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Das Buch

Das Überbringen von schlechten Nachrichten gehört zum schwierigsten, was Ärzte, Polizisten, Kriseninterventionsteams, Vorgesetzte – aber auch jeder von uns als Freund, Eltern etc. zu tun haben. Es gehört zu unserem Leben, für viele auch zum Beruf, aber wir haben es nicht gelernt. In der Aus- und Weiterbildung werden wir kaum darauf vorbereitet, obwohl es doch diese Gespräche sind, die uns am meisten verfolgen. Und die auch das Gute im Berufsleben ausmachen können.

Das Herz dieses Buchs schlägt genau hier, wo auch die Herzen derjenigen klopfen, die Nachrichten überbringen müssen. Und derjenigen, die sie entgegennehmen. Es handelt von Geschichten schwerer Schicksalsschläge und dramatischer Momente. Jalid Sehouli beschreibt lebendig die unterschiedlichsten Emotionen und Perspektiven der Überbringer und Empfänger von schweren Nachrichten. Und er gibt ganz praktische Hinweise, wie man das macht: Auf eine gute Weise eine schlechte und gute Nachricht überbringen. Er liefert hilfreiche Ratschläge, wie man sich selbst nicht als Täter fühlt und Patienten als Opfer behandelt, wenn man ihnen eine schlimme Diagnose mitzuteilen hat.

Der Autor

Prof. Dr. Jalid Sehouli ist Arzt und zählt als Leiter der gynäkologischen Klinik der Charité zum Kreis der weltweit führenden Top-Krebsspezialisten. In seinem Alltag als Onkologe, dicht an den Menschen, erlebt er Situationen und Begegnungen, in denen die Art der Gesprächsführung eine existenzielle Bedeutung hat. Er nimmt die Verantwortung dafür bewusst an und teilt seine Erfahrung und sein Wissen aus Überzeugung:

»Als Arzt habe ich das Glück, über viele Jahre hinweg Menschen begleiten zu dürfen und dabei zu beobachten, was gute oder schlechte Nachrichten bei ihnen auslösen. Und was sie bei mir selbst hinterlassen, wie sie mein Handeln verändern. Dieser Seelenspiegel ist eine Chance, die eigene Wirksamkeit im Beruf und im Privatleben zu erfahren und verbessern zu können.«

Von der Kunst,
schlechte Nachrichten
gut zu überbringen

Prof. Dr. Jalid Sehouli
Direktor der Klinik für Gynäkologie
und Ordinarius an der Charité in Berlin

Kösel

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Editorische Notiz

Die im Buch geschilderten Situationen hat der Autor entweder selbst so erlebt oder von Kollegen, Freunden oder Verwandten erzählt bekommen. Die Namen der Fallgeschichten sind zum Schutz der Persönlichkeitsrechte so verfremdet, dass keine Rückschlüsse auf die wirklichen Personen gezogen werden können.


Copyright © 2018 Kösel-Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Marlene Fritsch, Frechen-Königsdorf

Redaktion: Hans Georg Hoffmann, Berlin

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

Umschlagfotografie: Werner Schüring, Berlin.

www.schuering-foto.com

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-21147-9
V001

www.koesel.de

Inhalt

Der Moment: »Kommen Sie bitte herein?«
Zwei Menschen begegnen sich

Wer dieses Buch braucht und warum es ein Arzt schreiben musste

Breaking Bad News

Die untragbare Angst

Wie wird Kommunikation gelehrt und gelernt?

Agadir

Ein Thema, das uns alle angeht – auch im Privaten

Das gute Übermitteln der schlechten Nachricht

Die Chefarztvisite

Der Spaziergang

Die gute Vorbereitung eines existenziellen Gesprächs

Was erwartet ein Patient von einem guten Arzt?

Sich seiner Rolle bewusst sein

»Herr Doktor, woher kommt meine Heiserkeit?«

Wie beginnt man ein Gespräch zur Übermittlung einer schlechten Nachricht?

Verständigungsprobleme

Warum Schweigen manchmal die beste Antwort ist

Im Treppenflur

Die entscheidende Frage

Wahrhaftigkeit und Vertrauen

Krankheitstheorien Raum geben und miteinander besprechen

Mamed

Die Botschaft

Das Umfeld: Angehörige als Verbündete gewinnen

Was hilft den Menschen, schlechte Nachrichten zu verarbeiten?

