Das Buch
Für die moderne Frau ist Alkohol der weiche Insta-Filter, den sie über ihr Leben legt. Ein Drink in der Hand lässt sie verwegen wirken – doch eigentlich trinkt sie sich nur das Patriarchat schön. Auch die amerikanische Journalistin Kristi Coulter hat getrunken. Bis sie erkannte, dass Alkohol das Öl in den Motoren von auffallend vielen Frauen ist. Das, was uns leise und sanft zum Schnurren bringt, wenn wir eigentlich laut brüllen sollten. Warum nicht die Kraft der Klarheit nutzen, um am System zu rütteln? In dieser Sammlung unwiderstehlicher feministischer Essays erzählt Kristi Coulter von einem Leben im Wandel und ihrem neuen, klaren Blick auf die Welt. Ideale Lektüre für alle Frauen, die wirklich etwas gegen das Patriarchat unternehmen und nicht nur schicke Slogans durch die Gegend tragen wollen. Traut euch, klar im Kopf zu sein!
Die Autorin
Kristi Coulter ist eine amerikanische Journalistin und hat einen Abschluss in Kreativem Schreiben von der University of Michigan. Ihre Arbeiten sind unter anderem in The Awl, Marie Claire, Vox und Quartz erschienen. »Klar im Kopf« ist ihr Debüt. Sie lebt in Seattle, Washington.
Kristi Coulter
Klar im Kopf
Warum wir Frauen aufhören müssen, uns das Patriarchat schönzutrinken
Aus dem amerikanischen Englisch
von Elke Link
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Nothing Good Can Come from This: Essays« bei MCD x FSG Originals, Farrar Strauss & Giroux, New York, USA.
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Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2019
Copyright © 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © 2018 by Kristi Coulter
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,
unter Verwendung eines Motivs von FinePic®, München
Lektorat: Doreen Fröhlich
DF · Herstellung: kw
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-25133-8
V001
www.goldmann-verlag.de
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Für John
Look me in the eye, then tell me that I’m satisfied.
– Paul Westerberg
Bei diesem Buch handelt es sich um ein Memoir. Es enthält Erinnerungen der Autorin an Erlebnisse aus früherer Zeit. In manchen Fällen wurden Ereignisse komprimiert und Dialoge neu geschaffen. Namen und identifizierende Merkmale mancher Personen, die in diesem Buch vorkommen, wurden geändert.
Inhalt
Debriefing
Enjoli
Fisch, Vogel oder Säugetier
Haftnotiz: Rachels Hochzeit
Erlaubnis
Schattenleben
Ein Leben in Getränken
In der Not
Haben Sie ein Alkoholproblem?
Durchhalten
Haftnotiz: Konzert von Neil Finn
Mädchen schleicht in einen Raum
Trampelpfade
Der Barn
Kontrolliert trinken – eine Anleitung
Pussy Triptychon
Sich einbringen
Brombeere
Haftnotiz: die Wahlnacht 2016
Faszination
Elefantengrau
Happy sometimes
Kreuzheben
Danksagung
Debriefing
Sie haben mir gerade ein Loch beschrieben.
Ja.
Und Sie haben versucht, dieses Loch zu füllen?
Ja.
Womit wollten Sie dieses Loch füllen?
Mit Wein, das habe ich Ihnen doch schon gesagt.
Noch etwas?
Mit Champagner. Cocktails. Scotch.
Bier?
Nein, mit Bier nicht.
Sonst noch etwas?
Mit Akupunktur, Aminosäuren, Applaus, Bestnoten, Brandbriefen, Dankbarkeit, Ecstasy, Glutamin, Gospelchören, Handschellen, Hypnose, Kava, Kirtan, Klarträumen, Lippenstift, Prada, Punkrock, Reiki, Schwänzen, Schweiß, Smudge Sticks, Tarot, Vergebung, Vortex, Wahrsagerinnen, Wut, Yoga, Zazen, Zigaretten, Zungen.
Aber in erster Linie mit Wein.
Und haben Sie das Loch gefüllt?
Nein. Es hat sich herausgestellt, dass es doch kein Loch war. Nur eine Lücke.
Eine Lücke.
Ja.
Und haben Sie die Lücke ausgefüllt?
Noch nicht.
