Zwei Dinge bedeuten mir Leben:
die Freiheit und die Frau, die ich liebe.
Voltaire
1694–1778
»Mom, ich muss mich beeilen, sonst verpasse ich meinen Flug.« Genervt blickte ich auf meine Armbanduhr und sah, wie sich der Sekundenzeiger unnatürlich schnell zu bewegen schien, während in mir das Gefühl aufkam, dass meine Mutter und mein Vater zu Salzsäuren erstarrt waren. Zumindest wäre das eine passende Erklärung, wieso sie wie festgewachsen herumstanden, obwohl sie genau wussten, wie eilig ich es hatte.
»Emmi-Maus. Dräng uns doch nicht so. Wir sind auch nicht mehr die Jüngsten«, konterte mein Vater, während er nun mit dem großen überladenen Gepäckwagen durch die Hallen des Sea-Tac-Flughafens schlich. Ich war mir sicher, wenn ich jeden Koffer und jede Tasche einzeln zum Check-in bringen würde, wäre ich immer noch schneller gewesen als mein Vater mit diesem sperrigen und schlecht zu kontrollierenden Metallwagen.
»Emmi-Schatz, ich habe dir deinen kleinen Reisefernseher eingepackt, damit du dich nicht langweilst.« Meine Mutter klang ehrlich stolz auf ihre Worte und ich musste mir ein genervtes Stöhnen und Augenverdrehen verkneifen.
Ich wusste ja, dass sie es nur gut meinte, aber dachte sie wirklich, dass mir langweilig werden würde? Ein ganzes Semester in Venedig? Allein unter tausend anderen Studenten? In der wohl aufregendsten Stadt Italiens? Nun konnte ich mir ein verstörtes Augenrollen doch nicht mehr verkneifen.
»Ach Mom, das war nicht nötig«, sagte ich bestimmt.
»Ich weiß doch, wie gerne du deine Comicserien guckst«, erwiderte meine Mutter lächelnd, legte mir den Arm um die Hüfte und zog mich an sich, während mein Vater weiter mit dem Gepäckwagen kämpfte.
»Animes, Mom. Keine Comics«, seufzte ich entnervt und fragte mich selbst, wieso ich die Versuche, meiner Mutter den Unterschied zwischen Comics und Mangas zu erklären, nicht endlich aufgab. Meine Bemühungen bei diesem Thema waren ungefähr genauso Erfolg versprechend wie der Versuch, ihr Videostreams, das Internet mit seinen Möglichkeiten im Allgemeinen oder die Relativitätstheorie zu erklären.
»Papperlapapp. Ist doch alles das Gleiche.« Meine Mutter schüttelte den Kopf und die dunkelrot gefärbte Dauerwelle wackelte dabei herum.
»Mom, das ist nicht das Gleiche«, erwiderte ich, bereute es aber sofort. Diesen Kampf konnte ich nicht gewinnen.
»Aber natürlich! Es sind Comicfiguren mit zu großen Augen, die, wenn sie mal weinen, auf der Stelle das ganze Haus fluten.« Meine Mutter setzte ihre strenge Miene auf und ich wand mich mit einem verächtlichen Schnauben ab. Wieso hatte ich noch mal zugestimmt, dass sie mich zum Flughafen bringen durften?
»Ach Emmilein, wir werden dich so vermissen!« Meine Mutter –Magda – legte nun auch den anderen Arm um mich und zog mich in eine feste, liebevolle Umarmung, bis ich keine Luft mehr bekam. »Versprich mir, jeden Tag anzurufen. Und zieh dich warm an! Wegen des Wassers und des Winds ist es dort nicht so warm wie hier in Seattle.«
»Mom, wir haben Mitte März. Venedig ist nicht Alaska. Ich komm schon klar«, versuchte ich meine überbesorgte Mutter zu beschwichtigen, aber sie blickte mich nur mit tränenfeuchten Augen an und ich wusste, dass sie noch nicht überzeugt war. Also legte ich noch eins drauf. »Ich habe die letzten zwanzig Jahre auch irgendwie überlebt. Traust du mir nicht zu, drei weitere Monate durchzuhalten?« Die Frage sollte witzig gemeint sein und die drückende melancholische Stimmung auflockern, aber die dicken Tränen, die meiner Mutter bereits in den Augen standen, waren nun nicht mehr aufzuhalten.
Magda hielt mich auf Armeslänge von sich entfernt und musterte mich eingehend, als würde sie sich mein Äußeres genau einprägen wollen. Dabei hatte sie diesen ganz speziellen Blick drauf, der allen Müttern vorbehalten war, und der jedem – egal in welchem Alter man war – sofort das Gefühl gab, schrecklich undankbar und herzlos zu sein, wenn man es wagte, seinen Eltern zu widersprechen.
»Aber du warst noch nie auf dich allein gestellt, Spätzchen. Dein Vater und ich waren immer in der Nähe – und jetzt …« Meine Mutter zog ein altmodisches Stofftaschentuch aus ihrer Hosentasche, das auch schon bessere Tage gesehen hatte, und putzte sich damit geräuschvoll die Nase. »… jetzt fliegst du nach Europa. Ganz allein. Für drei lange Monate! Du hast doch bisher Washington noch nie verlassen …«
Jetzt fing diese Leier schon wieder an, dachte ich genervt und linste über Moms Schulter auf der Suche nach meinem Dad. Vielleicht hatte ich Glück und er würde mich aus diesem Gespräch befreien.
Mein Blick huschte durch das menschenüberfüllte Gate und ich brauchte einen Moment, bis ich den Kofferberg auf Rädern und wenige Schritte abseits davon meinen Vater fand, der sich gerade angeregt mit einem Flughafenmitarbeiter in einer gelben Warnweste unterhielt. Das war meine Chance! So herzlos ich mich deswegen sicherlich auch später fühlen würde, durfte ich auf keinen Fall mein Flugzeug verpassen.
»Mom! Guck mal, was Dad da wieder macht. Du solltest besser hingehen und ihm helfen, bevor man ihn noch für einen Terroristen hält und verhaftet.« Auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass man meinen Vater mit El Kaida in Verbindung brachte, so hoch war wie ein Sechser im Lotto plus Zusatzzahl – und das zwei Mal hintereinander, schien ich doch die Zauberworte gesprochen zu haben, denn meine Mutter hob erschrocken ihr pausbackiges Gesicht und sah ängstlich zu ihrem Mann.
»Oh, Alfred!« Sie wollte sich bereits von mir abwenden und meinem Vater in seiner vermeintlichen Not zur Seite stehen, als ich nach ihren Händen griff und sie noch einmal schnell, aber innig umarmte.
»Ich liebe euch und ich werde euch vermissen.« Ich hauchte meiner Mutter einen Kuss auf die Wange, schenkte ihr ein herzliches Lächeln und schnappte mir meinen Trolley, der neben mir stand. Ich hatte meiner Mutter immer wieder gesagt, dass ich nicht mehr als diesen Koffer benötigen würde, aber sie wollte nicht auf mich hören. Jetzt würde ich doch allein mit diesem Gepäckstück nach Italien reisen!
