Vor zwei Jahren ist die junge Valerie Taylor spurlos verschwunden. Inspector Morse soll den Fall neu aufrollen, sieht aber keine Chance, das Mädchen noch lebend zu finden. Bis ein Brief eintrifft, der Valeries Unterschrift trägt, und der damalige Ermittler kurz darauf bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt. Morse glaubt nicht an einen Zufall.
Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.
Colin Dexter (1930-2017) studierte Klassische Altertumswissenschaft. Er ist der Schöpfer der vierzehnteiligen Krimireihe um Inspector Morse. Für sein Lebenswerk wurde er mit dem CWA Diamond Dagger und dem Order of the British Empire für Verdienste um die Literatur ausgezeichnet.
Zur Webseite von Colin Dexter.
Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)
Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.
Zuletzt gesehen in Kidlington
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Marie S. Hammer
Ein Fall für Inspector Morse 2
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.
Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument
Die englische Originalausgabe erschien 1976 bei Macmillan, London.
Die deutsche Erstausgabe erschien 1985 unter dem Titel … wurde sie zuletzt gesehen im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek.
Für die vorliegende Ausgabe hat Eva Berié die deutsche Übersetzung nach dem Original überarbeitet.
Originaltitel: Last Seen Wearing
© by Macmillan, an imprint of Pan Macmillan, a division of Macmillan Publishers International 1976
Übernahme der Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlags, Reinbek
© by Unionsverlag, Zürich 2020
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Marko Pekić (Unsplash)
Umschlaggestaltung: Sven Schrape
ISBN 978-3-293-31023-0
Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte
Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)
Version vom 19.07.2020, 00:24h
Transpect-Version: ()
DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.
Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.
http://www.unionsverlag.com
mail@unionsverlag.ch
E-Book Service: ebook@unionsverlag.ch
Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.
Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.
Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.
Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:
E-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.
Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.
Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags
Der Zug auf Gleis eins fährt in Kürze ab
Er war recht zufrieden mit sich. Natürlich ließ sich noch nichts Bestimmtes sagen, aber doch, ja – er hatte seine Sache gut gemacht. Er rief sich die einzelnen Phasen des Gesprächs noch einmal ins Gedächtnis zurück: ihre Fragen – klug und zugleich auch wieder töricht – und seine sorgfältig überlegten und, da war er sicher, gut formulierten Antworten. Zwei oder drei erschienen ihm im Nachhinein besonders gelungen, und in der Erinnerung daran huschte, während er dastand und wartete, ein flüchtiges Lächeln um seinen energischen, gut geschnittenen Mund. Eine seiner Erwiderungen war ihm noch im Wortlaut gegenwärtig:
»Meinen Sie nicht, dass Sie für dieses Amt noch etwas zu jung sind?«
»Da haben Sie sicher nicht ganz unrecht. Es ist ein sehr verantwortungsvoller Posten, und ich bin überzeugt, dass es Zeiten geben wird, wo ich – immer vorausgesetzt, dass Sie mir diese Aufgabe anvertrauen – dankbar auf den Rat von Älteren und Erfahreneren zurückgreifen werde.« Einige der betagteren Kommissionsmitglieder hatten bedeutungsvoll genickt. »Leider steht es nicht in meiner Macht, falls die fehlenden Jahre ein Hinderungsgrund sein sollten, daran etwas zu ändern. Das Einzige, was ich Ihnen versprechen kann, ist, dass dieses Manko – wenn es denn von Ihnen als solches empfunden wird – im Laufe der Zeit von selbst verschwindet.«
Nicht eben originell. Das Argument hatte er von einem früheren Kollegen, der sich rühmte, als Erster darauf gekommen zu sein. Der gedämpften Heiterkeit und dem wohlwollenden Gemurmel nach zu urteilen, hatte es auch hier die beabsichtigte Wirkung erzielt. Und keines der dreizehn Mitglieder des Gremiums schien es vorher schon einmal gehört zu haben.
Man würde sehen.
Wieder lächelte er und sah auf die Uhr. Halb acht. Seinen Zug um 20.35 Uhr würde er auf jeden Fall noch bekommen. Ankunft in London 21.42 Uhr, dann durch die Stadt zum Bahnhof Waterloo. Gegen Mitternacht konnte er zu Hause sein, vorausgesetzt, er hatte ein bisschen Glück mit dem Anschluss. Doch darüber machte er sich im Augenblick nicht viele Gedanken. Er fühlte sich sehr unbeschwert, in einer Art Aufbruchsstimmung und im Einklang mit sich und der Welt. Ob das an den beiden doppelten Whisky lag, die er sich vorhin, nachdem alles vorbei war, genehmigt hatte? Er würde die Stelle bekommen. Auf einmal war er fest davon überzeugt.
Jetzt war Februar. Seine Kündigungsfrist betrug ein halbes Jahr. Er zählte die Monate an den Fingern ab: März, April, Mai, Juni, Juli, August. Das würde also keine Probleme geben.
Er ließ seinen Blick über die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite wandern. Ziemlich elegant. Vier Schlafzimmer, große Gärten. Er würde sich eines dieser kleinen Treibhäuser anschaffen, die in Fertigteilen geliefert wurden, und Tomaten ziehen, vielleicht auch Gurken wie Diokletian – oder war es Hercule Poirot gewesen?