Enjoli
Ich trinke seit Kurzem nicht mehr und kämpfe mich durch den ganzen Alkohol um mich herum. Am Anfang habe ich ihn tunlichst gemieden. Ich habe Partys und Happy Hours und Verabredungen im Restaurant abgesagt. Aber auch als Einsiedlerin muss man Lebensmittel einkaufen und arbeiten gehen, und selbst das stellt jetzt einen Gefahrenbereich dar. Es ist Sommer, und bei Whole Foods haben sie im ganzen Laden Roséflaschen verteilt. Rosé passt hervorragend zu Fisch! Und zu Erdbeeren! Und auch zu veganem Proteinpulver! (Okay, das mit dem Proteinpulver habe ich mir ausgedacht.) Im Büro befindet sich in jedem Schreibtisch in meiner Nähe eine Flasche Wein oder Schnaps, falls jemand zu faul sein sollte, die fünfzehn Meter zu einer der gut ausgestatteten Gemeinschaftsbars zu gehen, die wir auf unserem Stockwerk eingerichtet haben. Auf dem Heimweg von der Arbeit fahre ich an Werbeplakaten für Fluffed Marshmallow Smirnoff und Iced Cake Smirnoff und nicht einfach Cinnamon, sondern Cinnamon Churros Smirnoff vorbei. Eine örtliche Apotheke, und zwar genau die, die drei Monate in Folge mein Rezept vergeigt hat, hat Selbstbedienungszapfhähne für Bier installiert, und junge Männer stehen mit ihren leeren Behältern bis zu den Produkten für Augen- und Ohrenpflege Schlange.
In der Arbeit leite ich gerade zusammen mit einem Kollegen einen Lehrgang für Führungskräfte. Um uns ihre volle Aufmerksamkeit zu sichern, stecken wir die Teilnehmer in Luxusrefugien und sperren sie den ganzen Tag in Besprechungszimmer, manchmal sogar bis in den Abend hinein. Die Leute werden dann so wepsig, dass die spätabendliche Szenerie an der Bar schon legendär geworden ist. Die Führungskräfte, die den ganzen Tag darauf konzentriert waren, wer den Längeren hat, singen am Ende Karaoke und umarmen sich. Ich habe mich die ganze Woche entschuldigt. Dadurch wirke ich etwas zugeknöpft, ich weiß, aber ich bin einfach noch nicht so weit, in einem Raum voller betrunkener Alphamännchen so zu tun, als würde ich mich amüsieren. Das funktioniert bis zu der obligatorischen, von der Firma gesponserten Weinprobe. Ich hatte vorgehabt, mich mit meinem Zitronenwasser durch den Raum zu arbeiten, dafür zu sorgen, dass ich gesehen werde, und dann die Fliege zu machen, bevor es zu schmuddelig wird (was jedes Mal passiert). Am Cateringstand werden sechs unterschiedliche Weine und vier Biersorten präsentiert, aber als ich um ein Club Soda bitte, ernte ich nur einen verwirrten Blick. Dann eben nur ein Glas Wasser. Der Barkeeper verzieht entschuldigend das Gesicht. »Gibt es im Foyer nicht einen Wasserspender?«
Schon. Aber der ist kaputt. Mit leeren Händen mische ich mich eine Viertelstunde unter die Leute und lehne wohlmeinende Angebote ab, mir etwas von der Bar zu holen. Nach dem fünften wird mir bewusst, dass ich gleich in Tränen ausbreche, wenn mir noch einmal jemand Alkohol anbietet. Ich gehe und fange trotzdem an zu heulen. Später bestelle ich mir zur Aufmunterung einen Becher Vanilleeis beim Zimmerservice, und der Kellner sagt: »Das wird sehr gerne mit einem Schuss Bourbon darüber genommen – möchten Sie sich das auch gönnen?«
In diesem Sommer wird mir klar, dass jeder um mich herum beschickert ist. Langsam dämmert mir auch, dass die Frauen noch einmal doppelt so beschickert sind. Ich suche Zuflucht bei einer Nachmittagsvorführung von Magic Mike. Ein paar Frauen trinken Sekt mit Strohhalm und stoßen darauf an, dass sie sich Zeit für ihre Mädelstreffen nehmen können. »Das haben wir uns verdient!«, juchzen sie. Im Nagelstudio ist eine Babyparty im Gange. Bis auf die werdende Mutter trinken alle Wein, und zwar nicht wenig. »Zum Glück gibt es Plätze wie diesen, wo wir unter uns sein können«, sagt eine Frau im gelben Kleid. »Bis zum Abendessen bin ich sicher verkatert«, sagt eine andere Frau. »Aber das ist es doch wert. Wie oft hat man schon die Gelegenheit, einen Nachmittag ohne die Kinder zu verbringen?« Die Standardeinstellung für solche Treffen lautet »Drinks«, und zwar alkoholische. Mir fällt ein, dass ich einen Gegenvorschlag anbringen könnte, Kaffee, Tee, Schinkenbrote oder einen Spaziergang. Aber allein die daraufhin folgenden Fragen vorwegzunehmen – oder das vorsichtige Ausbleiben von Fragen –, raubt mir die Energie, die ich nicht schon allein damit verbraucht habe, durch den Tag zu kommen. Immerhin bin ich wie fast alle Frauen in meinem Leben Alkoholikerin. Mit der Frage »Wollen wir nicht stattdessen einen Smoothie bestellen?« würde ich genauso Aufsehen erregen, als hätte ich mir ein gigantisches Kruzifix um den Hals gehängt. Warum ist dir das bloß früher nie aufgefallen?, frage ich mich. Du warst zu stramm, lautet die Antwort. Doch in diesem Sommer sehe ich es. Alkohol ist das Öl in unserem Motor, er lässt uns weiter sanft schnurren, obwohl wir doch eigentlich einen ganz anderen Radau veranstalten sollten.
