Amelie Mahlstedt

Lolas
verrückte
Welt

Diagnose: Down-Syndrom

Inhalt

Aller Anfang

Warten auf ...

Ein Funke Hoffnung

Erste Blicke

Keine »runde« Mail

Alles Kopfsache

Turnstunde

Superstar Pineda

Que guapa está

Ach du liebe Kocherei

Heile, heile Segen

Lesen – früh übt sich

Mutter werden ist nicht schwer ...

Freies Spiel oder Drill?

Unter Kindern

Fördern auf Spanisch

Gu(c)k doch mal!

In den ersten Jahren

Geduld, Geduld

Workcamp zu Hause

Der Realität ins Auge blicken

Kindergartenkind

Literatur

Internetadressen

Anmerkungen

Aller Anfang

Der Anfang. Jedes Buch beginnt mit dem Anfang. Es sei denn, man springt in der Zeit. Warum wird dem Anfang, der Diagnose Down-Syndrom, immer eine solche Bedeutung beigemessen? Dieser eine Moment, der alles ändert. Glaubt man zumindest. Am Ende ist es doch gar nicht so anders.

Was sehe ich, wenn ich an den ersten Tag denke? Fetzen, die sich immer wieder neu zusammenfügen.

Greta, mit der blauen Mütze und ihrer Puppe Elli in der Hand. Wie sie mich anschaut, mitten in der Nacht, auf Annettes Arm. Mit Augen, die nichts verstehen von dem, was mit ihr passiert, und doch alles wissen. Sie kennt Annette, ihre Tagesmutter. Gleich wird sie weiterschlafen, in dem Bett, in dem sie sonst ihren Mittagsschlaf hält. Ich brauche mir keine Sorgen zu machen. Die Kirchturmuhr schlägt zwölf. Ich steige wieder ins Taxi, Annette winkt, Greta guckt. Jetzt habe ich Zeit für dich. Lola. Wenn du kommen willst, komm nur.

Eine Dreiviertelstunde später liegt sie zwischen meinen Beinen. Mit glatter rosa Haut, aufgeblähtem Bauch und schwarzen Haaren. Dabei wollten die Schwestern nur ein CTG messen, im Vorzimmer. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich aufs Klo muss. Da wusste die Schwester Bescheid, dass das Kind schon im Geburtskanal liegt. Und nach der nächsten Wehe rann mir Fruchtwasser und Blut die Beine hinab. »Pressen«, kommandierte die Schwester. »Nicht schreien. Alle Kraft ins Pressen.« Drei Wehen später glitt mir das Bündel zwischen die Beine, mit breitem Gesicht und kurzen Ärmchen. Seltsam, dachte ich. Das ist also Lola. Ricardo strahlte.

In gestärkte Tücher eingepackt überreichten sie mir die Schwestern einige Minuten später. Greta war im Geburtshaus zur Welt gekommen. Bei Kerzenschein. Eine Stunde hatte die Nabelschnur auspulsiert, nackt hatte sie zwei Stunden auf meinem Bauch liegen dürfen. Durch die vielen Tücher hindurch, konnte ich Lola kaum spüren. Ich versuchte, einen Blick zu erhaschen, auf ihr Gesicht, in ihre Augen. Einen Augenblick nur öffnete sie sie, und es kam mir vor, als würde sie schielen.

Dann mussten wir warten. Lola wurde untersucht und vermessen. »Ihre Augen sind so ähnlich wie meine, als ich Baby war. Ganz mandelförmig«, sagte ich. Und dachte, dass sie wohl eine nicht ganz so vorteilhafte Mischung unserer Gene erwischt hatte.

»Ich finde, sie sieht süß aus. Ganz wie du«, sagte Ricardo.

Die Uhr zeigte zehn nach eins. Vor einer guten Stunde hatten wir Greta bei Annette am Nordplatz abgegeben. Vor einer halben Stunde hatte ich ein Kind geboren. Ich trug dasselbe Kleid, mit dem ich am Montag meine Doktorarbeit verteidigt hatte. Heute war Samstag.

»Lola kam um 0:39 Uhr auf die Welt gerannt. Pumperlgsund und wohlauf«, schrieb ich und schickte die SMS an Annette, an meine Freundin Anna und an meine Mutter. Mit Anna hatte ich gegen acht telefoniert, als ich meine Wehen noch für Senkwehen hielt. Als ich kurz danach mit meiner Mutter sprach, waren daraus schon Geburtswehen geworden. Und meine Eltern zu Bett gegangen, um morgen früh von Wuppertal nach Leipzig zu fahren.

Gleich würden wir unser Bündel in die Arme gelegt bekommen. Und zu uns nach Hause fahren. Eine ambulante Geburt. Lola, mit schwarzem Haar und rosigem Gesicht, in meinem Arm. Morgen früh Blumen und Gratulanten. Sonne selbstverständlich.