Er trat aus dem scharfen Wind zurück in das hölzerne Wartehäuschen. Es hatte wieder zu nieseln begonnen. Ab und zu sauste auf der nassen Straße zischend ein Auto vorbei. Die Fahrbahn schimmerte im Licht der Straßenlampen orange … Dumm, dass sie kurz vor Schluss noch auf seine Dienstzeit bei der Armee zu sprechen gekommen waren.
»Sie sind also nicht als Offizier entlassen worden?«
»Nein.«
»Gab es dafür einen bestimmten Grund?«
»Ich glaube, ich war nicht gut genug. Ich meine, zum damaligen Zeitpunkt. Als Offizier muss man bestimmte Voraussetzungen mitbringen …« Er geriet ins Schwimmen, zwang sich aber weiterzureden. Nur nicht stocken, sich nichts anmerken lassen! »Und ich war … also, ich brachte diese Voraussetzungen einfach nicht mit. Damals trat eine große Zahl sehr befähigter Männer in die Armee ein, die mir, was natürliche Autorität und Selbstvertrauen anging, überlegen waren.« Belass es dabei. Sei bescheiden.
Ein pensionierter Oberst und ein Major a. D. nickten beifällig. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte er soeben zwei weitere Stimmen gewonnen.
Es war immer dasselbe bei diesen Einstellungsgesprächen. Man musste möglichst dicht an der Wahrheit bleiben, durfte jedoch nicht den Fehler begehen, wirklich aufrichtig zu sein. Fast alle Männer, mit denen er in der Armee näher zu tun gehabt hatte, waren an Public Schools erzogen worden. Ihr Selbstbewusstsein schien grenzenlos, sie hatten den richtigen Akzent. Es waren Leutnants, Oberleutnants, Hauptmänner. Sie hatten die Offizierslaufbahn als ihr Geburtsrecht reklamiert, und ihr Anspruch war zu gegebener Zeit eingelöst worden. Über Jahre hinweg hatte er wegen dieser Bevorzugung einen dumpfen Neid verspürt. Schließlich hatte er genau wie sie eine Public School absolviert …
Die Busse verkehrten offenbar nur in größeren Abständen, und ihm kamen Zweifel, ob er noch rechtzeitig zur Abfahrt des Zuges um 20.35 Uhr am Bahnhof sein würde. Er trat einen Schritt vor und blickte die gut erleuchtete Straße hinunter, ehe er sich wieder in den Schutz des Wartehäuschens zurückzog, dessen Holzwände, wie nicht anders zu erwarten, mit gekritzelten und eingeritzten Obszönitäten übersät waren. Der unvermeidliche Kilroy hatte auf seinen rastlosen Wanderungen auch hier seinen Namenszug hinterlassen, und mehrere ortsansässige Prostituierte hatten die Wände dazu benutzt, potenziellen Kunden ihre Willfährigkeit zu annoncieren. Eine Enid liebte einen Gary und ein Dave eine Monica. Zahlreiche Verwünschungen legten den Schluss nahe, dass Oxford United seine Fans seit einiger Zeit ziemlich frustriert haben musste. Allen Faschisten wurde geraten zu verschwinden. Für Angola, Chile und Nordirland wurde Freiheit gefordert. Eine Scheibe in einer der Seitenwände war eingeschlagen, und hier und dort blinkten zwischen eingetrockneten Apfelsinenschalen, leeren Chipstüten und zerbeulten Coladosen Glasscherben. Abfall! Angewidert verzog er das Gesicht. Solchen Abfall fand er obszöner als obszöne Kritzeleien. Wäre er der Boss, er würde ein striktes Abfallgesetz erlassen. Aber auch auf seinem neuen Posten würde er diesbezüglich einige Möglichkeiten haben. Wenn sie ihn wirklich nahmen …
Wo blieb nur der Bus? Schon Viertel vor acht! Vielleicht blieb er doch besser über Nacht in Oxford. Die Entscheidung stand ihm frei. Und wenn schon Angola und anderen Freiheit gewährt werden sollte, warum nicht auch ihm? Es war schon Jahre her, dass er mehr als einen Tag getrennt von seiner Familie verbracht hatte. Er würde nichts verlieren, im Gegenteil. Die Schulbehörde hatte sich bei der Erstattung der Reisespesen außerordentlich großzügig gezeigt. Das Auswahlverfahren musste die Gemeindekasse einiges gekostet haben. Nicht weniger als sechs Bewerber in der engeren Auswahl – und einer sogar aus Inverness! Der würde die Stelle wohl kaum bekommen. Alles in allem schon eine merkwürdige Erfahrung, so eine Begegnung von Konkurrenten. Mehr als oberflächliche Freundlichkeit kam von vornherein nicht auf. Wie auf einem Schönheitswettbewerb. Alle lächeln sich an, obwohl sie sich am liebsten die Augen auskratzen würden.
Plötzlich fiel ihm noch eine Frage ein, die sie gestellt hatten: »Vorausgesetzt, Sie würden das Amt übernehmen, was denken Sie, wäre zunächst Ihr größtes Problem?«
»Ich könnte mir vorstellen, der Hausmeister.«
Seine Antwort war ganz ernst gemeint, und der begeisterte Ausbruch von Heiterkeit, den er damit auslöste, verblüffte ihn. Erst hinterher hatte er erfahren, dass der jetzige Pedell eine Art Unmensch zu sein schien, den alle wegen seiner Widerspenstigkeit und Übellaunigkeit insgeheim fürchteten.