In diesem Sommer trage ich auf dem Bauernmarkt einmal unpraktische (aber süße, sooo süße) Schuhe und stolpere. Mein Handy hat einen Sprung, meine Lieblingsjeans hat Blutflecken an den Knien, und ich habe mir beide Handflächen zerkratzt. Natürlich poste ich alles auf Facebook, sobald ich mich abgewischt habe. Drei Frauen, die nicht wissen, dass ich nicht mehr trinke, kommentieren gleich darauf:
»Wein. Sofort.«
»Gibt es dort Wein zu kaufen?«
»Unbedingt Wein. Und vielleicht neue Schuhe.«
Habe ich erwähnt, dass das alles an einem Vormittag passiert? An einem Wochentag? Das ist nicht so ein Nachtclub-Bauernmarkt. Und die Frauen sind nicht die gebeutelten, geknechteten Wesen, von denen man sich vorstellen kann, dass sie trinken, um den Tag durchzustehen. Das sind ziemlich coole Chicks, über die man sich gerne lustig macht, weil sie nur Luxusprobleme haben. Warum müssen die denn trinken?
Weil coole Chicks immer noch Frauen sind. Und es ist nicht leicht, eine Frau zu sein, weil es nicht zumutbar ist, eine Frau zu sein. Und wenn es nicht zumutbar ist, zu sein, was man ist, dann trinkt man vielleicht ein wenig. Oder auch viel.
In dem Jahr, bevor ich aufhöre zu trinken, werde ich gebeten, in der Firma, in der ich arbeite, als »Die Frau« bei einer Podiumsdiskussion teilzunehmen. (Genau so wurde es angekündigt: »Wir brauchen eine Frau.«) Drei Typen und ich sollen Sommerpraktikanten etwas über Unternehmenskultur erzählen. Im Publikum sitzen auch zwei Praktikantinnen, und als die Fragerunde beginnt, sagt eine: »Angeblich soll es hier für Frauen gar nicht so leicht sein, erfolgreich zu sein. Wie war das denn für Sie?«
Die Frage ist sicher an mich als »Die Frau« gerichtet. »Sie müssen nur zäh sein und brauchen Durchhaltevermögen und eine dicke Haut, dann machen Sie Ihren Weg«, antworte ich. »So war es jedenfalls bei mir.«
Ich erwähne nicht, dass sie sich mit Zwischenbemerkungen, Unsichtbarkeit, Mikroaggressionen, dem Mangel an Vorbildern sowie einer lebenslangen Selbstkonditionierung herumschlagen muss. Meine Aufgabe auf diesem Podium besteht darin, die Firma gut aussehen zu lassen, und so lasse ich ein paar Dinge weg. Insbesondere die Tatsache, dass ich jeden Abend mindestens eine Flasche Wein trinke, um den Tag zum Verschwinden zu bringen.
Aber sie ist eine Frau. Sie hat wahrscheinlich gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen, bevor sie gelernt hat, die Zeilen an sich zu lesen. Sie dankt mir und setzt sich wieder hin.
»Da muss ich widersprechen«, sagt der Typ neben mir. »Für Frauen ist diese Firma wunderbar.«
Mir bleibt der Mund offen stehen.