Die Uhr zeigte zwei. Wir warteten noch immer.

Eine der beiden Schwestern, die auch bei der Geburt da gewesen war, betrat das Zimmer. Sie war höchstens 19. Eifrig wie ein Schulmädchen räumte sie das CTG auf und machte einige Notizen. Ihr Gesicht hatte einen kindlichen Ausdruck.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte ich.

»Sie untersuchen sie noch. Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte sie.

Da betrat auch die andere Schwester, deutlich älter, den Raum.

»Dauert es noch lange? Wann kann ich meine Tochter endlich wiederhaben?«, fragte ich.

»Wissen Sie, es dauert noch einen Moment. Weil ...«, sie zögerte. »Ihre Tochter hat eine Vierfingerfurche an einer Hand. Das ist so eine durchgehende Linie auf der Handfläche. Und ihre Augenachse ist etwas schräg. Das findet man auch bei Kindern mit Trisomie 21. Deswegen müssen sie sie noch untersuchen.«

Ich nickte. »Als ich klein war, hatte ich auch so mongoloide Augen. Das hat sie von mir.« Die Arme, dachte ich im Stillen.

Die Schwestern guckten interessiert. »Unsere Oberärztin hat auch eine Vierfingerfurche. Das kommt manchmal vor«, sagte die Ältere. »Bestimmt ist alles in Ordnung.«

»Bestimmt«, sagte ich. »Haben Sie schon einmal ein Kind mit Trisomie 21 auf die Welt gebracht?«

»Seit 35 Jahren arbeite ich als Hebamme, und noch nie ist bei mir ein mongoloides Kind geboren worden. Machen Sie sich keine Sorgen. Es ist bestimmt nur ein Zufall.« Sie lächelte und verließ den Raum.

Ich musste an meine Freundin Dorothea denken, wie sie von den »Mongölchen« sprach. Wenn sie ein Kind wollte, dann ein »Mongölchen«, weil die einen immer lieb haben. Ich musste bei dem Ausdruck an Monchichis denken, diese kleinen Kuschelfiguren mit den strubbeligen braunen Haaren und dieser Mischung aus Affen- und Kindergesicht. Eine ganze Sammlung davon hatte ich als Kind.

Die arme Lola, sie hatte wirklich eine ungünstige Kombination unserer Gene erwischt. Und ich erzählte Ricardo auf Spanisch, dass man Lola noch untersuchen müsse. Sein Deutsch war zu schlecht, um die Unterhaltung verstanden zu haben. Vom Verdacht auf Trisomie 21 erzählte ich nichts. Bestimmt war nichts dran.

Und wir warteten.

Ricardo saß auf dem Sofa in der Ecke des Raumes, hatte die Beine übereinandergeschlagen und wippte mit dem rechten Fuß. Ich dachte an Lola und daran, wie sich ihre Haut gleich anfühlen würde, auf meiner. Im Familienzimmer. Bestimmt würden sie uns heute Nacht nicht gehen lassen wollen, so spät noch.

Es war kurz nach drei, als die ältere Schwester zu uns trat. Ihre Augen waren starrer als zuvor, ihre Lippen leicht zusammengekniffen. Als sie sprach, blickte sie mich nicht an.

»Wir haben Ihre Tochter in ein Wärmebett gelegt. Sie war etwas blau. Die Ursache dafür ist unklar. Der kinderärztliche Notdienst kommt gleich.«

Lola, blau? Wo denn? Ich wollte sie im Arm halten. Jetzt sofort. »Ich kann sie auch auf meinem Arm wärmen«, sagte ich.

»Ihre Sauerstoffversorgung ist unzureichend. Wir müssen ihre Werte kontrollieren.« Ihr Blick hatte sich verändert. Ihre Stimme war bestimmter geworden.

»Legen Sie sich schlafen mit Ihrem Mann. Die Schwester wird Ihnen das Familienzimmer herrichten. Ihre Tochter ist bei uns in besten Händen.« Ihre Lippen formten ein Lächeln, und sie verschwand.

Kurz darauf kam die junge Schwester und führte uns zu unserem Zimmer. Vorbei an einem kleinen Kämmerchen. Darin lag Lola. In einem gläsernen Wagen. Im Neonlicht. Die Arme weit ausgebreitet. Neben ihr ein blinkender Apparat. Ich blieb stehen und schaute sie an. Das kleine Näschen. Die zarten Lider. Wie friedlich sie aussah. Ich traute mich nicht, sie anzufassen.

Das Familienzimmer war in sattem Gelb gestrichen und sah fast aus wie ein Hotelzimmer. Neben dem Bett hing eine geflochtene Wiege an Seilen von der Decke. Um unser Kind in den Schlaf zu wiegen. Unser Kind, das draußen lag, im Kämmerchen. Im Neonlicht. Allein. Der Schrank voller Babywindeln und Strampler. Auf dem Gang der Schrei eines Neugeborenen. Es war nicht unser Kind.