»Wir lieben dich auch, Spätzchen. Pass auf dich auf!« Meine Mom winkte mir abgelenkt und lief bereits die wenigen Meter zurück zu meinem Vater.
Ich gönnte mir noch einen letzten Blick auf meine liebevollen, manchmal etwas peinlichen, aber wundervollen Eltern. Ja, ich würde sie sehr vermissen, doch wenn ich jetzt nicht endlich zum Check-in kam, würde ich meinen Flug verpassen. Und das könnte ich mir selbst nie verzeihen.
Auf meinem Weg zum Schalter A23 keimte das schlechte Gewissen auf, meine Eltern einfach so mit dem ganzen Gepäck, das sie mir andrehen wollten, allein gelassen zu haben. Aber ich brauchte wirklich nicht mehr als einen Bikini, ein paar Sommerklamotten und meine Flipflops. Dazu meinen E-Book-Reader und den Laptop. Und diese Sachen passten alle problemlos in den kleinen Koffer, den ich jetzt hinter mir herzog, als ich durch die überfüllten Gänge lief. Wenn ich später irgendwann mit meinen Eltern telefonierte, würde ich mich für mein überstürztes Verschwinden entschuldigen.
Ich folgte den Wegweisern, bis ich den Check-in-Schalter A23 fand. Dort hatten sich schon einige Leute versammelt und ich reihte mich mit aufgeregtem Herzklopfen hinter ihnen ein.
In weniger als einer Stunde würde ich meine Eltern, Seattle, ja dem ganzen amerikanischen Kontinent für die nächsten drei Monate entfliehen und völlig neue Menschen mit einer mir bisher unbekannten Kultur kennenlernen. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, keine Angst zu haben.
Die Warteschlange bewegte sich nur langsam vorwärts und es dauerte eine gute halbe Stunde, bis ich mein einziges Gepäckstück auf das Gepäckband stellen durfte und meine Check-in-Papiere erhielt.
»Sitz 14E. Fensterplatz«, näselte der adrett gekleidete Mann in Uniform und ich lächelte dankbar. Zum Glück durfte ich bei meinem allerersten Flug am Fenster sitzen und die Aussicht genießen!
Der hilfsbereite Flughafenmitarbeiter erklärte mir kurz, wo ich mein Gate fand und entließ mich dann mit einem perfekt trainierten Lächeln, das ich knapp erwiderte.
Ohne Koffer, dafür mit wachsender Nervosität und Aufregung im Gepäck machte ich mich auf den Weg zu dem genannten Gate, von wo aus ich meinem Auslandsabenteuer ein ganzes Stück näher kommen sollte.
***
Vierzehn Stunden später, inklusive eines Zwischenstopps in Amsterdam, stieg ich aus dem Flugzeug und atmete zum ersten Mal die salzige venezianische Luft ein – die leider gerade zum großen Teil von Kerosingestank überdeckt wurde.
Obwohl ich müde und hungrig war, katastrophale Kopfschmerzen hatte, weil ein kleines Kind auf dem Sitz hinter mir nonstop geweint, geschrien oder gegen meinen Sitz getreten hatte, fühlte ich mich in diesem Moment so frei und glücklich wie nie zuvor in meinem bisherigen Leben.
Ich hatte es wirklich gemacht! Ich war allein nach Europa geflogen. Weil ich es so wollte!
Auf der anderen Seite traf mich die Erkenntnis gerade wie ein Hammerschlag. Denn Angst und Unsicherheit mischten sich umgehend mit euphorischen Glücksgefühlen. Was hatte ich mir eigentlich dabei gedacht? Ich war noch nie so weit von zu Hause weg gewesen. Und dann auch noch völlig allein. Außerdem war mein Italienisch gar nicht so gut, wie ich es mir einbildete.
Die Menschenschlange vor mir setzte sich in Bewegung, um die Gangway hinabzusteigen. Alle wollten vor dem leichten Nieselregen im Flughafengebäude Unterschlupf finden und schoben mich in einem gemächlichen, aber unaufhaltsamen Tempo voran.
Wir hatten den zwölften März und laut Wetterbericht sollten es zehn Grad und Sonnenschein sein. Aber anscheinend hatte das Wetter in Venedig einen ebenso eigensinnigen Humor wie in Seattle und richtete sich nicht nach Prognosen. Zum Glück war meine Jacke einigermaßen wasserabweisend und dank der Kapuze, die ich mir schnell über meine langen blonden Haare stülpte, kam ich halbwegs trocken im Flughafengebäude an.
Kaum hatte ich einen Fuß hineingesetzt, blieb ich mitten im Weg stehen, um mir einen ersten Eindruck von meiner neuen Umgebung zu verschaffen – und wurde prompt von einer Gruppe laut diskutierender Italiener angerempelt. Sie beachteten mich nicht weiter, obwohl ich sie mit einem bösen Blick bedachte.
Schnell ging ich den anderen voranströmenden Reisenden aus dem Weg und suchte mir eine ruhige Ecke, um meinen kräftig pochenden Puls zu besänftigen.
Wieso stellte ich mich eigentlich so an? Immerhin wollte ich es doch so. Ich hätte ja auch das nächste Sommersemester an der Seattle University verbringen können. Gemeinsam mit meinen Kommilitonen, die ich alle nur flüchtig kannte. Ich wäre zwar allein gewesen, weil meine Freundinnen ebenfalls ein Auslandssemester einlegten, aber zumindest wäre ich in meiner vertrauten Umgebung geblieben.
War es ein Fehler gewesen hierherzukommen? Nein! Nach der Trennung von Marc wollte ich einen Tapetenwechsel – und ein Abenteuer. Und beides würde ich diesen Sommer bekommen!
Die kleine stumme Standpauke half mir tatsächlich meinen Herzschlag zu beruhigen. Auch wenn ich die letzten zwanzig Jahre nichts anderes von der Welt außer dem Bundesstaat Washington gesehen hatte, wollte ich nicht, dass es so blieb. Und eigentlich freute ich mich unglaublich auf dieses Semester.
Ich verbuchte die kleine Panikattacke also unter erledigt und schaute mich aufmerksam in meiner neuen Umgebung um. Auch wenn ich mich intensiv mit Italien und Venedig im Speziellen beschäftigt hatte, war ich dennoch überrascht, was ich erblickte.
Der Flughafen Marco Polo ähnelte einer Turnhalle. Er sah aus wie ein großer Betonklotz, der überraschend spärlich ausgestattet und in keinster Weise mit dem Sea-Tac zu vergleichen war. Im Eingangsbereich, in dem sich bereits die anreisenden Gäste stauten, befanden sich ein paar Zollkabinen, vor denen sich Warteschlangen gebildet hatten. Ich stellte mich an einer an.
