, wie im Art. 24 der VN-BRK formuliert, nachkommen zu können. Es soll nun weiter gefragt werden, welchen Beitrag die Sonderpädagogik dazu leisten kann. Zu diesem Zweck wird auf die Entwicklung der sonderpädagogischen Förderung in Deutschland seit der KMK-Empfehlung von 1994 zurückgeschaut.

2          Sonderpädagogische Förderung in Deutschland seit 1994 – Ausgangsbedingungen

Mit den „Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Ländern der BRD“ von 1994 knüpft die Kultusministerkonferenz seinerzeit an die internationale Entwicklung zur „special needs education“ an (vgl. Drave/Rumpler/Wachtel 2000). „Special educational needs“ würde wörtlich übersetzt zwar „spezielle Erziehungsbedürfnisse“ heißen, wie Otto Speck hervorgehoben hat (vgl. Speck 2008, S. 250 f.). Durchgesetzt hat sich in Deutschland gleichwohl der Terminus „sonderpädagogischer Förderbedarf“, der den medizinisch konnotierten und defizitär ausgerichteten Behinderungsbegriff ablösen sollte. Der Perspektivenwechsel, den die KMK-Empfehlungen von 1994 in der bundesdeutschen Sonderpädagogik initiiert haben, konnte nicht grundlegender sein. Von der Behinderung als individuellem Mangel und Fehler richtete sich nunmehr der sonderpädagogische Blick auf die Möglichkeiten der Förderung. Damit war die Tür für eine genuin pädagogische Sichtweise geöffnet und eine Abkehr von der Sichtweise der Behinderung als Eigenschaft der Person möglich geworden. In der Folge konnte es nicht mehr heißen, dass jemand „behindert“ ist, sondern dass er „behindert“ wird. Behinderung wird damit zur sozialen Aktivität, die mitten in der Gesellschaft verankert ist und somit auch der pädagogischen Intervention zugänglich wird. Den KMK-Empfehlungen von 1994 liegt somit ein sozialwissenschaftliches Verständnis von Behinderung zugrunde, das zwar schon in den 1970er Jahren ausformuliert wurde, dennoch erst in den 1990er Jahren praktisch wirksam zu werden begann.

Ausgehend von dem Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs haben die Empfehlungen der KMK seinerzeit Schwerpunkte, Maßnahmen und Orte sonderpädagogischer Förderung beschrieben. Damit orientieren sich die Empfehlungen im Wesentlichen an einer förderdiagnostischen Strategie (vgl. Heimlich 1995). Ausgehend von den individuellen Förderbedürfnissen werden mögliche Fördermaßnahmen beschrieben. Erst danach werden Überlegungen zum optimalen Förderort angestellt. Die allgemeine Schule sowie präventive Maßnahmen und die Berufsschule als Förderorte werden dabei ausdrücklich genannt. Damit ist die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs und die Entscheidung über den Förderort entkoppelt worden. Die KMK-Empfehlungen von 1994 sind jedoch noch einen Schritt weiter gegangen. Sie wiesen der sonderpädagogischen Förderung einen subsidiären Charakter zu. Damit hatte die Förderung in den allgemeinen Schulen in jedem Fall Priorität. In den Folgejahren wurden die Empfehlungen dann auf die verschiedenen sonderpädagogischen Förderschwerpunkte übertragen.

Gut 15 Jahre nach Veröffentlichung der Empfehlungen stellt sich die Frage, wie dieser Minimalkonsens zwischen den 16 Bundesländern Deutschlands bildungspolitisch gewirkt hat. Wir können heute festhalten, dass die Empfehlungen zu einer Pluralisierung der Orte und Konzepte sonderpädagogischer Förderung beigetragen haben. Das sonderpädagogische Fördersystem ist in Bewegung gekommen. Die innere Dynamik zeigt sich in einer Vielfalt an innovativen Organisationsformen, die über die verschiedenen Formen von Förderzentren und Förderklassen in der allgemeinen Schule bis hin zu Integrationsklassen, integrativen Regelklassen und Kooperationsklassen reichen. Auch wenn der quantitative Anteil der Schüler/-innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den allgemeinen Schulen nach wie vor unbefriedigend ist, so muss doch festgehalten werden, dass er in den 1990er Jahren behutsam ausgeweitet worden ist. Überdies haben alle Bundesländer die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs in ihren Ländergesetzen und entsprechenden Rechtsverordnungen verankert. Dies hat dazu geführt, dass sonderpädagogische Förderangebote auch qualitativ verbessert worden sind (vgl. Wember/Prändl 2009). Es liegen inzwischen ausgearbeitete und evaluierte Interventionskonzepte vor (z.B. Lauth/Grünke/Brunstein 2004).