Ricardo ließ sich auf das Bett fallen und schlief ein, ohne ein Wort zu sagen. Ich musste an Lolas Näschen denken. Und an ihre Augen.

Es klopfte. Eine junge Frau kam herein, in Jeans und mit rotem Rollkragenpullover. Der kinderärztliche Notdienst. Sie war etwa so alt wie ich, sehr sympathisch, aber eine Ärztin hatte ich mir anders vorgestellt. Sie würde Lola jetzt untersuchen. Ob schon vor der Geburt irgendetwas aufgefallen sei. Ich erzählte von den niedrigen Herztönen und dass sie sehr klein gewesen sei. Und vom wenigen Fruchtwasser, weswegen man mich zur Geburt in die Klinik geschickt hatte. Wegen möglicher Anpassungsstörungen. Die junge Frau nickte und ging.

Anpassungsstörungen, dachte ich. Lola war vorhin gar nicht blau gewesen. Ich verstand nicht. Und musste wieder an ihre Augen denken, die mich schräg angeschaut hatten. Das Bild verschwamm. Ich hatte nicht genug Zeit gehabt, sie anzusehen. Als Greta damals nach ihrer Geburt auf meinem Bauch lag, hatte Ricardo sie angeblickt, mit diesem Strahlen in seinen Augen, demselben wie in der ersten Zeit unserer Liebe. Für diesen ersten Blick auf Lola hatten wir keine Zeit gehabt.

Klopfen an der Tür. Wieder die junge Frau im roten Pullover. Sie schaute mich an, anders als zuvor, unsicher. »Wir wissen nicht genau, was ihre Tochter hat. Es könnte eine bakterielle Infektion sein – oder«, sie schluckte, »ein Herzfehler. Um das abklären zu können, muss sie in eine Kinderklinik.« Ich nickte. Und spürte mein Herz schlagen.

»Wir rufen jetzt die Ambulanz. Sie können sich ausruhen«, sagte sie und sah sehr sachlich dabei aus. In meinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Gretas Mütze und ihre wissenden Augen, Lola zwischen meinen Beinen, ihre schrägen Augen und ihre Haut, die so gar nicht blau war, der ernste Blick der Schwester. Abklären, Herzfehler, Ambulanz. Und dieser unsichere Blick der Ärztin im roten Pullover. Ricardo schlief. Ich war alleine. Und wartete.

Stimmen auf dem Gang. Männerstimmen. Das mussten sie sein. Ich stand auf. Mein Körper erinnerte mich daran, dass ich vor etwa vier Stunden ein Kind geboren hatte. Ich tastete mich an der Wand entlang zur Tür, den Gang hinunter.

Drei Sanitäter in orangefarbenen Anzügen neben einem gläsernen Wagen, der wie ein Sarg aussah. Sie hatten Lola hineingelegt. Sie schlief, so friedlich wie zuvor. Daneben ein Herr mit Nickelbrille und Fleecejacke, der Arzt. Er hatte Augen wie ein Maulwurf. Ob mein Mann schon ein Foto gemacht habe von unserer Tochter? Ja vorhin, bevor Lola blau wurde.

»Ich bin verpflichtet, Sie zu fragen, ob Sie damit einverstanden sind«, er zögerte und blickte mir sehr direkt ins Gesicht, »dass wir das Blut Ihrer Tochter genetisch untersuchen?«

Ich nickte. »Weil sie so komisch aussieht, oder?« Ihr vorgewölbter Bauch, das breite Gesicht, die schrägen Augen, die kurzen Ärmchen ...

Der Arzt nickte. »Ja, sie hat einige typische Indikatoren für Trisomie 21. Möglicherweise hat sie einen Herzfehler. Das würde ihre schlechte Sauerstoffsättigung erklären.« Ich holte tief Luft und lehnte mich an die Wand. Worte hatte ich keine.

»Wollen Sie einen Stuhl?«, fragte der Arzt. Wie freundlich er war, und das um vier Uhr morgens.

»Schlafen Sie sich erst einmal aus. Morgen früh kommen Sie in aller Ruhe in die Unikinderklinik – die Adresse wird Ihnen die Kollegin geben – und lassen sich in der Frauenklinik aufnehmen. Ihre Tochter finden Sie in der Neonatologie, im gleichen Haus, einen Stock weiter unten. Wir werden uns gut um sie kümmern, da können Sie sicher sein.«

In seiner Art lag etwas, das mich beruhigte. Etwas Erdiges. Vielleicht hatte es mit seinen Maulwurfsaugen zu tun.