Ja, er würde den Posten bekommen. Und eine wichtige taktische Maßnahme würde sein, sich die Anerkennung des Kollegiums und der Schüler zu sichern, indem er dieses Ekel von Hausmeister vor die Tür setzte. Als Nächstes kam der Abfall an die Reihe. Und danach …
»Warten Sie auf den Bus?«
Er hatte nicht mitbekommen, wie sie das Wartehäuschen betreten hatte. Unter ihrem Plastikhut glänzte ihr Gesicht von Regentropfen. Er nickte. »Scheint ja nicht gerade häufig zu fahren.« Sie kam auf ihn zu. Ein hübsches Mädchen. Ihr Mund gefiel ihm. Schwer zu sagen, wie alt sie war. Achtzehn? Vielleicht auch jünger.
»Es muss gleich einer kommen.«
»Na, hoffentlich haben Sie recht.«
»Ungemütliches Wetter.«
»Ja.« Er ärgerte sich. Das hatte so abschließend geklungen, dabei hätte er sich gerne noch weiter mit ihr unterhalten. Wenn sie schon beide hier warten mussten, konnten sie wenigstens miteinander reden. Sie schien ähnlich zu denken wie er, hatte aber offenbar nicht seine Hemmungen.
»Wollen Sie nach Oxford?«
»Ja. Ich möchte den Zug um 20.35 Uhr nach London erwischen.«
»Den kriegen Sie noch.« Sie zog ihren glänzenden Plastikmantel aus und schüttelte die Tropfen ab. Ihre Beine waren schlank, fast mager, aber wohlproportioniert. Er spürte eine leichte Erregung. Der Whisky …
»Wohnen Sie in London?«
»Nein, zum Glück nicht. Ich lebe in Surrey.«
»Wollen Sie da heute noch hin?«
Das genau war die Frage. »Wenn man erst in London ist, geht es schnell.«
Sie schwieg.
»Und Sie wollen heute Abend nach Oxford?«, fragte er.
»Ja. Hier ist ja nichts los«, sagte sie. Sie war wohl doch jünger, als er zuerst gedacht hatte. Ihre Blicke trafen sich, und einen Moment lang sahen sie einander in die Augen. Wirklich, ein schöner Mund. Er genoss es, hier bei ihr zu stehen – vielleicht ein bisschen mehr, als er eigentlich sollte. Er lächelte sie an. »Und im großen, bösen Oxford lässt sich was erleben?« In seiner Stimme lag gutmütiger Spott.
Sie betrachtete ihn lauernd. »Kommt drauf an, was man will.« Bevor er in Erfahrung bringen konnte, was sie wollte und welche Vergnügungen die alte Stadt außerhalb der universitären Mauern bot, fuhr ein roter Doppeldeckerbus an die Haltestelle, und ein Schwall schmutzig braunen Regenwassers ergoss sich über seine auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhe. Die automatischen Türen öffneten sich geräuschvoll, und er trat zur Seite, um das Mädchen vorzulassen. Den Fuß auf der Treppe zum Oberdeck, drehte sie sich zu ihm um: »Kommen Sie auch hoch?«
Oben war es leer. Sie setzte sich ganz nach hinten und lächelte einladend. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Er hatte eigentlich auch nichts dagegen.
»Haben Sie eine Zigarette?«
»Nein, tut mir leid. Ich rauche nicht.« War sie ein Flittchen und wollte ihn ausnehmen? Sie benahm sich fast so. Vermutlich hatte sie ihn nach seiner Kleidung taxiert, dem korrekten dunklen Anzug, dem weißen Hemd, der Krawatte, die ihn als ehemaligen Cambridge-Studenten auswies, dem gediegenen Mantel sowie seiner schwarzen Lederaktentasche, und hielt ihn für einen gut situierten Londoner Geschäftsmann. Vielleicht war sie darauf aus, dass er ihr in einer Lounge-Bar ein paar teure Drinks spendieren würde, aber da hatte sie sich getäuscht. Nach der Fahrt würde er sich sofort von ihr verabschieden. Und trotzdem spürte er sofort wieder, wie sie ihn auf eine merkwürdige Art und Weise anzog. Sie nahm den durchsichtigen Regenhut ab und schüttelte ihr langes dunkles Haar. Es duftete frisch gewaschen.
Der Schaffner kam auf sie zu und blieb vor ihnen stehen.
»Zweimal nach Oxford, bitte.« Er hatte es gesagt, ohne zu überlegen.
»Und wohin genau?« Es klang unfreundlich.
»Ja, also – ich will zum Bahnhof«, sagte er zögernd.
Sie traf die Entscheidung: »Zweimal zum Bahnhof, bitte.«
Der Schaffner gab ihnen die Fahrkarten und stieg müde wieder nach unten.
Darauf war er nicht vorbereitet gewesen, und er wusste auch nicht, was er hätte sagen sollen. Sie schob ihren Arm unter seinen und drückte sanft seinen Ellbogen an sich. »Der würde bestimmt gerne wissen, was wir vorhaben.« Sie kicherte übermütig. »Jedenfalls vielen Dank, dass Sie für mich mitbezahlt haben.« Sie beugte sich zu ihm herüber und küsste ihn leicht auf die Wange.