Es dauerte beinah zwanzig Minuten, bis ich den Zoll passiert hatte – um anschließend planlos und unsicher in der Gegend herumzustehen. Ich schaute mich nach einem Hinweis oder Wegweiser um, als ich ein älteres Ehepaar entdeckte, das mir aus dem Flugzeug bekannt vorkam. Instinktiv folgte ich ihnen und landete Gott sei Dank bei der Gepäckausgabe.
Bis sich das schwarze Rollband in Bewegung setzte und ich unter der Vielzahl von bunten Koffern, Taschen und anderen sperrigen Gepäckstücken meinen Trolley fand, vergingen noch einmal wertvolle Minuten und die Sorge, mein bereits gebuchtes Wassertaxi zu verpassen, schwebte wie eine dunkle Gewitterwolke bedrohlich über mir.
Ich hätte auch einen öffentlichen Wasserbus – ein Vaporetto – nehmen können, aber ich war müde und ausgelaugt und wollte nur noch schnell in mein neues Zuhause. Außerdem war das Taxiticket teuer genug gewesen und ich mochte es nicht einfach verfallen lassen.
Endlich kam mein Trolley in Griffnähe und ich hievte ihn ächzend vom Gepäckband. Mit dem Koffer neben mir fühlte ich mich schon etwas wohler. Egal was jetzt noch passieren sollte, ich hatte zumindest mein Gepäck.
Als ich wieder das ältere Ehepaar entdeckte, das sich ebenfalls mit seinen Habseligkeiten auf den Weg zum Ausgang machte, schloss ich mich den beiden kurzerhand an. Gemeinsam verließen wir den Flughafen und folgten dem ausgewiesenen Weg zu den Taxistegen.
Die Anlegerbrücken waren nummeriert, und als meine Reisegefährten zu einem der vorderen Boote abbogen, versuchte ich ein höfliches Lächeln, um mich zu verabschieden. Mein Taxi stellte sich als das vorletzte in der Reihe heraus.
Sobald ich die schmale Holzbrücke überquert hatte, wurde ich von einem netten Italiener begrüßt, der mich bereits erwartete.
»Ciao, Signorina. Wie war Ihr Flug?«, fragte der Fahrer, als er meinen Koffer in das Boot hievte und mir anschließend beim Einsteigen half. Sein Englisch war nicht perfekt und ich musste mich stark konzentrieren, um ihn zu verstehen, aber ich war froh und dankbar, nicht gleich mit meinem noch ausbaufähigen Italienisch glänzen zu müssen.
»Sehr lang«, gab ich lachend zu, als ich mich auf die vorderste der Holzbänke, die in mehreren Reihen auf dem Boot angebracht waren, setzte. Seine fröhliche und offene Art übertrug sich auf mich und ich spürte, wie sich meine Anspannung langsam legte.
»Waren Sie schon mal in Venedig?«, fragte er neugierig, während weitere Passagiere ins Boot stiegen und er ihnen – ebenso wie mir zuvor – mit dem Gepäck half.
»Nein. Ich bin zum ersten Mal in Europa.« Auch wenn es mir, dank meiner intensiven Recherche vor der Reise so vorkam, als wäre ich schon mehrfach hier gewesen.
»Ah!« Der Fahrer strahlte mich breit grinsend an und entblößte dabei zwei Goldzähne, die ihn jedoch nur noch sympathischer wirken ließen. »Venedig ist eine magische Stadt. Schöne Frauen verlieren hier reihenweise ihre Herzen.« Auch wenn ich seine Augen wegen der dunklen Sonnenbrille nicht erkennen konnte, spürte ich deutlich, dass er mich intensiv musterte. »Früher hat Casanova hier gelebt. Er brachte den Männern bei, wie man Frauen behandeln muss.« Der Fahrer drehte sein Gesicht zur Seite und sah auf das offene Meer, das sich in all seiner Pracht vor uns erstreckte. Im Profil betrachtet sah es aus, als würden auch seine Augen lächeln. Zumindest ließen das die Lachfältchen um Augen und Mundwinkel erahnen. »Ich hoffe, Signorina, Sie werden Venedig genauso lieben, wie ich es bereits seit über fünfzig Jahren tue.«
Vielleicht bildete ich mir das ein, aber mir war so, als hörte ich einen Hauch Melancholie in seiner Stimme.
Der letzte Passagier betrat das Boot und nahm seinen Platz ein, als mich der Taxifahrer wieder ansah und ich seinen durchdringenden Blick spürte.
Mit einem Gefühl von Verlegenheit zwang ich mich zu einem Lächeln, wand dann aber schnell mein Gesicht dem Meer zu und atmete mit geschlossenen Augen den salzigen, frischen Duft der Adria ein. Inzwischen machte mir auch der feine Nieselregen nichts mehr aus, der sich auf mein Gesicht legte.
»Festhalten!«, rief der Fahrer vergnügt über seine Schulter, als er das kleine Motorboot mit Platz für gerade mal zehn Personen startete und losfuhr, um das Festland hinter sich zu lassen.
***
Das Wassertaxi hatte nach fünfundvierzig Minuten den Anlegesteg der Insel Lido erreicht, und als mich eine tiefe, vergnügte Stimme ansprach, schreckte ich aus meinem Dämmerschlaf hoch. Das Schaukeln des Bootes und die frische Meeresluft hatten mich in den Schlaf gelullt.
»Wir sind da, Bellezza, meine Schöne.« Der sympathische Italiener stand vor mir und schenkte mir wieder ein so herzliches Lächeln, dass ich nicht anders konnte, als es unwillkürlich zu erwidern.
Die anderen Passagiere drängten sich bereits an mir vorbei und stiegen plappernd vom Boot, was den Fahrer dazu veranlasste, ihnen zu folgen und mit dem Gepäck zu helfen. Immerhin konnte ich so den Moment nutzen und mir – verschlafen, wie ich war – über mein Gesicht reiben. Da war ich noch keine zwei Stunden in Italien und hatte bereits einen interessanten Teil davon verpasst!
Ich ärgerte mich über mich selbst, erhob mich von meinem Platz und ging ebenfalls zum Bootsausstieg, als mir der Fahrer bereits seine Hand reichte. Dankbar ergriff ich sie, lächelte ihn an und ließ mir aus dem schwankenden Boot helfen.
»Der Lido ist eine schöne Insel. Ich wünsche einen zauberhaften Aufenthalt, Bellezza.« Er stellte meinen Koffer neben mir ab, sprang zurück aufs Deck, winkte mir noch einmal kurz zu und fuhr davon.
Obwohl sich der Mann nicht mehr zu mir umdrehte, sah ich ihm gedankenversunken nach und wartete, bis er aus meinem Blickfeld verschwand. Dann ließ ich den langen feinen Sandstrand, für den der Lido bekannt ist, mit einem zufriedenen Gefühl im Bauch auf mich wirken.
Anfangs hatte ich mich geärgert, dass ich kein Zimmer direkt in Venedig bekommen hatte, aber dafür war meine Reiseplanung zu kurzfristig gewesen – und die Zimmer im Stadtkern waren für meine Verhältnisse unbezahlbar. So musste ich zwar jeden Morgen mit dem Vaporetto fahren, aber dafür hatte ich den Strand vor der Haustür. Jetzt konnte ich nur noch hoffen, dass das Wetter in den nächsten Tagen besser werden würde, damit ich ihn auch mal nutzen konnte.