Einer der Haupteffekte der KMK-Empfehlungen von 1994 liegt darüber hinaus in der Weiterentwicklung des Feldes der sonderpädagogischen Beratung. Unter Zugrundelegung innovativer Beratungskonzepte, wie die kooperative Beratung (vgl. Mutzeck 2008), werden nicht nur Schüler/-innen und Eltern, sondern auch Lehrkräfte allgemeiner Schulen und ganze Schulkollegien im Sinne einer Systemberatung kommunikativ in professioneller Weise begleitet. Eine große Herausforderung für sonderpädagogische Lehrkräfte und Lehrkräfte der allgemeinen Schulen lag in den vergangenen Jahren ebenfalls im Ausbau der Zusammenarbeit auf der Unterrichtsebene bezogen auf den gemeinsamen Unterricht und die Weiterentwicklung des Team-Teaching. Sonderpädagogen/-innen sind darüber hinaus gerade in allgemeinen Schulen zusehends im Rahmen von Weiterbildungsangeboten für Eltern und Lehrkräfte gefragt.

In der Folge hat sich das sonderpädagogische Kompetenzprofil nachhaltig gewandelt. Stand ursprünglich noch das Unterrichten und Erziehen im Mittelpunkt, so sind nunmehr die Diagnostik, die individuelle Förderung und deren systematische Evaluation sowie die begleitende Beratung gleichwertig hinzugetreten. Befürchtungen, nach denen mit der Ausweitung der sonderpädagogischen Förderung auf die allgemeinen Schulen ein Kompetenzverlust eingehen würde oder gar eine Infragestellung der sonderpädagogischen Fachkompetenz, erwiesen sich als gegenstandslos. Sonderpädagogische Lehrkräfte haben in allgemeinen Schulen vielmehr die Erfahrung gemacht, dass ihre Fachkompetenz anerkannt wird und sie sogar Gelegenheit haben, im Rahmen ihrer mobilen Tätigkeit ihre Fachkompetenzen zu erweitern. Die Beratungsangebote für Eltern und Lehrkräfte (z.B. aus sonderpädagogischen Beratungsstellen heraus) haben überdies zu einem echten Imagegewinn der Sonderpädagogik beigetragen, da sich Eltern bei Lernproblemen ihrer Kinder und Jugendlichen nunmehr in Förderzentren Rat holen können, ohne dass damit zugleich die Frage nach einem Wechsel des Förderortes verbunden sein muss.

Umstritten ist im Nachhinein lediglich die begriffliche Fassung des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Es heißt dazu in den Empfehlungen bekanntermaßen:

„Sonderpädagogischer Förderbedarf ist bei Kindern und Jugendlichen anzunehmen, die in ihren Bildungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten so beeinträchtigt sind, dass sie im Unterricht der allgemeinen Schule ohne sonderpädagogische Unterstützung nicht hinreichend gefördert werden können“ (vgl. Drave/Rumpler/Wachtel 2000, S. 28 f.).

Damit ist jedoch wenig mehr gesagt, als dass sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt, wenn sonderpädagogische Förderung erfolgen muss. Deshalb soll hier eine andere begriffliche Fassung vorgeschlagen werden:

Sonderpädagogischer Förderbedarf liegt dann vor, wenn die allgemeine Schule trotz zusätzlicher differenzierender Maßnahmen nicht in der Lage ist, auf die Lernbedürfnisse einzelner Schüler/-innen einzugehen und deshalb zusätzlich gezielte Maßnahmen zur Diagnostik, Intervention und Evaluation erforderlich sind.

Dahinter steht eine Vorstellung von sonderpädagogischer Förderung, die im Sinne eines Prozessmodells eine enge Verschränkung der Elemente Diagnostik, Intervention und Evaluation postuliert. Demnach ist sonderpädagogische Förderung generell durch diesen Dreischritt gekennzeichnet (vgl. Heimlich 2008b, S. 520 ff.; Heimlich 2009, S. 140 ff., s. auch Kap. 4.0 in diesem Band).