Lolas Augen, ihr Näschen. Ich schaute sie an, wie sie da lag, in ihrem gläsernen Sarg. Stand auf und tastete mich an der Wand des Ganges entlang zurück ins Zimmer. Ich wollte nicht sehen, wie sie sie wegschoben. Mein Kind.

Leere. Weder Worte noch Bilder. Nur Ricardos lauter Atem erinnerte mich daran, dass ich noch lebte. Ich legte mich aufs Bett und machte das Licht aus. Die Augen schließen und vergessen.

Wie ein Ring umschloss mich die Angst. Immer enger. Ich wollte wegrennen, aber ich konnte nicht. Ich rannte und rannte und rannte. Aber ich kam nicht vom Fleck, meine Füße klebten am Boden. Vor mir der Zug, aber ich konnte nicht einsteigen. Die Türen schlossen sich. Der Zug fuhr ab. Wie oft hatte ich diesen Traum gehabt als Kind.

Eine schwarze Wand. Hoch, bis zum Himmel. Darauf stand es. In riesigen Lettern. Sie hat es. Trisomie 21. Down-Syndrom. Ihr Kind ist mongoloid.

Ich sah einen kleinen Jungen mit Topfhaarschnitt und heraushängender Zunge. Und all die Spackos, die am Troxler-Haus immer in die 635 einstiegen, nach der Arbeit in der Werkstatt.

Wo war mein strahlendes kleines Mädchen, meine Lola, mit Zöpfen und lustigen Worten? Der alle zujubelten, so intelligent und spritzig wie ihre Schwester?

Und ich stürzte tiefer und tiefer und tiefer.

Ich wollte aufwachen. Aus diesem Traum. War es ein Traum? Lass es bitte nur ein Traum sein. Es ist nur ein Traum. Ich hob den Kopf und schaute in die Wiege, die schräg über mir schwebte. Lola, meine Lola. Aber da war kein Kind. Nur die Angst und Ricardos Schnarchen.

Da kamen mir die Bilder, aus der Zeit vor der Schwangerschaft. Wie ich geackert hatte, voller Ehrgeiz und besessen von meiner Arbeit. Ich wollte eine herausragende Doktorarbeit schreiben. Aber es gelang mir nicht, während des Umzuges in die neue Wohnung und mit der gerade einjährigen Greta so genial zu sein, wie ich es mir wünschte. Mein Körper war ausgemergelt und dürr. Ein Wrack, kurz vor dem Untergang.

»Du musst dich besser um dich kümmern«, sagte meine Mutter. »Gelassener werden.«

»Ich müsste wieder schwanger werden«, war meine Antwort. »Das hat mich schon bei Greta geerdet und in meine Mitte gebracht. Da war ich rund und zufrieden und glücklich.«

Einen Monat später war ich schwanger. Mit Lola.

Ich zitterte bei dem Gedanken. Und doch?

Hatte mir Lola nicht ein Geschenk gemacht? Das Geschenk der Gelassenheit? Während der ganzen Schwangerschaft? Das, was mir meine Mutter gewünscht hatte? Mit welcher Ruhe ich meine Doktorarbeit zu Ende geschrieben hatte.

Vielleicht war es gar kein Zufall, dass Lola zu mir gekommen war? Vielleicht wollte sie mir zeigen, wie ich mit Gelassenheit und weniger hohen Ansprüchen viel glücklicher durchs Leben komme?

Vielleicht war sie gekommen, um mich von dem Drang nach Erfolg und dem ewigen Gejagtsein zu befreien? Mir zu zeigen, wie krank einen die ultimative geniale wissenschaftliche Karriere machen kann. Dass es darum gar nicht geht.

Jetzt, wo sie da war, würde ich ganz andere Dinge lernen müssen. Mich mit ganz anderen Fragen beschäftigen. Sie würde mir eine neue Aufgabe geben. Einen neuen Weg. Ich brauchte nicht mehr zu suchen.

Vielleicht war es gar nicht so schlimm. Down-Syndrom. Wie viele Möglichkeiten eröffneten sich nicht dadurch?

Und plötzlich fühlte ich eine riesengroße Erleichterung. Alles war genau so richtig, wie es war. Genau so, wie es sein sollte. Und ich hatte das Gefühl, inmitten eines hell erleuchteten Raumes zu stehen. Endlich angekommen. Alles Schwere und alle Last waren von mir gefallen. Der Ring um mein Herz hatte sich geöffnet. Die schwarze Wand war aufgelöst und einem warmen, weichen Licht gewichen. Und in mir fühlte ich eine Ruhe und Schwerelosigkeit, wie ich es nur aus einem Zustand tiefer Meditation kenne.