»Sie haben vorhin gar nicht erwähnt, dass Sie auch zum Bahnhof wollen.«
»Will ich auch eigentlich gar nicht.«
»Wohin wollen Sie denn dann?«
Sie rückte näher. »Weiß nicht.«
Einen schrecklichen Augenblick lang befürchtete er, dass sie etwas beschränkt sei. Dann musste er über sich selbst lächeln. Nein, sie war nicht zurückgeblieben, ganz im Gegenteil; sie wusste besser, was lief, als er. Er war erleichtert, als der Bus vor dem Bahnhof hielt. Erst 20.17 Uhr. Noch über eine Viertelstunde, bis sein Zug fuhr.
Sie stiegen zusammen aus. Vor dem Bahnhofseingang unter einem Hinweisschild mit der Aufschrift FAHRKARTEN/BUFFET blieben sie stehen und sahen sich an. Es nieselte immer noch. »Darf ich Sie zu einem Drink einladen?« Es sollte beiläufig klingen.
Sie nickte, »’ne Cola wär nicht schlecht.«
Ihre Anspruchslosigkeit überraschte ihn. Er hätte erwartet, dass sie die Gelegenheit genutzt und einen Gin oder Wodka verlangt hätte, etwas, was sie sich sonst nicht leisten konnte. Aber was wollte sie dann? »Wirklich nur eine Cola?«
»Ja, vielen Dank. Ich mag keinen Alkohol.«
Sie betraten die Bahnhofsgaststätte. Er bestellte für sich einen doppelten Whisky und für sie eine Cola und eine Schachtel Benson & Hedges. »Für Sie.«
Sie schien sich ehrlich zu freuen, riss die Packung gleich auf, zog eine Zigarette heraus und zündete sie an. An ihrer Cola nippte sie nur. Der Minutenzeiger an der großen Uhr über der Tür zu den Bahnsteigen rückte unerbittlich gegen halb vor. »Es wird Zeit, dass ich auf den Bahnsteig gehe. Also …« Er zögerte, griff dann entschlossen nach seiner Aktentasche, die er neben dem Stuhl abgestellt hatte. Er wandte sich ihr zu, und wieder trafen sich ihre Blicke. »Es war schön, Sie kennengelernt zu haben. Vielleicht treffen wir uns eines Tages mal wieder.« Er stand auf. Sie sahen sich noch immer in die Augen. Jetzt zu gehen, fiel ihm schwer.
Sie sagte: »Ich wünschte, wir könnten etwas Unartiges tun. Sie nicht auch?«
O Gott – ja, natürlich. Sein Atem ging plötzlich schneller, und sein Mund war auf einmal ganz trocken. Über den Lautsprecher kam die Ansage, dass der Zug, Abfahrt 20.35 Uhr, nach London/Bahnhof Paddington über Reading auf Gleis eins Einfahrt habe. Fahrgäste nach … Es rauschte an ihm vorbei. Er hätte jetzt lächelnd gestehen sollen, wie sehr auch ihm das gefallen würde, dann ein freundliches Kopfnicken, schon etwas distanziert, und mit drei, vier Schritten wäre er an der Tür gewesen, die zum Bahnsteig führte, wo sein Zug auf ihn wartete. Nur diese paar Schritte – und alles wäre anders gekommen. Nach Monaten und selbst noch Jahren sollte er immer wieder bitter mit sich ins Gericht gehen, dass er für diese wenigen rettenden Schritte nicht die Kraft gehabt hatte.
»Aber wo können wir denn hingehen?«, hörte er sich fragen. Die Thermopylen lagen unbewacht, und die persischen Heermassen strömten ungehindert nach Griechenland ein.
Der Schönheit Fahne
Weht purpurn noch auf Lipp’ und Wange dir,
Hier pflanzte nicht der Tod sein bleiches Banner
Shakespeare, Romeo und Julia, 5. Aufzug, 3. Szene
Dreieinhalb Jahre später saßen sich in einem Büro zwei Männer gegenüber.
»Sie haben die Akten. Mit dem vorhandenen Material sollte sich etwas anfangen lassen.«
»Ihm scheint es aber nicht weitergeholfen zu haben.« Morse’ sarkastischer Ton brachte deutlich zum Ausdruck, was er von der ganzen Sache hielt.
»Vielleicht hat er erfahren, was zu erfahren war.«
»Sie meinen, sie sei von zu Hause weggelaufen, und damit hätte sichs?«
»Wäre doch denkbar.«
»Und was erwarten Sie jetzt von mir? Wo nicht mal Ainley sie gefunden hat?«
Chief Superintendent Strange gab nicht gleich eine Antwort, sondern sah an Morse vorbei auf die mit roten und grünen Aktenordnern vollgestopften Regale. »Stimmt«, sagte er schließlich, »er hat sie nicht gefunden.«
»Und er hat den Fall von Anfang an bearbeitet.«
»Von Anfang an«, sagte Strange.
»Und ist keinen Schritt vorangekommen.«
Strange schwieg.
