Jede Kraft geht immer einher mit einer ebenso großen Gegenkraft
3. Newtonsches Gesetz
Ein scharfer Schmerz an meinem Ohr brachte mich dazu, die Augen zu öffnen. Mir entfuhr ein Schmerzenslaut und ich griff instinktiv an mein Ohr.
Dabei berührten meine Finger etwas Weiches, Flauschiges.
»Ihhh …«
Ich richtete mich ruckartig auf und wollte das, was auch immer ich in der Hand hielt, von mir schleudern, als mich ein panischer Ausruf innehalten ließ.
»Nein, nein, stopp! Nicht werfen!«
Ich atmete einige Male tief ein und aus, wartete, bis mein Blick sich geklärt hatte, und betrachtete dann den kleinen, mit Fell bedeckten Körper eines Hermelins in meiner Hand.
»Corvinius?«
Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder und schloss sie erneut, während Erinnerungen in meinem Kopf durcheinanderwirbelten und ich versuchte alles wieder an seinen Platz zu rücken.
Ich war mit Cestian durch das Tor der Zeit getreten. Corvinius hatte uns von den Schlüsseln erzählt … Die Schlüssel! Wir hatten deswegen mit dem Geist einer Wächterin gekämpft und gewonnen. Ich hatte den Schlüssel Cestian gegeben und dann …
»Was ist passiert?«, fragte ich und dachte an den Wirbel aus Violett und Schwarz, der mich damit erfasst hatte.
»Ein Zeitwirbel«, antwortete Corvinius. »Erinnerst du dich? Bei sehr starkem Einsatz von Magie können sie entstehen.«
Ich nickte bestätigend. Langsam erinnerte ich mich. Corvinius hatte uns direkt bei unserem ersten Treffen vor diesen Zeitwirbeln gewarnt.
Das kleine Hermelin war kein gewöhnliches Tier. Es handelte sich um einen Wächter mit der Fähigkeit, seine Gestalt zu wandeln.
Warum Corvinius die Form eines Hermelins gewählt hatte, wusste er selbst nicht mehr. Nur dass er seit vielen Jahren in diesem Körper festhing, seit er seine Partnerin verloren hatte.
Ein Schicksal, das Cestian und ich nun offensichtlich teilten. Denn von dem Jungen, mit dem ich den Nexus vollzogen hatte, meinem Partner … fehlte jede Spur.
»Cestian … er … er ist nicht hier …«
Mein Magen begann zu rebellieren, ich bekam das Gefühl, mich übergeben zu müssen, und spürte langsam Panik in mir aufsteigen, als mir nach und nach bewusst wurde, was das hieß.
Cestian war fort. Wir waren getrennt worden. In einer Welt, die mir absolut unbekannt war. Noch dazu hatte ich keine Ahnung, wie ich ihn wiederfinden sollte, denn ich wusste ja noch nicht einmal, wo ich mich nun befand.
Ohne etwas dagegen tun zu können, verfiel ich in Schnappatmung.
Ich war allein. Allein und verloren im Nirgendwo. Und der einzige Mensch, der mir in meinem Leben noch geblieben war, war fort.
»Bleib ruhig, Inori. Tief ein- und ausatmen«, versuchte Corvinius mich zu beruhigen.
Er kratzte mit seiner Pfote leicht über meinen Handrücken. Ich senkte den Blick, versuchte seinen Anweisungen zu folgen und konzentrierte mich auf das niedliche Gesicht des Hermelins.
Beruhigen. Das war gerade alles andere als einfach, aber während ich in seine glänzenden schwarzen Knopfaugen blickte, rief mir sein Anblick auch wieder ins Gedächtnis, dass ich gar nicht allein war.
Corvinius war ja noch bei mir.
Langsam beruhigte sich meine Atmung wie auch mein Herzschlag und mein Magen hörte auf Saltos zu schlagen. Ich blickte weiter in Corvinius’ Gesicht und versuchte meine Gedanken zu ordnen, ohne in Panik zu verfallen.
»Zeitwirbel …«, begann ich langsam und in möglichst ruhigem Ton.
»Ja. Wir wurden erfasst und in die nächste Ebene geschleudert. Zumindest scheint es die zweite Ebene zu sein«, antwortete Corvinius.
Richtig. Es gab verschiedene Zeitebenen. Und das Tor der Zeit, das von der Chronos Academy auf die erste Ebene führte, war lediglich ein Zugang. Nicht das Tor, wodurch man wirklich in die Zeitlinie eingreifen konnte.
Das befand sich auf der obersten, der siebten Ebene.
»Okay. Aber was ist mit Cestian?«
»Wenn dein Freund schlau ist, hat er den Schlüssel benutzt, um ebenfalls auf die zweite Ebene zu gelangen«, erwiderte Corvinius.
»Also glaubst du, er ist hier?«, fragte ich aufgeregt und sah mich zu allen Seiten um, in der Hoffnung, ihn irgendwo auftauchen zu sehen.
»Vielleicht … Zeit ist ein unglaublich komplexes Thema, Inori. Die Ebenen, die hier existieren, sind sehr komplex. Es ist möglich, dass Cestian sich auf derselben Zeitebene befindet wie wir, ja. Aber es kann sein, dass er sich in einer anderen Zeitlinie innerhalb dieser Ebene befindet, weil er einen anderen Weg genutzt hat.«
»Das verstehe ich nicht«, antwortete ich langsam und spürte ein unangenehmes Pochen hinter meiner Schläfe.
»Du siehst ja … dank eines Zeitwirbels kann man ebenfalls zu den anderen Ebenen gelangen. Die Schlüssel sind also nicht die einzige Möglichkeit. Aber sie sind die sicherste. Sagen wir, Fahrstühle, die dich sicher von einem Stockwerk ins nächste bringen. Und wenn du oben aussteigst, weißt du, dass du genau an der gleichen Stelle stehst wie unten, wo du eingestiegen bist. Nur eben ein Stockwerk höher. Die Schlüssel bringen dich also nicht nur weiter, sie sorgen auch dafür, dass du in einer Zeitlinie bleibst. Wenn Cestian den Schlüssel benutzt hat, befindet er sich auf der zweiten Ebene, aber in derselben Zeitlinie wie auf Ebene eins. Wir hingegen … nun … es ist sehr wahrscheinlich, dass wir auf dieser Ebene in eine andere Zeitlinie geraten sind. Vielleicht sind wir Jahrzehnte vor Cestian hier. Oder Jahrhunderte nach ihm.«
»Was?«, hauchte ich, denn meine Stimme schien jegliche Kraft eingebüßt zu haben.