Der Typ neben ihm nickt. »Auf jeden Fall«, sagt er. »In meinem Team habe ich zwei Frauen, und sie kommen mit allen hervorragend aus.«
Natürlich, denke ich. Das nennt man Tarnung.
Typ Nr. 1 redet weiter. »Eine Frau aus meinem Team hat letztes Jahr ein Kind bekommen. Nach dem Mutterschutz ist sie wiedergekommen, und es klappt wirklich gut. Wir unterstützen Mütter sehr.«
Typ Nr. 3 springt ein, nur um sicherzustellen, dass das Thema zu hundert Prozent von Männern abgedeckt wird. »Unsere Firma ist eine Meritokratie«, sagt er. »Und Leistung hat nichts mit dem Geschlecht zu tun.« Er lächelt mich an, und ich erwidere seinen Blick. Mehr als schweigendes Elend kann ich nicht bieten, aber sein Lächeln lässt etwas nach. Ich habe seine Selbstgefälligkeit zumindest angekratzt.
Die Organisatorin des Podiums und ich schäumen im Anschluss vor Wut. »Solche Drecksäcke«, sagt sie. »Verdammte Ganoven.«
Was soll man als Mädchen tun, wenn ein Haufen Kerle einem gerade vor Publikum widersprochen hat, als man erzählt hat, wie es ist, man selbst zu sein? Ich könnte mit jedem einzeln sprechen und ihm sagen, was das für ein Gefühl war. Ich könnte es der Organisatorin des Podiums sagen. Deshalb sollten Sie niemals nur eine von uns da oben hinsetzen. Ich könnte mir ein Superheldinnenkostüm schneidern und den Rest meines Lebens der Rache an Mansplainern auf der ganzen Welt widmen.
Stattdessen trommle ich ein paar Freundinnen zusammen, und wir verbringen drei Stunden in einer hippen Bar, trinken Rye Manhattan, essen Tapas und reden über die neuesten miesen Sachen, die nicht geschlechterblind sind und die wir bei Meetings, auf Geschäftsreisen und bei Mitarbeitergesprächen erlebt haben. Sie trinken auf mich, weil ich mich für die Gruppe einsetze. Als wir fertig und ausreichend betäubt sind, fahren wir mit einem Uber nach Hause und denken: Wie weit wir doch gekommen sind! Bereiten den Weg für bessere Jobs. Bekommen mit zweiundvierzig das erste Kind, wenn wir uns endlich sicher genug fühlen, um in Mutterschutz zu gehen. Planen Traumurlaube mit derselben militärischen Präzision wie im Beruf, und in diesen Urlauben sind wir dann noch stolz, dass wir nur zwei Mal am Tag geschäftliche Mails checken. Wir sind tough genug, es wegzustecken, dass wir jeden Tag ignoriert und unterbrochen und unterschätzt werden, und klug genug, darüber zu lachen. Wir haben es geschafft. Das ist das gute Leben.
Erinnern Sie sich an die Werbung für das Parfum Enjoli aus den 1970ern? Die Chica, die Geld verdient und den Speck nach Hause bringt, ihn zum Essen brät und dich nie vergessen lässt, dass du ein Mann bist?
Diesem Miststück habe ich einiges vorzuwerfen. Dass sie die Ansicht verbreitet, dass Frauen einen Beruf ausüben, sich um den Haushalt kümmern und ihre Ehemänner vögeln sollten. Dabei wäre doch das einzig Vernünftige, zwei Dinge davon zu tun und das dritte auszulagern. Dass sie es glamourös aussehen lässt. Dass sie suggeriert, es würde Spaß machen. Und den Slogan, der ihr anhaftet: »Das Acht-Stunden-Parfum für die 24-Stunden-Frau.« Nur für den Fall, dass Sie gedacht haben, Sie könnten auch nur mal eine einzige verdammte Stunde frei haben.
