Würden die Menschen endlich aufhören, über den anderen als übelwollenden und bösen Menschen zu sprechen und nach »Schurken im Stück« zu suchen, sondern stattdessen damit beginnen, auf die mit Alltagsmenschen besetzten Institutionen zu schauen, dann könnte sich ein weites Feld für eine wirkliche Gesellschaftsreform auftun.

James Buchanan

Vorwort

(1) Die Geschichte der Philosophie beginnt, wenn man einigen Chronisten glauben darf, mit dem Griechen Thales und einem typischen wirtschaftsethischen Konflikt. Dabei ging es um Folgendes: Thales von Milet, ein wohl ebenso ideenreicher Philosoph wie pfiffiger Geschäftsmann, der im 6. Jahrhundert v. Chr. lebte, erkannte eines Tages, dass die diesjährige Olivenernte besonders ertragreich zu werden verspricht. Daher kauft er alle Ölpressen auf, um sie zu Monopolpreisen nach der Ernte weiter zu vermieten. Ist dieses Verhalten moralisch legitim? Darf Thales den Informationsvorsprung für seine eigenen Interessen, zur Mehrung des eigenen Wohlstandes, nutzen? Oder hätte er seine Vertragspartner über sein Wissen aufklären müssen, handelte er also unmoralisch und ist sein Verhalten letztlich gemeinschaftsschädlich?

Nun, ob Thales wirklich der erste Philosoph war, ist genauso umstritten wie auch, ob die hier erzählte Geschichte überhaupt stimmt.1 Beides soll an dieser Stelle allerdings nicht weiter interessieren. Wir werden auf die Problematik des »gerechten« Preises, um die es hier im Kern geht, später noch eingehen. Vor allem eines sollte an der kleinen Geschichte deutlich werden: Seit Beginn der Menschheit gab es Knappheit an Ressourcen, haben die Menschen die meiste Zeit ihres Lebens damit gefristet, sich in mühseliger Weise, buchstäblich »im Schweiße ihres Angesichts« das »tägliche Brot« zu erarbeiten. Und sie traten dabei zueinander in Kooperations- und Konkurrenzbeziehungen. Das sind die entscheidenden »Zutaten« dafür, dass es von jeher wirtschaftsethische Problemlagen gegeben haben muss, Konflikte, so mag man bei unbefangener Betrachtung geneigt sein zu glauben, für die die Menschen nach möglichst nachvollziehbaren und sinnfälligen Lösungen gesucht haben. Dieses seit Anbeginn der Menschheit ewig aktuelle Problem der Knappheit der Ressourcen und die arbeitsteilige Bewältigung solcher Knappheitssituationen gibt Anlass zu der Frage, welchen expliziten und mehr noch impliziten Regeln die Menschen über den Lauf der Geschichte beim Wirtschaften jeweils gefolgt sind. Und dies wirft inzidenter die weitere Frage auf, welche Wertvorstellungen in diesen Regeln enthalten waren.

(2) Erstaunlicherweise hat die Ethik als Teildisziplin der Philosophie, als Moralphilosophie, dem Lebenssachbereich Arbeit und Wirtschaft lange Zeit relativ wenig Beachtung geschenkt. Zwar haben sich Philosophen und Theologen von Anbeginn an immer auch mit ökonomischen Fragen befasst, doch meist eher nebenbei und mit gehöriger Distanz zum Gegenstand. Für die Geschichte der Wirtschaftsethik gilt daher der Befund, auf den Otfried Höffe vor einiger Zeit aufmerksam gemacht hat: »Wer sich aber die großen Werke der abendländischen Ethik anschaut, der findet erstaunlicherweise, dass von der Wirtschaft so gut wie keine Rede ist.«2 Und was für die Moralphilosophie gilt, das gilt auch für die Geschichtswissenschaften. Dafür möge Jacob Burckhardt, der große schweizerische Historiker des 19. Jahrhunderts, als Kronzeuge genannt werden, der in seinen »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« als die großen »drei Potenzen« den Staat, die Religion und die Kultur, nicht aber die Wirtschaft behandelte.3

(3) Inzwischen hat sich die Lage entscheidend geändert; die »Wirtschaft« ist spätestens im 20. Jahrhundert und insbesondere im Zeitalter der Globalisierung zu »der« Potenz schlechthin geworden. »Die Wirtschaft ist unser Schicksal« hatte bereits 1921 der deutsche Außenminister Walther Rathenau formuliert, und mittlerweile wird von vielen die »umfassende Ökonomisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse« diagnostiziert.4 Im Gefolge dieser Entwicklungen, nicht zuletzt als »Krisensymptom«, erfährt auch die Wirtschaftsethik einen stürmischen Aufschwung. Genauer müsste man formulieren, dass seit der »Wiederentdeckung« wirtschaftsethischer Fragestellungen in den 1990er Jahren ein wahrer »Boom« zu diagnostizieren ist. Von Wiederentdeckung zu sprechen ist deshalb sachgerecht, weil bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bekannte Ökonomen und Philosophen – genannt seien nur Werner Sombart, Max Weber und Georg Simmel – die Wirtschaft zum Gegenstand wirtschaftsethischer und ideengeschichtlicher Betrachtungen gemacht und damit kontroverse und langanhaltende Diskussionen ausgelöst haben.5 Während sich nun aber gegenwärtig erneut eine Fülle von Veröffentlichungen und eine Vielzahl von Tagungen um die Exposition eines Wirtschaftsethik-Paradigmas und um die Aufarbeitung ethischer Dilemmata bemühen, erfolgt die Aufarbeitung wirtschaftsethischer Entwicklungslinien aus historischer Perspektive bislang eher kursorisch.