Ich schnappte mir meinen Koffer und kramte aus meiner Umhängetasche meinen Notizblock hervor, wo ich die Adresse meines Apartments notiert hatte. Meine Vermieterin hatte mir in unserer E-Mail-Korrespondenz eine Wegbeschreibung mitgeschickt, die ich, so gut ich konnte, übersetzt hatte. Nun würde ich erfahren, wie es um meine Italienisch-Kenntnisse wirklich bestellt war.
Das hohe, etwas in die Jahre gekommene Haus von der mitgeschickten Abbildung in den E-Mails zu finden war einfacher gewesen, als ich anfangs befürchtet hatte. Der Lido war eine überschaubare Insel, und wenn man der Straße parallel zum Strand folgte, konnte man sich eigentlich gar nicht verlaufen. Ich hoffte nur, dass der Stadtkern von Venedig ebenso einfach zu durchschauen war.
Mit pochendem Herzen drückte ich auf die Klingel, die sogleich einen schrillen Ton abgab und mich zusammenzucken ließ.
Die Tür wurde aufgerissen und eine ältere gedrungene Frau weit über die sechzig erschien. Sie trug einen roten Jogginganzug aus Frottee, der mindestens eine Nummer zu groß war und an ihrem Körper schlaff herabhing. Sie hatte ihre grauen Haare zu einem Zopf geflochten und ihr Blick wirkte streng. Sofort rutschte mir das Herz in die Hose. Vielleicht war ich doch an der falschen Adresse? Diese Frau hier hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der netten Italienerin, mit der ich bisher kommunizieren durfte.
»Scusi, Signora. Ich bin Emily Bishop und suche Signora Catalano.« Ich zwang mich zu einem Lächeln, das hoffentlich höflich und nicht so verängstigt wirkte, wie ich mich fühlte. Aber diese Frau weckte in mir Assoziationen, die ein Nudelholz und dessen Gebrauch beinhalteten – der jedoch nichts mit Kochen zu tun hatte …
»Emily?«, fragte sie argwöhnisch, und als ich mit einem zögerlichen Nicken antwortete, zuckten ihre Mundwinkel und der verärgerte Gesichtsausdruck wich einem mütterlichen Lächeln. So wie sie meinen Namen aussprach, bekam ich das Gefühl, dass sie sich ernsthaft freute, mich zu sehen. »Komm rein, Bambina.« Ihr Italienisch war schnell und undeutlich. Mit großer Mühe schaffte ich es, sie zu verstehen.
Die Vermieterin winkte mich zu sich ins Haus und ging ein Stück zur Seite, damit ich eintreten konnte. Dann schloss sie hinter mir die Tür.
»Signora Catalano. Ich freue mich sehr, Sie endlich persönlich zu treffen.«
In dem dämmrigen, etwas schäbig aussehenden Hausflur, der nur von einer schwach beleuchteten Deckenlampe erhellt wurde, drückte die kleine Frau mich an ihre Brust, als wäre ich eine verloren geglaubte Tochter. »Emily, Bambina. Was bist du für ein hübsches Mädchen!«
Ich hatte zwar bereits gehört, dass die Italiener sehr herzlich und weltoffen seien, aber das hier überstieg meine kühnsten Fantasien und war mir auch ein wenig unangenehm.
»Danke, Signora.« Unsicher, was ich sagen oder tun sollte, blickte ich die abgewetzte Holztreppe hinauf, die rechts von mir abging. »Ähm, ist da oben das Zimmer?« Ich wollte nicht unhöflich sein, aber die Anstrengung des Flugs und der nagende Jetlag forderten ihren Tribut und ich sehnte mich nur noch nach einer heißen Dusche und meinem Bett.
»Sì! Sì!« Stolz grinste mich Signora Catalano so breit an, dass ich Angst hatte, ihre Mundwinkel könnten einreißen. Dann drehte sie sich um und rief: »Alfredo! Komm her! Begrüß unseren Gast! Und bring den Koffer nach oben!«
»Signora Catalano, das ist nicht nötig. Der Trolley ist nicht schwer. Ich kann ihn selbst hochtragen. Wirklich.«
Aber die kleine Italienerin schüttelte vehement den Kopf. »No! No! Alfredo wird dir helfen, Bambina.«
Ehe ich sie vom Gegenteil überzeugen konnte, kam besagter Alfredo bereits aus der Wohnung, deren Eingang unter der Treppe versteckt war.
Signor Catalano war dem Aussehen nach mindestens achtzig Jahre alt, und so langsam und vorsichtig, wie er auf uns zu schlich, erinnerte er mich ein wenig an einen in die Jahre gekommenen Zombie. Ich hatte ernsthafte Bedenken, wie er die Treppe hochkommen sollte – und das auch ohne den zusätzlichen Ballast meines Gepäcks.
Er war zwar einen Kopf größer als seine Frau, aber immer noch mindestens einen halben kleiner als ich. Und meine Körpergröße war schon eher unterer Durchschnitt. Dazu war er sehr schmächtig und seine helle Haut war von unzähligen Altersflecken übersät. Seine viel zu weite graue Jogginghose und das alte, leicht angegraute Baumwollunterhemd schlackerten an seinem dürren Körper.
»Signora, das ist wirklich sehr nett von Ihnen, aber in Amerika tragen wir unser Gepäck immer selbst.« Okay, das war gelogen, aber ich konnte unter keinen Umständen den armen Mann meinen Koffer hochschleppen lassen.
Doch die kleine gastfreundliche Frau schüttelte erneut den Kopf und bestand darauf.
Ergeben, aber mit einem befangenen Gefühl, folgte ich Signor und Signora Catalano die knarzende Treppe hinauf in den ersten Stock.
»Das ist dein Zimmer, Bambina«, erklärte die Vermieterin in tempogeladenem Italienisch und schloss eine schlichte Holztür mit einem ziemlich altmodisch anmutenden Schlüssel auf, den sie mir anschließend überreichte, als wäre es der Heilige Gral. Mit einem innerlichen Schmunzeln quittierte ich ihre Geste.
»Deine Vorgängerin ist gestern ausgezogen und ich habe etwas geputzt. Handtücher und frische Bettwäsche liegen im Schrank.« Die kleine Frau betrat das Einzimmerapartment und ich folgte ihr.
Signor Catalano verabschiedete sich schnaufend an der Tür, und während ich versuchte seiner Frau zuzuhören, spitzte ich gleichzeitig die Ohren, um mitzubekommen, ob der Herr des Hauses den Abstieg unfallfrei schaffen würde.
»Hier ist das Badezimmer. Und hier die Küchennische. Da gibt es einen kleinen Kühlschrank und eine Kaffeemaschine. Der Herd hat zwei Platten. Töpfe und Gläser sind im Schrank.«
Während meine Vermieterin durch mein neues achtundzwanzig Quadratmeter großes Zuhause ging, versuchte ich weiter ihren Worten zu folgen, nickte immer wieder dazu und gähnte vor mich hin.