Woher es kam, dieses Gefühl, kann ich mir bis heute nicht erklären. Wahrscheinlich war meine Lage so entgegen allem, was ich einige Stunden zuvor noch erwartet hatte, dass mir nur die Flucht nach vorne blieb. An dem Punkt, wo man normalerweise aufhört zu denken und zu fühlen, war ich weitergegangen. Diesen einen Schritt, den ich mich noch nie getraut hatte zu gehen. Ein Zen-Meister hat einmal gesagt: »Wenn du auf einer Säule stehst, mach einen Schritt nach vorn.« Den habe ich gemacht. Aber anstatt in die Tiefe zu stürzen, waren mir Flügel gewachsen.

7:00 Uhr. Zwischen den Gardinen traten Lichtstreifen hervor. Hatte ich geschlafen? Hatte ich gewacht? Als ich mich aufrichtete, schwankte der Raum.

Gretas blaue Mütze und ihre Puppe Elli. Ich musste Annette Bescheid geben, dass wir Greta nicht abholen konnten. Ich wählte ihre Nummer.

»Amelie. Wie schön! Ich hab schon gelesen. Wie geht es Euch?«

Die SMS von gestern. Als alles noch in Ordnung war.

»Danke, Annette. Mir geht es gut. Aber weißt du ...« Meine Stimme war rau, fast tonlos. »Sie haben Lola heute Nacht in die Uniklinik gebracht.«

»Was? Warum denn?«, fragte Annette.

»Sie haben den Verdacht, dass sie Down-Syndrom hat.« Es war raus. Die Worte gesagt.

»Ach ...« Stille am anderen Ende. »Weißt du? Eine Bekannte von mir, deren Tochter hat auch Down-Syndrom. Margarete heißt sie. Das ist eine so Süße. Die sollte auch erst zu mir, aber dann kam sie doch in eine Krippe.«

»Ja?« Mehr fiel mir nicht ein.

»Neulich hab ich sie getroffen, mit ihrer Mutter, auf dem Basar unserer Gemeinde«, erzählte Annette. »Von einem Stand zum anderen hat sie ihre Mutter gezerrt. Es war herrlich anzusehen.«

Es gab Kinder mit Down-Syndrom in meinem Bekanntenkreis? Die sich so verhielten wie andere Kinder auch? Ein Leben mit einem Kind mit Down-Syndrom war möglich?

»Wegen Greta mach dir keine Sorgen. Die schläft noch. Holt sie ab, wann immer ihr es schafft. Kümmert euch jetzt erst einmal um Lola«, sagte Annette. Und ich wusste, dass sie es so meinte.

Wie dankbar ich war. Die gute Annette. Dankbar auch für diese einfache Anekdote aus dem Leben eines Kindes mit Down-Syndrom. Annette hatte nicht gesagt, dass es gut war oder schlecht. Einfach nur, dass es das gab.

Ricardo neben mir atmete noch immer tief und langsam. Er hatte das Telefonat nicht mitbekommen. Für ihn lag Lola noch im Wärmebett. In den schwierigen Momenten des Lebens einfach wegtreten zu können. Augen zu und abwarten. Sollte ich ihn weiterschlafen lassen?

Ich wollte zu Lola, ins Krankenhaus. Sie in den Armen halten. Fühlen. Sehen. Riechen. Mir war schwindelig. Ich brauchte etwas zu essen. Ab halb acht gab es Frühstück. Die Uhr zeigte 7:20.

»Ricardo, Ricardo«, sagte ich und berührte ihn an der Schulter. Etwa vier Stunden hatte er geschlafen. Zu wenig, um etwas zu begreifen. »Ricardo, wach auf. Lass uns frühstücken.«

»Wie geht es Lola?«, fragte er.

»Sie haben sie abgeholt. Mit dem Krankenwagen. Und in die Uniklinik gebracht.« Wie von ferne hörte ich meine Stimme.

»Was ist mit ihr?«, fragte er und war plötzlich ganz wach.

Ich musste es ihm sagen. Wollte nicht länger alleine sein damit. Aber ich sagte nur: »Ich brauche ein Frühstück. Danach müssen wir zu ihr fahren.« Ich schaffte es nicht.

Ricardo ging in die Dusche. Ich schaute zu, wie die Lichtstreifen kräftiger wurden. Irgendwann stand ich auf und öffnete die Gardinen. Draußen eine Wand aus Nebel. Keine Sonne.

Ricardo kam wieder, stieg in seine Hose, streifte den Pullover über und schnürte seine Schuhe zu.

Ich schluckte und holte Luft. »Der Arzt hat gesagt, dass sie – wahrscheinlich – Down-Syndrom hat«, sagte ich.

Er blickte mich an. Seine Augenbrauen zusammengezogen. »So ein Quatsch«, sagte er. »Was erzählst du da?«

»Sie wollen einen genetischen Test mit ihr machen. Weil sie mehrere Merkmale für Trisomie 21 hat«, sagte ich. »Irgendwie sah sie so aus. Fandst du nicht?«

»Nein, sie sah ganz normal aus!« Er blickte mich an, voller Widerwillen. »Weißt du, was das bedeutet? Das würde unser Leben zerstören!« Er schüttelte den Kopf. »Lass uns essen gehen.«

Das Frühstück war dürftig, mit abgepackten Broten und abgezählten Wurstscheiben. Nach einer Geburt hatte ich mir etwas Gehaltvolleres vorgestellt.

Wir waren die Einzigen. Eine Viertelstunde später kam eine Frau im Morgenmantel, mit kurzen Haaren und einer Figur wie ein Mann. Sie schob ein gläsernes Bettchen neben sich her, in dem ein Säugling lag. Er war riesig, vor allem seine Hände. Ich hatte kein Bettchen vor mir. Ihn dort liegen zu sehen, tat weh.

Als wir zum Empfang gingen, um uns abzumelden, lächelte mich die diensthabende Ärztin an. »Alles Gute zur Geburt Ihrer Tochter«, sagte sie.

»Danke«, antwortete ich. Und freute mich, dass jemand daran dachte, dass ich heute Nacht zum zweiten Mal Mutter geworden war.

»Wissen Sie«, sagte sie und hielt einen Moment inne. »Alles im Leben hat einen Sinn.«

»Ja«, sagte ich und lächelte. Und dachte an das warme und weiche Gefühl der letzten Nacht. An meinen neuen Weg. Mit Lola. Aber es befremdete mich, das aus ihrem Mund zu hören.

Ich füllte alle Formulare aus und unterschrieb, dass ich nach einer ambulanten Geburt auf eigenes Risiko nach Hause ging. Ließ mir die Adresse der Unikinderklinik geben und ein Taxi rufen.

Ricardo stand die ganze Zeit neben mir, ohne ein Wort zu sagen. Auch als wir im Taxi saßen, blieb er stumm.

Während der Fahrt rief ich meine Mutter an. Sie saß mit meinem Vater schon im Auto nach Leipzig. Ich erzählte, dass Lola in der Uniklinik sei. Und von dem Verdacht auf Down-Syndrom.

»Du musst sofort zu ihr fahren. Sie können sie dir doch nicht einfach wegnehmen«, sagte meine Mutter. Sie war aufgeregter als ich. »Papa kann Euch helfen. Er wird mit den Ärzten reden.« Zum Down-Syndrom sagte sie nichts.

Ich schaute aus dem Fenster. Die leere Stadt zog an uns vorbei. Es war Sonntag. Gleich konnte ich Lola sehen, sie in meine Arme nehmen. Bei ihr sein. Bald war alles in Ordnung. Auch wenn sie Down-Syndrom hat.

Meine nächtliche Vision lag wie eine warme, weiche Decke auf mir, umhüllte und schützte mich. Vielleicht war es auch das Glücksgefühl, das eine natürliche Geburt auslöst. Ich hätte allen Grund gehabt, vor Schmerz aus dem fahrenden Auto zu springen. Aber in meinem Herzen war Stille. Gelassenheit. Und Freude.

Warten auf ...

Ich ging zur Frauenstation und ließ mich aufnehmen. Meine Tochter sei heute Nacht mit dem Verdacht auf Down-Syndrom und einem möglichen Herzfehler eingeliefert worden. Ich würde gerne bei ihr sein und brauchte ein Zimmer. Die Ärztin nickte. Sie brauche aber eine Indikation für die Aufnahme. Ob Kreislaufbeschwerden in Ordnung seien.

Langsam und breitbeinig lief ich den Gang entlang. Die Kartoffeln zwischen meinen Beinen erinnerten mich daran, dass ich heute Nacht ein Kind geboren hatte. Die Glastüren gaben uns automatisch den Weg frei bis zu einer schweren Tür, an der »Neonatologie« stand. Wir klingelten.

Eine Schleuse. Wir mussten Jacken und Taschen einschließen, sterile Einmalkittel und eine Haube anziehen und unsere Hände desinfizieren. Ricardo brauchte einen Mundschutz. Er hatte Husten.

Eine der Schwestern brachte uns zu Lola. Sie habe den Luxus eines Einzelzimmers, verkündete sie stolz. Mein Herz blieb fast stehen, als ich sie sah. Noch nie hatte ich so viele Kabel, Schläuche und Maschinen an einem so kleinen Kind gesehen. Hinter ihrem gläsernen Bettchen standen drei Apparate, über die rote Zahlenreihen liefen. An der Wand hingen zwei Bildschirme mit bunten Kurven. An ihrem Kopf und an ihrer Hand hing ein Tropf, mit dicken Klebebändern befestigt, sodass kaum mehr etwas von ihrem Arm zu sehen war. Ein Schlauch kam aus ihrem Mund, einer führte zur Nase und einer hing am Zeh. Der Rest ihres Körpers war mit einem Tuch bedeckt. Sie schlief, die Arme weit von sich gestreckt. Sie wirkte noch aufgequollener als letzte Nacht. Nicht mehr rosig, sondern weiß. Vielleicht lag es am Neonlicht. Mein Kind.

Eine junge Schwester stand neben Lola und nestelte an dem Schlauch in ihrer Nase. Sie begrüßte uns herzlich und erklärte, dass sie heute früh für unsere Tochter zuständig sei. Während sie sprach, streichelte sie Lola über die Wange. Wie eine Mutter.

»Es geht Ihrer Tochter gut. Ihre Werte haben sich schon stabilisiert. Die Ärzte werden Ihnen gleich alles erklären«, sagte sie und lächelte. »Ich muss Lola jetzt wickeln. Wenn Sie möchten, setzen Sie sich ruhig und schauen zu.« Sie nannte Lola beim Namen. Ich mochte sie.

In Lolas Windel kam eine schwarze Masse zum Vorschein. »Das ist Mekonium, das sogenannte Kindspech. Ihre Verdauungsorgane scheinen in Ordnung zu sein«, sagte die Schwester. »Gleich bin ich fertig, du Süße. Dann kriegst du eine frische Windel. Das ist besser, nicht?« Wie liebevoll sie mit Lola sprach. Obwohl sie tief und fest schlief.

Ein junger Mann, mit kurz geschorenen Haaren, einem geringelten Pullover und einem jungenhaften Gesicht kam in den Raum. Noch ein Arzt, den man äußerlich nicht als solchen erkannte. Offen blickte er uns an und gab uns die Hand.

»Ich bin Assistenzarzt hier. Falls Sie Fragen haben, kann ich die Ihnen jetzt gerne beantworten. Nachher kommt auch noch unsere Oberärztin und wird mit Ihnen sprechen.«

»Wofür sind all die Schläuche?«, fragte ich.

»Am Kopf und an der Hand, das sind Zugänge für den Tropf. Über den einen bekommt Lola ein Antibiotikum zugeführt, für den Fall einer bakteriellen Infektion. Zur Vorbeugung, denn die genauen Entzündungsparameter haben wir noch nicht bestimmt. Über den anderen Zugang bekommt sie Glukose und Elektrolyte zur Stärkung. Nahrung hat sie noch keine bekommen, weil wir erst abwarten müssen, ob mit ihrer Verdauung alles in Ordnung ist«, erklärte der Arzt.

»Sie hat grad Mekonium gekackert«, sagte ich. Fast ein wenig stolz.

»Das ist ein gutes Zeichen«, sagte der Arzt. »Auch mit ihrem Herzen scheint alles in Ordnung zu sein. Bei einem ersten Ultraschall konnten keine Unregelmäßigkeiten festgestellt werden.«

Innerlich jubilierte ich. »Und dieser Schlauch?«, fragte ich und deutete auf den, der zu ihrer Nase führte.

»Das ist ein sogenannter CPAP, über den wird unter Druck Luft in ihre Nase geführt. Eine kleine Atemhilfe, damit sie mehr Sauerstoff in den Blutkreislauf bekommt. Wegen ihrer immer noch niedrigen Sauerstoffsättigung im Blut. Die sollte zwischen 95 und 100 % liegen, bei Ihrer Tochter liegt sie bei 85 %«, sagte er und schaute mich ernst an. »Wie hoch die Sauerstoffsättigung ist, können wir hier am Fuß messen.«

»Und der Schlauch am Mund?«, fragte ich.

»Eine Magensonde, über die wir die viele Luft aus Lolas Bauch abgepumpt haben. Er war ganz aufgebläht. Jetzt ist er viel flacher. Sehen sie«, sagte er und hob kurz das Tuch hoch, das Lola bedeckte.

Dass Lola Down-Syndrom hat, erwähnte er nicht.

Er war mir sympathisch, der junge Arzt im geringelten Pullover. Er wirkte ehrlich um Lola und ihre Gesundheit bemüht. Vorhin waren mir die blinkenden Apparate, die bunten Kurven und der Kabelsalat noch wie Ungeheuer erschienen. Durch seine professionelle, aber auch zugewandte Art hatten sie angefangen, mir Sicherheit und Vertrauen zu vermitteln.

 

Ich wusste sofort, wer sie war, als sie den Raum betrat. Sie hatte so etwas Wissendes. Gute 50 Jahre alt, das Haar kurz und sehr gut geschnitten. In weißem Kittel. Über den goldenen Rand ihrer Nickelbrille hinweg schaute die Oberärztin uns offen an. Endlich jemand, der aussah wie ein Arzt.

»Herzlichen Glückwunsch zur Geburt Ihrer Tochter«, sagte sie und gab uns die Hand. Sie erklärte, dass Lola soweit stabil sei. Dass man das Antibiotikum weiter geben müsse, bis eine bakterielle Infektion ausgeschlossen werden könne. Dass man aber zum Glück keine organischen Auffälligkeiten als Ursache für die Anpassungsstörungen habe finden können, weder im Herzen noch bei der Verdauung.

»Gibt es da eine höhere Wahrscheinlichkeit?«, fragte ich.

»Wie meinen Sie?«

»Für organische Fehlbildungen. Weil sie doch so anders aussieht.« Ich brachte das Wort Down-Syndrom nicht heraus.

»Sie haben es also gesehen?« Über den Rand ihrer Brille hinweg schaute sie mich an.

»Ja«, sagte ich und nickte.

»Den meisten Eltern fällt das gar nicht auf.«

Ich musste an Lolas Augen denken und ihren vorgewölbten Bauch. An die Blicke der Schwestern.

»Wir sagen den Eltern am Anfang oft nichts, damit sie Zeit haben, eine Bindung zu ihrem Kind aufzubauen.« Sie räusperte sich. »Wenn sie ein paar Tage später davon erfahren, ist die Reaktion fast immer ›Was, unser Kind?‹. Bekommen sie die Diagnose sofort, haben einige Eltern Probleme, das Kind als ihr eigenes anzunehmen. Aber wo Sie es schon selbst gemerkt haben.«

»Ich hatte von Anfang an ein komisches Gefühl.« Und ich erzählte von den Hinweisen der Schwestern in der Geburtsklinik und der Frage des Arztes, der Lola in der Nacht abgeholt hatte.

»Wir müssen die Ergebnisse der genetischen Analyse abwarten. Doch auf Basis meiner jahrelangen klinischen Erfahrung ist ein Irrtum nahezu ausgeschlossen. Sie können davon ausgehen, dass ihre Tochter Down-Syndrom hat.« Ich schluckte.

»Aber eines müssen Sie wissen. Kinder mit Down-Syndrom sind glückliche Kinder.« Sie lächelte und schaute mir direkt in die Augen. »Ein Kind mit Down-Syndrom ist nicht krank, es leidet nicht. Es geht ihm wahrscheinlich sogar besser, und es ist glücklicher als viele andere Menschen.«

Die Ärztin hielt inne, wie um uns Zeit zu geben, das Gesagte aufzunehmen. »Heutzutage haben Menschen mit Down-Syndrom sehr viele Möglichkeiten, viel mehr als früher. Wir dürfen die Erwartungen nicht zu niedrig stecken. Man weiß noch gar nicht, was alles möglich ist. Weil wir immer noch nicht vollständig verstehen, welche Auswirkungen die chromosomalen Veränderungen haben. Auf jeden Fall gibt es eine riesige Varianz in der Entwicklung von Kindern mit Down-Syndrom.«

Ich sah wieder den kleinen Jungen mit Topfhaarschnitt und heraushängender Zunge vor mir. Was war am oberen Ende der Varianz? Sprechen, Lesen, Schreiben?

»Wir können vom Besten ausgehen, zumal Lola keine organischen Besonderheiten aufweist. Das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sie sich gut entwickelt«, sagte sie.

»Ja«, antwortete ich. Und sah Lola mit einem Schulranzen auf dem Weg in die Schule. Alle Wege standen ihr offen. Abitur. Auch dieser?

»Warten Sie einen Moment«, sagte die Ärztin und ging aus dem Raum. Kurz darauf kam sie zurück mit einem Buch in der Hand. »Das können Sie sich in Ruhe ansehen, als kleinen Einstieg. Es ist sehr schön und Mut machend. Wenn Sie mit Lola entlassen werden, legen Sie es mir bitte wieder ins Fach.«

Und die Ärztin gab mir das Buch »Außergewöhnlich« von Conny Wenk. Geschichten von anderen Familien mit einem Kind mit Down-Syndrom und ihrer ersten Zeit. Sie gab uns die Hand und verabschiedete sich.

›Es sind glückliche Kinder‹. So hatte ich es noch gar nicht gesehen. Es ging nicht um mich, um mein Wohl, um uns als Eltern. Darum, ob ich mit meinem Kind glücklich war, ob es meine Erwartungen erfüllte oder ob es sie enttäuschte. Wichtig ist, dass Lola glücklich ist. Darum ging es. Und Lola würde wahrscheinlich glücklicher sein als viele andere Menschen. Das war das Wichtigste. Was für eine Kraft dieser Gedanke gab.

Ricardo sah grau aus und eingefallen. Seine Haare schimmerten weiß. Ich versuchte, ihm zu übersetzen, was die Ärztin gesagt hatte. Sein Blick blieb leer, ohne Ausdruck.