(4) Eine Geschichte zur Wirtschaftsethik, auch wenn sie hier vorsichtig als Grundriss bezeichnet wird, mag manchem als »Parforceritt« erscheinen. Ein solcher Versuch begegnet in den Fachdisziplinen vermutlich schnell dem Vorbehalt, eine Vielzahl von Aspekten oder Zusammenhängen nicht gesehen oder tiefgründig genug gewürdigt zu haben. Dieser Einwand ist für solch eine breit angelegte Studie besonders ernst zu nehmen, weist zugleich aber auf eine grundsätzliche Schwierigkeit aller sozialwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung hin. Sie liegt darin begründet, dass zunächst erst einmal aus der sinnlosen Unendlichkeit allen Weltgeschehens das Wichtige herausdestilliert werden muss.6 Doch was ist das Wichtige? Darauf gilt es im ersten Kapitel noch genauer einzugehen. Diese Vorbemerkungen dienen vielmehr nur dem Zweck, einige Begründungen dafür zu liefern, warum das Anfertigen eines solchen Buches aus Sicht des Verfassers ein wichtiges Anliegen ist, allerdings ohne die Begrenzungen und Defizite solchen Vorhabens zu leugnen.

(5) Zum einen möchte ich ein Lehrbuch zu einer Materie vorlegen, bei der es für Studierende, aber auch andere an der Thematik Interessierte schwierig ist, einen leicht fassbaren und verständlichen Überblick zu gewinnen. Es gibt mittlerweile zwar etliche gute Einführungslehrbücher in die Wirtschaftsethik. Man kann sich auch mit wirtschaftshistorischen, dogmen- oder ideengeschichtlichen Grundlagenwerken auseinandersetzen, die wirtschaftsethische Aspekte mit bearbeiten. Spannende Bücher wurden in den letzten Jahren auch über die Entwicklung des Menschen und menschlicher Sozietäten vorgelegt, die wichtige Einblicke in die Genese von Moral ermöglichen.7 Doch in allen dokumentiert sich auch die Ausdifferenzierung und Fragmentierung heutiger Wissensfelder. Die Schnittstelle dieser Disziplinen, insoweit es um die Entwicklung der wirtschaftsethischen Debatte aus historischer Perspektive geht, ist indes bislang – soweit erkennbar – nicht oder nicht zureichend besetzt. Insofern hoffe ich mit diesem Integrationsversuch eine Lücke schließen zu helfen.

(6) Das Buch wählt also einen anderen als den üblichen Zugang zu wirtschaftsethischen Fragestellungen. Ethik als normative Theorie vom guten und richtigen menschlichen Handeln hat sich unter ständigem Wandel in der Zeit vollzogen, präsentiert sich demzufolge immer schon zugleich als Geschichte der Ethik.8 Diese Perspektive will Orientierungswissen liefern, indem sie dazu anregt, die Genese wirtschaftsethischer Ideen nachzuvollziehen. Damit lassen sich insbesondere auch die Streitfragen um das Institutionensystem von Marktwirtschaften und die mit ihnen verknüpften Anreize und Sanktionen aus ihrem Entwicklungsprozess her erschließen und verstehbar machen. Der primäre Ertrag eines historisch-genetischen Zugangs zur Wirtschaftsethik besteht im Gegensatz zu einer systematisch-analytischen Herangehensweise sicher nicht darin, aus den aufgezeigten Streitfragen vergangener Epochen konkrete Lösungshinweise für aktuelle wirtschaftsethische Kontroversen zu erhalten. Doch lässt sich aus Entstehung und Ausdifferenzierung wirtschaftlicher Kategorien und Institutionen und der dahinter stehenden ethischen Anschauungen vielfach eher und besser erkennen, warum wir heute da stehen, wo wir stehen. Es geht also darum, das Verständnis um den »moralischen Gehalt« vormoderner Ordnungen wie des marktwirtschaftlichen Institutionengefüges aus historischer Perspektive zu befördern und Gründe für den Wandel zu erkennen.