»Dabei verstand er etwas von seiner Arbeit«, sagte Morse nachdrücklich und fragte sich im nächsten Moment, warum, zum Teufel, er sich überhaupt darauf eingelassen hatte, mit Strange zu argumentieren. Da war eines Tages ein Mädchen von zu Hause weggelaufen und danach nicht mehr gesehen worden. Na und? Jahr für Jahr liefen Hunderte von Mädchen von zu Hause weg. Die meisten meldeten sich früher oder später, wenn der Reiz des Neuen verflogen war und das Geld knapp wurde, und kamen wieder zurück. Es gab allerdings auch einige, von denen hörte man nichts mehr, zugegeben. Und für die, die daheim vergeblich auf sie warteten, brachte jeder Tag neuen Schmerz. Ja, einige kamen nie mehr zurück … Nie mehr.
Stranges Frage unterbrach seinen melancholischen Gedankengang. »Sie übernehmen also den Fall?«
»Hören Sie, wenn Ainley …«
»Nein, Sie hören!«, blaffte Strange. »Ainley war ein verdammt besserer Polizist, als Sie es jemals sein werden. Und genau aus diesem Grund, gerade weil Sie in vielerlei Hinsicht kein guter Polizist sind, habe ich mich entschlossen, Ihnen den Fall zu übertragen. Sie mit Ihrer sogenannten Intuition und … ach, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll.«
Aber Morse war schon klar, was er meinte. In gewisser Weise hätte es ihn freuen können. Vielleicht tat es das sogar ein bisschen. Aber andererseits – zwei Jahre. Zwei volle Jahre! »Der Fall ist doch längst gestorben, Sir, das wissen Sie selbst. Die Leute vergessen. Und das ist gut so. Manche müssen vergessen. Zwei Jahre sind eine lange Zeit.«
»Zwei Jahre, drei Monate und zwei Tage«, präzisierte Strange.
Morse stützte das Kinn in die Linke und rieb sich mit dem Zeigefinger einen Nasenflügel. Mit seinen grauen Augen starrte er auf die Betondecke des Innenhofes. Hier und dort sprossen vereinzelt Grashalme. Ein kleines Wunder. Ob sie sich wirklich durch den harten Beton drängten? Sichere Methode, eine Leiche verschwinden zu lassen – unter Beton. Außerdem schön einfach. Man brauchte bloß … »Sie ist tot«, sagte er plötzlich.
Strange sah ihn an. »Was bringt Sie zu der Behauptung?«
»Das kann ich nicht so genau sagen. Aber wenn es all die Jahre nicht gelungen ist, sie zu finden, nun, ich denke, da liegt die Vermutung nahe, dass sie nicht mehr am Leben ist. Einen Toten zu verstecken ist schon schwer, aber einen lebenden Menschen noch ungleich schwerer. Er liegt ja nicht nur da, sondern steht auf, geht umher, begegnet anderen Leuten. Nein, ich nehme an, sie ist tot.«
»Ainley war auch dieser Ansicht.«
»Und Sie?«
Strange zögerte einen Augenblick. »Ich habe seine Ansicht geteilt.«
»Dann hat er also die Sache in Wirklichkeit als Mordfall behandelt?«
»Offiziell nicht – nein. Da hat er sich an die vorliegenden Fakten gehalten. Das heißt, er hat nach einem als vermisst gemeldeten Mädchen gesucht.«
»Und inoffiziell?«
Strange zögerte erneut. »Ainley ist mehrere Male bei mir gewesen wegen des Falles. Er muss ihn sehr beschäftigt haben. Es gab da einige Aspekte, die ihn, nun, sagen wir mal, beunruhigten.«
Morse sah verstohlen auf die Uhr. Zehn nach fünf. Die National Opera gastierte gerade im New Theatre mit einer Inszenierung der Walküre, und er hatte sich für den heutigen Abend eine Karte besorgt. Die Vorstellung begann um halb sieben.
»Es ist zehn nach fünf«, sagte Strange, und Morse fühlte sich fast wie in seiner Schulzeit, wenn der Lehrer ihn beim Gähnen ertappt hatte. Schule … Valerie Taylor war, als sie verschwand, noch ein Schulmädchen – er hatte damals über den Fall gelesen. Etwas über siebzehn. Ausgesprochen hübsch. Träume vom aufregenden Leben in der Großstadt. Begeisterung, Sex und Drogen, dann Prostitution, Abrutschen ins kriminelle Milieu, Gosse. Zum Schluss die Reue. Wir alle bereuen am Ende. Und danach? Zum ersten Mal, seit er in Stranges Büro saß, fühlte Morse so etwas wie Interesse. Was war mit Valerie Taylor geschehen?
Als Strange wieder zu reden begann, war es fast wie eine Antwort auf Morse’ nur in Gedanken gestellte Frage. »Am Ende hielt Ainley es für möglich, dass sie Kidlington niemals verlassen hat.«
Morse schaute ruckartig auf. »Was hat ihn bloß auf diese Idee gebracht?« Er sprach langsam und spürte dabei eine ihm wohlvertraute innere Erregung. Die Walküre war in diesem Augenblick vergessen.