»Die Zeitebenen sind eigenständige Welten, Inori, und je nach Zeitlinie verändern sie sich. Es kann durchaus sein, dass eine Ebene im Gleichklang mit deiner Zeit verläuft. Technologien und alles andere also auf dem gleichen Stand sind, wie du es kennst. Aber es kann auch sein, dass die Zeit langsamer oder schneller vorangeschritten ist. Das heißt, vielleicht sind wir auf einer Ebene, die der Antike in deiner Welt entspricht, oder die Ebene liegt viel weiter in der Zukunft. Mit fliegenden Autos oder Sonstigem.«
»Okay …«, begann ich langsam und gab mir alle Mühe, Corvinius’ Erklärungen zu folgen.
Ich war nicht dumm, aber seine Aussagen erschienen mir doch mehr als komplex.
»Also, Cestian und ich sind beide im selben Stockwerk, aber aus unterschiedlichen Fahrstühlen ausgestiegen.«
»Wir sind leider aus keinem Fahrstuhl ausgestiegen, aber im Prinzip ja.«
»Okay … aber Cestian befindet sich womöglich im Jahr 1890 oder so und ich … vielleicht im Jahr 1609?«
»Schlaues Mädchen«, antwortete Corvinius, aber sein Lob baute mich in keiner Weise auf.
Wie sollte ich Cestian so jemals wiederfinden? Wenn wir uns nicht zur selben Zeit in der gleichen Welt befanden?
»Aber wie … Was sollen wir denn jetzt machen?«, fragte ich und fühlte eine neue Panikwelle aufkommen.
»Erst mal gleich wieder beruhigen. Atme tief ein und aus.«
Obwohl es mich langsam nervte, folgte ich erneut der Anweisung des kleinen Fellballs.
Mir war klar, dass Panik mich nicht weiterbrachte, aber was sollte ich denn machen?
Zumindest half das bewusste Atmen etwas.
»Wir suchen jetzt einen der Schlüssel dieser Ebene. Es gibt eigentlich immer zwei und die Magie der Schlüssel stellt eigentlich immer sicher, dass sich zu jeder Zeit ein Schlüssel in der Welt befindet, um weiterzukommen.«
»Das klingt sehr unsicher«, erwiderte ich skeptisch.
»Die Rebellion der Wächter hat viel Chaos innerhalb der Ebenen verursacht. Es ist nicht mehr alles in Stein gemeißelt. Aber wir sind Wächter. Die Magie der Schlüssel zieht uns an. Die Chancen stehen daher gut, dass wir uns in der Nähe eines Schlüssels befinden. Lass uns einfach versuchen positiv zu denken«, antwortete Corvinius.
»Aber, wenn man immer nur in gerader Linie mit einem der Schlüssel weiterkommt«, ich deutete mit dem Zeigefinger nach oben. »Steigen wir dann nicht ewig aus einem anderen Fahrstuhl aus als Cestian? Das bedeutet doch, ich sehe ihn nicht wieder, oder? Sofern auf einer der Ebenen nicht zufällig die Zeit stehen geblieben ist.«
Corvinius blickte mich mit so überraschter Miene an, dass ich fragen musste:
»Was?«
»Ich bin nur verwundert, dass du wirklich verstanden zu haben scheinst, was ich dir erklärt habe.«
Ich verzog das Gesicht. Offensichtlich waren die Fragezeichen über meinem Kopf sehr deutlich zu sehen gewesen, als Corvinius mir alles erklärt hatte. Aber ich ließ das unkommentiert.
Schließlich hatte ich gerade andere Sorgen, als mit einem Hermelin eine Diskussion über meine Intelligenz zu führen.
»Nun, du hast nicht unrecht, Inori. Aber die Zeitebenen sind vielfältig … wir finden vielleicht eine Möglichkeit, wie wir zur selben Zeit auf derselben Ebene wie Cestian landen. Und wenn nicht, habt ihr doch beide das Ziel, zur siebten Ebene zu gelangen, oder? Ich war zwar selbst noch nie auf der obersten Ebene, aber den Legenden zufolge steht dort wirklich die Zeit still. Also egal aus welcher Zeitlinie wir von Ebene sechs ans Tor kommen werden … «
»Cestian wird dort sein?«, fragte ich und fühlte wieder ein kleines bisschen Hoffnung in mir aufsteigen.
»Ja. Daran glaube ich. Und das musst du auch. Bis zur siebten Ebene werden wir es schwer haben. Deswegen dürfen wir unsere Hoffnung und den Glauben, dass alles gut wird, nicht verlieren. Auch wenn es schwer wird. Ich glaube auch daran, Nari wiederzusehen. Zusammen schaffen wir das schon, Inori.«
Ich spürte, wie sich ein dicker Kloß in meinem Hals bildete.
Mit einem leisen »Danke« drückte ich den kleinen Körper des Hermelins an mein Gesicht und kuschelte mich in sein weiches Fell.
Daran zu glauben, dass alles wieder gut werden würde, war nicht leicht. Aber ich war nicht allein. Und ich würde Cestian wiederfinden. Komme, was da wolle.
Mit neu gewonnener Zuversicht stand ich mit Corvinius in meinen Händen auf und begann meine Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen.
Dabei nahm ich auch das Pochen an meinem Ohr wieder deutlicher wahr.
»Sag mal, hast du mir ins Ohrläppchen gebissen?«, fragte ich Corvinius, der nun auf meine Schulter kletterte.
»Hat sich schon bei deinem Freund als sehr effektiv erwiesen, um ihn aus dem Land der Träume zu bekommen«, antwortete das kleine Wesen ungerührt.
Ich warf ihm einen bösen Blick zu.
»Damit das klar ist, du Frettchen, gebissen wird ab jetzt nicht mehr.«
»Hermelin. Kein Frettchen!«, antwortete er empört, während ich mich wieder der Umgebung widmete, aber weit und breit konnte ich nichts anderes ausmachen als pechschwarze, blattlose Bäume.
»Seltsam … dieser Wald sieht wie verbrannt aus, aber …«, ich trat zu einem Baum und berührte vorsichtig den Stamm. Kratzte mit den Fingernägeln leicht über die Rinde.
Das Holz fühlte sich normal an. Es war eben nur kohlrabenschwarz.
»Wir sollten erst mal versuchen aus diesem Wald rauszukommen«, entschied Corvinius und ich nickte.
Unschlüssig blieb ich stehen, lief dann aber in die Richtung, in die Corvinius mit einem Kopfnicken deutete.
Da ich selbst keine Ahnung hatte, wo wir uns befanden, konnte ich mich genauso gut auf den Instinkt oder was auch immer dem Hermelin die Richtung vorgab, verlassen.