(7) Dabei soll deutlich werden, dass die Ordnung, in der wir heute leben, nicht primär menschlicher Vernunft und planvollem Vorgehen entsprungen ist, sondern in wesentlichen Teilen das Ergebnis eines unpersönlichen, komplexen Entwicklungsprozesses ist.9 Diese Erkenntnis legt nahe, dass es auch nicht beliebige Gestaltungs- oder Eingriffsmöglichkeiten zur Fortentwicklung gibt, vielmehr gilt es die Pfadabhängigkeit des Wandels von Institutionen, von Normen und Wertsystemen zu beachten.10 Daher erfüllt der historisch-genetische Zugang eine weitere Funktion: Vermutlich ist keine andere Wissenschaft wie die Geschichte so sehr in der Lage, die Probleme der Interdependenz und daraus resultierender Kontingenz sozialen Handelns plastisch zu machen. Und dies wiederum dokumentiert eindrucksvoll die Grenzen menschlichen Handelns, ja menschlicher Existenz. Mir scheint, dass diese Überlegungen in den gegenwärtigen Diskussionen systematisch zu kurz kommen – mit gewichtigen Folgen! Friedrich August von Hayek hat dies klar gesehen und daher m.E. zu Recht als die größte Gefahr für freie Großgesellschaften das Verlangen nach konkreten Regeln im Geiste von Kleingruppen vermutet.11

(8) Das Anliegen ist ein Dreifaches. Der historisch-genetische Zugang will dazu beitragen,

Gerade den letzten Aspekt gilt es besonders zu betonen, denn alles Nachsinnen über Vergangenes geschieht ja nicht aus Selbstzweck, sondern um der Gegenwart willen. Und da fällt auf, dass das überkommene Werte- und Normensystem in den letzten Jahrzehnten Erosionsprozesen unterliegt. Die daraus resultierenden Probleme hat der Anthropologe Arnold Gehlen bereits deutlich benannt, als er schrieb: »Wenn Institutionen im Geschiebe der Zeiten in Verfall geraten, abbröckeln oder bewusst zerstört werden, fällt diese Verhaltenssicherheit, man wird mit Entscheidungszumutungen gerade da überlastet, wo alles selbstverständlich sein sollte.«12 Diese Verhaltensunsicherheiten sind angesichts sich häufender Krisen allenthalben erkennbar.

(9) Vorab sei noch auf einige wesentliche Einschränkungen der nachfolgenden Untersuchungen verwiesen. Der Fokus wird zum einen bewusst verengt, es geht um die Geschichte der westlichen Wirtschaftsethik. Es gilt den spezifischen Weg der »europäischen« Entwicklung nachzuvollziehen. Dieser hat die Institutionen, Normen und Werte des globalen Marktsystems hervorgebracht, er unterscheidet sich signifikant von Wegen anderer Länder, Regionen oder Kulturen. Dabei ist jedoch kein Nachvollzug aller Differenzierungen und Wandlungen, keine umfassende ideen-, dogmen- oder wirtschaftsgeschichtliche Abhandlung beabsichtigt, sondern eher der Versuch einer Rekonstruktion der zentralen wirtschaftsethischen Kategorien. Die grundlegenden Wandlungsprozesse sollen verdeutlicht werden. Es gilt, verschiedene Paradigmen, die wichtigsten Aspekte vorherrschender Leitbilder bzw. allgemein anerkannte Denkmuster in der Wirtschaftsethik, für eine bestimmte Zeit oder Epoche pointierend darzustellen und dabei Paradigmenwechsel zu klären. Hier passt das von Thomas S. Kuhn popularisierte und seitdem viel genutzte und auch missbrauchte Konzept des Paradigmas bzw. Paradigmenwechsels.13 Die dabei zugrunde liegende Intention ist es, aufzuzeigen, dass sich die unterschiedenen Epochen jeweils relativ deutlich, bisweilen einschneidend hinsichtlich der Fragen unterscheiden, was beobachtet und überprüft wird, welche Art von Fragen gestellt, wie diese Fragen formuliert und schließlich wie die Ergebnisse interpretiert und bewertet wurden. Konkret auf unser Thema bezogen, ergeben sich daher die Fragen: An welchen Zielen sollte das individuelle, gemeinschaftsbezogene wie gesellschaftlich-wirtschaftliche Handeln orientiert sein? Welchen Werten und Normen sollte der Akteur sich dabei verpflichtet fühlen? Welche Institutionen sollten diesen Erfordernissen Rechnung tragen?

(10) Bei dem so praktizierten Nachvollzug wirtschaftsethischen Denkens wird schnell erkennbar, dass der eingeschlagene Weg nicht gradlinig ist. Er ist komplex und verworren. Der hier unternommene Versuch gleicht daher eher dem Weg durch ein Labyrinth. Da ist es gut, zunächst nach den Ursprüngen zu fragen, denn der Beginn an jedem anderen Startpunkt müsste sich die Frage gefallen lassen: warum ist der Startpunkt hier? Haben die Menschen sich nicht auch vorab mit ihrer natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt auseinander gesetzt, deren »Nebenfolge« moralische Konsequenzen waren? Wir folgen C. R. Hallpike, dessen Vorschlag darin besteht, »...to begin at the beginning and to investigate the early forms of organization and beliefs.«14

(11) Um ein für eine Epoche typisches Paradigma sinnvoll vermessen zu können, liegt jedem Kapitel eine ähnliche Struktur zugrunde:

