Cover

Buch

Paris, 1884. In die neurologische Abteilung der Salpêtrière-Klinik wird ein kleines Mädchen eingeliefert: Runa, die allen erprobten Behandlungsmethoden trotzt und den berühmten Arzt und Hysterieforscher Dr. Charcot vor versammeltem Expertenpublikum blamiert. Jori Hell, ein Schweizer Medizinstudent, wittert seine Chance, an den ersehnten Doktortitel zu gelangen, und schlägt das bis dahin Undenkbare vor. Als erster Mediziner will er eine Patientin heilen, indem er eine Operation an ihrem Gehirn durchführt. Was er nicht ahnt: Runa hat mysteriöse Botschaften in der ganzen Stadt hinterlassen, auf die auch andere längst aufmerksam geworden sind. Und sie kennt Joris dunkelstes Geheimnis …

Autorin

Vera Buck, geboren 1986, studierte Journalistik in Hannover und Scriptwriting auf Hawaii. Während des Studiums schrieb sie Texte für Radio, Fernsehen und Zeitschriften, später Kurzgeschichten für Anthologien und Literaturzeitschriften. Nach Stationen an Universitäten in Frankreich, Spanien und Italien lebt und arbeitet Vera Buck heute in Zürich. Ihr Debütroman Runas Schweigen (im Hardcover bei Limes unter dem Titel Runa erschienen) wurde von der Presse hochgelobt und für den renommierten Glauser-Preis nominiert.

Vera Buck

Runas Schweigen

Roman

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1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2015 by Limes
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Die Hardcover-Ausgabe erschien unter dem Titel Runa.

Copyright dieser Ausgabe © 2018 by Blanvalet
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: © Jake Olson/Trevillion Images; www.buerosued.de

AF · Herstellung: wag

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-23672-4
V002

www.blanvalet.de

Widmung des Erzählers

Für M. Lecoq, dem ich diese Geschichte verdanke, und für Runa, der ich sie schulde.

MAXIME CHEVRIER,

12. Dezember 1903

PROLOG

Ich holte Luft, als wir uns aufstellten und ich nun selbst sah, was man sich vorhin, beim Umkleiden, nur hinter vorgehaltener Hand zu erzählen gewagt hatte. Zweihundertdreizehn Besucher. Die Zahl hatte die Runde gemacht, war von Mund zu Mund weitergegeben worden wie ein geflüsterter Kanon. Sie hatte uns Chorknaben erreicht, den Pfarrer und am Ende den Kaplan, der das Registerbuch beschwingter aufschlug, als es seine Art war. Zweihundertdreizehn Besucher in der Saint-Médard. Das also würde die Zahl meiner ersten Leserschaft sein.

»Alles in Ordnung, Maxime?«

Ich konnte nur nicken, während ich weiter Luft in meine Wangen blies und durch den Mund ausstieß, als sei ich ein Blasebalg. Ich hielt nach meinem Vater Ausschau und entdeckte ihn hinten an der Tür. Mit vor dem Körper verschränkten Händen stand er da und sah klein aus. Vielleicht wäre es mir lieber gewesen, er wäre nicht gekommen. Gustave legte mir die Hand auf die Schulter und brachte seinen Mund so nah an mein Ohr, dass ich eine Gänsehaut bekam.

»Mach dir keine Sorgen. Du kannst ja beim Minuit Chrétiens einfach ein bisschen leiser singen.«

Ich kniff die Lippen zusammen und nickte. Gustaves Worte klangen wie eine Bitte. Seine Hand hinterließ einen brennenden Fleck auf meiner Haut, als er sich abwandte.

Er konnte ebenso wenig wie alle anderen ahnen, dass es heute kein Minuit Chrétiens geben würde. Dass stattdessen eine Vernissage geplant war, die das Potenzial hatte, die Ordnung von Paris innerhalb einer Nacht auf den Kopf zu stellen.

Ich ballte die Hände zu Fäusten, nahm meinen Platz ein und schloss die Augen. Die Stimmen im Raum wurden leiser. Dann begannen das Husten und Räuspern, einer nach dem anderen gab noch einmal einen gutturalen Laut von sich, bevor man endgültig in Stille versank. Ich hörte mein Blut in den Ohren rauschen und den Sturm, der draußen um die Kirche pfiff. Neben mir stand Gustave. Ich hätte es gern gehabt, wenn er meine Hand genommen hätte.

Es war genau 22.30 Uhr, als wir das Lied anstimmten. Der erste Höhepunkt der heiligen Messe. Alles verlief nach Plan. Dröhnend drangen die Klänge aus den Orgelpfeifen. Sie brandeten durch das Kirchenschiff, prallten an den Wänden ab und wurden zurückgeworfen auf die Kirchgänger, die nach ihren Gesangbüchern griffen. Es waren nicht genügend für alle da, aber man hatte sich arrangiert. Einige der Bücher waren zum Rand gewandert und befanden sich jetzt in den Händen der Stehenden, so weit zumindest reichte die Nächstenliebe an Weihnachten. Ich reckte den Hals, um nach meinem Vater zu sehen, doch im hinteren Teil der Kirche war es nun dunkel. Die hohen Kerzenständer waren nach vorn getragen worden, alles Licht strahlte auf uns. Es beleuchtete den Chor, den Altar und die ersten Sitzreihen. Im schummrigen Rest der Kirche reichte die Helligkeit gerade aus, um die Noten auf den Seiten zu entziffern und die Worte, die darüber geschrieben waren. »Dans une étable obscure.« Im Nachhinein, so würde man mir sagen, hätte ich den Liedtitel nicht besser wählen können. Dans une étable obscurein einem dunklen Stall.

Den ersten Personen entgleisten die Gesichtszüge, als der Knabenchor zu singen begann. Ich hörte, wie Gustave neben mir zusammen mit den anderen die Verse anstimmte, die wir so oft zusammen einstudiert hatten. Doch die Menschen im Kirchenraum begleiteten sie nicht. Verunsichert brachen die Jungen ihren Gesang ab, einer nach dem anderen, als ertränken sie in der Sprachlosigkeit, die sich in der Kirche ausgebreitet hatte. Nur die Orgel dröhnte weiter durch den Raum, bis auch der Organist merkte, dass etwas nicht stimmte. Ein einzelner Pfeifenton blieb zwischen den Kirchenbänken hängen, verzerrt und düster wie die Sätze, auf die die Menschen starrten.

Da war ein Text über das Lied geschrieben, mit schwarzer Tinte, schwarz wie die Blumen des Bösen. Eine Botschaft, Zeilen, ein Gedicht. Ich spürte ein Kribbeln durch meinen Körper fahren, als ich sah, wie man sich zu mehreren über die Bücher beugte. Aus der bestürzten Stille erwuchs ein Flüstern.

ERSTER TEIL

Entdeckungen

»Vielleicht hätte ich zuerst an Tieren Versuche anstellen sollen. Die geeignetsten, nämlich
Kälber, waren indessen ihrer Kosten wegen schwer zu beschaffen und zu erhalten, weshalb ich – mit gütiger Erlaubnis des Oberarztes …
meine Experimente im allgemeinen Findelhaus
zu Stockholm begann und darnach vielleicht Experimente mit Tieren zu machen gedachte.«

CARL JANSON (1891)

Schwedischer Arzt