»Irgendwie ist dieser Wald unheimlich, findest du nicht?«, fragte ich Corvinius, während ich lief und darauf achtete, nicht über Äste, Baumstämme oder Wurzeln zu stolpern.
»Was meinst du?«
»Na, diese Stille. Hier ist gar nichts. Kein Vogelgezwitscher, kein Rascheln oder Knacken … Existiert auf diesen Zeitebenen gar nichts?«
Corvinius antwortete nicht, aber das war mir kurz darauf egal, als ich auf einen Weg trat, der durch den Wald hindurchführte.
Er war sandig, aber breit, und wirkte, als hätte man ihn extra angelegt.
Ich blickte in beide Richtungen.
»Rechts oder links?«, fragte ich Corvinius.
Das Hermelin stellte sich auf seine Hinterbeinchen und schnüffelte in der Luft.
»Links«, sagte Corvinius und ich folgte seiner Anweisung.
»Du hast recht«, begann er dann plötzlich.
»Womit?«, fragte ich verwundert.
»Dieser Wald ist unheimlich. Die Ebenen sind nicht unbelebt. Die Wächter, die damals beschlossen hier zu verweilen, um die Schlüssel zu beschützen … und die, die über Jahrzehnte … Jahrhunderte, zu den Ebenen kamen und blieben, haben ja alle kein Keuschheitsgelübde abgelegt. Es wurden Familien gegründet und die Ebenen genauso bevölkert wie in deiner Welt. Das macht diesen Wald … das Fehlen von Leben … wirklich unheimlich.«
Seine Worte halfen nicht unbedingt dabei, mich zu beruhigen.
Also beschränkte ich mich wieder darauf, tief ein- und auszuatmen, anstatt ihm zu antworten.
Zu meiner Erleichterung kam kurz darauf der Waldrand in Sicht und ich erwischte mich dabei, wie ich meine Schritte beschleunigte, um diesen kargen Wald hinter mir zu lassen.
Als wir das Ende erreicht hatten, blickte ich einen Grashügel hinunter und erkannte ein kleines Dorf.
Die Anzahl der Häuser war überschaubar und es wirkte im Gesamten sehr mittelalterlich. Dort unten standen keine modernen Bauten, sondern Fachwerkhäuser, deren Dächer mit Stroh bedeckt waren.
»Glaubst du, hier lebt jemand?«, fragte ich und dachte an den stillen Wald hinter uns.
Das Dorf wirkte ebenfalls wie ausgestorben. Kein Geräusch drang zu uns und ich konnte keine Menschenseele ausmachen.
»Ja, das Dorf ist bewohnt«, antwortete Corvinius überzeugt und deutete mit einer Kopfbewegung zu einem der Häuser.
Ich schaute ebenfalls in die Richtung und erkannte Rauch, der aus einem Kamin aufstieg.
»Okay. Und was machen wir jetzt?«, fragte ich unschlüssig.
Ich war zwar froh, dem Wald entkommen zu sein, aber das Dorf bereitete mir ebenfalls Unbehagen. Warum war denn dort keiner auf der Straße?
Gut, die Abenddämmerung brach langsam über uns herein, was mir zeigte, dass auch hier ein Tag-Nacht-Rhythmus herrschte, aber es war bisher nur etwas dunkler geworden.
Also noch weit entfernt davon, den nicht vorhandenen Bordstein hochzuklappen und ins Bett zu gehen.
»Wir sollten in das Dorf gehen, bevor es dunkel wird. Aber du musst vorsichtig sein, Inori. Es ist möglich, dass das Wissen um die Magie von Chronos verloren gegangen ist. Vielleicht wissen die Menschen hier gar nicht, dass noch weitere Ebenen existieren. Geschweige denn ein Tor und dahinter die Chronos Academy. Es wäre ungünstig, wenn sie dich direkt als Hexe verbrennen würden, nur weil du ein falsches Wort von dir gegeben hast.«
»Ja, das fände ich auch mehr als ungünstig«, erwiderte ich und hatte nun noch weniger Lust, in das Dorf zu gehen.
Aber es würde mir nichts bringen, hier stehen zu bleiben. Wir brauchten einen Schlüssel und vielleicht befand sich einer in diesem Dorf. Oder zumindest ein Hinweis.
»Wird schon«, sagte Corvinius und klang mehr, als spräche er sich selbst Mut zu, während ich mich wieder in Bewegung setzte.
Es dauerte nur ein paar Minuten, dann hatten wir das Dorf erreicht. Ein paar Krähen, die auf den Ästen vereinzelter Bäume hockten, durchbrachen die gespenstische Stille mit lautem Krächzen und ich zuckte heftig zusammen.
Vor Schreck griff ich automatisch an meine Brust und versuchte meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen, während die Krähen noch immer krächzend davonflogen.
»Wenn gleich noch der kopflose Reiter um die Ecke kommt, wundert mich das auch nicht mehr«, murmelte ich und versuchte den Gedanken an Sleepy Hollow sofort wieder aus dem Kopf zu bekommen.
Zwar waren die Krähen ein erstes Anzeichen von Leben, aber sie halfen nicht gerade dabei, die Umgebung weniger unheimlich wirken zu lassen.
»Sei vorsichtig«, flüsterte Corvinius, als ich weiterging. In seiner Stimme schwang ein warnender Unterton mit. »Du wirst beobachtet«, zischte er, was mich dazu veranlasste, zum nächsten Haus zu spähen. Dort erkannte ich, was Corvinius vor mir gesehen hatte. Hinter einem der Fenster bewegte sich ein Schatten.
»Meinst du, ich soll dort mal klopfen?«, fragte ich leise, als erneut ein Schatten am Fenster vorbeihuschte.
Bevor Corvinius antworten konnte, wurden mehrere Türen der umstehenden Häuser aufgerissen und eine ganze Horde Männer mit Musketen rannte auf uns zu.
»Sofort stehen bleiben!«, schrie mich einer von ihnen an, obwohl ich mich keinen Zentimeter mehr bewegt hatte.
Ich blickte verunsichert in den Lauf der etwa ein Dutzend Schusswaffen und spürte, wie es in meinen Handflächen kribbelte und meine Finger heiß wurden.
»Bleib ruhig, Inori. Wenn du jetzt deine Kräfte einsetzt, verursachst du vielleicht einen erneuten Zeitwirbel«, flüsterte mir Corvinius ins Ohr.
Ich nickte, konzentrierte mich wieder auf meine Atmung, ließ meinen Nacken kurz kreisen und lockerte meine Finger, bis das Kribbeln und die Hitze langsam nachließen.