(12) Einigen Menschen bin ich sehr zu Dank verpflichtet. Sie haben mich beim Verfassen des Buches in guter Weise begleitet. Uwe Fliegauf, Lektor des Kohlhammer-Verlags, hat mich ermuntert, das Buch zu schreiben. Mit ihm habe ich darüber hinaus manches konstruktive Gespräch führen dürfen. Danken möchte ich weiterhin Thomas Keller, der aus seiner studentischen Perspektive das gesamte Buch akribisch gelesen hat und dem ich manche guten Impulse verdanke. Viele wertvolle Verbesserungsvorschläge verdanke ich Hanno Beck, Reiner Flik, Jürgen Volkert und Helmut Wienert; v.a. danke ich ihnen für ihre freundschaftlich-kollegiale Art und ihre jederzeitige Bereitschaft, mich mit guten Ratschlägen, nützlichen Literaturhinweisen und kritischen Kommentaren zu einzelnen Kapiteln oder Passagen des Buches zu versorgen. Hans Martin Schäfer und Thilo von Janson haben mir über die letzten Jahre in zahlreichen Gesprächen die Denkweise von Theologen näher gebracht; ohne ihre freundschaftliche Unterstützung wäre es mir kaum gelungen, die Zusammenhänge von Theologie und Philosophie zu durchdringen, wie es mir für diese Arbeit nötig erschien. Widmen möchte ich dieses Buch meiner Familie, meiner Frau Anita und meinen Kindern Anne und Malte.

Pforzheim, im Februar 2010

Bernd Noll

1 Zu dieser Geschichte Aristoteles, 1965, 1259a 5-17; W. Weischedel, 2006, S. 13; O. Höffe, 2004a, S. 31 f.

2 O. Höffe, 1992, S. 119.

3 J. Burckhardt, 1978.

4 L. Heidbrink, 2008, S. 157. Dazu Kapitel 8.8.4.

5 Ausführlich dazu J. Meran, 1992, S. 47; F. W. Graf, 1999, S. 572 ff.

6 M. Weber, 1988 (1904), S. 180.

7 Z.B. von J. Diamond, 2007 und M. Harris, 1989.

8 G. K. Mainberger, 1988, S. 47.

9 F. A. von Hayek, 1985, S. 47 ff.

10 Dazu zusammenfassend S. Voigt, 2002, S. 206 ff.

11 F. A. von Hayek, 1981; dazu auch H. Leipold, 2006, S. 43.

12 A. Gehlen, 2004, S. 48.

13 T. S. Kuhn, 1991 (1962), S. 37 ff.; K. Wilber, 1999, S. 45 ff.

14 C. R. Hallpike, 1988, S. 372.

15 Vgl. auch U. Wesel, 2006, S. 15

16 Vgl. dazu Kapitel 2.

17 Zur Begrifflichkeit B. Noll, 2002, S. 11 ff.

18 Zu den Quellen europäischer Kultur A. Stöbener / H. G. Nutzinger, 2006, S. 10, S. 36; sehr prosaisch D. Schwanitz, 1999, S. 34.

19 Zusammenfassend dazu K. Wilber, 1999, S. 26 ff.

20 Daher wird allen Einseitigkeiten, die die ideengeschichtliche Debatte geprägt haben, eine Absage erteilt. Bestimmt nach Karl Marx das »Sein« das »Bewusstsein«, so dass Religion und Moral als »geistige Überbau« einer Gesellschaft lediglich Folge sozialer und ökonomischer Verhältnisse sind, hat der bekannte Ökonom und Soziologe Max Weber gerade umgekehrt die Meinung vertreten, dass das religiöse Bewusstsein in hohem Maße wirtschaftsmoralische Einstellungen prägt und darüber entscheidet, welches wirtschaftliche System sich entwickeln kann. Der entscheidende Satz in diesem Zusammenhang lautet: »Der kapitalistische Geist war vor dem Kapitalismus da.« Zitiert nach M. Zöller, 2005, S. 13. Weber hat damit Marx gleichsam auf den Kopf gestellt. Zustimmend A. Müller-Armack, 1981, S. 94, H. Leipold, 2006, S. 134 f.; J. Berger, 2009, S. 123 f. Die Debatte des »entweder« – »oder« scheint angesichts der Komplexität der Interdependenzen unfruchtbar; vgl. J. Ratzinger, 1987, S. 35; B. Russell, 2000, S. 605; N. O. Oermann, 2007, S. 128. Dieser Auffassung neigte wohl letztlich auch M. Weber, 2005, S. 161 f. zu. Die Diskussion ist in der Institutionenökonomik neu entfacht worden; dazu J. Berger, 2009, S. 135 f.

