Die Autorin
Daniela Vilela, geboren 1966 in Basel in der Schweiz, ist ausgebildete Kauffrau, Ernährungscoach und begeisterte Hobbyköchin. Das Schreiben hat sie bei einem Fernkurs für kreatives Schreiben in Oxford entdeckt und seither schreibt sie mit viel Leidenschaft Kriminalromane. Wann immer es die Zeit erlaubt, bereist sie gemeinsam mit ihrem Mann die Welt. Die Exotik der fremden Länder lässt sie gerne in ihre Geschichten einfließen. Die Autorin lebt in Zürich.
Das Buch
In Zürich wird eine Wasserleiche mit durchschnittener Kehle angespült. Sonja Thalmann von der Kripo Zürich beginnt sofort mit den Ermittlungen. Schnell stellt sich heraus, dass die Tote, eine gewisse Stefanie Gerber, in Spanien lebte und dort seit drei Jahren verschollen ist. Als auch der Ehemann der Toten ermordet aufgefunden wird, beschließt die Kripo, den spanischen Inspektor Pablo García zum Fall hinzuzuziehen. Gemeinsam mit García reist Sonja in den Süden. Denn alle Spuren führen in das idyllische Städtchen Málaga …
Daniela Vilela
Andalusische Machenschaften
Der erste Fall für Sonja Thalmann
Kriminalroman
Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de
Originalausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Februar 2017 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
ISBN 978-3-95818-105-1
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Schlotternd versucht sie, sich aufrecht hinzusetzen. Ihre Hände fühlen sich taub und leblos an. Kein Wunder, mit diesen Plastikfesseln an ihren Handgelenken, die die Durchblutung brutal abwürgen.
Sie lehnt ihren Kopf an die kalte Wand und schließt für einen Moment die Augen. Es fällt ihr schwer, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn, logisch zu denken. Nichts macht mehr Sinn. Zum wiederholten Mal versucht sie, ihre Hände zu befreien, indem sie mit aller Kraft und völlig verzweifelt ihre Arme auseinanderdrückt und die Hände hin und her bewegt. Sie knirscht dabei mit den Zähnen, und Schweißperlen bilden sich auf ihrer Stirn. Die Fesseln geben jedoch keinen Millimeter nach. Frustriert lässt sie ihre Arme sinken. Angenommen, sie könnte sich tatsächlich befreien, was dann? Hätte sie überhaupt eine Chance, dieses Zimmer lebend zu verlassen? Natürlich nicht. Wie kann sie so etwas überhaupt annehmen? Ihre Situation ist so gut wie ausweglos. Mutlos sackt sie in sich zusammen.
Sie zieht ihre Knie näher an den Körper und legt den Kopf darauf. Die Matratze, auf der sie kauert, ist nicht bezogen und weist hässliche gelbliche Flecken auf, die sie anstarrt, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Sie ist so gnadenlos naiv wie ein junges Rehkitz in die Falle der Jäger getappt.
In einem letzten Aufbäumen zerrt sie erneut an den Fesseln. Da öffnet sich die Tür mit einem leisen Ächzen, als würde sie unter höllischen Schmerzen leiden. Einer der Männer schlurft herein. Ihr Herzschlag beschleunigt sich und hämmert wie ein Irrer in einem Käfig gegen ihren Brustkasten. Für nur eine Sekunde blickt sie hoch, direkt in die Augen des Mannes, der jetzt dicht vor ihr steht. Die Entschlossenheit, die sie darin sieht, beschert ihr am ganzen Körper eine Gänsehaut. Sein Blick bohrt sich tief in sie hinein, bis in ihr Innerstes – ihre Seele. Schnell schaut sie weg und blinzelt heftig, um ihre Tränen zu unterdrücken. »Bitte …«, fleht sie so leise, dass er sie vermutlich gar nicht hört. Er lehnt jetzt so dicht vor ihr, dass sie seinen kalten Schweiß riechen kann. Übelkeit steigt in ihr hoch. »Bitte, tun Sie mir nichts! Ich schwöre … ich …«
Der Mann kniet sich zu ihr auf die Matratze. Jetzt trennen sie nur noch wenige Zentimeter voneinander. Sie versucht sich noch kleiner zu machen und sinkt tief in sich zusammen, doch das nutzt nichts. Er holt mit einem Arm aus und scheuert ihr eine mit dem Handrücken, sodass ihr Kopf gegen die Wand schlägt. Für einen Augenblick wird ihr schummerig vor Augen, und sie ist sich sicher, gleich die Besinnung zu verlieren. Doch außer einem stechenden Schmerz im Hinterkopf ändert sich nichts.
Ihr wird kotzübel. Doch bevor sich ihr Mageninhalt entleeren kann, spürt sie, wie sich eine kalte Nadel tief in ihre Armbeuge bohrt. Was zum Henker tut er da? Sie will protestieren und versucht sich verzweifelt mit der wenigen Kraft, die noch in ihr steckt, zurWehr zu setzen. Da explodieren tausend Sterne in ihrem Gehirn, und grelle Blitze zucken. Diese Blitze! Solche Blitze hat sie schon einmal erlebt, vor vielen Jahren, bei einem Gewitter im Engadin. Damals war sie noch ein kleines Mädchen gewesen, und ihr Vater hatte sie in seine starken Arme genommen und ihr beruhigend über die Haare gestrichen.
Doch jetzt ist ihr Vater nicht da, und sie ist in diesem Albtraum gefangen.
Was immer der Mann in ihre Venen gespritzt hat, beginnt zuwirken. Sie spürt das Serum durch ihren Körper preschen, wie einen rauschendenGebirgsbach nach einem Gewitter, und mit einem Mal fühlt sie sich schwerelos, als wäre sie in flauschige Watte gehüllt. Ein herrliches Gefühl, denkt sie glücklich. Doch die Euphorie dauert nur eine Sekunde, dann vernimmt sie seine Stimme dicht neben ihrem Ohr.
»Wenn dir dein Leben lieb ist, dann hör jetzt ganz genau zu«, zischt der Kerl. Inzwischen ist auch der zweite Mann ins Zimmer getreten. Fragen prasseln auf sie nieder wie fette Regentropfen. Sie hat Mühe, sich zu konzentrieren. Dennoch muss sie antworten, um die Männer nicht noch mehr zu verärgern. Irgendwann hören die Fragen auf und die Stimmen verstummen. Erschöpft lässt sie ihren Körper seitwärts auf die Matratze fallen. Endlich. Sie ist so müde und möchte nur noch schlafen. Schlafen.
Doch schon reißt einer der Männer sie an den Plastikfesseln hoch, sodass sie wieder in aufrechter Position sitzt. Dann schlingt er seinen Arm um ihren Hals und hält sie im Würgegriff fest.
Warum tut er das? Sie hat doch alle ihre Fragen beantwortet!
Ihre Lungen lechzen nach Luft, und sie muss husten.
Sie brauchen mich nicht mehr, schießt es ihr ganz plötzlich durch den Kopf. Sie haben erfahren, was sie wollten. Sie werden mich töten.
Sie
werden
mich
töten.