»Wer bist du Mädchen?«, fragte der Mann, der mich angeschrien hatte, während er einen Schritt nach vorne trat.
Er war jung, vielleicht Mitte zwanzig, aber seine Kleidung … sie erinnerte mich stark an den Dresscode, den Lorelei für ihre Geburtstagsfeier vorgegeben hatte.
Und das war Frankreich im 18. Jahrhundert gewesen.
Sie alle trugen diese altertümliche Mode, aber keine Perücken, wie ich sie aus Filmen kannte.
Vielmehr waren ihre langen Haare mit einer einfachen Schleife im Nacken zusammengebunden.
»Mein Name ist Inori und ich … bin nur auf der Durchreise«, antwortete ich bedächtig.
»Auf der Durchreise? So ein junges Mädchen? Ganz allein, ohne männliche Begleitung?«, fragte mein Gegenüber ungläubig.
»Sie trägt seltsame Kleidung«, bemerkte einer der anderen Männer und die übrigen murmelten zustimmende Worte.
»Ich, ähm … ich habe meinen Begleiter verloren und bin auf der Suche nach ihm«, sagte ich.
Da mir nichts Besseres einfiel, hielt ich es für das Klügste, nah an der Wahrheit zu bleiben.
»Das ist doch …«, begann einer der Männer, aber eine herrische Stimme unterbrach ihn.
»Nehmt sofort die Waffen herunter!«
Die Anwesenden traten zur Seite und machten Platz für einen weiteren jungen Mann.
Ich schätzte ihn kaum älter als mich, aber die Männer schienen auf ihn zu hören, denn sie senkten ihre Musketen zumindest ein bisschen.
»Aber Grayson, diese Fremde …«, begann der Mann, der zuerst das Wort an mich gerichtet hatte.
»Die junge Dame ist keine Fremde, Deikan. Sie ist meine Cousine, die mir auf ihrer Reise einen Besuch abstattet«, log dieser Grayson, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Was?«, begann ich, woraufhin mich Corvinius schmerzhaft in den Nacken knuffte. Er hatte versucht sich möglichst unauffällig in meinem Hemdkragen zu verstecken.
Ich schloss wieder meinen Mund und blickte unsicher zwischen den Männern hin und her.
Der Mann, Deikan, wirkte keineswegs überzeugt. Dennoch senkte er seine Muskete tiefer und die anderen taten es ihm gleich.
Grayson lächelte zufrieden und wandte sich dann mir zu.
»Meine liebe Cousine. Wie schön, dass du es einrichten konntest. Du bist sicher sehr erschöpft. Lass uns ins Haus gehen, damit du dich ausruhen kannst.«
Normalerweise wäre das das Letzte, was ich tun würde. Aber da ich befürchtete, dass gleich noch mehr Dorfbewohner mit Fackeln und Mistgabeln aus ihren Häuser stürmten, nickte ich und folgte dem jungen Mann.
Er wirkte zumindest nicht bedrohlich. Grayson war groß, besaß eine schlanke Gestalt und ein gepflegtes Äußeres. Sein Gesicht sah freundlich aus und wie die anderen hatte er sein etwa schulterlanges, tiefschwarzes Haar im Nacken zusammengebunden.
Die anderen Anwesenden beobachteten mich argwöhnisch, aber sie ließen mich kommentarlos vorbei.
Ich folgte Grayson die Straße entlang bis zu einem weiteren Fachwerkhaus, das aber viel größer war und edler aussah als die umstehenden Häuser.
»Bitte, komm herein«, bat Grayson und hielt mir die Tür auf.
Ich zögerte und musterte ihn unsicher, aber seine warmen braunen Augen blitzten noch immer freundlich, weshalb ich eintrat.
Dennoch kribbelte es in meinen Fingerspitzen, als wollte mich mein Körper daran erinnern, dass ich im Notfall die Kraft hatte, mich zu verteidigen.
»Danke«, sagte ich und gab mir Mühe, meine Stimme höflich und weniger misstrauisch klingen zu lassen.
Das Innere des Hauses sah gemütlich aus. Es war rustikal, aber einladend.
Grayson führte mich in einen Wohnbereich, in dem ein großer Teppich ausgelegt war. Darauf stand ein runder Holztisch und daneben eine Chaiselongue.
Es gab einen steinernen Kamin, in dem ein Feuer brannte. Eine weitere Lichtquelle stellte ein Kronleuchter dar, der aussah wie ein mit dicken Kerzen bestücktes, altes Holzrad.
»Bitte setz dich«, sagte Grayson und deutete auf die Chaiselongue.
»Kann ich dir eine Tasse Tee anbieten?«
Ich nickte, bedankte mich und setzte mich dann auf das kleine Sofa.
Grayson verschwand und ich wandte mich wieder Corvinius zu, der kein Wort mehr gesagt hatte.
»Denkst du, es war eine kluge Idee, mit ihm zu kommen?«, fragte ich leise.
»Es ist ja nicht so, als hätte es eine bessere Alternative gegeben. Sei einfach vorsichtig und warte ab, was er will«, flüsterte Corvinius, während er aus meinem Hemdkragen spähte. Da kam Grayson mit einem Tablett zurück und stellte Tassen und eine dampfende Kanne Tee auf den Tisch.
»Also …«, begann ich, aber er unterbrach mich direkt.
»Du bist eine Wächterin, richtig?«, fragte er und musterte mich mit einem faszinierten Gesichtsausdruck, ehe er uns Tee einschenkte, sich einen Stuhl herbeizog und sich dann darauf niederließ.
»Ähm … also … ja … «, antwortete ich, weil ich keinen Sinn darin sah, es zu leugnen.
Auch wenn der Begriff Wächterin, in Bezug auf mich, zu hoch gegriffen wirkte.
Grayson lächelte, als hätte er mit meiner Antwort auf seine Frage bereits gerechnet.
»Mein Name ist Inori«, stellte ich mich nochmals vor. »Und das ist Corvinius«, fügte ich hinzu und deutete auf das Hermelin auf meiner Schulter, aber Corvinius schien es für klüger zu halten, nichts zu sagen.
Grayson lächelte entschuldigend.
»Verzeihung. Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Wie unhöflich von mir. Mein Name ist Grayson und ich bin der Bürgermeister hier.«
»Der Bürgermeister?«, fragte ich ungläubig, da er so jung aussah.
Falls er meinen Tonfall unhöflich fand, ließ er es sich jedoch nicht anmerken, stattdessen lächelte er weiterhin freundlich.
»Ähm … nun … danke für deine Hilfe, Grayson. Aber wieso …?«, fuhr ich unschlüssig fort.