21 Dazu E. Waibl, 1984, S. 13 ff.; W. Kersting, 2007, S. 194.

22 J. Kocka, 1987, S. 37, S. 43, S. 44.

1 Die Bedeutung von Moral und Ethik für den wirtschaftlichen Entwicklungsprozess

(1) Menschliches Verhalten ist komplex. Der Mensch handelt bisweilen irrational, er hat eine Vorliebe für Fairness, lässt sich von Emotionen leiten, imitiert andere, fühlt sich seinen Glaubensvorstellungen verpflichtet, etc. All dies bestreitet die Ökonomik nicht. Sie unterstellt aber, dass der Mensch ein eigennütziges und rationales Wesen sei. Er richte sein Verhalten an Kosten-Nutzen-Kalkulationen aus und suche dabei seinen Nutzen unter Abwägung der ihm möglichen Optionen zu maximieren. In der Fachwissenschaft spricht man vom Homo Oeconomicus. Dies ist ein Theoriekonstrukt der Ökonomen,1 das als (stark vereinfachtes) Modell zum Zwecke der ökonomischen Theoriebildung dient. Es sagt uns nicht, wie der Mensch ist oder gar, wie er sein soll. Es ist kein differenziertes »Menschenbild«, nur ein nützliches Werkzeug, weil mit diesem Modell auf Basis möglichst einfacher Annahmen Aussagen über wirtschaftliche Zusammenhänge formuliert werden können. In dieser Funktion ist das Modell des Homo Oeconomicus durchaus tauglich, ja für viele (nicht alle!) Fragestellungen ein ausgesprochen nützliches Verhaltensmodell.2 Es liefert Vorstellungen davon, welche Interaktionen zwischen den Menschen funktionieren können und welche Institutionen auf Dauer tragfähig sind, ihren Zweck erfüllen können und welche nicht.3 Davon wird im weiteren Verlauf unserer Ausführungen noch häufig die Rede sein.

(2) Neuerdings heben auch die Soziobiologen, die soziales Verhalten der Lebewesen auf Basis des Darwinismus und der Evolutionsbiologie erklären, die Eigennützigkeit des Einzelnen als Ausgangspunkt ihrer Erklärung von Sozialverhalten hervor.4 Sie »stützen« damit die Verhaltensprämisse der Ökonomen. Auch dieser Disziplin sind manche Missverständnisse entgegengebracht worden, es soll dem hier nicht im Detail nachgegangen werden.5 Dennoch bedarf es zumindest einer wichtigen Klarstellung. Der »struggle for life« und der »survival of the fittest« wurden häufig als egoistischer Überlebenskampf jedes gegen jeden interpretiert. Der Einzelne agiere blind für die Belange des anderen und verfolge rücksichtslos jederzeit nur seinen unmittelbaren persönlichen Vorteil. Ganz in diesem Sinne hatte zuvor schon der erste einflussreiche neuzeitliche Philosoph Thomas Hobbes (1588–1679) den »Naturzustand« beschrieben, in dem ein »Krieg aller gegen alle« stattfinde und der Mensch des Menschen Wolf sei (»homo homini lupus«).6 Wir wissen heute, dass diese Auffassung in doppelter Hinsicht problematisch ist. Gruppenbildung und die Gruppe stabilisierendes Verhalten wie Fürsorglichkeit, Rücksichtnahme und Solidarität, ja sogar Sympathie und Liebe, gibt es bei zahlreichen Tierarten, so auch unter Wölfen. Vor allem aber finden sich in allen Formen menschlichen Zusammenlebens von den frühen Wildbeutergemeinschaften bis zu den Gruppenbildungen in der modernen Großgesellschaft gesellige, kooperative Verhaltensweisen.7 Den letzten Aspekt hat der schottische Moralphilosoph David Hume (1711–1776) klar erkannt, als er darauf hinwies, dass »etwas vom Wesen der Taube neben den Elementen des Wolfes ... im menschlichen Gemüt verwoben« sei.8

(3) Menschen sind mithin aufgrund ihrer genetischen Fixierung soziale bzw. kooperative Wesen. Sie sind, wie viele andere Lebewesen auch, typische Kleingruppenwesen, wie ihre Entwicklungsgeschichte zeigt.9 Das Leben in Gruppen und damit gemeinschaftsbezogenes Verhalten bietet dem Individuum mannigfache Vorteile, z.B. beim Schutz vor Feinden, bei der Nahrungssuche, beim sozialen Lernen etc. Geselligkeit unter artgleichen Individuen fördert bei vielen Tierarten wie auch beim Menschen das Überleben der Spezies. Anders gewendet: Sozialität hat einen reproduktiven Nutzen; kooperatives Verhalten folgt also dem Prinzip Eigennutz.10 Menschen kooperieren, weil es sich für sie auszahlt. Spieltheoretisch formuliert: Sie spielen Positivsummenspiele!

(4) Ist der Eigennutz vermutlich auch allgegenwärtig, so stellt sich doch die Frage, ob der Mensch nicht auch altruistisch handelt oder handeln kann. Mit Altruismus ist ein Verhältnis zu einem Mitmenschen gemeint, bei dem dessen Ziele unter Hintanstellung der eigenen Interessen verfolgt werden. Diese Frage wird nicht abschließend zu beantworten sein, zumindest aber sollte sie auch nicht vorschnell bejaht werden.11 Manches vermeintlich altruistische Verhalten kann bei näherem Hinsehen durchaus als eigennützig interpretiert werden. Der großzügige Helfer in einer Notsituation mag sich eine, vielleicht nur indirekte Belohnung für seine Tat versprechen oder einen Ruf als »edler Samariter« anstreben.12 Und der aufopferungsvolle Gläubige mag zur Kompensation für sein jammervolles Leben im Diesseits auf ein paradiesisches Plätzchen im Jenseits hoffen.13 Vermutlich ist aber schon das Gegensatzpaar Egoismus versus Altruismus problematisch, weil eher geeignet, die Sache zu verdunkeln.14 Bereits Epikur (341–270 v. Chr.) wies etwa bei seinen Überlegungen nach dem guten, gelingenden Leben darauf hin, dass Wohlwollen und Freigiebigkeit Quelle der eigenen Freude sein können.15 Die Grenzen eindeutig ziehen zu wollen, muss misslingen.