Die Panik reißt ein schwarzes Loch in ihr Gehirn. Noch einmal taucht das Bild ihres Vaters vor ihr auf. Wie er sie anlächelt, seine hellblauen Augen strahlen. Er hebt sie hoch und schwingt sie im Kreis. Beide lachen ausgelassen.
Das Bild platzt wie eine Seifenblase, und sie nähert sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit einem schwarzen Abgrund. Ein Sog, der sie ganz tief nach unten reißt. Etwas Kaltes, Glattes streift ihren Hals und dann – nichts.
Ein Anruf von Käser morgens um halb acht bedeutet, dass irgendwo in Zürich ein Mord geschehen ist. So schnell sie konnte, ist sie ins Kripogebäude geeilt und hat erste kurze Anweisungen erhalten, während sie ihr Gipfeli im Stehen verschlungen und an einem ausgesprochen scheusslichen Kaffee genippt hat.
Sonja stellt die Scheibenwischer auf die höchste Stufe. Der Regen prasselt inzwischen in fetten Tropfen auf die Windschutzscheibe des Einsatzwagens. Sie ist alleine unterwegs. Ruedi Käser, ihr Chef und Leiter der Abteilung für Leib und Leben der Zürcher Kriminalpolizei, will vom Büro aus mit dem Koordinieren beginnen, und von den anderen Ermittlernistkeiner verfügbar: Lea Köhler musste in der Nacht zu einer Messerstecherei in der Langstrasse ausrücken, von der sie noch nicht zurückgekehrt ist, und Adam Eichenberger ist in den Ferien. David Bovic ist sowieso nur im Innendienst tätig, und somit blieb nur sie, um zum Tatort zu fahren.
»Was für ein Wolkenbruch«, murmelt sie vor sich hin, während ihr Blick konzentriert auf der Straße klebt. Nach wenigen Minuten ist der Spuk wieder vorbei, und die dunklen Wolken werden von weißen, freundlichen Wolken verdrängt.
Ist es denn die Möglichkeit? Ein Monsunregen über Zürich.
Das Navi verrät ihr, dass sie ihr Ziel, das Limmatufer unterhalb der Europabrücke, beinahe erreicht hat. Käser hat gesagt, die Tote, eine junge Frau, sei gegen sieben Uhr heute Morgen am Wehr bei Höngg aufgefunden worden.
»Höngg?«, hat sie daraufhin verständnislos gefragt und es gleich wieder bereut, als sie Käsers gerunzelte Stirn sah.
»Du weißt nicht, wo Höngg ist?«
»Ruedi, ich bin erst einige Monate hier und kenn mich noch nicht so …«
»Ja, ja, du bist aus Basel, ich weiß«, hat er sie ungeduldig unterbrochen und dabei Basel so merkwürdig betont. »Kein Problem, das Auto hat ja ein Navi. Du wirst es also schon finden. Ist nicht weit von hier, einfach stadtauswärts, in Richtung Limmattal.«
Sie hat stumm genickt.
Und tatsächlich, keine zwanzig Minuten später überquert sie die Brücke, biegt ab und fährt den relativ kurzen, steilen Hang hinunter bis zur Badi Höngg. Sie parkt den Wagen am Straßenrand, steigt aus und hält eine Hand schützend vor die Augen. Die Sonne blendet inzwischen schon wieder grell zwischen den Bäumen hindurch. Sie sucht mit den Augen die Gegend ab. Sieht eigentlich ganz nett aus hier, denkt sie. Mächtige Bäume, die Limmat, die ihren ganzen Reiz mit ihrem tiefgrünen Wasser ausspielt. Irgendwie romantisch, wenn man auf so was steht. Ben würde es gefallen, davon ist sie überzeugt. Ben … Sie atmet tief durch beim Gedanken an ihn.
Vor rund einem halben Jahr hat sie sich von Basel nach Zürich versetzen lassen. Genau wegen Ben. Wegen der Liebe. Besser gesagt, der ausgebrannten Liebe wegen. Es wäre unklug gewesen, dort zu bleiben und ihm täglich auf den Gängen der Basler Kripo zu begegnen. Auch wenn sie Ben inzwischen wieder trifft, tut die Distanz sehr gut. Zudem hat eine innere Unruhe sie weitergezogen. Vielleicht würde sie sich als geborene Walliserin sowieso nie irgendwo richtig heimisch fühlen. Ihre Seele ist für immer unabwendbar mit den Bergen verbunden.
Nur ein paar Schritte entfernt entdeckt sie einen uniformierten Kollegen der Stadtpolizei und zwei junge Burschen, die dicht nebeneinanderstehen. In wenigen Schritten ist sie bei der kleinen Gruppe und begrüßt den Kollegen, der gerade eine Rolle Absperrband im Kofferraum seines Opel Astras verstaut.
»Sonja Thalmann, Kripo Zürich.« Der Stadtpolizist mit fleischigen Händen wie ein Metzger und einem Hals wie ein Stier starrt sie feindselig an. Der übliche Zwist zwischen Stadt- und Kantonspolizei spiegelt sich deutlich in seiner abweisenden Haltung wider. Seine Uniform ist tropfnass, wie auch die Kleider der Burschen. Anscheinend haben sie dem Wolkenbruch von vorhin nicht mehr ausweichen können.
»Kommt ihr jetzt nicht mehr zu zweit?« Die Ironie spritzt förmlich zwischen seinen zusammengepressten Zähnen hindurch. Dabei fährt er sich mit der Hand über sein stoppeliges Kinn und mustert sie unverblümt von oben bis unten.
Sonja gibt ihm keine Antwort und wendet sich stattdessen direkt an die beiden Jugendlichen. »Ihr habt also die Frau gefunden?« Sonja vermeidet bewusst das Wort Leiche, da die Jungs sowieso schon blass und verstört wirken.
Sie nicken zögerlich. Beide sind mit Turnschuhen, tief sitzenden Hosen und viel zu großen T-Shirts bekleidet. Der eine hat bereits einige Pubertätspickel rund um die Nase, der andere wirkt noch wie ein kleiner Junge mit rosa Haut und schmächtigem Körper.
»Wir wollten angeln gehen, und da … sahen wir sie. Mitten in den Algen und Zweigen. Sie … sie lag einfach so da und bewegte sich nicht.« Der mit den Pickeln schluckt.
»Ich habe noch nie eine Leiche gesehen«, stammelt der Schmächtige und verzieht sein Gesicht, als würde er gleich losheulen. Peinlich berührt blinzelt er heftig und senkt seinen Blick.
»Kein schöner Anblick, ich weiß. Daran gewöhnt man sich nie«, sagt Sonja mit ruhiger Stimme und lächelt dem Jungen aufmunternd zu. »Wer von euch hat die Polizei benachrichtigt?«
»Das waren nicht wir. Meine Mam hat angerufen«, ereifert sich der Schmächtige. »Wir wussten nicht, was wir tun sollten, und so rief ich meine Mutter an. Sie kommt auch gleich und holt uns ab.«
»Das ist aber nett von deiner Mutter«, sagt Sonja, und der Junge nickt heftig, erleichtert, dass er das Richtige getan hat.
»Sobald deine Mam hier ist, könnt ihr diesem netten Herrn von der Stadtpolizei eure Adressen und Telefonnummern geben. Wir werden euch später nochmals kontaktieren. Ich denke, ihr werdet zu uns auf die Kriminalpolizei kommen müssen, um eine Aussage zu machen.«
»Zur Kripo? Echt?« Der mit den Pickeln reißt seine Augen weit auf.
»Ja, genau.«
»Wow, cool!«, rufen beide aufgeregt wie aus einem Munde.
Sie kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen und verabschiedet sich. Mit langen Schritten eilt sie zum Wehr, einem Kraftwerk der Wasserwerke Zürich, an dem sich die Tote befinden soll.
Wie erwartet haben die beiden Jungs außer der Toten nichts Ungewöhnliches bemerkt. Sie bückt sich unter dem Absperrband hindurch und sieht schon von Weitem die kleine Menschenansammlung: Jogger und Anwohner, die mit ihren Hunden den ersten Spaziergang des Tages auf der Badeinsel tätigen. Die letzten Wassertropfen von dem Gewitter vorhin glitzern wie Perlen auf den Kastanien- und Lindenbäumen. Doch Sonja nimmt dies gar nicht wahr. Sie atmet noch einmal kräftig durch und versucht, den Gedanken an die Wasserleiche zu verdrängen. Wenn sie etwas hasst an ihrem Job, dann sind es ganz klar Wasserleichen. Diese aufgedunsenen Körper, die durch ihre eigenen Körpergase wie Bojen im Wasser schaukeln, sind ihr ein absoluter Gräuel.
Personen in weißen Schutzanzügen und mit Gesichtsmasken stapfen geschäftig an ihr vorbei, in den Händen große schwarze Taschen. Die Spurensicherung.
Zwei weitere Kollegen der Stadtpolizei stehen schwatzend an der Uferböschung, daneben zwei Taucher der Wasserschutzpolizei mit Sauerstoffflaschen auf dem Rücken, die sich gerade ihrer schweren Last entledigen und damit beginnen, ihre Neoprenanzüge abzustreifen.
Ganz hinten kann Sonja einen Mann mit grauem Schnurrbart und rundlichem Bauch ausmachen. Staatsanwalt Walter Schneider. In seiner grauen Tweedhose und seinem bis über die Ellbogen hochgekrempeltem hellblauem Hemd sieht er nicht wie der klassische Jurist aus. Sonja kennt ihn von ihrem ersten Fall hier in Zürich und schätzt ihn. Ein Mann, der sich nicht unnötig in Szene setzt und nicht viele Worte verliert. Eine Seltenheit unter den oft blasierten Staatsanwälten, die sich lieber im Fernsehen zeigen als an einem Tatort. Nicht so Schneider – der ist noch einer der alten Schule: mit Herzblut an der Aufklärung eines Falles interessiert. Vielleicht liegt es auch daran, dass er die ehrgeizigen Karrierejahre bereits hinter sich gelassen hat und mit Mitte fünfzig das Leben von einer anderen Perspektive aus betrachtet.
Schneider ist tief in ein Gespräch mit Diana Sommer verwickelt, der Leiterin der Forensischen Abteilung. Auch sie ist keine Unbekannte für Sonja.
»Guten Morgen«, grüßt Sonja und schüttelt beiden die Hände.
»Wollen wir gleich zu dem unerfreulichen Teil übergehen und uns die Tote ansehen?« Sommer wirkt mit ihrer kleinen Körpergröße und rundlichen Statur wie ein Kind zwischen Sonja und Schneider. »Die Taucher haben die Frau vor wenigen Minuten herausgefischt. Es hat länger gedauert, als angenommen. Die Leiche hat sich stark im Rechen des Wehrs verfangen.«
Sonja verzieht ihr Gesicht zu einer Grimasse.
»Wo liegt sie?«, fragt Sonja.
»Dort drüben.« Sommer deutet mit einem Kopfnicken auf die Stelle, an der die Taucher mit den Stadtpolizisten herumstehen und offenbar derbe Sprüche klopfen.
Sie laufen gemeinsam hinüber, und die Stadtpolizisten verstummen augenblicklich. Wieder diese Abwehrstellung. Sonja schnaubt leise und verächtlich.
Schneider gibt den Kollegen der Stadtpolizei die Anweisung, ihnen sämtliche Gaffer und Journalisten vom Leibe zu halten worauf diese grollend davontrotten.
»Na, dann wollen wir mal sehen, mit was wir es zu tun haben«, sagt er und richtet seinen Gurt an der Hose.
Die Taucher beginnen damit, ihre nassen Neoprens in ihrem Lieferwagen zu verstauen. Ihre Arbeit ist getan.
»Was wissen wir bis jetzt?«, fragt Sonja an Sommer gewandt. Die Frau mit den sympathisch wilden Locken wirft ihr einen kurzen Blick zu, während sie den Reißverschluss ihres weißen Schutzanzuges bis zum Hals hochzieht.
»Noch nicht viel. Weiblich, weiß, jung … Zudem wird sie wohl erst seit heute Nacht im Wasser gelegen haben.« Sie bemerkt Sonjas hochgezogene Augenbrauen und ergänzt erklärend: »Um diese Jahreszeit gibt es hier unten an der Limmat bis spätabends immer einige Badegäste, Sportler oder Spaziergänger. Würde sie schon länger im Fluss treiben oder gar hier im Rechen des Wehrs, wo wir sie herausgefischt haben, hätte sie bestimmt schon früher jemand bemerkt.«
Das leuchtet ein, denkt Sonja. Die Sommerferien sind zwar schon seit Wochen vorüber, dennoch waren die letzten Tage außergewöhnlich mild. Altweibersommer, haben die Meteorologen gesagt.
Sonja und Schneider knien sich neben der Leiche nieder.
Erleichtert stellt sie fest, dass die Tote nicht etwa bis zur Unkenntlichkeit aufgedunsen ist, sondern an sich noch erstaunlich frisch aussieht. Sommer hat recht: Ihre Tote hier kann unmöglich schon lange im Wasser liegen. Als Erstes fallen ihr die kastanienbraunen Haare der Frau auf, welche wie ein schwerer Vorhang strähnig um das leblos blasse Gesicht hängen. Wasseralgen und Grünzeug haben sich darin verfangen. Eine Medusa, nur ohne Locken, wie in einem Fantasyfilm. Die Tote wirkt auf Sonja auf beklemmende Art schön.
Der modrige Geruch der an der Sonne trocknenden Wasseralgen lässt sie die Nase rümpfen. Sonja reißt ihre Augen vom Gesicht der schönen Toten los, und sie gleiten in Richtung Hals, doch der Anblick lässt ihr das Blut in den Adern gefrieren. Entsetzt schnellt ihr Kopf zu Schneider hinüber und wieder zurück zur Toten. »Ihr wurde die Kehle durchgeschnitten?« Die Frage hallt in ihrem Kopf nach, während sich ihr Hals mit einem Mal staubtrocken und kratzig anfühlt. Verzweifelt sucht sie in ihrer Handtasche nach einem Bonbon, ohne den Blick von der Toten abzuwenden. Endlich wird sie fündig. Kurz darauf steigt ein würziger Kräutergeschmack durch ihre Atemwege. »So eine verdammte Scheiße!«, flucht sie. »Wer tut denn so was?«
»Tatsächlich sehr ungewöhnlich«, sagt Schneider. »Ich dachte, das wäre mehr ein Ding der Russenmafia. Aber hier? In der Schweiz? Ich kann mich wirklich nicht erinnern, schon jemals eine Leiche mit einer durchgeschnittenen Kehle gehabt zu haben.« Er wirkt wütend.
Diana Sommer sagt nichts. Sie hat bereits Einweghandschuhe übergezogen und geht in die Knie, um die Wunde genauer zu betrachten. Sie dreht dabei den Kopf der Toten sanft hin und her. Sonja sieht ihr dabei zu. Der Schnitt reicht von einem Ohr zum anderen. Das Opfer muss richtiggehend ausgeblutet sein. Der Mörder muss einen tiefen Hass verspürt haben, schießt es Sonja durch den Kopf. Zudem muss er sich verdammt sicher gefühlt haben. Denn das Blut muss um sich gespritzt haben wie in einem Schlachthof. Eine grauenvolle Sauerei. So etwas hätte nicht unbemerkt mitten auf der Straße geschehen können. Demnach wurde die Frau irgendwo in einem Raum getötet, vermutet Sonja. Irgendwo, wo der Mörder ungestört seinem kranken Trieb frönen konnte.
Die Wunde klafft düster und dunkel auf der weißen Haut. Das Wasser der Limmat hat sie bereits ausgewaschen, sodass kein Blut mehr sichtbar ist, was das Grauen seltsam mildert. Sommer streicht inzwischen mit dem Finger über den Schnitt, betrachtet lange und schweigend den Kehlkopf, die zerschnittene Speiseröhre, die Arterien, die ausgefranst aus der Wunde baumeln. Sonja wendet sich kurz ab. Sie hat mit aufsteigender Magensäure zu kämpfen. Wieder einmal erschüttert sie die bedingungslose Brutalität und Grausamkeit, zu der Menschen imstande sind. Sie wischt sich mit einem Taschentuch Stirn und Mund ab, schnäuzt sich und steht auf. Auch Schneider und Sommer erheben sich. Sommer tut dies bedächtig, indem sie die Hände auf den Oberschenkeln abstützt und für einen Augenblick so verweilt. »Die Todesursache dürfte wohl …«
»… eine durchgeschnittene Kehle sein. Richtig«, hört Sonja jemanden direkt hinter sich sagen und dreht sich zu der Stimme um. Ein Mann im weißen Schutzanzug nickt ihr kurz zu und schiebt sie gleichzeitig unsanft zur Seite. Er bleibt zwischen ihr und Sommer stehen, den Blick auf die Leiche gerichtet. Es ist nicht die Größe des Mannes, die an sich schon ziemlich beeindruckend ist. Auch nicht seine überheblich wirkende Haltung und sein ironischer Tonfall. Es ist seine Nase, die verblüffend ist. Eine enorme Hakennase, kräftig und stark gebogen, die noch verstärkt durch die enganliegenden Augen den Eindruck eines Adlers auf Raubzug vermittelt.
Schneider räuspert sich. »Paul, lange nicht mehr gesehen.« Schneider reicht dem Mann die Hand.
»Furchtbar viel zu tun in letzter Zeit, du weißt ja, wie das ist im Sommer«, erwidert der Mann mit der Hakennase. »Jede Menge Tote, Autounfälle, Selbstmorde und so weiter. Die Wärme hat seltsame Auswirkungen auf die Menschen.« Dann erst scheint er Sonja so richtig wahrzunehmen und stellt sich vor: »Paul Lehmann, Leiter Rechtsmedizin. Und wer sind Sie, junge Frau?«
»Sonja Thalmann, Kripo Zürich.«
»Hoppla, so jung und schon bei der Mordkommission?«, gluckst Lehmann und nickt währenddessen bereits Sommer zu.
»Hallo, Paul, schön, dich zu sehen«, sagt diese und schiebt ihre Gesichtsmaske nach unten.
Lehmann verliert keine Zeit und wendet sich gleich wieder der Toten zu. Dabei starrt er auf ihren Hals mit zur Seite geneigtem Kopf. »Natürlich würde ich mir niemals vor einer gründlichen Obduktion anmaßen, dass dies tatsächlich die Todesursache ist. Die durchgeschnittene Kehle, meine ich. Der Schnitt könnte ihr auch postmortem zugefügt worden sein.«
»Nach dem Tod? Was würde das für einen Sinn machen?« Sonja sieht ihn irritiert an.
»Muss es denn einen Sinn machen? Junge Frau, wie lange sind Sie schon bei der Mordkommission?«
Sonja schnappt empört nach Luft. Was für ein eingebildeter Affe, dieser Lehmann! Doch dieser fährt bereits unbekümmert fort: »Wir alle haben schon mit Tätern und Motiven zu tun gehabt, die keiner von uns verstanden hat. Ein Motiv zu haben ist das eine, aber deswegen gleich rational zu handeln ist was komplett anderes. Oder sind Sie da anderer Meinung, Frau …?«
»Thalmann«, presst Sonja durch die Zähne. »Nein, aber ich bin …«
»Eifersucht, Hass, Liebe!« Lehmann hört ihr gar nicht zu und referiert weiter. Wild fuchtelt er mit einem Arm in der Luft herum, als wäre er ein Dirigent in einem Konzertsaal. »Mörder werden meistens von intensiven Gefühlen geleitet und tun Sachen, die unser Vorstellungsvermögen bei Weitem übersteigen. Ich kann mich noch gut an einen Fall erinnern, bei welchem …«
»Jetzt reicht es aber, Paul«, unterbricht ihn Schneider in barschem Tonfall. »Das mag ja alles furchtbar spannend sein. Was uns jedoch interessiert, ist unsere Tote hier und was du uns dazu sagen kannst.«
Lehmann quittiert die schroffe Unterbrechung mit einem beleidigten Gesichtsausdruck und wendet sich seiner Tasche zu. Er wühlt hektisch darin herum, bevor er endlich eine kleine Taschenlampe hervorholt und sich ein Paar Einweghandschuhe überstreift.
»Wie stellst du dir das vor, Walti?« Mit säuerlicher Miene mustert Lehmann sein Gegenüber. »Die Leiche wurde eben erst aus dem Wasser gezogen! Wir sind hier nicht in einem dieser US-Fernsehkrimis, wo die Obduktion schon durch den bloßen Anblick erfolgt.«
Lehmann kniet sich neben die Leiche. Mit der Taschenlampe leuchtet er der Toten in die Augen, in die Ohren und öffnet dann ihren Mund, um hineinzusehen. Was er dort zu finden glaubt, ist Sonja ein Rätsel.
Schließlich greift Lehmann mit den Handschuhen in die Haare der toten Frau, dreht ihren Nacken leicht zur Seite und fängt so mit seiner optischen Begutachtung der Leiche an. Dabei gibt er abwechselnd zufriedene oder verstimmte Laute von sich.
Schneider verlässt zusehends das Interesse an Lehmann, und er wendet sich mit leiser Stimme an Sonja. »Hat sich Käser schon gemeldet?«
»Nein, aber ich weiß, dass er und Bovic bereits dabei sind, die Vermisstenanzeigen zu durchforsten«, sagt Sonja.
»Gut.« Schneider grunzt zufrieden.
Eine Weile sieht die kleine Gruppe schweigend dem Rechtsmediziner zu. Diana Sommer reibt sich die Hände und blickt zu Schneider hinüber. »Mein Team kämmt inzwischen das Limmatufer nach Spuren ab.«
Wie immer fasziniert Sonja die Arbeit der Forensiker. Es erinnert sie an Kunst und Magie. Was eigentlich auch zutrifft, findet Sonja. Sie decken Unsichtbares auf und machen so aus einem Tatort einen Film, geben ihm eine Handlung. »Wir versuchen herauszufinden, ob die Tote hier irgendwo ins Wasser geworfen wurde.«
»Ich weiß nicht recht.« Schneider überlegt kurz. »Für mich macht es keinen Sinn, dass die Leiche hier ins Wasser geworfen wurde.«
»Weshalb denn nicht?«, mischt sich Sonja ein.
»Wegen des Wehrs … Der Täter müsste doch davon ausgehen, dass die Leiche hier hängen bleibt und wir sie umgehend finden.«
»Vielleicht wollte er genau das?«, gibt Sonja zu bedenken. »Oder es war ihm scheißegal, dass wir sie so schnell finden.«
»Warum machen wir uns nicht gleich selbst ein Bild von dem, was Ihre Kollegen gefunden haben?«, fragt Schneider und legt eine Hand auf die Schulter von Sommer, als wollte er sie sanft, aber bestimmt vorwärtsschieben.
Sommer geht vor, und die drei schreiten an der Limmat entlang. Alte Häuser, wunderschön renoviert mit großen, üppigen Gärten säumen die kleine Straße. Auf Höhe einer dieser Gärten ist das kleine Team von Sommer versammelt, und die grimmigen Gesichter sprechen bereits Bände. Außer einigen geknickten Pflanzen in Ufernähe hat die Forensik noch keine Spur.
»Könnte das nicht darauf hinweisen, dass unsere Tote hier abgelegt wurde, bevor sie der Mörder ins Wasser geworfen hat?«
»Möglich wäre das schon«, antwortet Sommer.
Sonja beugt sich hinunter zum Boden. Sie findet an den geknickten Pflanzen nichts Besonderes. Das könnte von sonst was stammen. Zudem entdeckt sie mit bloßem Auge keinen Schuhabdruck, keine Schleifspur, rein gar nichts, was dies verursacht haben könnte.
Sonjas Blick wandert hinüber zu dem schmalen geteerten Sträßchen, welches hierher führt. Nur eine alte Rostlaube von VW-Bus parkt etwas schief in der Blauen Zone, sonst ist nichts Auffälliges zu sehen.
»Den schauen wir uns noch genauer an«, sagt Sommer, die ihrem Blick gefolgt ist. »Ich denke jedoch nicht, dass dieses Auto von Bedeutung ist. So wie die Kiste aussieht, ist sie kaum mehr fahrtüchtig.«
Die beiden Frauen lächeln sich kurz zu, dann klingelt Sonjas Handy. Der Name von Käser blinkt auf dem Display auf. Sie steht auf und dreht sich etwas ab.
»Sonja, wie sieht’s aus? Habt ihr schon was?«
»Nein.« Und sie erzählt ihm, was sie weiß, und beschreibt die Leiche in groben Zügen.
»Schick mir ein Foto von ihr«, sagt Käser.
»Mach ich sofort. Was ist mit den Vermisstenanzeigen?«
»Das hast du soeben zunichtegemacht«, knurrt Käser. »Es gibt zwei Frauen, die im Raum Zürich in den letzten vierzehn Tagen als vermisst gemeldet wurden: eine Fünfundachtzigjährige, die von einem Nachmittagsspaziergang nicht mehr ins Altersheim zurückgekehrt ist, und eine Siebzehnjährige mit langen strohblonden Haaren und vollschlanker Statur.«
»Und sonst nichts?« Vielleicht würde heute noch eine Meldung eintreffen, hofft Sonja. Manchmal dauert es Tage, bis jemand den Hörer in die Hand nimmt und eine Anzeige aufgibt.
»Negativ.«
»Und was ist mit Anzeigen, die länger zurückliegen?«
»Die müssen wir jetzt wohl oder übel in Angriff nehmen. Wir werden die Suche am besten gleich auf die ganze Schweiz und bis in den süddeutschen Raum ausweiten.«
Sie beenden das Gespräch.
Schneider und Sonja einigen sich, nochmals zurück zu Lehmann zu gehen, der inzwischen so dicht über der Leiche gebeugt kniet, dass man den Eindruck bekommt, er würde die Frau beatmen. Sonja runzelt angewidert ihre Stirn. Dieser Lehmann scheint ihr ein eigenartiger Kauz zu sein.
»Und?«, fragt Schneider.
Lehmann zuckt zusammen, sein Blick bleibt jedoch auf der Leiche haften, als er antwortet: »Ich hab noch einige Hämatome entdeckt, auf Rücken und Oberschenkeln.«
»Könnten diese von einem Kampf zwischen Täter und Opfer stammen?«, fragt Sonja. »Wurde sie vielleicht irgendwo hinuntergestoßen?«
»Ich tippe eher auf einen Kampf. Für einen größeren Sturz oder Fall sind mir die Blutergüsse zu winzig. Wir werden das im IRM noch genau untersuchen.«
Sonja blickt nochmals auf die Tote, die von der Morgensonne hell angestrahlt wird, und wieder zieht sich ihr Herz bei dem Anblick zusammen. Sie muss im Leben einfach bezaubernd gewesen sein. Sonja schiebt ihre Hände tief in ihre Jeans und zieht die Schultern hoch.
»Bring sie ins IRM!«, schnaubt neben ihr Schneider ungeduldig. »Ich will, dass sie sofort gründlich untersucht wird.«
»Brüll hier gefälligst nicht rum!« Lehmann erhebt sich und beginnt seine Sachen in die Ledertasche zu packen. »Du wirst deinen Bericht bis …«
»Danke, Paul!«
»Vielleicht interessiert es dich ja noch, dass sie gefesselt war?« Lehmann sagt es ganz beiläufig, als würden sie über das Wetter reden. Dennoch hört er sich verstimmt an und vermeidet es, Schneider anzusehen.
»Gefesselt?« Schneider versteift sich.
»Eindrücke an den Handgelenken deuten darauf hin. Zudem weist sie Kratzspuren auf ihren Innenschenkeln auf.«
»Was heißt das?«, mischt sich Sonja alarmiert ein. »Wurde sie vergewaltigt?«
Lehmann wiegt seinen Kopf hin und her. »Das werdet ihr aus meinem Bericht erfahren.« Dann dreht er sich einfach weg und stakst mit großen Schritten davon.
Schneider und Sonja verabschieden sich. Sonja will noch die Fotos von der Toten machen und dann zurück ins Präsidium. Auf dem Rückweg zu ihrem Einsatzwagen bemerkt sie die vielen Leute, die sich hinter dem Absperrband drängen. Als sie entdeckt wird, wird sie mit sensationslüsternen Fragen bombardiert, und ein fettleibiger junger Mann mit Handy in der Hand und Baseballmütze grabscht mit feuchter Hand nach ihrem Arm. Seine Finger zittern vor Aufregung leicht. Sie schüttelt ihn angewidert ab und weist ihn barsch zurecht. Er errötet und weicht erschrocken zurück.
Was ist nur in die Leute gefahren, denkt Sonja, als sie ihr Auto aufschließt. Da drüben am Ufer liegt eine tote Frau, ermordet. Ein Mensch, der viel zu jung sterben musste, und die Leute sabbern sie vor Aufregung beinahe voll. Am liebsten würde sie jedem Einzelnen von ihnen so richtig die Meinung sagen. Doch stattdessen seufzt sie leise auf, reibt sich übers Gesicht und startet den Motor. Als Erstes braucht sie dringend einen starken Kaffee. Und etwas zu essen. Sie kommt beinahe um vor Hunger.
Sonja ist die Erste im Sitzungszimmer der Kripo. Käser hat alle zu einer ersten Besprechung zusammengetrommelt. Die stickige Luft im Raum erschlägt sie beinahe, und Sonja wedelt sich Sauerstoff zu. Wenn nur endlich diese verdammte Wärme vorüberginge. Ihr Shirt klebt wie eine zweite Haut an ihrem Körper. Sie setzt sich an den Tisch, kramt ihr Handy aus der Tasche und schließt es an den Laptop an. Dann druckt sie sämtliche Fotos der toten Frau aus, die sie am Tatort gemacht hat, und breitet sie auf dem Tisch aus.
Wieder einmal wundert sie sich, wie sie dieses abgrundtief Böse der Menschheit aushält. Ganz einfach: Es ist meine Mission, fährt es ihr durch den Kopf. Ich muss es tun, ich habe gar keine andere Wahl. Wie durch ein Wunder beruhigt sie dieser Gedanke und macht sie gleichzeitig stark. Es ist die Aufgabe meines Vaters, die ich zu Ende führen muss. Früher hat sie diese Erkenntnis in Panik versetzt, und sie wehrte sich mit aller Macht dagegen. Heute sieht sie dem gelassener entgegen. Jeder Mensch hat seine Aufgabe zu erfüllen. Gut, dass sie ihre so früh gefunden hat. Ihr Vater wäre stolz auf sie, das weiß sie. Eine eiserne Faust umklammert ihr Herz bei dem Gedanken an ihn, und sie wünscht sich vielleicht zum tausendsten Mal in den letzten zwanzig Jahren, dass sie wenigstens den Mistkerl gefunden hätten, der ihrem Vater das Gehirn aus dem Kopf gepustet hat. Lange hat sie geradezu danach gelechzt, ihren Vater zu rächen, indem sie den Killer findet und sein Leben zur Hölle macht, so wie er damals ihres zerstört hat.
»Guten Morgen!«, donnert Käsers Stimme in den Raum, und sie zuckt aus ihren Gedanken auf.
»Ist das unsere Wasserleiche?«, fragt Bovic, der hinter Käser den Raum betritt und sich sogleich ein Foto vom Tisch schnappt.
»Ja.« Sonja räuspert sich. Ihr Hals kratzt.
»Scheiße, verdammte …«, murmelt er.
»Kann man wohl sagen«, nickt Sonja und sieht den Kollegen vom Innendienst an. Bovic, der absolute Nerd, dem nichts und niemand im Netz verborgen bleibt. Er ist mittelgroß, breit, kräftig, mit raspelkurzen Haaren und ernsten Gesichtszügen, die jedoch wie Eis an der Sonne schmelzen, wenn er mit seiner Verlobten telefoniert. Ansonsten weiß sie nicht viel von ihm. Es gefällt ihr, dass er sein Privatleben durch Zurückhaltung schützt.
Käser setzt sich, krempelt seine Hemdsärmel hoch. Eine Krawatte trägt er nie.
»Wann kommt eigentlich Eichenberger aus den Ferien zurück?«, fragt er dabei und sieht seine Sachbearbeiter einzeln an.
Sonja rollt mit den Augen, erwidert jedoch nichts.
»In zwei, drei Tagen, glaube ich«, erwidert Bovic, während er bereits wieder die Tasten des Laptops bearbeitet.
»Übermorgen«, präzisiert Lea, die gerade im Türrahmen erscheint und geräuschvoll einen Stuhl zwischen Käser und Sonja schiebt und sich setzt. Mit beiden Händen richtet sie das Haarband, um ihre rote Mähne zu bändigen.
»Gut. Das wird zu überstehen sein.« Käser scheint zufrieden. »Inzwischen können wir einen ersten Erfolg verbuchen, was die Identität des Opfers betrifft.«
Sofort blicken ihn Sonja und Lea neugierig an.
»David und Maria mussten dafür ziemlich weit zurückgehen.«
»Wie weit?« Sonja beugt sich vor, um Käser besser sehen zu können. Musste sich Lea denn unbedingt zwischen sie beide quetschen?, fragt sie sich ungehalten.
»Drei Jahre, um präzise zu sein.«
»Wie bitte?«, platzt es aus Lea heraus. »Ich dachte, die Leiche hat nicht einmal einen Tag im Wasser gelegen. Wie kann die Frau da drei Jahre verschwunden sein?«
»Lea hat recht. Das muss ein Irrtum sein. Die Tote war höchstens vierundzwanzig Stunden im Wasser«, sagt Sonja.
»Lasst mich doch erst einmal erklären.« Käser zieht seine Augenbrauen ungehalten zusammen. »Die Sache ist nämlich etwas kompliziert: Wir sind auf eine junge Frau gestoßen, die vor rund drei Jahren verschwunden ist und auf die deine Beschreibung und die Fotos hier haargenau passen.« Er deutet mit dem Kinn auf die Bilder. »Es sieht ganz danach aus, dass unsere Tote eine gewisse Stefanie Gerber ist. Das Mädchen, besser gesagt, die junge Frau wurde vor drei Jahren vermisst gemeldet, weil sie von einem Spanienurlaub nicht mehr zurückkam.«
»Von Spanien? Jetzt verstehe ich rein gar nichts mehr.« Lea verschränkt ihre Hände hinter dem Kopf und lehnt sich im Stuhl zurück.
»Ich weiß, das hört sich seltsam an, doch es scheint zu stimmen.«
Leas Mund verzieht sich spöttisch. »Ruedi, ich bitte dich! Da verschwindet ein Mädchen. In Spanien. Und drei Jahre später soll sie mausetot in der Limmat treiben? Mit durchgeschnittener Kehle? Das ist doch völliger Blödsinn!«
»Lea …« Käser wirft seiner jüngsten Mitarbeiterin einen warnenden Blick zu, doch Lea schnaubt nur verächtlich.
»Wir gehen der Spur auf jeden Fall nach. Sonja, du wirst dich darum kümmern. Ich …«
»Und weshalb nicht ich?«, blafft Lea Käser an.
Käser gibt ihr keine Antwort darauf. Sein Blick verrät, dass er kurz davor ist, seine Geduld zu verlieren. Lea presst ihre Lippen aufeinander und schweigt.
»Für dich habe ich eine andere Aufgabe.« Seine Stimme klingt harsch. »Du gehst jetzt gleich in die Rechtsmedizin, mit all den Angaben und Fotos, die wir über diese Stefanie Gerber haben, und vergleichst sie mit der Toten.«
Lea schluckt.
»David«, sagt Käser zu Bovic, der von seinem Bildschirm hochschnellt. »Gib Lea die Akte der vermissten Frau!«
Bovic schiebt die noch losen Blätter zusammen und legt sie in das Dossier zurück. Lea schnappt sich das Dossier und rauscht wortlos aus dem Raum.
»Kann ich das Foto der Vermisstenanzeige einmal sehen?« Sonja steht ebenfalls auf und geht hinüber zu Bovic, der seinen Laptop leicht dreht, damit sie besser auf den Bildschirm schauen kann. »Hier.«
Eine ernsthaft dreinblickende junge Frau mit kastanienbraunen Haaren und sanften hellbraunen Augen blickt ihr entgegen. Ihr Magen macht einen Looping. Käser hat recht: Die Frau auf dem Foto ist ihre Tote. Die Ähnlichkeit ist frappierend.
Sie hat nicht bemerkt, wie Käser neben sie getreten ist. »Und was sagst du nun?«
»Verdammt, du hast recht Ruedi. Ich bin mir fast sicher, dass sie es ist.«
»Sollte es tatsächlich diese Stefanie Gerber sein«, sagt Käser nachdenklich, »wirft dies ziemlich viele Fragen auf.«
Sonja geht zu ihrem Stuhl zurück und fischt aus ihrer Schultertasche einen aufgeweichten Marsriegel hervor. Ungeduldig beginnt sie, die Verpackung aufzureißen.
Käser schiebt inzwischen sein Whiteboard in den Raum und beginnt, die Fotos von Stefanie Gerber mit einem Kleber daran zu befestigen. »Wir wissen lediglich, dass ihre Mutter vor drei Jahren eine Vermisstenanzeige aufgegeben hat, da Stefanie nicht aus Spanien zurückgekehrt ist. Wir haben hingegen keine Ahnung, was Stefanie in Spanien überhaupt wollte, wo sie sich all die Jahre aufgehalten hat oder ob sie wieder in die Schweiz zurückgekehrt ist. Dass die Vermisstenanzeige nie gelöscht worden ist, muss nichts bedeuten.«
»Falls sie jedoch immer noch in Spanien gelebt hat, ist es doch schon sehr rätselhaft, warum sie plötzlich mit durchgeschnittener Kehle in der Limmat geendet ist«, sagt Sonja mit vollem Mund und versucht, das flüssige Karamell zwischen ihren Zähnen mit der Zunge hervorzudrücken.
Käser kritzelt schon eifrig Notizen und Fragen in sein Heft, dann zupft er an seinem Hemdkragen. Sein Kopf glänzt bereits rot vor Wärme. »Sobald wir von Lea eine positive Identifikation der Leiche erhalten, kümmerst du dich um die Eltern, Sonja. Im Protokoll steht auch etwas von einer Freundin, mit der sie damals in Spanien unterwegs gewesen sein soll. Versucht herauszubringen, wer diese Freundin ist, wo sie jetzt lebt und so weiter.«
Beide nicken.
»Und du, David, versuchst im Internet alles über Stefanie Gerber und ihre Familie herauszufinden.«
»Mach ich.«
»Wird eigentlich noch immer nach ihr gesucht?«, fragt Sonja.
»Soviel ich weiß, nein. Die Anzeige ist zwar noch im Fahndungscomputer, aber die Ermittlungen werden nach so einer langen Zeit eingestellt. Ich glaube, es bestand während der gesamten Zeit nie der Verdacht, dass Gerber einem Verbrechen zum Opfer fiel. Und da sie zum Zeitpunkt des Verschwindens volljährig war, ist es durchaus möglich, dass sie einfach abgehauen ist. Ist ja in den meisten Fällen so. Dennoch, überprüf dies mit der Fahndung, David!«
»Natürlich«, murmelt Bovic.
Käser will noch etwas zu Sonja sagen, doch sein Telefon beginnt zu klingeln, und er stapft aus dem Raum.
Sonja hat die wenigen Angaben in der Vermisstenanzeige schnell durchkämmt und erfährt, dass es sich bei der Freundin, mit der Stefanie Gerber nach Spanien gefahren ist, um eine gewisse Sandra Mohler handelt. Eine Studienkollegin aus Zürich. Bei Google findet sie zweihundertvierundsiebzigtausend Treffer auf diesen Namen. Nicht gerade sehr hilfreich. Sie öffnet eine Wasserflasche und trinkt gierig direkt aus der Flasche. Ein kurzes Piepsen kündigt eine Nachricht auf ihrem Handy an. Ben fragt, ob er am Abend ein Picknick organisieren soll. Sie prustet Luft aus ihrem Mund und stöhnt auf. Warum nur hat sie sich erneut mit ihm eingelassen? Schon beginnt sie diesen Schritt zu bereuen. Und wieso ist er nicht zurück in Basel? Hat er nicht gesagt, seine Urlaubstage seien vorüber? Sie findet eigentlich, dass die vier Tage, die sie gemeinsam verbracht haben, vorerst genügen. Auf keinen Fall will sie in das alte Muster zurückfallen und sich in jeder freien Minute mit ihm treffen. Womöglich fängt er dann wieder an, seine Tochter Sophie mitzuschleppen, dieses kleine Biest. Sie kann die Kleine nicht ausstehen, und Sophie kann sie genauso wenig leiden, dessen ist sie sich sicher.
Kurzentschlossen antwortet sie Ben, dass sie keine Zeit hat. Ein neuer Fall würde sie vermutlich bis spät in die Nacht beanspruchen. Was ja auch stimmt. Dann fällt ihr Blick auf die Uhr. Lea ist bereits seit über drei Stunden im IRM. Wie lange dauert das noch, bis sie endlich Bescheid gibt? Sonja trommelt ungeduldig mit einem Kugelschreiber auf ihren Schreibtisch. Sie hasst es, untätig herumzusitzen. Um die Zeit totzuschlagen, versucht sie via Google Spanien etwas über Stefanie Gerber herauszufinden.
»Kein Zweifel, die Tote ist die Frau aus Ihrer Vermisstenanzeige.« Lehmann steht im grünen Anzug neben dem Obduktionstisch, in seiner Hand baumelt etwas, das wie ein Metzgermesser aussieht.
»Und weshalb sind Sie so sicher?«, fragt Lea mit hochgezogener Augenbraue herausfordernd. Sie ist immer noch sauer. Geschlagene eineinhalb Stunden hat sie auf Lehmann gewartet, nachdem er ihr das Foto und die Unterlagen regelrecht aus der Hand gerissen und ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte. Verblüfft ist sie einfach stehen geblieben, bis sie gemerkt hat, dass Lehmann gar nicht die Absicht hatte, in absehbarer Zeit aus dem Obduktionssaal drei zurück in das Besucherzimmer zu kommen. Auf ihr ungeduldiges Klopfen hat er gar nicht erst reagiert. So ist ihr nichts anderes übrig geblieben, als sich auf einen Stuhl in der Ecke zu setzen und zu schmollen. Dabei hat sie sich geschworen, sich bei Käser über das unflätige Verhalten von Lehmann zu beschweren. Danach hat sie über ihr Verhalten von vorhin im Sitzungszimmer der Kripo nachgegrübelt. Natürlich hatte sie nicht gerade professionell reagiert. Ihr war einfach der Kragen geplatzt, als sie wieder mal mit ansehen musste, wie Käser Sonja den Vorzug gab. Sie hatte sich so sehr auf die Versetzung zur Kripo gefreut. Auf die harten Fälle, das nächtelange Studieren von Akten, bis endlich die Verbindung zum Täter gefunden wird. Sie weiß, dass sie das kann. Doch stattdessen war sie zu einer bescheuerten Messerstecherei geschickt worden, und diese … arrogante Kuh hatte den Mord aufnehmen dürfen. Zum Teufel mit Käser und Sonja! Sie würde es denen schon noch zeigen! Ganz besonders dieser langbeinigen Blondine, die andauernd irgendetwas Essbares in ihren Mund hineinstopfte. Als wäre sie ein Hamster! Widerlich.
Danach sind weitere dreißig Minuten vergangen, bis endlich Lehmanns Assistentin sie informiert hat, der Herr Doktor müsse erst einige Abklärungen alleine treffen, wozu er absolute Ruhe benötige. Da ist sie mit ihrer Geduld am Ende gewesen, und die Wut ist ihr heiß den Nacken hochgekrochen. Noch so ein Mistkerl! Dann hat sie unverwandt in die verträumten hellblauen Augen der Assistentin geblickt, und es hat sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Ihr Herz hat angefangen zu rasen, und sie hat gemerkt, dass auch die Assistentin sie neugierig musterte. Etwas jung war sie schon, vielleicht fünf Jahre jünger als sie selbst, so Mitte zwanzig. Doch bevor Lea ihre Sprache wiederfinden konnte, hat sich die junge Frau umgedreht und ist aus dem Raum geschwebt, als wäre sie eine Elfe aus einem Märchen. Aufgewühlt und mit trockenem Mund hat sich Lea wieder hingesetzt, und alles, was sie danach noch überlegt hat, war, wie sie diese Assistentin ansprechen könnte.
Als Lehmann sie dann endlich zu sich rufen ließ, hatte sie beinahe vergessen, weshalb sie eigentlich hergekommen war.
»Ich habe ihre Krankenakte angefordert, die von Stefanie Gerber meine ich, und dort wird eine Narbe erwähnt, eine üble Nierengeschichte aus ihrer Kindheit«, doziert Lehmann weiter und schwenkt das Messer in einem Stahlbecken mit der Aufschrift WD130.Irgendein Desinfektionsmittel, weiß Lea. Dann legt er das Messer fast zärtlich auf ein weißes Tuch.
»Und die Tote hat eine solche Narbe?«
Lehmann kneift die Augenbrauen zusammen, als fühlte er sich durch ihre Zwischenfrage belästigt. »Ja«, sagt er schließlich, »und auch die fehlende Niere stimmt überein. Rein äußerlich bestand ja ohnehin kaum ein Zweifel daran, dass dies Stefanie Gerber ist.«
Eine fehlende Niere? Steht davon etwas in der Vermisstenanzeige? Lea kann sich nicht daran erinnern. Allerdings hätte es auch keinen Sinn gemacht, so etwas in einer Vermisstenanzeige zu erwähnen.
Da Lehmann nichts weiter sagt, fragt Lea ihn, was er sonst noch herausgefunden habe.
Lehmann streift sich die Einweghandschuhe ab und schmeißt sie in einen Eimer unter dem Waschbecken. Dann dreht er Lea den Rücken zu und schrubbt sich in aller Ruhe die Hände mit Kernseife ab, bis sie rot sind. Lea kaut ungeduldig auf einem Fingernagel. Am liebsten hätte sie dem Scheißkerl eine gescheuert.
Endlich dreht er sich wieder um und schreitet zu dem Tisch, auf dem Gerber liegt. Er schiebt ein weißes Leinentuch zur Seite, und Lea erblickt zum ersten Mal den ganzen Körper der Ermordeten. Der Torso ist bereits wieder zugenäht, bemerkt Lea mit größter Erleichterung. Sie macht einen Schritt zum Seziertisch hin.
Sie schluckt heftig und starrt auf die nackte weiße Haut, die Hämatome an den Oberschenkeln, die Kratzspuren an den Innenschenkeln, die ihr wie ein Mahnmal rot entgegenleuchten. Lea fühlt, wie eine Welle der Ohnmacht über sie schwappt, und ihre Knie beginnen zu zittern. Sie kann nur ahnen, welch dunkle und angstvolle Stunden hinter dieser jungen Frau liegen.
»Das Gute vorweg: Gerber wurde nicht vergewaltigt«, beginnt Lehmann.
»Was?« Lea schluckt irritiert. »Und was ist mit den Kratzern an ihren Innenschenkeln?«
»Vielleicht versuchte er es und wurde dabei gestört. Oder er entschied sich anders. Wir fanden jedenfalls absolut keine Hinweise auf eine sexuelle Handlung.« Lehmann fährt sich durchs Haar und über seine mächtige Nase. »Wir untersuchen die Kratzwunden noch nach DNA-Spuren. Vielleicht ergibt sich ja noch was, ich würde jedoch nicht davon ausgehen. Bei Wasserleichen ist das im Grunde fast unmöglich. Da werden alle Spuren fortgeschwemmt.«
»Und sonst?«
»Die Organe sind in Ordnung und weisen keine Abnormitäten auf. Auch kein Wasser auf den Lungen oder einen Stimmritzenkrampf. Was beweist, dass sie nicht durch Ertrinken gestorben ist. Sie war wie vermutet bereits tot, als man sie in die Limmat geschmissen hat. Den ganzen Obduktionsbericht erhalten Sie bis heute Abend, spätestens morgen früh. Mehr kann ich im Moment nicht sagen.«
Lea nickt, und Lehmann gibt ihr zu verstehen, dass die Unterhaltung nun beendet ist.
Noch leicht wankend stolpert sie aus dem kühlen Obduktionsraum, geradewegs vor die Füße der Assistentin mit den hellblauen Augen. Diesmal kann sie das Namensschildchen auf ihrem Kittel lesen. Wendy Graf. Sie formuliert in Gedanken den Namen nach, während sie ihr ein scheues Lächeln zuwirft. Sie überlegt fieberhaft, was sie Schlaues sagen könnte, da spürt sie, wie ihr Wendy etwas in ihre Handfläche drückt und gleich darauf schon wieder davoneilt. Verdutzt öffnet sie ihre Hand und findet darin einen gefalteten Zettel. Was hat das zu bedeuten? Aufgeregt öffnet sie ihn und starrt mit klopfendem Herzen auf eine Handynummer. Das gibt es doch gar nicht! Sie dreht sich blitzschnell um, doch Wendy ist bereits hinter der Türe verschwunden. Lea schwebt regelrecht zum Fahrstuhl, der sie wenig später wieder zurück auf die Straße und in die Realität katapultiert.
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