Der Sturz

Visite der Lebenserfahrung

Spiritualität – Hoffnung in hoffnungsloser Zeit

»Ich gebe doch nicht auf«

Das Gespräch beenden und dokumentieren

»Mama ist schwer krank«

Beispiele außerhalb der Medizin

Der Vater und der junge Polizist

Auf der Suche nach der guten Nachricht

Perspektivwechsel

Die gute Nachricht zum Abend

Die Schachblume

Das Gute im Schlechten – auf das Timing kommt es an

Zurück in der Sprechstunde

Moskau

Anstelle einer Autorenbiografie: Meine traurigste und meine schönste Nachricht

Und wie ging es mit Susanne Sieckler weiter?

Anhang: Hilfe für Helfer, für Empfänger, für Angehörige

Kurzfassung der SPIKES-Methode

Regeln für das Überbringen einer Todesnachricht

Breaking Bad News – Seminare

Checkliste für das Gespräch zur Übermittlung einer schlechten Nachricht

Auswahl wissenschaftlicher Literatur

Dank

Der Moment: »Kommen Sie bitte herein?«
Zwei Menschen begegnen sich

Susanne Sieckler wartet auf ihren Termin und vertreibt sich ihre Ungeduld mit dem Blättern in veralteten bunten Zeitschriften. Die Blätter sind teilweise schon etwas verblasst. »Diese Zeitschriften kennen wohl schon viele Wartende«, denkt sie.

Susanne Sieckler ist 31 Jahre jung und hat gerade das so lange vermisste Gefühl, sie wäre endlich wieder mitten auf der asphaltierten Straße des Lebens unterwegs. Die letzten Jahre waren schwer, verdammt schwer, immer wieder diese Rückschläge: der tödliche Verkehrsunfall ihres Mannes, die schweren Jahre der Trauer und der Verzweiflung, dazu die Verantwortung für ihre zwei Kinder: Noa, damals gerade vier Jahre alt, und Melissa, sieben Jahre alt. Dann die unzähligen Umschulungen, die sie auf Druck des Arbeitsamtes gemacht hat, ohne dass dabei eine feste Stelle herausgekommen ist. Nun, nach vier langen Jahren, bringen die Kinder endlich wieder gute Schulnoten nach Hause, sie arbeitet bei einer renommierten Kochschule am Viktoria-Luise-Platz in Berlin-Schöneberg und hat vor Kurzem John kennengelernt, der in der Solarenergiebranche eine bedeutende Position hat.

Und jetzt diese Diagnose: »Eierstockkrebs im fortgeschrittenen Stadium, dem schlechtesten aller Stadien – Stadium IVb«, sagte ihr der Arzt, obwohl sie ihn gar nicht danach gefragt hatte. Das letzte halbe Jahr war die Hölle: Die Müdigkeit und die Bauchschmerzen wurden lange als Erschöpfungssyndrom und als psychosomatisch gedeutet. Gründe, dass der Körper auf die vielen psychischen Konflikte reagiert, gab es ja genug bei Susanne Sieckler. Es folgte eine Odyssee durch die Praxen verschiedener Ärzte mit unzähligen Untersuchungen – und weiteren Unklarheiten statt Diagnosen. »Woher kommt dieses Bauchwasser?«, »Trinken Sie denn Alkohol?«, fragten die Ärzte immer wieder. Als ein junger Arzt in der Rettungsstelle die Diagnose Eierstockkrebs zum ersten Mal diskutierte, wusste sie sofort, dass er recht hatte – und sie wusste in diesem Moment, dass ihr Leben nie mehr das alte sein würde.