(5) Eine weitere Differenzierung erscheint hingegen hilfreicher. Als Ausgangspunkt mag dabei eine von Hume erzählte Parabel über zwei Bauern dienen. Der erste sagt: »Dein Korn ist heute reif, das meine morgen. So ist es nützlich für uns beide, dass ich heute bei dir arbeite und du mich morgen unterstützt. Ich empfinde keine Freundschaft für dich und weiß: auch du hast keine für mich. Deshalb nehme ich allein deinetwegen keine Lasten auf mich; und sollte ich mit dir arbeiten um meinetwegen, in Erwartung deiner Gegengabe, dann weiß ich, dass ich enttäuscht werde und dass ich vergeblich auf deine Dankbarkeit hoffe. Deshalb also lasse ich dich jetzt alleine arbeiten; du behandelst mich in der gleichen Weise. Das Wetter wechselt und wir verlieren unsere Ernte in Ermangelung gegenseitigen Vertrauens und wechselseitiger Sicherheiten.«16 Auch wenn man nun davon ausgeht, dass Akteure grundsätzlich eigennützig handeln, muss man doch die skeptische Botschaft der Parabel Humes nicht teilen. Bei Tieren wie bei Menschen gibt es einen so genannten »reziproken Altruismus«.17 Mitgefühl, Hilfsbereitschaft oder Barmherzigkeit wird in der Erwartung oder Hoffnung gewährt, dass das solidarische Verhalten bei anderer Gelegenheit entgolten wird. Wenn diese Verhaltensmuster zwar in Verwandtschaftsbeziehungen am ehesten verbreitet sind, sind sie doch generell im Nahbereich, also unter Nachbarn, Freunden, Kollegen etc. zu erwarten. Hilfe bei der Arbeit oder Teilung der Beute heute sichert dem Nachbarn das Überleben oder Wohlergehen, denn es könnte ja sein, dass die Situation beim nächsten Mal gerade umgekehrt ist. Auch hier gilt: »Der wahre Egoist kooperiert.«18

(6) An der Parabel Humes werden aber zugleich die Gefährdungen und Grenzen kooperativen Verhaltens deutlich:

(7) Physiologische Ausstattungskombination wie Verhaltensdispositionen des Menschen scheinen dennoch günstig zu sein. Allen Gefährdungen und Konflikten zum Trotz ist der Mensch bei seiner Verbreitung bislang außerordentlich erfolgreich gewesen.20 Für einen Primaten seiner Größen- und Gewichtsklasse sind die zurzeit lebenden mehr als 6 Milliarden Menschen ebenso ein absoluter Rekord wie die Megastädte, in denen 10 Millionen, ja mitunter 20 Millionen Einwohner auf engstem Raum zusammen leben.21 Dies ist in zweierlei Hinsicht erstaunlich:

(8) Das »organische Mängelwesen« Mensch braucht Halt, und den findet es in Institutionen, in Normen und Regelsystemen, die Interaktionen und ganze Komplexe von Handlungen regeln.27 Institutionen haben für das Individuum eine entlastende Funktion, denn sie entheben es vieler Entscheidungen und sind ihm Wegweiser durch die Fülle von Eindrücken und Reizen. Gehlen schreibt: »Die allen Institutionen wesenseigene Entlastungsfunktion von der subjektiven Motivation und von dauernden Improvisationen fallweise zu vertretender Entschlüsse ist eine der großartigsten Kultureigenschaften, denn diese Stabilisierung geht ... bis in das Herz unserer geistigen Positionen.«28 Institutionen lenken das Verhalten in produktive Bahnen, indem sie zwischenmenschliche Beziehungen ordnen. Sie aktivieren zu gewissen Verhaltensweisen und sie beschränken andererseits unseren Verhaltensspielraum. Aktivierung und Beschränkung stehen in einem engen Zusammenhang.29 Erst die Beschränkung von Verhalten stabilisiert Verhaltenserwartungen der Akteure untereinander und macht Handeln im sozialen Raum möglich, erlaubt riskante Verhaltensstrategien. Nur wer unterstellt, dass andere Menschen sich an die Straßenverkehrsregeln halten, kann sorglos eine enge Einbahnstraße nutzen oder bei »grün« einen Verkehrsweg überqueren. Nur wer weiß, dass es ein letztes »soziales Auffangnetz« gibt, kann seine verfügbaren Ressourcen unternehmerisch einsetzen, weil er beim Scheitern auf Unterstützungsmaßnahmen rechnen kann.