»Nun, es gab da, wie ich schon sagte, einiges, was ihn beunruhigte.«
»Und was genau war das?«
»Sie finden alles in den Akten.«
Also doch Mord? Das war eher sein Metier. Als der Superintendent auf die verschwundene Valerie Taylor zu sprechen gekommen war, hatte er zunächst befürchtet, dass ihm da wieder eine dieser Vermisstensachen aufgehalst werden sollte, bei denen die Ermittlungsarbeit der Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen glich – ebenso undankbar, uneindeutig, unendlich. Er wusste nur zu gut, was ihn in dem Fall erwartet hätte: Zuhälter, Nutten, üble Typen in miesen Schuppen, schäbige Straßen und als Nachtquartier irgendwelche heruntergekommenen Hotels in London, Liverpool, Birmingham. Ihm grauste, wenn er nur daran dachte. Und dann die unsägliche Monotonie der polizeilichen Routinemaßnahmen. Überprüfen. Noch mal überprüfen. Nichts. Das Ganze noch einmal von vorn. Ohne dass ein Ende abzusehen war. Aber das alles blieb ihm ja nun zum Glück erspart. Er konnte aufatmen. Doch schon ließ ihn ein neuer Gedanke wieder unruhig werden: Warum gerade jetzt? Warum ausgerechnet heute, Freitag, den 12. September – zwei Jahre, drei Monate und … wie viel? … zwei Tage, nachdem Valerie Taylor auf dem Weg von ihrem Elternhaus zurück zur Schule am helllichten Mittag verschwunden war? Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich nehme an, es hat sich etwas Neues ergeben?«
Strange nickte. »Ja.«
Das war eine gute Nachricht. Passt auf, ihr elenden Sünder da draußen. Er würde darum bitten, Sergeant Lewis für den Fall freizustellen. Er mochte Lewis.
»Und ich bin sicher, dass Sie genau der richtige Mann für diese Aufgabe sind.«
»Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen, Sir.«
»Vor ein paar Minuten hatte ich nicht diesen Eindruck.«
»Um ehrlich zu sein, Sir, ich hatte anfangs vermutet, es handle sich um eine dieser unerfreulichen Vermisstensachen.«
»Da haben Sie ganz richtig vermutet.« Stranges Stimme war plötzlich von einer unnachgiebigen Härte. »Und damit kein falscher Eindruck entsteht: Es kann keine Rede davon sein, dass ich Sie bitte, den Fall zu übernehmen, sondern ich ordne es hiermit an.«
»Aber wir waren doch eben noch beide derselben Meinung, dass …«
»Sie waren der Meinung. Es hat sich herausgestellt, dass Ainleys Annahme falsch war. Valerie Taylor ist höchst lebendig.« Er ging zu einem der Aktenschränke, schloss ihn auf und entnahm ihm einen einfachen braunen Briefumschlag, an dem mit einer Büroklammer ein schmaler Bogen billigen Briefpapiers befestigt war. Er gab beides Morse. »Sie können es ruhig in die Hand nehmen. Es war schon im Labor – keine Fingerabdrücke. Da hat sie nun endlich doch noch nach Hause geschrieben.«
Morse sah unglücklich auf die drei kurzen, mit ungelenker Hand geschriebenen Zeilen:
Liebe Mami, lieber Papi, nur damit ihr Bescheid wisst, dass ich gesund bin, und euch keine Sorgen macht. Es tut mir leid, dass ich euch nicht eher geschrieben habe, aber bei mir ist alles okay.
Viele liebe Grüße, Valerie
Der Briefumschlag trug keinen Absender. Morse entfernte die Büroklammer und betrachtete den Poststempel. Der Brief war am Dienstag, dem 2. September, in London EC4 aufgegeben worden.
Wenn man dort schon singt,
lasse man sich ruhig nieder
Wort mit O, vier Buchstaben
Links von ihm saß ein ungeheuer dicker Mann. Er war sehr knapp vor Beginn der Ouvertüre hereingekommen und hatte sich unter kurzatmig hervorgestoßenen Entschuldigungen ächzend die Reihe »J« entlang zu seinem Platz gequält, einem Schwertransporter nicht unähnlich, der unter Schwierigkeiten eine schmale Brücke passiert. Nachdem er glücklich seinen Sitz erreicht und sich in seiner ganzen erstaunlichen Leibesfülle niedergelassen hatte, stand ihm vor lauter Anstrengung der Schweiß auf der Stirn, und er rang nach Luft wie ein gestrandeter Wal.
Morse zur Rechten saß eine spröde wirkende junge Dame mit Brille in einem langen dunkelroten Kleid. Auf ihren Knien hielt sie die umfangreiche Partitur. Morse hatte ihr, als er seinen Platz einnahm, höflich zugenickt, woraufhin sich ihre Lippen den Bruchteil einer Sekunde lang zu der Andeutung eines Lächelns verzogen hatten, bevor ihr Gesicht wieder einen Ausdruck frostiger Reserviertheit annahm. Morse konnte sich angenehmere Gesellschaft vorstellen.
Aber es blieb ihm ja der Genuss der wunderbaren Musik. Er dachte an das ergreifende Liebesduett im ersten Aufzug. Hoffentlich war der Sänger des Siegmund seiner Partie gewachsen, denn diese Tenorpassage war mit das Schönste, was klassische Oper zu bieten hatte – aber eben auch sehr schwierig. Der Dirigent schritt durch den Orchestergraben, bestieg das Podium und bedankte sich mit einer liebenswürdigen Verbeugung für den Begrüßungsapplaus. Das Licht erlosch, und Morse lehnte sich mit einem Gefühl freudiger Erwartung zurück. Nachdem auch das letzte Husten schließlich verstummt war, hob der Dirigent seinen Stab. Die Walküre hatte begonnen.