Offen bleibt bis heute die Frage, was sonderpädagogische Förderung eigentlich ist? „Fördern“ [mhd. vürdern, ahd. furdiren] steht in der ursprünglichen Wortbedeutung für „weiter nach vorn bringen“ und meint im Gegensatz zum „hindern“ inhaltlich so viel wie „in seiner Entfaltung unterstützen und verstärken“. Es wird hier für einen weiten Begriff sonderpädagogischer Förderung plädiert, der sich nicht nur auf die Intervention bezieht, sondern vielmehr Diagnostik, Evaluation und Beratung mit umfasst. Mit sonderpädagogischer Förderung sind demnach alle Maßnahmen zur Begleitung und Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Lern- und Entwicklungsproblemen sowie Problemen in der gesellschaftlichen Teilhabe gemeint, die auf ein selbstbestimmtes Leben in möglichst umfassender sozialer Inklusion abzielen. Damit ist Inklusion auch Ziel sonderpädagogischer Förderung. Unterschieden wird im Anschluss an den angloamerikanischen Sprachgebrauch zwischen direkter und indirekter Förderung. Direkte Förderung wird unmittelbar auf die Probleme im Lesen, Schreiben, Rechnen bezogen. Indirekte Förderung bezieht sich auch auf die Ursachen und Bedingungsfaktoren von Lern- und Entwicklungsproblemen im Bereich von Denken, Wahrnehmung und Bewegung, Kommunikation und Sprache sowie emotionalen und sozialen Kompetenzen. Dazu zählen ebenfalls Maßnahmen der Förderung im Umfeld des Kindes. In der bundesdeutschen Sonderpädagogik sollte sich vor diesem Hintergrund der Grundsatz der direkten Förderung noch mehr etablieren, nach dem Kinder und Jugendliche, die Probleme im Lesen, Schreiben und Rechnen haben, auch in diesen Bereichen gefördert werden sollen. In der Vergangenheit dominierten hier häufig indirekte Förderansätze (z.B. psychomotorische Förderung bei Rechtschreibproblemen).

Der Ausgangspunkt sonderpädagogischer Förderung ist damit die Entstehung eines Problems im Lernen oder in der Entwicklung. Sonderpädagogik wird hier also konstituiert aus problematischen Lern- und Entwicklungssituationen, da ohne diese Problemlagen kein sinnvoller Anknüpfungspunkt für die Arbeit der Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen gegeben ist. Der Begriff des Problems bzw. der Schwierigkeit kann auch unter dem Aspekt einer sonderpädagogischen Anthropologie als kompetenzorientiert angesehen werden, da zur Lösung eines Problems von Kindern und Jugendlichen stets die eigenen Kompetenzen aktiviert werden. Letztlich ist alles menschliche Leben Problemlösen, wie Karl Popper das einmal ausgedrückt hat (vgl. Popper 2010, S. 257). Ein sonderpädagogischer Förderbedarf entsteht an der Anforderungsschwelle zwischen vorhandenen Fähigkeiten und noch nicht erworbenen und ist dadurch gekennzeichnet, dass die Lern- und Entwicklungsprobleme nicht mehr selbstständig bewältigt werden können. In ähnlicher Weise wird seit geraumer Zeit für einen veränderten Umgang mit Fehlern von Schülerinnen und Schülern plädiert. In der Regel sagen Fehler von Schülerinnen und Schülern etwas über ihre Lösungsversuche und damit über ihre Kompetenzen („gute Fehler“). Sollte das einmal nicht der Fall und nicht auf Anhieb deutlich sein, welche Ursachen ein Fehler hat („schlechte Fehler“), so ist damit zumindest ein Hinweis auf eine vertiefende Förderdiagnostik gegeben. Auch wenn das „Lob des Fehlers“ (vgl. Kahl 1999) möglicherweise einen Schritt zu weit geht, so sollten Schüler/-innen doch Fehler und Probleme nicht als persönliches Versagen ansehen können, sondern allenfalls als Ausgangspunkt für weitere Bemühungen und Anlass für entsprechende Hilfestellungen.

Fazit Nr. 2: Moderne Sonderpädagogik ist aufgrund der Impulse, die aus der KMK-Empfehlung von 1994 hervorgegangen sind, gegenwärtig durch eine gezielte Diagnostik, Intervention und Evaluation bezogen auf die individuelle Förderung einzelner Schülerinnen und Schüler gekennzeichnet. Sie betont dabei die Kompetenzen und Ressourcen von Kindern und Jugendlichen und bezieht diese in die Förderung mit ein. Im Mittelpunkt der sonderpädagogischen Förderpraxis stehen von daher der Dialog, die Kooperation mit allen Beteiligten und die interdisziplinäre Teamarbeit. Die Monopolstellung der Förderschulen ist dabei, zugunsten einer Pluralität von stationären und ambulanten Organisationsformen zu weichen, wobei die Inklusion in die allgemeine Schule – basierend auf dem Prinzip der Subsidiarität – Vorrang hat. Moderne Sonderpädagogik zeichnet sich im ökologischen Sinne durch eine konsequente Kind-Umfeld-Orientierung aus. Sie ist letztlich auf das Leitbild der gesellschaftlichen Integration/Inklusion ausgerichtet.

Die Sonderpädagogik bringt also gerade durch den Innovationsprozess der KMK-Empfehlungen gute Voraussetzungen mit, um die Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems wirksam zu unterstützen. Dabei ist davon auszugehen, dass zukünftig nicht weniger Bedarf an sonderpädagogischer Förderung und sonderpädagogischer Fachkompetenz entstehen. Vielmehr wird sich der Bedarf an sonderpädagogisch qualifizierten Fachkräften in einem inklusiven Bildungssystem vervielfachen (vgl. Verband Sonderpädagogik 2010). Es gibt also gute Gründe, warum Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen den Prozess der Inklusionsentwicklung im gesamten Bildungssystem wirksam unterstützen sollten.

3          Perspektiven zur Umsetzung der VN-Konvention – nächste Schritte

Unter dem Leitbild einer inklusiven Bildung muss sich sonderpädagogische Förderung allerdings weiterentwickeln. Sonderpädagogische Lehrkräfte sollten zum festen Bestandteil des Kollegiums aller allgemeinen Schulen werden. Für die Entwicklung inklusiver Schulen reicht es nicht mehr aus, dass Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen im Rahmen mobiler bzw. ambulanter Förderangebote stundenweise in allgemeinen Schulen präsent sind und Beratung bzw. Diagnostik anbieten. Sollen sie in den gemeinsamen Unterricht im Rahmen von Team-Teaching-Prozessen einbezogen sein, so ist es dazu unabdingbar, dass sie mit ihrer gesamten Stundenzahl an die allgemeinen Schulen gehen. Zugleich sind die Verfahren zur Diagnose, Intervention und Evaluation im Rahmen sonderpädagogischer Förderung weiterzuentwickeln. Das gilt insbesondere für die Evaluation, da Sonderpädagogik als fester Bestandteil der allgemeinen Schule (vgl. Ellinger/Wittrock 2005) zukünftig wesentlich mehr im Rampenlicht stehen wird und sich somit auch häufiger der Überprüfung der von ihr postulierten Fördereffekte ausgesetzt sehen wird.

Zur Qualifizierung des pädagogischen Personals für dieses neue Aufgabenfeld kommen wir nicht umhin, inklusive Aus- und Weiterbildungsprogramme zu gestalten. Kurzfristige Effekte einer Qualifizierung für inklusive Bildung werden dabei sicher nur über entsprechende Weiterbildungsangebote im Rahmen der Lehrerfortbildung erzielt werden können. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die Lehrkräfte sich rechtzeitig auf ihre Tätigkeit in inklusiven Schulen vorbereiten können. Langfristig steht zweifellos erneut eine Reform der Lehrerbildung ins Haus – und zwar sowohl der sonderpädagogischen als auch der Lehrerbildung für alle anderen Lehrämter. Mit der Selbstverpflichtung Deutschlands auf ein inklusives Bildungssystem erhöht sich rapide die Wahrscheinlichkeit in allen Schulformen, dass dort tätige Lehrkräfte auch mit Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf zusammenkommen. Lehrkräfte aller Schulformen sind im Rahmen ihrer Lehramtsstudiengänge mit sonderpädagogischen Grundkenntnissen auszustatten, die sie befähigen, aktiv am inklusiven Unterricht in Kooperation mit sonderpädagogischen Lehrkräften teilzunehmen. Und es muss immer wieder betont werden: Das gilt auch für Gymnasien, weil die Zahl der Schüler/-innen mit Lern-, Verhaltens- und Sprachproblemen dort ebenfalls nicht abnehmen wird. Auf dem Reformprogramm steht aber letztlich die Entwicklung eines neuen Rahmenkonzepts für eine inklusive Lehrerbildung.

Aufgrund der VN-BRK werden alle Bundesländer Deutschlands aber ebenfalls nachzuweisen haben, welche direkten Schritte sie hin zu einem inklusiven Bildungssystem unternehmen (vgl. Poscher/Langer/Rux 2008). Deshalb ist es erforderlich, dass in allen Regionen und auf allen Ebenen des deutschen Bildungssystems inklusive Modellprojekte eingerichtet werden. Bestens geeignet sind dazu solche Schulen, die bereits über langjährige Erfahrungen in der Integration verfügen und zusätzlich immer wieder als „gute Schulen“ ausgezeichnet worden sind (z.B. Jakob-Muth-Preis für inklusive Schulen). Gerade bei der anstehenden Berichterstattung über die Fortschritte der Bundesländer bei der Entwicklung inklusiver Bildungssysteme dürften sich diese Modellprojekte als besonders hilfreich erweisen.

Schließlich sind aus der Sicht vieler Eltern mit der VN-BRK die Hoffnungen entstanden, dass sich die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in allgemeinen Schulen in Deutschland in absehbarer Zeit deutlich ausweiten lässt. Zu denken ist dabei insbesondere an die Kinder und Jugendlichen mit gravierenden Lernproblemen, nach wie vor die größte Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die in allen europäischen Nachbarländern in der allgemeinen Schule untergebracht sind. Von Elternseite ist in Bezug auf das inklusive Bildungssystem deshalb auch die Forderung entstanden, dass sie ein Wahlrecht bezogen auf den Förderort erhalten.

In einem Übergangsbereich hin zur Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems auf allen Ebenen, wie die VN-BRK es fordert, wird sonderpädagogische Förderung in naher Zukunft einen Regionalisierungsschub erfahren. Nicht mehr der stationäre Förderauftrag für die Arbeit an einer Förderschule wird zukünftig im Vordergrund stehen, sondern vielmehr der regionale Förderauftrag der Förderzentren in ihrem jeweiligen Einzugsbereich. In ländlichen Regionen kann das bereits jetzt beobachtet werden, eine Entwicklung, die aus der Not der flächendeckenden Versorgung mit sonderpädagogischer Förderung auch in dünn besiedelten Gebieten hervorgegangen ist.

Fazit Nr. 3: Es ist schon jetzt absehbar, dass unter dem Leitbild der inklusiven Bildung sonderpädagogische Förderung noch stärker als bisher in die allgemeine Schule hineinwachsen wird. Der Förderort „allgemeine Schule“ erhält unter inklusivem Aspekt absolute Priorität. Die Dynamik der weiteren Entwicklung wird zweifellos davon abhängen, inwieweit die Eltern über ein Wahlrecht bezogen auf den Förderort mit in den Prozess einbezogen werden. Auch gilt es, die pädagogischen und sonderpädagogischen Lehrkräfte rechtzeitig und umfassend auf die neue inklusive Aufgabe vorzubereiten. Damit ist langfristig sicher auch eine Veränderung der Lehrerbildung angesprochen. Kurzfristig und im Sinne nächster Schritte steht allerdings die Fortbildung sowie die praxisnahe Beratung und Begleitung im Vordergrund. Entscheidend für die Entwicklung inklusiver Schulen wird der „Support“ der Lehrkräfte sein.

Ausblick: Dialog zur inklusiven Bildung zwischen Schulpädagogik und Sonderpädagogik?

Die Gretchenfrage der Inklusionsdebatte für die Sonderpädagogik lautet gegenwärtig: Gibt es eine Sonderpädagogik einschließlich sonderpädagogischer Fachkompetenz und sonderpädagogischer Professionalität ohne eigenständige sonderpädagogische Institutionen? Die Antwort auf diese Frage fällt etwa in den skandinavischen Ländern eindeutig aus. In Finnland und Schweden gibt es landesweit nur noch wenige Förderschulen. Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf befinden sich überwiegend in der allgemeinen Schule. Gleichwohl existiert die Sonderpädagogik als erziehungswissenschaftliche Teildisziplin und ebenso die sonderpädagogischen Studienangebote zur Qualifizierung des sonderpädagogischen Fachpersonals. Zweifellos sind hier andere pädagogische Traditionen in den allgemeinen Schulen zugrunde zu legen. Aber zu einer Infragestellung der Sonderpädagogik ist es in diesen Ländern, die bereits weit in der Entwicklung inklusiver Schulen vorangeschritten sind, nicht gekommen. Insofern sollte die Inklusionsdebatte auch in Deutschland Anlass für eine selbstbewusste Weiterentwicklung der Sonderpädagogik in der allgemeinen Schule sein.