»Wenn du was brauchst, Bambina, kannst du einfach nach unten kommen. Für das andere Mädchen haben wir auch immer mitgekocht.« Signora Catalano strahlte mich wieder so herzlich an und drückte mich abermals mütterlich an ihre Brust, dass ich jetzt schon ein schlechtes Gewissen hatte, weil ich ihr nettes Angebot wohl nie annehmen würde – was aber keineswegs an den beiden älteren Herrschaften lag. Ich war ganz einfach nur nicht der Typ, der sich gerne zu fremden Menschen ins Wohnzimmer setzte, um sich zu unterhalten. Und gemeinsame Abendessen mit meinen Vermietern – so nett sie auch schienen – fielen in die gleiche Kategorie.
»Grazie, Signora«, erwiderte ich dennoch höflich und unterdrückte krampfhaft ein Gähnen, das mich erneut überkommen wollte.
»Prego, prego.« Signora Catalano zog mich noch mal an ihre üppige Brust und ich erwiderte ihre Umarmung. Es fiel mir nicht schwer, die ältere Frau umgehend ins Herz zu schließen. Ein wenig erinnerte sie mich sogar an meine eigene Mutter, was vielleicht das Thema »Heimweh« etwas abmildern würde, auch wenn ich bezweifelte, dass dieses Gefühl bei aller Herzlichkeit hier überhaupt aufkommen konnte.
Nach der Umarmung verließ Signora Catalano meine Wohnung und ich schloss die Tür hinter ihr ab.
Eine kurze, aber sehr heiße entspannende Dusche später kramte ich nur die nötigsten Sachen aus meinem Koffer. Ich zog meine Schlafklamotten an und bezog das Bett mit neuer Wäsche, bevor ich mich auf den gemütlichen Futon fallen ließ. Ein letzter Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass wir inzwischen zwanzig Uhr hatten. Im Kopf rechnete ich schnell nach, wie spät es jetzt in Seattle war. Die Erkenntnis, dass meine Eltern sich wahrscheinlich gerade zum Mittagessen an den Tisch setzten, während ich todmüde ins Bett schlüpfte, entlockte mir einen tiefen Seufzer. Diese Zeitverschiebung würde mir sicher noch die nächsten Tage in den Knochen stecken.
Mit dem Vorsatz, meinen Eltern und meinen Freundinnen am kommenden Morgen eine kurze SMS zu schreiben, dass ich gut angekommen war, glitt ich in einen traumlosen Schlaf.
***
Als ich meine Augen das nächste Mal öffnete, graute der Morgen bereits und ich hatte vielleicht sechs Stunden Schlaf bekommen, aber in Seattle war es jetzt erst neun Uhr abends und ich war somit hellwach. In dem Versuch, noch einmal einzuschlafen, drehte ich mich auf die Seite und schloss die Augen. Aber meine kurze Tiefschlafphase war vorbei.
Ich schlug die Decke zurück, kroch aus dem Bett und tapste barfuß ans Fenster, wo mich eine dicke graue Wand aus Nebel begrüßte. Mit schief gelegtem Kopf linste ich auf den Kanal, der auf dieser Seite des Hauses verlief.
Meine Oma hatte früher immer gesagt, wenn einen der Morgen mit Nebel begrüßt, würde die Sonne zum Frühstück scheinen. Ich konnte nur hoffen, dass sie Recht behielt. Zumindest regnete es nicht mehr. Wenigstens etwas!
Heute war Sonntag. Morgen würde die Einführungswoche für die Erstsemester und Austauschstudenten beginnen. Demnach hatte ich noch einen ganzen Tag, um mir zumindest die wichtigsten Plätze in Venedig anzusehen. Und vorher würde ich mir ein gemütliches Frühstück zubereiten. Es hatte schließlich auch Vorteile, so früh aus dem Bett zu fallen.
Ein Lächeln machte sich auf meinen Lippen breit, als ich das Wohnzimmer verließ und ins Bad ging, um mich fertig zu machen.
Eine Viertelstunde später kam ich mit nassen Haaren und in ein Handtuch gewickelt aus der Dusche, als ich lautes Geschrei aus dem Hausflur hörte. Auch wenn ich kaum etwas verstand, war mir zumindest klar, dass es sich dabei um keine angeregte Diskussion, sondern um einen handfesten Ehestreit meiner Vermieter handeln musste.
Ich wollte nicht lauschen, aber das Geschrei wurde jetzt so laut, dass es nicht zu überhören war.
Ich ging an die Küchennische, um das leckere Frühstück zuzubereiten, auf das ich mich schon so sehr gefreut hatte. Aber kaum hatte ich den Kühlschrank geöffnet, sprang mir gähnende Leere entgegen. Auch die anderen Vorratsschränke enthielten nichts Nahrhaftes.
Seufzend ließ ich mich auf einen Stuhl fallen. Mein Magen knurrte und wies mich darauf hin, dass meine letzte Mahlzeit ein kleiner Snack im Flugzeug gewesen war, der aus ein paar Crackern und einer Cola light bestanden hatte. Na, dann würde ich wohl auswärts frühstücken müssen, auch wenn ein solcher Luxus nicht in mein Budget eingeplant war.
Mit deutlich weniger Elan als zuvor schlich ich zurück zu meinem Bett, wo ich es mir im Schneidersitz bequem machte. Während ich begann meine Haare zu kämmen, durchdachte ich meine Möglichkeiten. Signora Catalano hatte mir angeboten, wenn ich etwas bräuchte, könnte ich mich bei ihr melden. Sicherlich wusste sie, wo ich einen Supermarkt fand, um meine Vorräte aufzufüllen. Aber diese Idee verdrängte ich sofort, als eine Tür so lautstark zugeknallt wurde, dass selbst die Wände hier oben in meinem Zimmer leicht zu vibrieren schienen. Lieber verhungerte ich, als mich jetzt in einen temperamentvollen Familienstreit einzumischen!
Auf der Suche nach einer Frühstücksalternative kramte ich mein Handy aus der Tasche, das bereits unaufhörlich aufleuchtete. Verwirrt starrte ich auf das Display, das einen tanzenden Wecker abbildete. »Historische Stadtführung«, stand dort unter der blinkenden Uhrzeit. Ich brauchte einen Moment, bis mir klar wurde, was ich mit dieser Information anfangen sollte.
Die Università Ca’ Foscari di Venezia bot für alle Austauschstudenten eine Stadtführung durch Venedig an, und ich hatte mich dafür angemeldet. Aber wieso hatte ich nicht bereits gestern die Erinnerung erhalten?
Dann fiel es mir siedend heiß ein. Wahrscheinlich war es bereits die Erinnerung, die mir nach amerikanischer Zeit sagte, dass ich in zwölf Stunden auf dem Markusplatz sein musste! Nur dass der Wecker bereits seit eineinhalb Stunden blinkte. Und dank der Zeitverschiebung hatte ich jetzt nur noch neunzig Minuten Zeit, um mich weiter fertig zu machen und auf die Piazza San Marco zu gelangen.