Nach kaum mehr als zwei Minuten fühlte sich Morse auf einmal abgelenkt. Er warf einen schnellen Seitenblick nach rechts und stellte fest, dass die bebrillte Mona Lisa neben ihm von irgendwo eine Taschenlampe hervorgeholt hatte und den Lichtstrahl, den Noten folgend, über die Partitur gleiten ließ. Die Seiten knisterten und raschelten beim Umblättern. Der langsam hin- und herwandernde Schein ließ Morse unwillkürlich an einen Leuchtturm denken. Geschenkt. Sobald sich der Vorhang hob, würde sie die Beschäftigung mit der Partitur wohl ohnehin aufgeben. Aber ärgerlich war es schon. Plötzlich fiel ihm auf, dass es im Saal sehr heiß war, und er überlegte, ob er sich die Jacke ausziehen sollte. Im selben Augenblick wurde er gewahr, dass der Koloss links neben ihm in Bewegung geriet. Offenbar hatte er denselben Gedanken gehabt und war jetzt dabei, ihn in die Tat umzusetzen. An den Rand seines Sitzes gedrängt, verfolgte Morse in einer Art ohnmächtiger Faszination die Bemühungen seines beleibten Nachbarn, die Jacke loszuwerden, was diesem mehr Schwierigkeiten bereitete als dem in die Jahre gekommenen Houdini, sich aus einer Zwangsjacke zu befreien. Von aufgebrachtem Zischen der Umsitzenden begleitet, brachte er sein Vorhaben schließlich zu einem guten Ende, hielt einen Moment inne und begann dann, sich schnaufend in die Höhe zu hieven, um das lästige Kleidungsstück unter sich hervorzuziehen. Sein Klappsitz schlug mit einem lauten Knall gegen die Rückenlehne, wurde wieder heruntergedrückt und gab, als der Dicke sich darauf niederließ, eine Art Stöhnen von sich. Erneutes Zischen in der Umgebung – dann endlich herrschte in Reihe »J« wieder Ruhe und Frieden. Die Bebrillte war allerdings noch immer mit ihrer Taschenlampe zugange – für Morse’ empfindsames Gemüt eine unschöne Beeinträchtigung seines Kunstgenusses. Aber mit so etwas musste man vielleicht rechnen. Wagnerianer waren ein verrückter Haufen.
Morse schloss die Augen, um sich ganz den vertrauten Klängen hinzugeben. Exquisit.
Im ersten Moment glaubte er, der kräftige Knuff sei dazu bestimmt, seine Aufmerksamkeit zu erregen, doch als er sich mit fragendem Blick zur Seite wandte, wurde ihm klar, dass dem Dicken mitnichten an Kommunikation gelegen war, dass der Rippenstoß vielmehr Teil seiner raumgreifenden Bemühungen war, an ein Taschentuch zu gelangen. Bei dem sich noch ausweitenden zähen Kampf fand Morse plötzlich einen Zipfel seines Jacketts unter der Leibesfülle des Nachbarn eingeklemmt. Sein vorsichtiger Versuch, ihn dort wieder hervorzuziehen, trug ihm einen strafenden Blick von Florence Nightingale ein.
Gegen Ende des ersten Aufzugs war Morse’ Stimmung auf dem Nullpunkt angelangt. Siegmund krächzte mehr, als dass er sang, Sieglinde schwitzte fürchterlich, und hinter ihm knisterte irgendein Banause unaufhörlich mit seiner Bonbontüte. In der Pause flüchtete er an die Bar, ließ sich erst einen Whisky geben, und gleich hinterher noch einen. Als es zum zweiten Aufzug klingelte, bestellte er sich den dritten. Das junge Mädchen, das eben hinter ihm gesessen und den Hals hatte recken müssen, um über seine Schulter zu sehen, hatte während der beiden noch folgenden Aufzüge einen freien Blick auf die Bühne. Offenbar veranlasste sie das, ihren Süßigkeitenkonsum eher noch zu steigern, denn mit der zweiten Tüte Bonbons war sie noch schneller fertig als mit der ersten.
Es muss allerdings gesagt werden, dass wohl auch unter weniger ungünstigen Umständen die Oper an diesem Abend wohl kaum Morse’ ungeteilte Aufmerksamkeit gefunden hätte, denn immer wieder kreisten seine Gedanken um das Gespräch mit Strange – und um Ainley. Vor allem um Ainley. Chief Inspector Ainley … Morse hatte ihn nicht gut gekannt. Nicht wirklich gut. Ein ruhiger Typ. Freundlich, aber nicht mehr. Ein Einzelgänger. Morse hatte ihn immer etwas fade gefunden. Zurückhaltend, vorsichtig, einer, der sich an die Vorschriften hielt. Verheiratet, keine Kinder. Daran würde sich nun auch nichts mehr ändern, denn Ainley war tot. Nach Aussage eines Augenzeugen hatte er den Unfall selbst verursacht: Er war ausgeschert, um zu überholen. Offenbar hatte er den Jaguar, der sich ihm von hinten mit hoher Geschwindigkeit näherte, nicht bemerkt. Es war auf der M40 in der Nähe von High Wycombe passiert. Der Fahrer des Jaguars war wie durch ein Wunder unverletzt geblieben. Aber Ainley hatte es erwischt. So ein unbedachtes Manöver sah ihm eigentlich nicht ähnlich. Vielleicht war er mit seinen Gedanken woanders gewesen … Er hatte für die Fahrt nach London den eigenen Wagen benutzt und war an seinem freien Tag unterwegs gewesen. Das war erst elf Tage her. Die Nachricht von seinem Tod war natürlich für alle, die ihn gekannt hatten, ein Schock gewesen, aber da war niemand, der wirklich um ihn trauerte und ihn vermisst hätte. Mit Ausnahme seiner Frau … Morse war ihr nur einmal, im vergangenen Jahr bei einem Polizeikonzert, begegnet. Sie war noch ziemlich jung, jedenfalls sehr viel jünger als er; recht hübsch, aber keine Frau, bei deren Anblick ihm die Knie weich wurden. Er meinte, sich erinnern zu können, dass sie Irene hieß. Oder Eileen? Nein, wohl Irene.
Sein Whiskyglas war leer, und er blickte sich suchend um. Das junge Mädchen, das ihn bedient hatte, war nirgends zu sehen. Über den Zapfhähnen hingen ordentlich gefaltet die Wischtücher. Außer ihm war keine Menschenseele mehr da. Es hatte keinen Sinn, noch länger hier sitzen zu bleiben.
Er ging die Treppe hinunter und trat hinaus in den warmen, dämmrigen Sommerabend. Ein großes Plakat neben dem Eingang, das fast die ganze Breite der Wand einnahm, verkündete in schwarzen und roten Lettern: ENGLISH NATIONAL OPERA, Montag, 1. Sept – Samstag, 13. Sept. Er spürte plötzlich ein Prickeln im Rücken. Montag, der 1. September. Das war der Tag, an dem Dick Ainley ums Leben gekommen war. Und der Brief war am 2. September aufgegeben worden. Am Tag darauf. Das konnte natürlich ein Zufall sein, vielleicht aber auch nicht. Es war denkbar, dass … Morse hielt inne. Er musste aufpassen, dass er sich nicht zu voreiligen Schlussfolgerungen hinreißen ließ. Oder? Polizeilich verboten war es ja nicht … Ainley war also am 1. September, einem Montag, in London gewesen, und dort war irgendetwas geschehen, das ihn innerlich sehr beschäftigte. Hatte er dort etwa, nach mehr als zwei Jahren, Valerie Taylor gefunden? Es wäre doch möglich. Und aufgrund seines Besuches hatte sich Valerie gleich am nächsten Tag hingesetzt und nach Hause geschrieben – zum ersten Mal seit ihrem Verschwinden. So ganz zufrieden war Morse nicht mit dem, was er sich zurechtgelegt hatte. Die Akte Taylor war zwar nicht abgeschlossen worden – natürlich nicht –, aber mangels neuer Spuren schon seit längerer Zeit auf Eis gelegt, und Ainley war mit etwas ganz anderem beschäftigt gewesen. Er war an den Ermittlungen wegen der Serie von Bombenattentaten in den letzten Monaten beteiligt gewesen. Warum also plötzlich wieder der Fall Taylor? Doch halt mal! Ainley war an seinem freien Tag nach London gefahren. Hatte er vielleicht …?
Morse drehte um und ging ins Theater zurück. Ein livrierter Logenschließer informierte ihn, dass die Vorstellung erstens ausverkauft und zweitens bereits zur Hälfte vorbei sei. Morse bedankte sich und steuerte die Telefonkabine an. Der Logenschließer kam hinter ihm her und trat ihm fast auf die Hacken. »Ich bedaure, Sir, aber die Benutzung dieses Telefons ist nur unseren Besuchern gestattet.«
»Genau das bin ich«, sagte Morse, hielt ihm seine Karte unter die Nase und zog nachdrücklich die Tür hinter sich zu. Er schlug das Telefonbuch auf, Adderly … Allen, schon zu weit … Ainley. Es gab nur den einen – R. Ainley, Wytham Close 2, Wolvercote. Ob sie zu Hause war? Es war schon Viertel vor neun. Er hielt es gut für möglich, dass Irene oder Eileen, oder wie immer sie nun hieß, sich bei Freunden aufhielt. Oder sie war zu Verwandten gefahren. Sollte er es trotzdem versuchen? Eigentlich war das ganze Hin- und Herüberlegen völlig überflüssig. Am Ende würde er ja doch fahren. Er notierte sich die Adresse. Mit federnden Schritten ging er – an dem vorsichtig lächelnden Logenschließer vorbei – auf den Ausgang zu.
»Auf Wiedersehen, Sir.«
Auf dem Weg zu seinem Wagen, den er in der nahe gelegenen St. Giles Street abgestellt hatte, kam Morse sein Benehmen auf einmal kindisch vor. Er hätte wirklich zurückgrüßen können. Der Mann tat schließlich nur seine Pflicht. Wie ich, dachte Morse, während er ohne große Begeisterung Oxford in Richtung Norden verließ, um nach Wolvercote zu fahren.