(9) Eine der wichtigsten institutionellen Vorkehrungen in jeder Gesellschaft ist Moral, d.h. der Bestand an faktisch herrschenden Werten und Normen in einer Gruppe oder Gesellschaft.30 Es ist eine anthropologische Tatsache, dass der Mensch immer mit moralischen Normen gelebt hat bzw. lebt. Er allein ist ein moralisches Tier. Moral ist also etwas spezifisch Menschliches und bei allen Angehörigen des Homo sapiens verbreitet.31 Moral muss demgemäß mit spezifischen Vorteilen im Evolutionsprozess verbunden sein, also für die Funktionsfähigkeit einer Gruppe sorgen. Zugleich ist damit der Anknüpfungspunkt für eine neue Evolutionsstufe benannt, eine von den Menschen gestaltete Kultur. Dieser soziale Evolutionsprozess unterscheidet und grenzt ihn von anderen Lebewesen ab.32

(10) Die von den Menschen beachteten Werte und Normen unterlagen im Laufe der jüngeren Entwicklungsgeschichte vielfältigen wie grundlegenden Wandlungsprozessen. Dieser Wandel lässt sich leider nur noch unvollständig nachvollziehen, weil viele Kulturen und ihr Wissen untergegangen sind. Aber schon ein flüchtiger Blick auf die letzten 2.500 Jahre zeigt eine dramatische »Umwertung der Werte«, dies gilt zumindest für den Bereich gesellschaftlichen Zusammenlebens, der Grundlage für alle anderen Lebensbereiche ist: die Normen und Regelsysteme für das Wirtschaften. Werner Sombart (1863–1941), der in seinen Forschungen den Ursprung und die Entwicklung des modernen Kapitalismus untersuchte, formuliert drastisch: »Damit der Kapitalismus sich entfalten konnte, mussten dem naturalen, dem triebhaften Menschen erst alle Knochen im Leibe gebrochen werden, musste erst ein spezifisch rational gestalteter Seelenmechanismus an die Stelle des urwüchsigen, originalen Lebens gesetzt werden, musste erst gleichsam eine Umkehrung aller Lebensbewertung und Lebensbedenkung eintreten.«33

(11) Kurz gefasst, lässt sich der Wandel der Moral wie folgt skizzieren: Die Kleingruppenmoral war über Jahrtausende hinweg die dominierende Moral. Vormoderne Gesellschaften waren primär werte-integriert. Das Verhalten innerhalb überschaubarer, stabiler und relativ homogener Gruppen wurde über individuelle Moralvorstellungen und das Gewissen des Einzelnen gesteuert. Propagiert wurde eine Moral der Mäßigung, des rechten Maßes, gegründet auf die für jene Zeit durchaus zutreffende Annahme, dass vormoderne Gesellschaften Nullsummenspiele spielten.34 Es waren Gesellschaften auf Subsistenzniveau, ohne nennenswertes wirtschaftliches Wachstum. Ein Einzelner konnte deshalb nur dadurch zu großem Wohlstand kommen, wenn er sich auf Kosten anderer bereicherte.35 Diese Ethik wurde auf dem Weg in die Moderne von einer Großgruppenmoral überlagert und für zentrale Problemstellungen ersetzt bzw. verdrängt. An die Stelle gemeinsamer konkreter Ziele traten abstrakte Verhaltensregeln, denn in anonymen, heterogenen Großgesellschaften muss das Verhalten wegen zunehmender Interdependenzen und Kontrollprobleme über allgemeingültige Regeln und Institutionen gesteuert werden. Es ist mithin primär regel-integriert.36 Wettbewerb und eine sanktionsbewehrte Rahmenordnung wurden in anonymen Großgesellschaften zum »funktionellen Äquivalent« der sozialen Kontrolle in Face-to-Face-Situationen traditioneller Lebensgemeinschaften und Interaktionen.37 Die Regeln homogener Gemeinschaften und heterogener Gesellschaften unterscheiden sich grundsätzlich. Die Großgruppe oder besser die große, anonyme Gesellschaft ist auf andere moralische Imperative angewiesen als die Kleingruppe bzw. die homogene Gemeinschaft mit einem gemeinsamen Wertevorrat.38 Mit dem formalen Begriff Moral verbinden wir daher in der Moderne zwei »Anwendungsbereiche«, einerseits Personen und ihre Verhaltensmuster, andererseits Institutionen und soziale Strukturen.39

(12) Die spannende Frage lautet daher: Worauf ist diese Entwicklung zurückzuführen? Der bekannte Nationalökonom und Nobelpreisträger Friedrich A. von Hayek (1899–1992) gibt im Anschluss an David Hume eine erklärungskräftige evolutionstheoretische Begründung für Entstehung und Entwicklung unseres Moralsystems. In seiner Theorie der Evolution von Moral unterscheidet er »drei Quellen menschlicher Werte«:40

Die zuletzt genannte Quelle, die auf das Wirken menschlicher Vernunft abhebt, bedarf in unserem »aufgeklärten« Zeitalter wenig Erklärung. Hingegen trifft der zweite Weg der Herausbildung moralischer Normen und Regeln regelmäßig auf wenig Verständnis. Dabei ist dieser Prozess vermutlich die wichtigste Quelle unseres Moralsystems. Vergleichbar dem biologischen gibt es einen kulturellen Evolutionsprozess zur Entstehung von Werten und Normen.43 Über diesen Prozess werden diejenigen Regeln anerkannt, die sich bewährt haben. Es ist der Vollzug eines spontanen Prozesses, in dem sich Kultur und Vernunft in ständiger Wechselwirkung entwickelt haben.