Heute wird nun endlich das schon lange geplante und ersehnte Gespräch nach den drei Monaten der Chemotherapie stattfinden. »Staging« nennen Mediziner eine Zwischenbilanz und die Untersuchung, ob ein Tumor kleiner oder größer geworden ist. Zwei Krebsmedikamente und eine Unzahl anderer Medikamente hat sie in dieser Zeit genommen, um die Nebenwirkungen irgendwie erträglich zu machen. Es ist Halbzeit, sechs Monate Chemotherapie sind insgesamt geplant, freuen kann sie sich jedoch nicht über diesen Meilenstein. »Egal, Hauptsache, es hat geholfen«, stemmt sie ihren müden Gedanken entgegen. Die Krebstherapie hinterlässt Spuren, seelische und körperliche. Ihre schulterlangen, kastanienfarbenen Locken, um die sie schon als Kind alle beneidet haben, sind völlig verschwunden. Selbst die Augenbrauen sind ausgefallen. Und an die körperliche Schwäche hat sie sich immer noch nicht gewöhnt. Selbst das Denken und Träumen fällt ihr schwer.

Susanne wartet auf die Ärztin, die versprochen hatte, heute mit ihr die Befunde der Zwischenuntersuchungen zu besprechen. Sie hofft so sehr, dass die Blutwerte und die Ergebnisse der Computertomografie positiv für sie ausfallen und die Ärztin ihr sagt, dass die belastende Therapie gegen die Krebserkrankung gewirkt hat. Bis zum Zeitpunkt der Diagnose war sie nur einmal bei Ärzten gewesen, damals als Fünfzehnjährige, als sie eine Mandelentzündung hatte. Jetzt überlegt sie, wie oft ihr inzwischen schon Blut abgenommen wurde.

Sie blättert in ihrem Ordner und zählt die Laborausdrucke, die wie geheime Dokumente zu geheimen Nummernkonten aussehen: drei vor der großen Operation, sieben während des Krankenhausaufenthalts, eine vor der ersten Gabe der Chemotherapie und dann noch dreizehn während der gesamten Behandlung. Sie versucht das zusammenzuzählen. Mathematik war nie ihre Stärke, aber seit der Chemotherapie fällt es ihr noch viel schwerer. Nach drei Anläufen gelingt es. »Gestern war es die dreiundzwanzigste Blutentnahme«, sagt sie leise zu sich selbst und weiß nicht, ob sie stolz oder traurig sein soll.

Sie schaut nach links in den weißen Flur, Menschen kommen und gehen, einige kennt sie, anderen glaubt sie an einem anderen Ort schon einmal begegnet zu sein. Sie schaut auf ihren Terminzettel: 14 Uhr 30, dann auf die Uhr im Flur: 15 Uhr. Mit freundlicher und leiser Stimme fragt sie die Schwester, ob es sich noch weiter verzögern wird, da sie später in die Kita ihrer Tochter muss, heute ist großes Laternenfest. Vorher will sie aber noch einmal zu Hause vorbei. »Liebe Frau Sieckler, Frau Doktor, mit der Sie einen Termin haben, ist leider auf dem Weg zur Arbeit mit dem Fahrrad gestürzt und kann heute nicht kommen. Sie hat aber sofort nach dem Unfall angerufen und ihre Kollegin gebeten, das Gespräch mit Ihnen zu führen – toll, oder? Frau Dr. Fernandez-Meier kommt gleich, sie ist noch bei einer Operation, ich denke, in ein paar Minuten ist sie aber da.« Frau Dr. Fernandez-Meier kennt Susanne nicht, sie arbeitet auf einer anderen Station. »Na ja, egal«, sagt sich Susanne, »Hauptsache, ich erfahre heute meine Ergebnisse. Und die guten Befunde vorlesen kann doch bestimmt jeder Arzt.«

Dr. Fernandez-Meier ist seit fünfzehn Jahren Ärztin und macht aktuell ihre Zusatzausbildung zur Krebsmedizin, daher ist sie vor einem Jahr in das Krebszentrum gewechselt. Sie assistiert gerade bei einer großen Krebsoperation und hat zusätzlich an diesem Freitag 24-Stunden-Dienst, daher hat es sich wohl angeboten, dass sie das Gespräch für ihre Kollegin übernimmt. Gerne macht sie das nicht heute, sie kennt den Krankheitsverlauf der Patientin nicht. Sie hat vorhin nur den Anruf aus der Poliklinik erhalten, dass sie den Termin übernehmen soll. Irgendwie wird sie das Gespräch schon hinbekommen. Die über sieben Stunden dauernde Operation ist nun vorbei, Hunderte von Knoten am Bauchfell wurden entfernt, auch ein Stück Darm von etwa zwanzig Zentimetern musste entfernt werden, da dieser Bereich mit dem Eierstocktumor verbacken und die äußeren Gewebeschichten des Darmes vom Krebsgeschwür befallen waren.