Ist es wirklich so schwer, eine Frau der First World zu sein? Ist es wirklich so hart mit dem Beruf und dem Mann und den Haustieren und dem Kräutergarten und dem Core-Training und dem Oh-ich-bin-so-aufgewacht-Make-up und den Spritzen ins Gesicht und dem Uber-Fahrer, der womöglich ein Vergewaltiger ist? Ist es so schwer, zehn Stunden für die dir rechtmäßig zustehenden 77 Prozent eines Gehalts zu arbeiten, auf dem Heimweg an einem Betrunkenen vorbeizulaufen, der dich auffordert, ihm den Schwanz zu lutschen, und den Fernseher einzuschalten, wo dann die Männer, die dieses Land regieren, erklären, dich vor den Schuldgefühlen nach einer Abtreibung schützen zu wollen, indem sie dich zwingen, Kinder in deinem Körper wachsen zu lassen? Wo liegt das Problem? Warum sollte jemand die Ecken und Kanten dieser herrlichen Wirklichkeit abrunden wollen?
Während ich mich langsam wieder hinaus in die Welt wage, stolpere ich den ganzen Sommer über Alkohol, und zwar an Stellen, wo ich mich sicher wähnte. Das Yogastudio bei mir in der Nähe hat jetzt einmal im Monat ein »Vinyasa & Vino«-Event – denn Wein ist genau das, was man nach einer Stunde im Schwitzkasten braucht. Ein örtlicher Haushaltswarenladen bietet ein Seminar zu Schneidetechniken mit Weinprobe an … genau, Alkohol für Leute, die sich bereits selbst als jemand zu erkennen gegeben haben, der so ungeschickt im Umgang mit Messern ist, dass er professionelle Unterweisung braucht. An einem Tag, an dem es zehn Grad wärmer ist als normal, laufe ich einen Frauenhalbmarathon. Es ist mein zweiter Halbmarathon in einem Monat (nein, keine Suchttendenzen), und meine Beine fühlen sich bei jedem Schritt an, als würden sie in die Hüftpfannen gerammt. Meine Kopfhörer geben mittendrin den Geist auf, kurz darauf mein Handy, so dass ich mich weder ablenken noch verfolgen kann, wie ich vorankomme. Es ist der reinste Horror. Aber ich erreiche das Finish, und deshalb bekomme ich eine Finisher-Medaille. Ich bin patschnass, wundgelaufen, lahm, aber erfolgreich. Dann sagt jemand: »Gratuliere, das Margarita-Zelt ist gleich da drüben!«
An einem schönen Tag streichle ich auf einer Farm außerhalb von Seattle eine kleine Ziege, während eine andere kleine Ziege mich immer wieder stupst und dann davonspringt. Das macht Spaß, denke ich träge, und dann, weniger träge: Ich amüsiere mich. Ich bin noch keine sechzig Tage nüchtern und konzentriere mich seither darauf, einfach nur das Wesentliche hinzubekommen: Netflix zu gucken, ohne jede Minute ein Glas an die Lippen zu führen, an einer Happy Hour in der Arbeit teilzunehmen, ohne zu weinen. Spaß habe ich noch nicht einmal gesucht. Aber er hat mich trotzdem aufgespürt.
Ich sitze auf einem Picknicktisch und versuche mir vorzustellen, wie das vor einem Jahr ausgesehen hätte. Ich hätte nicht getrunken, während ich die kleinen Ziegen streichelte (obwohl manche Leute bestimmt eine Menge dafür bezahlen würden). Aber ich würde mich entweder vom Trinken am Abend zuvor erholen – und die Ziegen als Beweis dafür nehmen, dass ich noch andere Interessen hätte – oder mich auf das Trinken am selben Abend vorbereiten und hoffen, die Ziegen würden mich irgendwie mit genügend Gesundheit oder gutem Gefühl ausstatten, damit ich mich ausnahmsweise einmal zurückhalten konnte. So oder so, die kleinen Tiere wären Mittel zu einem Zweck gewesen, zu einem Ziel, das ich nicht erreichen konnte.
In den folgenden Tagen fällt mir dann langsam auf, wie das eigentliche Erleben und meine Erwartungen davon kollidieren und wie das Echte … schwer zusammenzufassen ist. Nichts im Leben ist nur schwarz oder weiß. Ich lache mich drei Mal während eines Films kaputt, bei dem ich ansonsten ständig auf die Uhr sehe. Ich habe Sex, wenn mir gar nicht richtig danach ist, und denke, vielleicht interessiert es mich ja dann mittendrin, aber eigentlich würde ich lieber lesen. Ich laufe eine bergige Strecke und ahne, wie mir Lunge und Oberschenkelmuskeln wehtun werden, und das tun sie auch, aber nicht so sehr, wie ich zuvor befürchtet hatte. Es ist zum Verrücktwerden, wie subtil das Leben ist. Und es ist frustrierend, wie sehr ich mich bemühe, es zu einem Drama zu machen. Es gibt nichts, was so fesselnd oder riskant oder angenehm wäre, dass ich nicht versuchen würde, meine natürliche Reaktion darauf zu verändern. Es ist nur schwer, das ohne Wein zu machen, und ich bin zu müde, um einen anderen Weg zu finden. Also trotte ich weiter, mache Sachen, die ein bisschen langweilig sind und ein bisschen Spaß machen und ein bisschen schön sind, bis mein Gefühl für den Maßstab zur Wirklichkeit passt.
Während meine Erwartungen an das Leben lebensgroß werden, habe ich keine Lust mehr, eine Vierundzwanzig-Stunden-Frau zu sein. Der Fremde, der mir sagt, ich soll lächeln. Der Hausmeister, der meine Beine anglotzt. Die Männer im Fernsehen, die meine Gebärmutter annektieren wollen. Sogar die anderen Fernsehmänner, die sagen, eine Abtreibung solle »sicher, legal und selten« sein. Was geht es verdammt noch mal euch an, ob das selten ist oder nicht?, denke ich.
Die Zeitschriften erzählen mir, Stark sei das neue Sexy und Klug sei das neue Schön, als wären Stark und Klug einfach nur Wege zum Hot. Nein, Moment: Dick ist schön. Nein, Moment: Dünn ist auch schön, solange man nichts dafür tut. Nein, Moment: Alle Frauen sind schön! Als wären wir Kleinkinder, die ganz genau den gleichen Anteil an Elfenstaub bekommen müssen, damit wir nicht durchdrehen.
Und dann werde ich auch auf Frauen sauer. Denn: Wer gerade aufgehört hat zu trinken, kann ein ganz, ganz kleines bisschen voreingenommen sein, besonders wenn man zuvor schon nicht neutral war, so wie ich. Ich brenne vor Klarheit, und ich will, dass die gesamte Weiblichkeit mit mir brennt, damit wir das Patriarchat allein durch unsere Existenz einäschern können. Ich will nicht, dass Frauen die Ränder ihrer schlechten Tage weichzeichnen oder sich mit Wein davon abbringen, rechtschaffene Unruhe zu stiften.
Später werde ich über meinen Eifer während dieser Zeit lachen (und auch ein bisschen davor schaudern). Ich werde verstehen, dass niemand Tag und Nacht wütend sein kann und dass ich selbst nüchtern meine eigenen Methoden habe, die Ränder weichzuzeichnen, und nicht alle davon sind toll. Mir wird bewusst geworden sein, dass es Frauen auf der Welt gibt, die ein Glas Wein trinken können, ohne sich nach der ganzen Flasche zu verzehren. Dass manche Frauen sogar Wein im Glas übrig lassen können, eine Vorstellung, die mir so fremd ist, wie einen halben Oreo-Keks zu essen.
Aber der Kern dieser Wut ist noch lebendig, und ein Teil davon richtet sich gegen mich selbst. Als ich noch getrunken habe, las ich öfter Zeitungsartikel über die Wirkung von Alkohol auf den weiblichen Körper, und statt zu überlegen, was das für mein eigenes Krebs- oder Herzkrankheitsrisiko bedeutete, dachte ich: Die wollen einem doch bloß wieder Angst einjagen. Wenn ich einen Artikel über eine sturzbetrunkene Frau las, die auf der Party einer Studentenverbindung vergewaltigt wurde, dachte ich: Die schieben es wieder auf das Opfer. Wenn ich Warnungen las, dass Alkohol depressiv macht, dachte ich: Macht das echte Leben etwa nicht depressiv?
Aber es gibt mehrere Wahrheiten gleichzeitig. Die Dinge, die Frauen genießen, werden wirklich dämonisiert. Und Frauen verarbeiten Alkohol tatsächlich anders als Männer. Man gibt uns wirklich die Schuld, wenn wir vergewaltigt werden. Und gleichzeitig ist es schwerer, sich einer Gefahr bewusst zu werden, wenn man betrunken ist. Das echte Leben ist verdammt schwer. Und es ist nicht gerecht. Ich wollte das alles nicht sehen. Ich sagte mir, jede schlechte Presse für Alkohol wäre nur wieder ein Trick, um Frauen auf die Finger zu schauen. Wenn ich das alles nämlich wirklich ernst genommen hätte, hätte ich mich fragen müssen, warum ich mich bewusst zerstörte.
Aber wer hat hier von Gerechtigkeit gesprochen? Es geht nicht darum, was gerecht ist. Es geht darum, was wir uns leisten können. Und das können wir uns nicht leisten. Wir können es uns nicht leisten, ein Leben zu leben, das wir nur aushalten, wenn wir unser zentrales Nervensystem irreführen. Wir können es uns nicht leisten, Vierundzwanzig-Stunden-Frauen zu sein. Allein der Versuch hat mich kaputtgemacht.
Monatelang bade ich mich in meiner Wut, marschiere durch mein erstes nüchternes Weihnachtsfest, einen neuen Arbeitsplatz, meinen Geburtstag und lerne letztendlich, die Wut als Ermahnung zu benutzen, aufzupassen, langsam zu machen und mich für Dinge zu entscheiden, von denen ich wirklich will, dass sie passieren. Als es wieder Sommer wird, wird mir klar, dass ich nicht mehr nach Acht-Stunden-Parfum rieche. Ich bin dabei, ein Vierundzwanzig-Stunden-Mensch zu werden, keine Vierundzwanzig-Stunden-Frau. Und Vierundzwanzig-Stunden-Menschen haben viel mehr Raum zum Atmen.
In diesem zweiten Sommer treffe ich mich außerhalb von San Diego mit meiner Freundin Mindy. Die Geburt ihres Adoptivsohns steht in wenigen Tagen an. Mindy hatte andere dunkle Wege zurückzulegen als ich, aber sie ist sie genauso gegangen und hat auch aus ihnen herausgefunden. Manchmal, wenn wir über die jüngere Vergangenheit reden, blinzeln wir uns gegenseitig an wie Menschen, die sich nach einem langen, schlechten Film wieder ans Sonnenlicht gewöhnen müssen. Immer mehr widmen wir unsere Aufmerksamkeit dem Neuen: meiner neuen Stelle, ihrer noch recht neuen und glücklichen Ehe, dem Buch, das ich schreibe, den Kursen, die sie besucht. Den Dingen, die wir verwirklichen, Schritt für Schritt.
Wir verbringen das Wochenende, indem wir uns langsam bewegen, ausschlafen und uns wünschen, das Baby wäre nicht so faul und würde sich schon ein bisschen beeilen. Am Sonntagvormittag liegen wir am tiefen Ende des Hotelpools und lesen, als das seichte Ende sich mit Frauen füllt – soweit wir es sehen können, ist es eine Braut mit ihrem Gefolge. Sie sind schon bei der Ankunft beschwipst, und die Granatapfel-Mimosas – »Granatapfel ist ein Superfood!«, erklärt eine Frau den anderen immer wieder – kommen und kommen, bis es an diesem Ende des Pools so aussieht, als würde dort ein griechischer Frauenchor über seine Körper, Gesichter, Kinder, Häuser, Jobs und Männer klagen, aber nichts anderes dagegen tun, als sich einen Rausch und einen Sonnenbrand zu holen.
Ich werfe Mindy den Blick zu, mit dem Frauen ausdrücken: Kannst du das fassen? Die Frau auf der anderen Seite von Mindy bemerkt den Blick und sieht mich über ihren Laptop hinweg an, und dann ist auch noch die Frau neben ihr dabei. Wir vier kommunizieren schweigend unser Entsetzen, unsere Verärgerung und unsere bissigen Kommentare, und es ist wunderbar.
Dann setzt sich Mindy ihre Tom-Ford-Sonnenbrille wieder auf und sagt: »Also, an diesem Ende des Pools ist es wirklich nett.« Ich lache, mir geht das Herz auf und drückt gegen den Badeanzug, und auch ich ziehe mir die Sonnenbrille herunter, damit niemand bemerkt, dass ich plötzlich feuchte Augen habe. Denn sie hat recht. Es ist so nett an diesem Ende des Pools, wo das Buch, das ich lese, eine Enttäuschung ist, meine Beine zu weiß aussehen, das Eis in meinem Glas längst geschmolzen ist, die Arbeit hart ist und es immer noch keinen guten Weg gibt, ein Mädchen zu sein, und ich nicht weiß, was ich mit meinem Leben anfangen soll, und ich mich plötzlich mit dem allen herumschlagen muss. Nüchtern. Ich hätte nie gedacht, dass ich es an dieses Ende des Pools schaffe. Ich hätte nie gedacht, ich würde einmal hier ankommen.