»Blöder Flugmodus«, fluchte ich, als ich vom Bett aufsprang und wie eine Verrückte meinen Koffer aufriss – auf der Suche nach einem passenden Outfit.
Ich hatte völlig vergessen, dass mein Handy durch den geänderten Modus lautlos war und ich somit den verdammten Klingelton nicht hatte hören können.
Tja, so viel zum entspannten Frühstücken. Jetzt musste ich mich beeilen, um überhaupt noch pünktlich zu kommen.
Nach zwanzig Minuten war ich angezogen, hatte mir die Haare geföhnt und mich geschminkt. Mit einem großen Loch im Magen rannte ich hungrig aus der Wohnungstür, schloss mein kleines, aber feines Apartment ab und hastete die Holztreppe nach unten.
Zum Glück waren Signor und Signora Catalano zum Streiten in ihrer Wohnung geblieben. Auch wenn ich ihr Gezänk noch immer deutlich hören konnte, war ich doch froh, ihnen in so einer peinlichen Situation nicht unter die Augen treten zu müssen.
Als ich die Haustür öffnete, empfing mich ein erster wärmender Sonnenstrahl und der Nebel hatte sich tatsächlich etwas gelichtet. Wenn das so weiterging, würde heute vielleicht doch ein schöner Tag werden.
Nach einer kurzen Orientierung wandte ich mich nach rechts und rannte die Straße entlang, wo ich den Steg für die Vaporetti vermutete. Ich ging schnurstracks an der Hauptstraße entlang, folgte den Wegweisern und erreichte nach zwanzig Minuten die richtige Haltestelle. Bestimmt war ich einen riesigen Umweg gegangen, aber zumindest hatte ich mein Ziel erreicht. Für die Zukunft würde ich mir aber einen kürzeren Weg zum Vaporettisteg suchen müssen.
Nach einem Blick auf den Fahrplan an der Anzeigetafel – der mir verriet, dass der nächste Wasserbus erst in zehn Minuten kam – rechnete ich mir keine großen Chancen aus, noch pünktlich auf dem Markusplatz anzukommen. Aber einen Versuch war es allemal wert.
Während ich auf das Vaporetto wartete, hoffte ich, dass dieser chaotische Morgen kein schlechtes Omen für meinen weiteren Aufenthalt war.
Leider wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass meine Hoffnungen nie erhört werden sollten.
Sobald das Vaporetto den Steg an der Piazza San Marco erreicht hatte, stürmte ich von Deck und rannte auf den Markusplatz zu, der sich bereits mit einer Schar Menschen vor mir präsentierte.
Ich schaute auf mein Handy. Es war genau acht Uhr. Immerhin war ich pünktlich. Mein Blick glitt über die Menschenmassen und ich versuchte aus den diversen Gruppierungen die Führung der Ca’ Foscari zu finden, leider ohne Erfolg.
Langsam wurde ich nervös. Hatte ich doch die Zeit oder den Ort verwechselt? Ich öffnete meine Umhängetasche und kramte die Einladung zur Stadtführung heraus, die ich in weiser Voraussicht noch eingesteckt hatte.
Ort und Uhrzeit stimmten, aber ich konnte trotzdem nichts entdecken, was mir einen hilfreichen Tipp gab, wo sich die Gruppe befand oder ob sie bereits weg war.
Zu meinem Unbehagen mischte sich das unaufhörliche Knurren meines Magens, um mich daran zu erinnern, dass er gierig darauf wartete, gefüttert zu werden.
Das Schicksal schien es gut mit mir zu meinen, denn direkt neben mir öffnete ein kleines Café, das Gebäck und Kaffee zum Mitnehmen an einem Fenster zum Verkauf anbot. Ob ich das Risiko eingehen konnte, meine Aufmerksamkeit für einen kurzen Moment auf etwas anderes zu richten als die Suche nach meiner Gruppe?
Mein knurrender Magen hatte bereits den Kampf gewonnen – und ich eilte schnell zu dem kleinen Bistro. Bestellung, Zubereitung und Bezahlung meines Milchkaffees und des kleinen Biscotto dauerten geschlagene zehn Minuten, die ich dazu nutzte, immer wieder einen Blick über den Markusplatz zu werfen.
Mit dem Kaffee und dem Gebäck in der Hand schritt ich langsam über die Piazza, den Zettel mit der Einladung zur Stadtführung in der Hand. Vielleicht würde ich noch jemanden mit so einem Stück Papier entdecken – eine Art Erkennungszeichen unter Gleichgesinnten!
Während mein Blick über die Fassade der Markusbasilika huschte, nippte ich an meinem Milchkaffee. Da rempelte mich auf einmal jemand an der Schulter an. Vor Schreck verschluckte ich mich an dem heißen Getränk. Ich ließ den Pappbecher fallen und hustete los, während ich mir gegen die Brust klopfte und nach Luft rang. Mir schossen die Tränen in die Augen und ich musste mich ganz darauf konzentrieren, trotz des Hustens wieder zu Atem zu kommen.
»Scusi! Mi dispiace! Posso aiutarla?« Eine fremde Hand klopfte mir vorsichtig auf den Rücken, was mir half Sauerstoff in meine Lungen zu befördern. Der Hustenreiz beruhigte sich allmählich und ich schaffte es endlich, die letzten Tränen wegzublinzeln. Dabei wischte ich mir vorsichtig über das Gesicht, um mein Make-up nicht zu verschmieren. Ich war nicht unbedingt eitel, aber Italien war der Inbegriff von Schönheit und Mode, und ich wollte nicht wie eine Vogelscheuche herumlaufen, nur weil ich anscheinend zu doof zum Trinken war.
Als das sanfte Klopfen nicht aufhörte, hob ich meine Hand, um anzudeuten, dass ich okay war. »Danke. Es geht wieder. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«, antwortete ich auf Englisch und biss mir sofort auf die Lippe.
Noch während ich fieberhaft überlegte, was das auf Italienisch hieß, traten zwei schwarze Lackschuhe in mein Sichtfeld. Unweigerlich wanderte mein Blick über die Schuhe hinweg hoch zu einer dunkelblauen Jeans – bis zu einem braunen Gürtel und weiter zu einem weißen Hemd, in dem ein gut aussehender Italiener steckte.
Er hatte cappuccinobraune Haut und schwarze Locken, die der Wind ihm ins Gesicht blies. Eine verspiegelte Sonnenbrille thronte auf seinem Kopf und bändigte ein paar Strähnen seines Haars. Seine strahlend grünen Augen wurden umrahmt von wunderschönen dichten Wimpern, für die eine Frau Morde begehen würde. Die obersten Knöpfe seines Hemds waren geöffnet und boten einen Blick auf eine glatte, durchtrainierte Brust. Die Ärmel hatte er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Über seiner Schulter trug er eine schwarze Lederjacke. Zwangsläufig fragte ich mich, ob ihm bei den eher kühlen zwölf Grad, die für heute angekündigt waren, nicht kalt war.
»Du sprichst Englisch?«, fragte er verwundert und beinah akzentfrei.
Überrascht sah ich den jungen Mann an, der ungefähr Mitte zwanzig war und eine dünne Goldkette um den schlanken Hals trug, die in der Morgensonne glänzte.
Warum mich dieser Mann so in seinen Bann zog, war mir selbst ein Rätsel, aber ich konnte nicht anders, als ihn wohl etwas dümmlich anzustarren.
Offenbar dachte er, dass der mangelnde Sauerstoff meinen Verstand in Mitleidenschaft gezogen hatte, denn mit jeder Sekunde, die ich ihm nicht antwortete, verblasste das Lächeln ein wenig mehr und ein besorgter Ausdruck blitzte in seinem Blick auf.
»Geht es dir wirklich gut? Kannst du mich verstehen?« Er zog die Worte in die Länge und betonte dabei jede Silbe, als wäre ich begriffsstutzig.
»Ja, mir geht’s gut. Danke«, erwiderte ich schnell, schüttelte aber schwach den Kopf. Mein Gott, war das peinlich! »Ich … alles bestens«, fügte ich hinzu und musste den Wunsch unterdrücken, meinen Kopf gegen eine Hauswand zu schlagen.
Es entstand ein unangenehmes Schweigen und ich wollte mich bereits mit einem höflichen Lächeln verabschieden und verschwinden, als der Fremde erneut das Wort ergriff.
»Du gehst auf die Ca’ Foscari?«
Ich hob überrascht den Kopf und wollte bereits fragen, woher er das wusste, als ich seinem Blick folgte, der auf den Zettel in meiner Hand gerichtet war.
»Ja, ich beginne dort nächste Woche mein Auslandssemester. Und eigentlich sollte sich hier eine Gruppe von Studenten treffen. Für eine Stadtführung. Aber irgendwie …« Ich schaute über den Markusplatz, den inzwischen immer mehr Menschen bevölkerten. »… hab ich Signor Pepé und die Gruppe nicht gefunden. Vielleicht wurde das Treffen abgesagt und ich habe es nur nicht mitbekommen.« Ich zuckte ratlos die Schultern. »Na ja. Es war schön, dich kennenzulernen …« Wieder sah ich den Fremden an, der mich mit solcher Wärme im Blick anlächelte, dass ich mich sofort wohlfühlte.
»Signor Pepé. Aber du darfst mich gerne Luca nennen.« Der Fremde zwinkerte mir zu und unweigerlich machte mein Herz einen kleinen Hüpfer. Seine Grübchen, die zum Vorschein kamen, als seine Mundwinkel sich zu jenem atemberaubenden, charmanten Lächeln verzogen, waren zum Dahinschmelzen.
»Oh mein Gott, ist das peinlich!« Ein verlegenes Lachen perlte über meine Lippen und ich sah beschämt zur Seite. »In meiner Vorstellung sahst du ganz anders aus.«
»Ach, ja? Wie denn?«, fragte Luca belustigt. Seine Stimme klang tief und umschmeichelnd – und weckte in mir Assoziationen von wärmenden Sonnenstrahlen an einem verschneiten Wintertag.
Ich blickte ihm in seine malachitgrünen Augen. »Na ja, ich weiß nicht. Irgendwie älter. Nicht wie ein … Student eben. Du bist doch Student, oder? Du siehst jedenfalls so jung aus … und …« Ich redete mich um Kopf und Kragen. Das tat ich immer, wenn ich nervös war, und so ungern ich es zugab, dieser Typ machte mich nervös!
Erst als Lucas Mundwinkel sich zu einem noch breiteren Lächeln verzogen und die zwei süßen Grübchen sich vertieften, schaffte ich es endlich, völlig hypnotisiert die Klappe zu halten.
»Flirtest du gerade mit mir?« Luca stellte seine Frage mit einem vergnügten Funkeln in den Augen. Er wirkte keinesfalls verlegen und kein bisschen überrascht. Eher selbstsicher und fast schon etwas überheblich.
Sprachlos sah ich ihn an. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein?
»Ich mache solche Führungen gerne«, erklärte er. »Da lernt man neue und interessante Leute kennen.« Der Typ besaß tatsächlich die Frechheit, mich noch einmal so verschmitzt anzuzwinkern! »Aber dieses Jahr hat sich niemand außer dir angemeldet. Und dich hätte ich auch beinah verpasst, weil ich zu spät gekommen bin. Tut mir leid.«
Er wirkte ehrlich betrübt. Anscheinend projizierte ich nur meine schlechten Erfahrungen, was gut aussehende, selbstbewusste Männer anging, unbewusst auf ihn. Im Laufe meines noch jungen Dating-Lebens durfte ich nämlich bereits einige Kandidaten kennenlernen, die dachten, mit so einer Show eine Frau zu beeindrucken. Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen. Er schien ja wirklich nett zu sein! Also entschloss ich mich, meine negativen Erfahrungen zu ignorieren. Immerhin ging er auf dieselbe Uni und es wäre angenehm, bereits jemanden zu kennen, wenn ich dort morgen zum ersten Mal auftauchte.
»Ist nicht schlimm«, beteuerte ich schnell. »Und für mich allein lohnt sich die Tour ja gar nicht. Es ist wirklich okay, wenn wir das absagen. Ich kann mich auch selbst ein bisschen umsehen.« Ich kramte ein wenig in meiner Tasche und zauberte einen nagelneuen und extra für dieses Semester angeschafften Reiseführer hervor. »Wie du siehst, bin ich bestens ausgerüstet.« Natürlich war es schade, dass sich sonst niemand angemeldet hatte, aber ich würde diese peinliche Situation zwischen uns nicht noch weiter strapazieren, indem ich auf diese Tour pochte.
Anstatt einer Antwort riss Luca mir den Reiseführer aus der Hand und durchblätterte ihn wie ein Daumenkino.
»Hiermit willst du Venedig erkunden?« Er hielt das Büchlein mit Daumen und Zeigefinger in die Luft, als wäre es eine versiffte Sportsocke. »Das hier ist Schrott. All diese Bücher sind voller Touristenzeug. Aber du bist jetzt eine von uns. Da solltest du auch die richtig coolen Sachen kennen. Angefangen bei dem Kaffee.«
Luca blickte stirnrunzelnd auf den aufgeplatzten Kaffeebecher, der seinen Inhalt in einer großen hellbraunen Lache über den Steinboden ergossen hatte. Ich sah ebenfalls auf meinen ehemaligen Milchkaffee, den ich mir jetzt neu kaufen musste.
»Regel Nummer eins. Den besten Kaffee gibt es nicht in diesen Touri-Cafés am Markusplatz!«
Gespielt überrascht blickte ich Luca an. »Nicht? Dabei war der wirklich lecker.«
»Und völlig überteuert!« Luca schüttelte entrüstet den Kopf und ein paar seiner dunklen Locken fielen ihm ins Gesicht. »Komm, ich zeig dir, wo es wirklich guten Kaffee gibt.«
Unschlüssig trat ich von einem Bein aufs andere. Ich kannte diesen Mann überhaupt nicht. Vielleicht stimmte das, was er hier erzählte, auch gar nicht und es war nur so eine Masche von ihm.
Ich studierte Luca prüfend. Er war wirklich attraktiv – mit seinen grünen Augen und den vollen Lippen. Seine Locken ließen ihn jünger erscheinen, als er wahrscheinlich war. Sein Lächeln war offen.
Seltsamerweise kam mir Marc, mein Exfreund, in den Sinn. Rein äußerlich betrachtet war er das genaue Gegenteil von Luca! Ja, und wollte ich dieses Semester nicht nutzen, um mich abzulenken? War ein Sommerflirt mit einem süßen Italiener nicht genau das richtige Rezept gegen den Kummer einer gescheiterten Beziehung? Ich musste einfach nur aufpassen, dass ich immer schön in der Öffentlichkeit blieb – wo ich im Notfall um Hilfe schreien konnte …
Luca grinste mich immer noch so fröhlich an, dass ich nicht anders konnte, als sein Lächeln zu erwidern.
»Einverstanden. Dann zeig mir mal, wo sich der beste Kaffee in Venedig versteckt hält.« Lucas Charme war derart ansteckend, dass es unmöglich war, sich dagegen zu wehren.
»Perfetto! Grazie!« Falls es überhaupt noch möglich war, lächelte er nun noch breiter und in seine Augen trat ein freches Funkeln. Seine gute Laune war so einnehmend, dass meine Zweifel von eben sich sofort schmollend in eine einsame dunkle Ecke verzogen, weil ich ihre Protestrufe erfolgreich ignorierte.
»Lass uns gehen, Bellezza.« Luca griff wie selbstverständlich nach meiner Hand, und als sich unsere Finger berührten, spürte ich die angenehme Wärme, die von ihm ausging. Mit einem leisen Lachen versuchte ich seinen großen schnellen Schritten zu folgen, während er mich zielstrebig quer über den Markusplatz zog.
***
Nach wenigen Minuten zu Fuß durch die engen Gassen Venedigs blieben wir vor einem großen Gebäude stehen. Der kurze Weg hierher war so verschlungen, dass ich ihn niemals allein zurückgefunden hätte. Überhaupt hatte ich den Eindruck, dass Venedig das reinste Labyrinth aus engen Gassen, schmalen Straßen und Pfaden war.
Das Bauwerk mit der rote Fassade und den gotischen Säulen, die ebenso antik wie modern und luxuriös aussahen, kam mir irgendwie vertraut vor. Noch bevor Luca mich ins Innere des Gebäudes ziehen konnte, erhaschte ich einen kurzen Blick auf den Namen Danieli.
»Wo sind wir hier?«, fragte ich neugierig und folgte Luca, nachdem ich meine Hand aus seiner befreit hatte, durch den imposanten Eingangsbereich, der mich mit seinem opulenten Dekor, bestehend aus Antiquitäten, exquisitem Muranoglas und wunderschönen Wandteppichen fast erschlug.
Gotische Marmorsäulen, dekadent wirkende Wand- und Bodenverzierungen verliehen dem Hotel – ich hatte inzwischen die Rezeption und den Concierge entdeckt – einen exklusiven Stil. Die dunkelroten, schweren Samtvorhänge und die farbenprächtigen Teppiche unterstützten diesen Eindruck.
Ich fühlte mich wie eine Einbrecherin, die sich verbotenerweise in dieses Ehrfurcht gebietende Gebäude geschlichen hatte. »Was machen wir hier?«, flüsterte ich beeindruckt, während ich die Atmosphäre und das Flair auf mich wirken ließ und mich staunend umsah. Erst als Luca nicht antwortete, sah ich mich nach meinem Begleiter um. Dieser hatte bereits die Hälfte der Lobby durchquert.
Mit eingezogenem Kopf und schnellen Schritten versuchte ich ihn einzuholen, als sich mir ein streng blickender Hotelmitarbeiter in den Weg stellte. Ich konnte es ihm nicht verübeln – sicherlich war er eine andere Klientel in diesen Mauern gewohnt.
»Buongiorno, Signorina. Guten Tag! Wie darf ich Ihnen behilflich sein?« Seine Stimme war glatt wie Seide und passte so gar nicht zu den grauen wässrigen Augen, die mich durch eine rahmenlose Brille anstarrten. Seine Hakennase war irgendwie zu groß für sein Gesicht – und das weiße Haar zu voll und zu weiß, um echt zu wirken.
In seinem dunkelgrauen Anzug mit dem roséfarbenen Einstecktuch blickte er mich mit einem verkniffen Lächeln an und gab mir das Gefühl, als wäre ich nicht mehr als eine lästige Küchenschabe und hätte nichts in seinem Hotel verloren.
Noch während ich in meinem irgendwie leeren Kopf nach einer höflichen Antwort auf seine in Italienisch gestellte Frage suchte und dabei zeitgleich meinen Fluchtreflex unterdrückte, kam mir Luca Gott sei Dank zu Hilfe geeilt.
»Sie ist mein Gast, Francesco.« Lucas tiefe Baritonstimme dröhnte erhaben durch die Lobby. So, wie die italienischen Worte aus seinem Mund klangen, verursachte mir ihr Timbre eine Gänsehaut, die ich schnell auf die klimatisierte Luft in dem Hotel schob. Niemals würde ich freiwillig zugeben, dass die gebieterische Autorität in seiner Stimme meinen Körper auf diese Art reagieren ließ.
Der Hotelmitarbeiter drehte sich überrascht um – und zuckte bei Lucas Anblick kaum merklich zusammen. Die Regung war so kurz und unauffällig, dass ich mir gar nicht sicher war, sie überhaupt wahrgenommen zu haben.
»Signor D…«
Luca unterbrach den Concierge höflich, aber bestimmt. »Wir möchten gerne auf der Terrasse frühstücken, Francesco. Haben Sie noch einen freien Tisch?« Luca schob seine Hände in die dunkle Jeans und sah völlig entspannt aus, aber der Angestellte nickte wie ein aufgezogenes Spielzeug und zeigte stumm auf die andere Seite der Lobby, wo das Restaurant des Hauses durch eine lange Milchglaswand abgetrennt war.
Luca drehte sich in die angedeutete Richtung und ging selbstbewusst voraus. Ich schlängelte mich an Francesco vorbei und folgte Luca, jedoch nicht ohne den wachsamen und zugleich erstaunten Blick des Concierge in meinem Rücken zu spüren.
»Was war das denn gerade?«, fragte ich verblüfft, als ich neben Luca durch das Restaurant ging. Wir steuerten auf eine weitere Glastür zu, die uns auf eine von gleißendem Sonnenlicht beschienene Terrasse führte. »Der behandelt dich ja, als wärst du der Bürgermeister oder der Magistrat persönlich.«