Der Tag ist noch jung, als die Ärztin sich auf den Weg zur Poliklinik macht. Für das Gespräch mit Frau Sieckler hat sie leider nur etwa zwanzig Minuten Zeit, dann muss sie wieder in den Operationstrakt: Eine junge Frau hatte eine Fehlgeburt und braucht nun eine Ausschabung. »Schnell die Akte studieren, dabei etwas trinken, einen Müsliriegel essen und dann die Patientin hereinrufen«, denkt sich Dr. Fernandez-Meier, als sie vor dem Fahrstuhl wartet. Mit einem angestrengten Lächeln schaut sie Frau Sieckler an, die bereits vor der Tür des Besprechungszimmers wartet. »Guten Tag, Frau Sieckler, ich bin gleich so weit«, sagt sie. »Lassen Sie sich ruhig Zeit und verschnaufen Sie erst einmal«, antwortet Frau Sieckler und strengt sich dabei an, nicht an das Laternenfest ihrer Tochter zu denken.

Die Ärztin öffnet die Flasche Wasser, der Deckel geht nur schwer auf, dann endlich ein tiefer Schluck. »Mist, der Müsliriegel ist in meinem Dienstzimmer«, denkt sie, als sie die Akte von Frau Susanne Sieckler, geboren am 19.6.1987, öffnet. Sie blättert die dicke Akte durch, sucht den Arztbrief vom ersten Krankenhausaufenthalt und die Angaben zur Diagnose: Serös-papilläres high grade Ovarialkarzinom, FIGO Stadium IVb, Z. n. Längslaparotomie, Adnektomie, Omentektomie und Peritonektomie, postoperativer Tumorrest kleiner als 1 cm.

Die Ärztin weiß schnell, dass die Heilungschancen nicht gut sind – Tumorreste sind also trotz der Operation verblieben. Und dann sind da noch die Lebermetastasen … »Hoffentlich hat die Chemotherapie gewirkt«, denkt die Ärztin, als sie nach den Ergebnissen der Zwischenuntersuchungen greift. Tumormarker CA-125 vor der Chemotherapie 1490 Einheiten, Tumormarker Ca-125 nach drei Gaben der Chemotherapie 2750 Einheiten. Hektisch sucht die Ärztin im Rechner nach dem Computertomogramm, um der Vorahnung, dass der Tumor trotz der Chemotherapie weiterwächst, vielleicht etwas entgegenzusetzen und ein Argument zu finden, dass die belastende Krebsbehandlung nicht ganz umsonst war.

Dr. Fernandez-Meier wird gegen ihren Willen immer ungeduldiger. Sie schnalzt mit ihrer trockenen Zunge, tippelt mit ihren müden Fingern auf der Tischplatte und glaubt, damit die Zeit irgendwie beschleunigen zu können. Es gelingt ihr aber nicht. Es ist ein zweieinhalbseitiger Bericht. Sie hat weder die Zeit noch die Geduld, alle Zeilen zu lesen, sodass sie direkt in den Absatz »Gesamtbeurteilung« springt. Im Vergleich zu den Voraufnahmen: »Deutlicher Progress der peritonealen und hepatischen Metastasen.« Die Ärztin schluckt, als ob sie gerade ein viel zu großes Stück Sandkuchen gegessen hätte. »Der Tumor ist gewachsen, ich muss es ihr sagen!«, denkt sie. Das Telefon klingelt, der Oberarzt ist in der Leitung und bittet sie, pünktlich im Operationssaal zu sein, die Patientin warte schon lange auf den Eingriff. »Ja, klar!«, sagt sie und legt schnell auf.

Dr. Fernandez-Meier steht auf, schaut in den Spiegel an der Tür, wischt sich schnell das Apricot des Lippenstifts ab – irgendwie hat sie ein schlechtes Gewissen, diese Farbe für eine solche Botschaft auf den Lippen zu tragen –, holt tief Luft und öffnet die Tür zum Warteraum.

»Frau Sieckler, kommen Sie bitte herein?«