»Wieso ich verhindert habe, dass dich die Bürger hier direkt in unser Gefängnis verfrachten? Nun, ich dachte mir direkt aufgrund deiner Kleidung, dass du nicht von hier bist. Diese Beinbekleidung … ist zu ungewöhnlich, um nicht zu sagen zu unzüchtig für eine junge Dame unserer Zeit. So etwas ist mir bisher noch nie untergekommen und du musst wissen, ich bin viel auf Reisen und besuche die unterschiedlichsten Orte. Ich muss dich bitten den Dorfbewohnern ihr Verhalten zu verzeihen. Für sie sind Wächter nichts weiter als Legenden aus alter Zeit. Sie glauben auch nicht an die verschiedenen Ebenen.«
»Aber du schon?«, fragte ich.
»Als Bürgermeister habe ich Zugang zu Büchern und Aufzeichnungen, die den meisten Dorfbewohnern unbekannt sind. Auch zum Schutz des Wissens. Es kam hier nicht selten vor, dass Bücher den Weg ins Feuer fanden, weil man Hexenwerk darin vermutete. Und in ein paar der Bücher meiner Bibliothek stehen Dinge über unsere Gründungsväter und -mütter. Angeblich waren es Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Menschen, die vom Gott der Zeit selbst abstammten und die man als Wächter der Zeit betitelte. Das faszinierte mich und ich widmete die letzten Jahre ganz meinen Studien darüber.«
»Steht in deinen Aufzeichnungen … steht da auch etwas über einen Schlüssel?«, fragte ich aufgeregt.
Grayson musterte mich aufmerksam.
»Ist es das, was du hier suchst?«, erwiderte er.
Ich wusste nicht, inwieweit ich ihm vertrauen konnte, aber ich hatte keine Wahl. Wir brauchten den Schlüssel, also nickte ich.
»Ja. Ich habe meinen … Ich habe jemanden verloren, der mir sehr wichtig ist. Um ihn wiederzufinden, benötige ich einen Schlüssel«, gab ich zu.
Grayson antwortete nicht sofort, sondern sah mich nachdenklich an.
»In den Büchern habe ich nichts zu einem besonderen Schlüssel gefunden …«, begann er dann und ich fühlte, wie mir das Herz schwer wurde. »… aber ich weiß etwas über einen wertvollen Schatz, den die Wächter angeblich wie ihren Augapfel gehütet haben. Es gibt da eine Legende, von der mir meine Großmutter oft erzählt hat. Einst gab es hinter den Wäldern ein Schloss und in diesem lebte ein Königspaar mit fantastischen Fähigkeiten. Sie verwahrten in ihrem Schloss diesen besonderen Schatz, in dem eine wundersame Macht verborgen sein sollte. Davon hörten angeblich auch ihre Feinde und diese machten sich auf, um den Schatz in ihren Besitz zu bringen. Um den Schatz zu beschützen, umgab das Königspaar das Schloss mit einer undurchdringlichen Dornenhecke und ließ alle Bewohner in tiefen Schlaf fallen, bis der Angriff überstanden war.«
»Eine Dornenhecke? Und alle sind in tiefen Schlaf gefallen?«, fragte ich ungläubig.
»Ja. Kennst du die Legende auch?«, fragte Grayson überrascht.
»Nein … also … in meiner Welt gibt es ein Märchen mit ähnlichen Elementen. Es heißt Dornröschen und es geht um eine Prinzessin, die sich mit der Spindel eines Spinnrads in den Finger sticht und in einen hundertjährigen Schlaf fällt, bis ein Prinz kommt und sie wach küsst. In dem Märchen ist das Schloss ebenfalls von Dornen eingeschlossen, die der Prinz überwinden muss«, erklärte ich.
»Nun, ich kenne kein Märchen mit diesem Titel. Aber wenn unsere Vorfahren aus derselben Welt kamen, haben die beiden Geschichten vielleicht einen ähnlichen Ursprung«, sagte Grayson freundlich.
»Möglich. Ist aber auch nicht wichtig. Denn eine Legende bringt mich nicht weiter«, antwortete ich etwas deprimiert.
»Das vielleicht nicht. Aber ich kann dir verraten, dass hinter dem Wald im Osten tatsächlich eine Burgruine existiert, die von Dornenranken überwuchert ist«, fuhr Grayson mit einem vielsagenden Grinsen fort.
»Wirklich?«, fragte ich und spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte.
Grayson nickte.
»Vielleicht bist du ja der Prinz, oder vielmehr die Prinzessin, die die Dornen überwinden muss?«
***
»Denkst du, an dieser Legende ist etwas dran? Und dass in dieser Ruine vielleicht einer der Schlüssel zu finden ist?«, fragte ich Corvinius einige Zeit später, als wir beide wieder allein waren.
Grayson war so freundlich gewesen uns mit einem Abendessen zu versorgen und hatte uns sogar ein Gästezimmer bereitgestellt.
Ich war immer noch nicht sicher, ob ich ihm vertrauen konnte, aber es war mir nicht schlimm erschienen, ihm ein paar Fragen zu den Zeitebenen zu beantworten, sofern es mir möglich war.
Er war freundlich und hatte uns geholfen und dass er in mir so etwas wie ein faszinierendes Forschungsobjekt sah, empfand ich nicht zwingend als schlimm.
Solange er nicht plötzlich beschloss mich auf einen Seziertisch zu schnallen und mich auseinanderzunehmen oder sonst etwas.
Er hatte sich bereit erklärt uns morgen zu der Schlossruine zu führen und war nun mit den Vorbereitungen beschäftigt, da es sich wohl nicht nur um ein paar Minuten Fußweg bis dorthin handelte.
»Es könnte passen. Dieses Königspaar klingt für mich nach möglichen Wächtern, die einen Schlüssel des Chronos beschützten«, erwiderte Corvinius und machte es sich auf dem weißen Kopfkissen des Bettes gemütlich.
Ich hingegen ging zu der einzigen anderen Sitzgelegenheit im Zimmer. Einem Hocker vor einem alten … Frisiertisch … wenn ich mich nicht irrte. Daran war ein Spiegel angebracht und eine große weiße Schüssel mit Wasser und einem Schwamm stand mir zur Verfügung.
Ich ließ mich auf dem Hocker nieder und steckte einen Finger in das Nass. Es war so kalt, dass es mich schauderte.
»Aber, Wächter als König und Königin?«, fragte ich und blickte erstmals auf mein Spiegelbild.
Ich sah so grauenhaft aus, dass es mich verwunderte, nicht als Hexe auf einem Scheiterhaufen gelandet zu sein. Meine Haare waren zerzaust, mein Gesicht schmutzig.
Es irritierte mich, mich so deutlich zu erkennen, obwohl ich keine Brille trug.
Ich hatte sie im Kampf gegen Karakurte verloren und Cestian hatte daraufhin seine Sehstärke mit mir geteilt.
Weswegen meine Iriden auch nicht mehr ihr übliches Blau aufwiesen, sondern zusätzlich in einem leichten Grün schimmerten. Ich betrachtete fasziniert diesen Anblick und dachte an Cestian.
Ob es ihm gut ging? Ich hoffte es so. Seit wir voneinander getrennt worden waren, vermisste ich ihn schrecklich. Er war inzwischen so etwas wie meine Zuversicht und ich zweifelte ohne ihn.
Ich brauchte Cestian, denn egal was Corvinius sagte, ich fürchtete mich vor den Ebenen und Cestian war es, der mir Mut verlieh.
»Das ist schon möglich«, reagierte Corvinius auf meine Frage und riss mich aus meinen Gedanken. »Ich weiß nicht, welche Wächter sich zu welcher Zeit auf dieser Ebene niederließen. Es könnte sich durchaus um Adlige gehandelt haben. Oder diese Wächter beschlossen einfach, als Herrscher in Erscheinung zu treten.«
Ein Klopfen unterbrach uns, bevor ich antworten konnte.
»Ja?«, rief ich und ein Blick zum Bett verriet mir, dass Corvinius sich vorsichtshalber unter das Kissen verkrochen hatte.
Grayson streckte mit einem schüchternen Lächeln den Kopf herein, ehe er die Tür weiter öffnete. Zu meiner Verwunderung trug er Unmengen an weiß-rosa Stofflagen über dem Arm.
»Ich habe uns für morgen Pferde und Proviant besorgt und Deikan hat sich dazu bereit erklärt, uns zu begleiten. Er glaubt zwar nicht an die Legenden der Wächter, aber er ist ein guter Mann, mein Freund und ein zuverlässiger und starker Kämpfer. Es wird für uns in jedem Fall sicherer sein, wenn er dabei ist.«
Ich nickte, dachte aber skeptisch an den jungen Mann, der bei meiner Ankunft seine Muskete auf mich gerichtet hatte.
»Außerdem … nun, ich bin nicht sicher, was uns im Dorf und auf unserer Reise morgen erwartet. Ich denke, es wäre von Vorteil, wenn du dein Aussehen etwas anpassen würdest«, sagte Grayson und nahm den Stoff von seinem Arm.
Jetzt erkannte ich darin ein Kleid mit vielen Tülllagen.
Auch wenn Rosa nicht meine Farbe war, war das Kleid sehr hübsch und die weiße Spitze ließ es edel aussehen.
Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie damalige Adlige in solchen Kleidern durch Versailles stolziert waren.
Irgendwie erinnerte mich das Kleid an Lorelei und auch wenn wir wirklich keine Freundinnen gewesen waren, versetzte mir der Gedanke einen kleinen Stich.
»Das Kleid trug meine Mutter, als sie ein junges Mädchen war. Ich denke, es könnte dir passen«, fuhr Grayson fort.
Ich erhob mich, trat zu ihm und nahm das Kleid entgegen.
»Vielen Dank.«
Vorsichtig befühlte ich den weichen Stoff und auch wenn der Gedanke, einmal im Leben ein solches Kleid tragen zu dürfen, mich freudig stimmte, konnte ich mir nicht vorstellen, mich darin sonderlich gut bewegen zu können, geschweige denn zu reiten.
Es war nicht ganz so schlimm, wie ich erwartet hatte. Ich musste bei dem Kleid weder ein Korsett noch einen Reifrock tragen. Dennoch war der Rock nicht weniger voluminös. Das lag an den vielen Schichten Stoff, die mich hoffen ließen in keinen See oder Ähnliches zu fallen.
Denn ich würde gnadenlos untergehen wie ein Stein.
»Ihr wollt wirklich zum alten Schloss? Das ist doch kein Ort für eine junges Fräulein.«
Ich blieb oberhalb der Treppe stehen und spähte nach unten, wo Grayson auf demselben Stuhl saß wie am gestrigen Abend. Neben ihm stand eine ältere Dame mit matronenhafter Figur und unfreundlichem Gesichtsausdruck.
»Wieso nicht? Inori möchte die Ruine gerne besichtigen«, erwiderte Grayson freundlich.
»Dieser Ort ist nichts für ein junges Mädchen«, wiederholte sie. »Und habt Ihr vergessen, welche Legenden sich um das Schloss ranken?«
»Das sind doch nur dumme Geschichten, Henrietta«, antwortete Grayson nachsichtig.
Die Dame schnaubte abfällig.
»Sie sind noch sehr jung, Bürgermeister. Sie wissen es vielleicht nicht besser. Doch als ich noch ein Kind war, sind die Menschen, die in dieses Schloss gingen, verschwunden. Bis heute ist keiner von ihnen wieder aufgetaucht.«
Als ich mein Gewicht verlagerte, knarzte der Holzboden unter mir und veranlasste Grayson und Henrietta dazu, nach oben zu sehen.
»Guten Morgen, Inori. Wie ich sehe, passt das Kleid ausgezeichnet«, grüßte mich Grayson freundlich und erhob sich.
»Guten Morgen. Ja, es passt gut«, erwiderte ich und versuchte mich von dem finsteren Blick der Frau nicht einschüchtern zu lassen.
»Inori, das ist meine Haushälterin Henrietta. Sie wirkt manchmal etwas mürrisch, aber sie ist eine wahre Perle«, sagte Grayson amüsiert, während er Henriettas noch immer mürrische Miene betrachtete.
»Sehr erfreut«, erwiderte ich zaghaft, wurde aber jäh unterbrochen, als Henrietta zielstrebig auf mich zuschritt.
»Euer Haar. Das geht so nicht! Das schickt sich nicht«, sagte sie und starrte mich an, als würde ich mit einem Vogelnest auf dem Kopf herumlaufen.
Das lag vielleicht gar nicht so fern von der Wahrheit, aber nach meiner Katzenwäsche mit dem eiskalten Wasser – ich hatte aus Angst vor einem erneuten Zeitwirbel darauf verzichtet, es mit meinen Kräften zu erhitzen – sah ich doch wieder recht passabel aus.
Unsicher blickte ich zu dem weißen Häubchen, das Henrietta trug, und hoffte, dass sie nicht plante mir ebenfalls so eines zu verpassen.
Bevor ich protestieren konnte, zog sie mich in das Gästezimmer, drückte mich auf den Hocker vor dem Frisiertisch nieder, trat hinter mich und begann sich an meinen Haaren zu schaffen zu machen.
Sie war dabei ziemlich ruppig und mir entwich nicht selten ein kleines Wimmern, aber zu meiner Erleichterung ersparte mir Henrietta ein Häubchen. Sie band mein Haar nur mit einer Schleife nach oben.
»Sehr hübsch«, kommentierte Grayson, als wir wieder bei ihm waren, und klang amüsiert.
»Wie wäre es nun mit Frühstück, Henrietta? Wir möchten möglichst zeitnah aufbrechen.«
Wieder stieß Henrietta ein Schnauben aus.
»Ich sage, das ist ein Fehler. Sie werden es noch bereuen, dieses verfluchte Schloss aufgesucht zu haben!«
Grayson ließ sich davon nicht beirren und nach einem äußerst leckeren Frühstück begleitete ich ihn zu den Stallungen, wo Deikan uns bereits mit zwei gesattelten Pferden erwartete.
Während des kurzen Weges bis hierher hatten die Dorfbewohner mir argwöhnische und mintunter sogar finstere Blicke zugeworfen. Aber das war nichts im Vergleich zu der Miene, mit der mir Deikan begegnete. Unwillkürlich bekam ich das Bedürfnis, den Kopf einzuziehen und den Mantel, den mir Henrietta vor unserem Aufbruch gegeben hatte, enger um mich zu wickeln.
Es war verständlich, dass die Leute hier Fremden erst einmal argwöhnisch begegneten, aber Deikan wirkte richtiggehend feindselig. Ich hoffte, er würde nicht plötzlich beschließen mich zu erschießen, sobald ich in seinen Augen eine falsche Bewegung machte.
Zaghaft zog ich den Mantel etwas enger um mich, der auch Corvinius verbarg, was diesmal allerdings dem kalten Wind geschuldet war, und stellte mich abwartend neben eines der Pferde. Währenddessen trat Grayson zu Deikan und reichte ihm freundschaftlich die Hand.
»Du willst deiner Cousine an ihrem ersten Tag hier wirklich die Schlossruine zeigen?«, fragte Deikan und wie er das Wort Cousine betonte, ließ schwer bestimmen, was er ungläubiger fand. Dass wir die Ruinen aufsuchten oder dass ich Graysons Cousine sein sollte.
»Du glaubst doch nicht etwa ebenfalls an diese Ammenmärchen?«, fragte Grayson mit einem Lachen, während er wieder zu mir trat und mir auf eines der Pferde half.
Da ich noch nie in meinem Leben geritten war, war ich dankbar, dass Grayson sich direkt hinter mich auf das Pferd schwang und die Zügel fest ergriff.
Deikan schulterte missmutig sein Gewehr, ehe er auf das zweite Pferd stieg.
»Jedem Kind wird quasi mit der Muttermilch eingeflößt, diesen Ort zu meiden. Und das sicher nicht ohne Grund. Der Ort gilt als verflucht«, knurrte er mürrisch.
»Nun ja, aus diesem Grund habe ich auch deine Begleitung erbeten. Sollte etwas Unheimliches geschehen, kannst du uns ja beschützen.«, antwortete Grayson mit einem amüsierten Klang in der Stimme.
Als ich über meine Schulter zu ihm spähte, sah ich, wie er Deikan zuzwinkerte.
Seltsamerweise erfasste mich bei dieser Geste kein Argwohn. Keine Ahnung, welcher Natur die Verbindung zwischen den beiden war, aber offensichtlich gefiel es Grayson, Deikan zu reizen. Und er ließ sich auch nicht von dessen mürrischer Art abschrecken, sondern schien damit umgehen zu können.
Deikan hingegen, der auf diesen Ausflug nicht die geringste Lust zu haben schien, beschränkte sich nur darauf, auf Graysons Worte hin etwas Unverständliches zu murmeln und danach sein Pferd anzutreiben.
»Ihr kennt euch schon ziemlich lange, oder?«, mutmaßte ich, was Grayson ein leises Lachen entlockte.
»Ja. Schon unser ganzes Leben. Lass dich von seiner abweisenden Art nicht beeindrucken, Inori. Deikan ist ein guter Freund und der verlässlichste Begleiter, den man sich wünschen kann.«
Damit bewegte er seine Schenkel und unser Pferd setzte sich ebenfalls in Bewegung.
***
»O wow«, flüsterte ich Stunden später.
Dass das mit der undurchdringlichen Dornenhecke wortwörtlich zu nehmen war, hatte ich tatsächlich nicht erwartet. Zudem sahen die Dornen für mich irgendwie seltsam aus.
Die Ranken waren auffallend dick, die Dornen unverhältnismäßig lang. Der Anblick wirkte auf mich, als hätte sich ein riesiger Kraken auf dem Schloss niedergelassen und die Außenmauern mit seinen Fangarmen umschlossen.
»Ich bezweifle, dass wir uns das Schloss von innen ansehen können«, sagte Deikan kritisch, während er vom Pferd abstieg.
Er band die Zügel um den nächstgelegenen Baum und schritt zum Anfang der steinernen Brücke, die den einzigen Zugang bildete. Denn abgesehen von den Dornen war die Schlossruine ringsum von einem tiefen Wassergraben umgeben.
Aber auch die Brücke ließ sich nur etwa bis zur Hälfte betreten, ehe man auf Dornen traf.
Grayson stieg ebenfalls von unserem Pferd und band es an, ehe er mir beim Absteigen half.
Gemeinsam schlossen wir zu Deikan auf und mit jedem Schritt, mit dem ich mich der Brücke näherte, verstärkte sich das Gefühl, von etwas angezogen zu werden.
Ich kannte es. Hatte es bereits in der Academy gespürt. Tief unten im Uhrenturm. Am Meer der Zeit.
In diesem Schloss war etwas und es rief mich zu sich.
»Ich war lange nicht mehr hier«, begann Grayson und musterte die Dornen ebenso kritisch wie sein Freund. »Die Hecke scheint inzwischen wirklich undurchdringlich.«
»Ich denke, wir sind trotzdem richtig«, sagte ich und setzte vorsichtig einen Fuß auf die Brücke, ehe Deikan meinen Ellenbogen ergriff.
»Das ist sinnlos. Man sieht doch schon von hier, dass es kein Durchkommen gibt.«
»Aber …«, begann ich, als ein Beben den kompletten Zugang erschütterte.
Ich stolperte nach vorne und Deikan ließ meinen Arm los, als die Erschütterung stärker wurde.
»Inori!«, schrie Grayson erschrocken und seine Stimme mischte sich mit meinem panischen Aufschrei, als die Steine unter meinen Füßen zu bröckeln begannen und dann gänzlich wegbrachen.
Die Schwerkraft riss mich in die Tiefe, ohne dass ich etwas tun konnte, und ich klatschte in eiskaltes Wasser.
Wie ich befürchtet hatte, zogen die vielen Stoffschichten des Kleids an mir wie ein Sack Zement.
Dennoch strampelte ich mit aller Kraft zurück an die Oberfläche, wo mich weitere Gesteinsbrocken, die viel zu nah neben mir ins Wasser rauschten, erneut nach unten wirbelten.
Nachdem ich mich an die Oberfläche gekämpft hatte, klammerte ich mich an den ersten Halt, den ich erreichen konnte.
Ein stechender Schmerz in meiner Handfläche verriet mir, dass es sich dabei um eine der Dornenranken handelte. Aber es war mir egal. Ich ignorierte den Schmerz und das Blut, das warm über meine Hand floss, und klammerte mich mit aller Kraft an die Ranke.
»Corvinius?«, rief ich ängstlich, aber eine Bewegung auf meinem Rücken beruhigte mich. Kurz darauf tauchte das Hermelin pitschnass, aber unverletzt in meinem Sichtfeld auf.
»Alles okay?«, fragten wir unisono und nickten auch fast zeitgleich.
Bevor ich weitere Anstalten machte, aus dem Wasser zu kommen, nestelte ich an der Schleife um meinen Hals, die mir langsam das Gefühl gab, gewürgt zu werden, und entledigte mich des schweren Umhangs.
Danach zog ich mich mühevoll an der Ranke nach oben, bis meine Füße wieder auf festen Boden trafen.
Keuchend sackte ich auf die Knie und blickte mich um. Viel mehr als weitere Dornenranken ließ sich nicht ausmachen, aber ich konnte doch erkennen, dass ich mich nun auf der anderen Seite, also direkt unterhalb der Schlossruine befand.
»Was machen wir jetzt?«, fragte ich, während ich den Kopf in alle Richtungen drehte.
Grayson und Deikan konnte ich von meiner jetzigen Position aus nicht sehen.
»Schau mal, da vorne«, sagte Corvinius.
Ich neigte meinen Oberkörper etwas zur Seite, um seinem Blick folgen zu können.
Zwischen den ganzen Ranken war es nur schwer zu erkennen, aber bei genauem Hinsehen ließ sich eine schmale Öffnung ausmachen, die in die Außenmauer des Schlosses gehauen war.
»Glaubst du, wir kommen da rein?«, fragte ich, obwohl ich keine Antwort erwartete, denn ich rappelte mich bereits auf und versuchte durch die Dornen bis zu der Öffnung zu gelangen.
»Hoffen wir es. Denn zurückschwimmen und auf der anderen Seite nach oben klettern können wir vergessen«, antwortete Corvinius, was ich mit einem Nicken quittierte.
Obwohl ich versuchte den Dornen auszuweichen, waren sie so zahlreich, dass sie mir immer wieder in die Haut oder das Kleid schnitten.
Aber ich biss die Zähne zusammen und erreichte letztlich den Zugang, wo ich in vollkommene Schwärze blickte.
»Wir brauchen Licht«, sagte ich und Corvinius nickte, was ich dadurch bemerkte, dass sein Fell über meine Wange streichelte.
»Verwende deine Kräfte, aber mit Vorsicht. So gering wie möglich. Damit wir keinen Zeitwirbel verursachen.«
Ich hob die Hand und ließ eine Flamme entstehen, die die Umgebung in sanftes Licht tauchte. Doch viel mehr als dunkles Gestein und weitere Dornenranken, die sich darüber und auf dem Boden entlangzogen, war nicht zu erkennen.
Die Dornen waren glücklicherweise nicht so dicht gewachsen und der Gang ließ sich betreten. Vorsichtig wagte ich die ersten Schritte und ging dann immer tiefer in die Dunkelheit.
In dem Gang war es kalt und feucht und es roch unangenehm nach Moder.
Irgendwoher drang ein stetiges Tropfen zu mir, ansonsten herrschte gespenstische Stille.
»Das ist schon unheimlich«, flüsterte ich, während ich aufpasste auf keine der langen Dornen zu treten.
»Hast du Angst?«, fragte Corvinius und ich spürte, wie er sich stärker an mich kuschelte, als wollte er mich trösten.
Das fand ich so niedlich und liebevoll, dass ich mit meiner freien Hand kurz über seinen Kopf streichelte.
»Es geht. Tatsächlich habe ich inzwischen schon so meine Erfahrungen gemacht mit unterirdischen und gruseligen Gängen.«
»Inwiefern?«, fragte Corvinius und während ich durch den Gang lief, erzählte ich ihm von meinen Erlebnissen in der Academy. Von den Tunneln unterhalb der Schule und meiner Mitschülerin Lanre, die dort verschwunden war. Letztlich kamen wir auch auf das Thema zu sprechen, warum Cestian und ich überhaupt einen Nexus vollzogen und hier, hinter der Zeit, gelandet waren. Und damit auch auf den Angriff auf die Academy und unsere Freunde, die dabei gestorben waren.
Für mich fühlte es sich an, als würde das schon Ewigkeiten zurückliegen. Seither war so viel geschehen, dass es mich sogar etwas verwunderte, dass ich erst jetzt mit Corvinius darüber sprach.
»Das mit deinen Freunden tut mir leid«, flüsterte er mitfühlend, woraufhin ich nur nicken konnte.
Die Erinnerung an meine Freunde schmerzte, doch ich hatte keine Zeit, jetzt zu trauern.
»Aber das mit diesen Schatten ist besorgniserregend. Es klingt sehr nach der Begabung eines Wächters, auch wenn ich mir das nur schwer vorstellen kann.«
»Könnte es denn noch eine andere Ursache geben?«
Corvinius schien angestrengt nachzudenken, denn es dauerte lange, bis er mir antwortete.
»Erinnerst du dich, als ich euch von den Zeitgeistern erzählt habe? Dass sie die Ebenen durch ihre bloße Anwesenheit verseuchen, weil sie nicht mehr in diese Welt gehören?«
»Ja. Weil sie eigentlich tot sind, richtig?«
»Richtig. Aber ich habe mich da etwas vage ausgedrückt, denn es ist schwer zu erklären. Es sind weniger die Labyrinthe der Zeitgeister, die ihre Umgebung verseuchen. Es sind mehr die Wesen, die innerhalb der Labyrinthe erscheinen.«
»Wesen? Welche Wesen?«