Institutionen sind danach zuvorderst Ergebnis eines Selektions- bzw. Siebungsvorganges, der dadurch gesteuert wird, dass einzelne Gruppen verschiedene Vorteile erlangten, indem sie unbewusst oder zufällig gewisse im Nachhinein als vorteilhaft erkennbare Praktiken übernommen haben.44 In der Entwicklung von Gruppen und Gesellschaften setzten sich diejenigen durch, die über ein »überlegenes« Moralsystem verfügen. So wie manche elementare Werkzeuge der Zivilisation wie Sprache und Geld sind viele moralische Regeln spontan entstanden und nicht Ergebnis von Planung. Es sind unbeabsichtigte Konsequenzen, die aus absichtsvollen Handlungen von Individuen aus Interaktionsprozessen entstehen. Ein besonders wichtiges Beispiel dafür ist die Herausbildung einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.45 Der Mensch hat sich zunächst nicht in Freiheit entwickelt.46 Als Mitglied einer kleinen Horde, zu der er halten musste, um zu überleben, war er ursprünglich alles andere als frei. Eine Fülle von Verhaltensvorschriften legte ihm enge Fesseln an. Die Duldung des Tauschhandels mit anderen Gruppen, die Anerkennung des Anspruchs auf Privateigentum, besonders auf ein eigenes Stück Land, das Geldverleihen gegen Zins, all dies war zunächst ein Verstoß gegen die jeweils herrschenden Moralregeln der kleinen Gruppe. Wer aus diesem Moralkodex ausbrach, der führte die neuen Praktiken gewiss nicht deshalb ein, weil er erkannte, dass diese der Gemeinschaft nützlich waren, sondern vermutlich deshalb, weil es für ihn selbst vorteilhaft war47 und sich dann auch für die Gruppe, in der sie Geltung erlangten, als vorteilhaft erwies. Die kulturelle Evolution führte so zur Entwicklung von abstrakten Regeln, die nicht mehr bestimmte Handlungen vorschrieben, sondern dem Schutz des Einzelnen vor den Zwängen der Gruppe dienten. Damit war der Übergang zu Marktwirtschaft, Rechtsstaat und zur Großgesellschaft möglich geworden.

Es ist demgemäß nicht, jedenfalls nicht primär, die planende Vernunft, die Werte hervorbringt, sondern es ist oft die zufällige Entdeckung neuer Verhaltensmuster, die sich im kulturellen Evolutionsprozess als erfolgreich erweist und deshalb tradiert wird. Von Hayek schreibt: »Wir wissen nicht mehr, als dass die endgültige Entscheidung über Gut und Böse nicht durch individuelle menschliche Weisheit fallen wird, sondern durch Untergang der Gruppen, die die ›falschen‹ Ansichten hatten. In der Verfolgung der jeweiligen Ziele des Menschen muss sich die Bewährung all der Erfindungen der Zivilisation erweisen: die unzweckmäßigen werden fallen gelassen und die zweckmäßigen werden beibehalten.«48

Zwischen biologischer und kultureller Evolution bestehen manche Analogien. Ein wichtiger Unterschied verdient hervorgehoben zu werden. Der genetische Selektionsprozess hat einen sehr viel längeren Zeitraum in der Entwicklungsgeschichte der Erde beansprucht, doch die soziale Fortentwicklung von Regeln und Verhaltensweisen läuft sehr viel schneller ab und drängte die genetische Evolution zunehmend in den Hintergrund. Bei der kulturellen Evolution kann erworbenes Wissen an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Zudem kann jede Gruppe von fremden Traditionen lernen. Ist das Wirkungsprinzip bei beiden Evolutionsprozessen auch dasselbe, funktioniert der innere Motor der Selektion jedoch mit recht unterschiedlichen Antrieben und Geschwindigkeit.49

(13) Die Geschichte der Zivilisation lässt sich aus dieser Perspektive als Geschichte des Aufstiegs von einem »tierähnlichen« Zustand zur zivilisierten Gesellschaft beschreiben.50 Dennoch wäre es fragwürdig zu glauben, unsere eigene Zivilisation sei im Vergleich zu Wildbeutergruppen der Steinzeit »höher« entwickelt.51 Oder anders formuliert: Die Behauptung, der kulturelle Selektionsprozess habe die Menschen kontinuierlich zu höheren Weisen ihres Daseins geführt, so dass man von sozialem oder kulturellem Fortschritt reden könne, steht auf wackeligem Fundament. Dieser Auffassung, so sehr sie aus dem neuzeitlichen Denken heraus verständlich ist,52 wird man auf verschiedenen Ebenen entgegentreten müssen: