Warum erzählen Menschen? Wie haben sie Erzählen gelernt? Welche kulturellen Leistungen sind mit dem Erzählen verbunden? Und was ist Erzählen überhaupt? Auf diese Fragen gibt Fritz Breithaupt eine verblüffende Antwort. Erzählen erlaubt es, Ausreden vorzutragen. Wer eine Ausrede hat, kann den Kopf aus der Schlinge ziehen. Das Wesen der Ausrede besteht darin, neue, meist komplexere Beschreibungen für bereits beurteilte Handlungen zu liefern. In der ersten Ausrede der Menschheitsgeschichte bekennt Adam zwar, dass er den Apfel aß, bestreitet aber seine Verantwortung, da Eva ihm die Tat eingeflüstert habe. Beginnend mit dieser Urszene, verfolgt das Buch die ineinander verschlungenen Pfade von juristischer Verantwortung und Literatur und zieht dabei auch evolutionsbiologische Erkenntnisse heran.
Fritz Breithaupt ist Professor für Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Affiliate Professor für Kognitionswissenschaften an der Indiana University in Bloomington.
Kultur der Ausrede
Suhrkamp
Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2012
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
eISBN 978-3-518-78150-0
www.suhrkamp.de
Einleitung
Kapitel 1
Die Geburt der Narration aus dem Sprechakt der Ausrede
Kapitel 2
Die frühen Erzählungen
Kapitel 3
Zur Genese von Verantwortung:
Der Pakt von Anklage und Verteidigung
Kapitel 4
Ausrede und Fiktion.
Elemente einer Geschichte von Literatur
Kapitel 5
Selbstausreden
Kapitel 6
Empathie als Ausrede für andere
Bibliographie
Danksagung
Michelangelo, Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies, Sixtinische Kapelle, 1508-1512 (Foto: akg-images/Erich Lessing).
Ausreden haben keinen guten Ruf. Sie gelten als schwache Ausflucht, als Verlegenheitslösung, und dienen zur Bestätigung unserer Schwächen.[1] Besser wäre es, ohne sie auszukommen. Gegen dieses Vorurteil will dieses Buch die Vermutung setzen und zu erhärten suchen, dass Ausreden eine zentrale Kraft der kulturellen Entwicklung waren und sind.
Bereits die erste menschliche Rede ist Ausrede. So zumindest will es die Bibel. Adam und Eva haben just vom Baum der Erkenntnis gegessen. Und sofort beginnen sie damit, sich zu verstecken. Zuerst verdecken sie ihre Nacktheit und wandeln seitdem in den verschiedensten Kleidern umher. Dann geschieht das Verstecken verbal. Der »HERR« klagt Adam an. Aber Adam weist die Verantwortung von sich ab und versteckt sich hinter Eva: »Das Weib / das du mir zugesellet hast / gab mir von dem Bawm / vnd ich ass.« Eva wiederum zeigt auf die Schlange: »Die Schlange betrog mich also / das ich ass.«[2] Ebendies ist die Weisheit des Baumes der Erkenntnis, dass man Ausreden stricken kann. Adams Version der Ereignisse besteht dabei ohne sachlichen Gegensatz zu dem von Gott erhobenen Vorwurf. Eine Variante seiner Rede wäre: »Ja, ich habe den Apfel gegessen, aber ich durfte es. Denn meine Tat war es, auf Deine Schöpfung zu hören, auf Eva. Du wirst mir doch nicht verbieten, gehorsam zu sein, da Du doch selbst Gehorsamkeit forderst. Und ist nicht Eva Deine Schöpfung, so dass ich, wenn ich ihr folge, zugleich dir folge?« Wer von dem Baum der Erkenntnis gekostet hat, kann eine Gegenversion liefern, kann Gottes Monopol auf Wirklichkeit erschüttern.
Auch Eva findet in der Schlange eine solche Ausrede. Die Schlange dürfte ein Resultat der Überlappung zweier Traditionslinien sein, zum einen eines mythischen Monsters, zum anderen 8des inneren Verlangens. Eva kann hier insofern sowohl auf das äußere Monster verweisen, dem gegenüber der Mensch schwach ist, als auch auf das dem Menschen von Gott verliehene Verlangen, also die innere Natur.[3] Die Ausrede macht dann in einem überwältigenden Monster oder in der inneren Natur den wahren Schuldigen dingfest.
Zugegeben, Adam und Eva waren mit ihren Ausreden noch nicht sehr erfolgreich. Doch die Menschheit hat die Techniken seitdem verfeinert und verbessert. Auch die Techniken der Denunziation des Weiblichen haben sich verbessert, denn natürlich haben immer die Frauen Schuld – doch das ist ein anderes Thema.
Was der biblische Text hier in der schlichtesten Form präsentiert, ist eine Kulturtheorie der Ausrede. Die Welt, die sich den Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies auftut, ist eine Welt der narrativen Mehrdeutigkeit. Die Sprache hat aufgehört, die Dinge schlicht zu benennen, wie es noch die paradiesische Namenssprache tat. Damit aber können die Menschen zu eigentlichen Kulturträgern und -erzeugern werden. Wer Ausreden fabrizieren kann, der ist nicht nur kreativ, sondern in der Lage, Geschichten zu erzählen und seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Um ebendiese beiden Fähigkeiten wird es in diesem Buch gehen: das Geschichtenerzählen und das Sich-Rausreden. Ausreden, so die These, stellen nicht nur eine der vielen Formen von Erzählungen dar, sondern zeigen die Struktur aller Narrationen in Reinform. Erzählen heißt Ausreden erfinden.
Was leistet die Ausrede? Mittels einer Ausrede rücken wir eine unserer Handlungen in das bestmögliche Licht. Selbst wenn die Ausrede dabei eine Unwahrheit enthält, ist diese Lüge nicht das entscheidende Merkmal der Ausrede. Sogar im Fall der Lüge enthält die Ausrede, sofern sie zumindest einen Hauch von Plausibilität hat, Elemente, die von dem Angesprochenen für wahr gehalten werden oder für wahr gehalten werden könnten. Das Entscheidende an der Ausrede ist vielmehr, dass sie eine alternative Wirklichkeit aufstellt, die neben der scheinbar einzigen Wirklichkeit der Anklage besteht. In den Fällen, die hier von besonderem Interesse sind, können die empirischen Fakten dabei nicht zur Entscheidung ver9helfen, welche Version von Wirklichkeit stimmig ist. Adams Rede steht in keinem empirischen Widerspruch zu Gottes Vorwurf. Entsprechend zeigt die Ausrede, dass bereits die erste Version von Wirklichkeit, also die Anklage oder der Vorwurf, vielleicht eben nur dies ist, eine Version oder Beschreibung. Ausreden erlauben eine komplexere Beschreibung der Welt, da sie einen beschriebenen und bereits beurteilten Sachverhalt erneut bewerten. Dabei kommen Abwägungen zum Zuge, die über den empirischen Sachverhalt hinausgehen. Durch Ausreden lernen wir, dass tendenziell jede Beschreibung einer zu verantwortenden Handlung eine »Ausrede« ist, auch wenn wir den Begriff gemeinhin für »schlechte Ausreden« reservieren, die uns nicht überzeugen.
Was folgt aus dieser Mehrdeutigkeit der narrativ erfassten Wirklichkeit? Zunächst die Notwendigkeit zur Verhandlung.
Die Verhandlung über die Wirklichkeit erfolgt in einer grundsätzlich anderen Sprache als der empirischen. Diese Verhandlungen finden in der Form des Dialogs statt, wie ja auch Ausreden in dialogischen Situationen als Reaktion auf Anklagen entstehen. Die Anklagen können explizit artikuliert sein oder aber im Hintergrund einer Verteidigungsrede stehen, etwa wenn man eine harte Wahrheit von jemandem fernhält, den man schützen will. »Liebe Stephanie, es tut mir leid, aber wir können dich nicht ins Team aufnehmen. Es war eine ganz knappe Entscheidung. Am Ende haben wir eine Münze geworfen und leider hat Paula gewonnen.« Hinter dieser vorsichtigen Rede steht die vom Sprecher verhüllte Kritik, die der Adressatin der Rede als Vorwurf erscheinen könnte: »Du bist nicht gut genug.« Man kann hier daher ebenfalls von der Entschärfung einer impliziten Anklage sprechen, da auch hier ein abschließendes Urteil verhindert werden soll.
Die dialogische Form von Anklage und Verteidigung, so die Vermutung in diesem Buch, ist nicht nur das Wesen der Ausrede, sondern jeder Form von Narration und der von ihr abgeleiteten Institutionen. Dies zeigt sich etwa in der Entwicklung der Verantwortung. Statt den Ursprung der Verantwortung in einem primären Verständnis von Gut und Böse zu suchen, wird in diesem Buch eine dialogische Verfassung der Verantwortung aufgedeckt, die in der Institutionalisierung von Antwortreden besteht. Verantwortung leitet sich von der Möglichkeit und Pflicht zur Antwort auf eine Anklage ab. Ausreden sind entsprechend kein Unfall, son10dern struktureller Teil der Verantwortung. Wer eine Ausrede hat, verantwortet sich damit. Ob die Ausrede akzeptiert wird, ist damit natürlich nicht gesagt.
Aus dieser Perspektive wird es sich als Fehler erweisen, von einem Gewissen beziehungsweise strafrechtlich von mens rea (subjektivem Tatbestand, Schuldbewusstsein) zu sprechen. Das sogenannte Gewissen und der mens rea erweisen sich vielmehr als Effekte der dialogischen Darstellung einzelner Handlungen. Nur mittels einer rhetorischen Verobjektivierung kann so getan werden, als würden sie außerhalb der dialogischen Situation bestehen, als wären sie schlicht psychische Instanzen. Doch mit dieser letzten These greifen wir dem Gang der Untersuchung vor.
Gegenstand dieses Buches ist eine Erzähltheorie, die sich aus der Form der Ausrede speist. Erzähltheorie heißt hier weniger Literatur- als vielmehr Kulturtheorie. Narration (die Begriffe von Narration und Erzählung werden hier ohne inhaltliche Diskrepanz verwendet) ist eine Grundform von Kultur und ein zentraler Mechanismus der Verfeinerung und Konsolidierung menschlicher Praktiken und Diskurse. Zahlreiche Institutionen verdanken sich ihr. Dazu gehören die bereits genannte Verantwortung beziehungsweise ex negativo das Gewissen (Kapitel 3) ebenso wie das Ich (Kapitel 5). Auch menschliche Empathie könnte durch Ausredennarrationen befördert werden (Kapitel 6). Und natürlich ist die Literatur im engeren Sinne nur aufgrund von Narration (Kapitel 4) denkbar.
Seit einigen Jahren wird verstärkt darüber nachgedacht, ob die Fähigkeit des Geschichtenerzählens den Menschen evolutionsbiologisch einen Selektionsvorteil verschafft haben könnte. Lange Zeit stand die Sprachfähigkeit allein im Mittelpunkt des Interesses der Forschung zur Evolution der Kultur des Homo sapiens.[4] Dabei wurde meist angenommen, dass die Funktion des Sprechens im Austausch von Information bestand. Doch in den letzten Jahrzehnten wurde dies zunehmend bezweifelt. Um einfache Informationen wie »Das Essen befindet sich da hinter dem Fluss« oder »Im Wald ist ein Löwe« austauschen zu können, braucht man das riesige und energiekonsumierende Gehirn, das die Spachverarbeitung ermöglicht, eigentlich nicht. Ein einfacher Fingerzeig oder Warnlaut leistet das auch. Könnte also im Erzählen von Geschichten ein mess11barer Selektionsvorteil liegen, der vielleicht auch den Spracherwerb gefördert hat?
Drei große Theorien finden derzeit Anhänger, die diese letzte Frage vorsichtig bejahen.[5] Die erste Theorie betont, dass Erzählungen uns auf eine Vielzahl von Situationen vorbereiten, so dass wir, sobald wir uns einmal wirklich in einer solchen Situation befinden, mit klarem Kopf reagieren können. Geschichten üben spielerisch Verhaltensmuster ein, so die These der Antizipationstheorie. Dies kann vor allem in Gefahrensituationen lebensrettend sein. Wer vorbereitet ist, wird weniger oft von einem Schock gelähmt. Auch seltene Situationen, die nicht in jeder Generation vorkommen, wie etwa eine Dürre, können dergestalt als Wissen tradiert werden, um künftigen Generationen Verhaltensmuster an die Hand zu geben.[6]
Die zweite Theorie betont die Stärkung des Sozialgefüges durch Geschichten. Eine Variante betont dabei den Klatsch und Tratsch: Wir erzählen Geschichten übereinander und lernen uns so besser kennen. In Krisensituationen schweißt uns dies zusammen und macht uns zu einem besseren Team.[7] Eine andere Variante dieser Theorie argumentiert, dass uns Geschichten zeigen, dass die Bösewichte und Nichtsnutze bestraft werden. Dies beruhigt die Hörer der Geschichten, so dass sie eher dazu bereit sind, zu Gunsten des Gemeinwohls zu agieren und dafür auch Opfer zu erbringen. Sie wissen aus den Geschichten, dass diejenigen, die nicht mithelfen, ihr gerechtes Ende finden werden, wie die faule Pechmarie im Märchen.[8]
12Die dritte Theorie erblickt den Ursprung des Erzählens im Mythos. Der Mythos liefert erste Kausalgeschichten, mittels derer sich die frühen Gesellschaften die Welt erklärten. Und ebendieser menschliche Erklärtrieb werde zum Motor späteren Fortschritts.[9]
Dieses Buch will eine andere Theorie vorstellen und in ihren Konsequenzen darlegen. Die bereits erwähnte These dieses Buches besagt, dass die erste Erzählung eine Ausrede war, dass Ausreden nach wie vor den Kern der meisten Erzählformen ausmachen und dass Ausreden sich in einer Reihe zentraler kultureller Praktiken und Einrichtungen niedergeschlagen haben.
Das Entscheidende an der Ausrede ist nicht, dass sie eine Täuschung ist. Entscheidend ist vielmehr, dass eine gute Ausrede Zweifel darüber aufkommen lässt, wer eigentlich Verantwortung für eine Tat zu übernehmen hat. Ausreden säen Zweifel, wo zuvor Gewissheit war, und liefern eine zweite Version, wo vorher alles klar schien. Eben hier, so die These dieses Buches, beginnt Narration: dort, wo es mehr als eine Version eines Sachverhalts gibt. Mit der Ausrede wird es notwendig, sich über Nuancen und Definitionen einig zu werden. Man muss die Intentionen der Handelnden verstehen, um über Fragen der Verantwortung nachdenken zu können. Doch diese Intentionen lassen sich nur in Bezug auf Kontexte ausmachen und also in variierenden Versionen und Beschreibungen bestimmen.
Die Befähigung zur Ausrede könnte in der Tat einen direkten Selektionsvorteil darstellen. Wer erwischt wird und eine gute Ausrede hat, kommt vielleicht davon. Wir werden später sehen, dass vielleicht bereits manche nichtmenschliche Affen durch ein ausredeähnliches Verhalten einen echten Selektionsvorteil erzielen können (Kapitel 2). Wenn ein rangniedrigeres Männchen einmal »verbotenerweise« mit einem Weibchen zum Zuge kommt und dabei vom Alphamännchen erwischt wird, so kann dies einerseits zu einer sehr empfindlichen Strafe führen und es andererseits zugleich zum Erzeuger von Nachfahren erheben. Sofern es sich vorab eine gute Ausrede zurechtgelegt hat oder positive Erfahrungen mit bestimmten Ablenkungsmanövern gemacht hat, erlaubt es sich 13vielleicht ein riskanteres Verhalten, weil es damit rechnet, davonzukommen – und dies gelingt möglicherweise auch. Wie wir sehen werden, dürfte der kognitive Druck, die Ausrede oder Ablenkung zu erkennen, dabei am stärksten auf dem Getäuschten und Betrogenen lasten.
Wer ein Buch über die Ausrede in die Hand nimmt, könnte erwarten, dass dort ein Katalog möglicher Ausreden zu finden sei. In der Tat finden sich Ausreden und ihre Varianten in einer großen Anzahl von Kommunikationsformen, mittels derer sich jemand rechtfertigt. Es wäre auch durchaus interessant, eine empirische Untersuchung zur Verwendung von Ausreden anzustellen. Doch dabei ist natürlich vorab zu klären, was eigentlich eine Ausrede ausmacht. Wer sich von vorneherein nur auf die faulen Ausreden konzentriert, könnte leicht zu der Annahme gelangen, dass Ausreden eine Verirrung darstellen und sich für Witze eignen, aber eigentlich eher pathologisch als Symptom der Schwäche zu betrachten sind. Demgegenüber will dieses Buch einen weiter gefassten Begriff der Ausrede entwickeln. Der Ausgangspunkt dafür ist eine Situation, in der Ausreden regelmäßig entstehen: das Unter-Anklage-Stehen. Die Anklage ist dabei zwar nicht die einzige konkrete dialogische Situation, in der Ausreden erzeugt werden, jedoch ist es ein Wesensmerkmal von Ausreden, dass sie als Reaktion auf eine explizite oder implizite Anklage vorgetragen werden können.
Zu den Entgegnungen auf implizite Anklagen gehören etwa die Beschönigungen, mit denen man eigene Schwächen übertüncht. »Natürlich bin ich besser als der, denn er hat mit unfairen Mitteln gespielt« (dazu Kapitel 5). Der Einzelne fühlt den (anklageähnlichen) Druck, sich und seine Überlegenheit beweisen zu müssen. Genannt wurde bereits die Ausrede oder ausredeähnliche Rede, mit der man einen anderen vor einer ihm vermeintlich unangenehmen Wahrheit schützen will (»Liebe Stephanie … wir können dich nicht ins Team aufnehmen … eine ganz knappe Entscheidung … Am Ende haben wir eine Münze geworfen«). Man unterstellt anscheinend auch anderen, dass an ihnen der anklageähnliche Vorwurf nagt, sie seien nicht gut genug. Ein anderes Beispiel ist die 14vorweggenommene Anklage: Wenn Manager einer Firma eine Unternehmensberatung wie McKinsey hinzuziehen, kann dies auch die einfache Funktion haben, sich eine Ausrede für Kündigungen zu beschaffen, die sie selbst ungern zu verantworten hätten. Die Manager können ihre Hände in Unschuld waschen und entgehen auch noch den Selbstanklagen, denn sie haben die Ausrede für die Kündigung gekauft.
Um die Kultur der Ausrede in den Blick zu bekommen, verbindet dieses Buch die Frage der Ausrede entsprechend mit der dialogischen Situation, in der jemand auf eine Anklage antwortet. Bisweilen wird dabei die formalere Situation des Gerichts mit Anklage und Verteidigung oder aber die Alltagssituation von Vorwurf und Ausflucht zugrunde gelegt. Diese Verdichtung zu einer einzigen Situation hat eine doppelte Funktion. Zum einen soll aus der dialogischen Situation die Struktur der Ausrede erschlossen werden, zum anderen soll uns ebendiese Struktur helfen, spekulativ die kulturellen Auswirkungen der Ausrede zu entfalten. Mit anderen Worten: Es soll spekulativ eine Kultur errichtet werden, die sich von der Möglichkeit des Ausredenerzählens herleitet. Der zweite Punkt ist erklärungsbedürftig.
Versucht werden soll, ausgehend von der Struktur der Ausrede und ihrer Stellung in der kulturellen Evolution des Menschen (Kapitel 2) zu ermessen, welche Effekte Ausreden in menschlichen Praktiken hatten. Ausreden sind ein Ärgernis. Menschen können ihre Untaten leugnen und andere verwirren. Je besser die Ausrede, desto schwieriger wird es, zwischen sich widersprechenden Darstellungen eines Sachverhalts zu entscheiden. Dies mag bei ästhetischen Fragen eine Stärke sein (Kapitel 4), ist aber hochproblematisch, wenn es sich um sozial unverträgliche Situationen handelt. Ein Dieb oder Mörder wird, wenn er mit einer Ausrede davonkommt, eher angespornt, ähnliches Verhalten zu wiederholen. Es ist insofern zu erwarten, dass menschliche Kulturen eine Vielzahl von Techniken entwickelt haben, die positiven und negativen Effekte von Ausreden zu nutzen, zu verarbeiten oder zu entschärfen. Von diesen können wir annehmen, dass sie sich in zahlreichen Institutionalisierungen kristallisiert haben.
Manchem mag diese Ableitung der Kultur dreist erscheinen: Wird da nicht ein sehr wackeliger Turm auf einem einzigen Stein gebaut? Die moderne Kultur ist schließlich hochgradig komplex. 15Die Ausrede kann nicht die einzige Kraft der Kultur gewesen sein. Doch das Erstaunliche ist vielleicht, wie viel man dennoch ausgehend von einer einzigen Struktur ableiten kann. Wie kommen wir also zu den Schlussfolgerungen über diese Praktiken und Institutionalisierungen?
Die einfache Antwort lautet: durch Spekulation. Die Spekulation wird in der Akademie gerne diskreditiert. Meist wird angenommen, dass Spekulation keine Disziplin habe. Trotzdem gibt es eine wichtige Funktion des spekulativen Denkens. Das spekulative Denken kann große Zusammenhänge aufzeigen. Doch dies kann es auf verschiedene Arten tun. Zu Recht verpönt ist dabei das assoziative Spinnen von Zusammenhängen und das Füllen von Lücken. Das Problem bei diesem Verfahren ist nicht einfach die mögliche Fehlerhaftigkeit, denn diese wird ja häufig freigiebig zugestanden. Das Problem ist vielmehr, dass es keine produktive Form der Kritik gibt, die aus den Ergebnissen dieses spekulativen Verfahrens selbst hervorgeht. Mithin bleibt diese Art der Spekulation ein Schuss in die Luft, der vielleicht mal trifft – wobei wir schon dies nicht wissen –, der aber späteren Schützen keine Orientierungshilfe liefert.
Der methodische Weg dieses Buches besteht stattdessen darin, ausgehend von einer einzigen Hypothese (also der vorgeschlagenen Struktur der Ausrede) die möglichen Effekte dieser Struktur schrittweise zu entwickeln. Der Vorzug dieses Verfahrens ist, hoffentlich, seine Nachvollziehbarkeit und damit natürlich auch Kritisierbarkeit. Das Unterfangen kann dabei auf drei Ebenen kritisiert werden. Erstens könnte es sein, dass schon die Ausgangshypothese falsch ist, dass also die Struktur der Ausrede schlecht bestimmt ist. Zweitens können sich in den schrittweisen Folgerungen der Effekte der Grundstruktur Fehler einschleichen. Und drittens können zwar die Grundhypothese und selbst die schrittweisen Folgerungen richtig sein, aber das Resultat kann dennoch falsch sein. Die untersuchte Institution – etwa die Verantwortung – könnte sich ja ganz anderen Entwicklungen verdanken, die mit der Ausrede wenig oder nichts zu tun haben. Statt sich also gegen Kritik abzuschotten, lädt dieses Verfahren zur Kritik ein.
Am einfachsten kann ich dieses Verfahren als das Bauen einer auf dem Kopf stehenden Pyramide beschreiben, um das Bild des auf einem Stein errichteten wackligen Turms aufzugreifen: Aufbauend auf ein Fundament werden Lage für Lage Steine auf das 16Fundament gehäuft. Doch das Fundament dieser Pyramide ist ein einziger Stein, eine einzige Hypothese. Und so wird die Pyramide auf ihrer Spitze errichtet. Je fester die Spitze oder je dreister der Baumeister ist, desto höher kann die umgedrehte Pyramide gebaut werden und sich oben ins Weite verlieren.
Das vorliegende Buch ist der Schlussstein eines Tryptichons von Büchern.[10] Die Kenntnis der anderen Bücher ist aber an keiner Stelle zum Verständnis der vorliegenden Überlegungen notwendig. Für sich allein kann dieses Buch zutreffend als Essay beziehungsweise als Versuch beschrieben werden. Insofern handelt es sich um eine Einzelstudie, deren Gedankengänge darauf angelegt sind, ohne Voraussetzungen verständlich und das heißt eben auch: kritisierbar zu sein.
Zugleich steht dieses Buch in einem größeren Zusammenhang von Thesen, die sich gegenseitig stützen. Zusammen genommen ergeben diese Thesen eine Kulturtheorie, die sich aus der Dynamik von Institutionalisierungen ergibt. Die Grundannahme besteht darin, dass Kultur dann vorliegt, wenn arbiträre Verhaltensformen wiederholbar werden. Wiederholbarkeit dieser Art ist etwa die Bedingung von Sprache, Ritualen, Gesetzen und sozialen Rollen wie »Mutter«. Der strukturelle Kern der Wiederholbarkeit kann dabei am besten durch das Wechselspiel von allgemeinem Begriff und Einzelhandlung beschrieben werden (statt Begriff kann man hier auch von »Norm« oder von »Diskurs« sprechen[11]). Eine Institutionalisierung liegt dann vor, wenn ein allgemeiner Begriff eine Perspektive der Beobachtung bereitstellt, von der aus eine Handlung (im Folgenden kurz als »Akt« bezeichnet) als wiederholbar erscheint beziehungsweise zwei unterschiedliche Akte als gleichwertig erscheinen. Auf diese Art und Weise beobachten Gesetze unter 17dem Begriff des Rechts das Verhalten der Menschen und strafen verschiedene Akte gleichermaßen, da sie vor dem Gesetz gleichwertig erscheinen. Auch traditionelle Institutionen wie etwa die Schule sollen gewährleisten, dass ihre Schüler Wissens- und Fertigkeitsakte unter dem Begriff der Perfektion messbar reproduzieren können. Allgemeine Begriffe dieser Art können etwa Gott, Gerechtigkeit, Exzellenz, Nation, Freiheit, Kunst, Spaß, Ich, Liebe oder Jugend sein. Auch die genannten sozialen Rollen gehören dazu.
Einerseits subsumieren die Begriffe dabei die Handlungen und reduzieren sie zu bloßen Beispielen des Begriffes. Andererseits entstehen die Begriffe erst ausgehend von den einzelnen Akten, die sozusagen nach einer Begründung schreien und einen allgemeinen Rahmen einfordern, innerhalb dessen sie Sinn ergeben. Das Verhältnis von Begriff und menschlichem Akt ist insofern ein doppeltes. Einerseits determiniert der Begriff das Verhalten vollständig, andererseits erzeugt erst der Akt die Vorstellung von einem Begriff. Dieses sich wechselseitige Bedingen von Begriff und Einzelhandlung kann als Institutionalisierungszyklus dargestellt werden.[12] Die Individuen richten ihre Praktiken auf die Begriffe aus, die ihnen Sinn verleihen. Umgekehrt begründen erst die Praktiken ihrerseits die allgemeinen Begriffe; jede einzelne Handlung schafft einen Raum möglicher begrifflicher Erklärungen, ohne diesen Raum aber zu beherrschen.[13] Begriff und Einzelhandlungen kommen dabei in ein Verhältnis der gegenseitigen Stabilisierung beziehungsweise Destabilisierung, da jeder einzelne Akt auch alternative Begriffe aufrufen kann.
So zumindest kann der Prozess aus der Perspektive der Institution beschrieben werden, die sich in diesem wechselseitigen Bedingen konsolidiert. Doch aus der Perspektive eines Individuums stellt sich das Ganze anders dar. Die Begriffe setzen den Einzelnen unter Druck, sich auf sie auszurichten. Jedem Begriff ist dabei eine absolute Forderung eigen, sich ihm entsprechend zu verhalten (denn ohne diese Forderung existiert der Begriff nicht; er ist ja diese Forderung). Verschärft wird diese Forderung noch durch ihre Unklarheit, denn dem Begriff wohnt weder eine Definition noch 18Anweisung inne. Wer weiß schon, was Gott und Gerechtigkeit sind, was es heißt, ein guter »Vater« zu sein, oder wie man wirklich »Spaß« hat. Jedem Begriff haftet insofern die Unmöglichkeit der adäquaten Umsetzung der Forderung an. Da man dem Begriff also gar nicht einfach entsprechen kann beziehungsweise nicht weiß, was dies hieße, muss der Einzelne festlegen, was ihm als eine Entsprechung erscheint.
In diesem Bereich zwischen Begriff und einzelner Handlung, zwischen dem Einzelnen und den an ihn gestellten begrifflichen Forderungen, vermittelt die Narration. Narrationen stellen Modelle der Entsprechung bereit, so wie die Legende den Gläubigen aufzeigt, wie man Gottesfurcht leben kann. Zugleich entschärfen diese narrativen Modelle die im Begriff aufbewahrte Forderung und nehmen ihr in der schrittweisen Umsetzung die Spitze. Die Narration nistet sich an der Stelle des Begriffs ein und operiert insofern als Ersatzbegründung. Anstelle des Begriffs wird eine spezifische Verhaltensabfolge wiederholbar, die sich den Anschein gibt, dem Begriff zu entsprechen. Mit anderen Worten: diese Narrationen sind Ausreden, die die Forderung des Begriffs ausmanövrieren, indem sie sich den Anschein geben, ihm zu entsprechen.[14]
Die Beschäftigung mit diesen Institutionalisierungen von Kultur durch Ausredennarrationen hat sich in zwei Studien niedergeschlagen, die sowohl die stabilisierenden als auch destabilisierenden Aspekte von Narration beleuchten.
Der Ich-Effekt des Geldes legt eine Fallstudie zur Geschichte einer Institutionalisierung vor, in der Narrationen stabilisierend wirken. Im deutschsprachigen Raum wird Ende des achtzehnten Jahrhunderts eine Form von Individualität erfunden, die den Einzelnen unter Druck setzt, sich als Individuum, als »Ich«, zu zeigen und zu beweisen. Mit anderen Worten, das Ich soll institutionalisiert werden. Dieses Gebot zur Ich-Findung trifft jeden Einzelnen, zunächst vor allem Männer, und jeder muss auf diese Forderung reagieren. Doch da ungewiss ist, wie das geht und was das Ich ist, werden Strategien gesucht, um der Schärfe der Forderung nach dem Ich auszuweichen und gleichzeitig eine Form von Individualität zu erfinden, die dem Wort »Ich« gerecht werden könnte. Gesucht werden mithin Narrationen, mit denen der Einzelne diesen Forderun19gen entgegentreten kann, um ihnen zu genügen und sie gleichzeitig zu umgehen. Einer dieser narrativen Ich-Vermeidungsstrategien ist das Buch gewidmet, nämlich dem Ich-Beweis durch Eigentum und Geld vom achtzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart. Eine andere besteht in dem Beweis des Ichs durch Kunst.[15] Einige der Thesen dieses Buches werden im fünften Kapitel des vorliegenden Buches kurz aufgenommen.
Das zweite Buch Kulturen der Empathie beginnt weder mit der Frage der Institutionalisierung noch mit der der Narration, stößt aber im Verlauf der Untersuchung auf sie. Empathie wird meist als der Prozess verstanden, mittels dessen ein Beobachter einen anderen »versteht«, indem er seine Gefühle oder Gedanken aus seiner Situation ableitet oder direkt seine Gefühle und Eindrücke simuliert und mitempfindet. Die meisten Modelle der Empathie konzentrieren sich dabei einzig auf die neuronalen Mechanismen der mimetischen Aneignung, genauen Beobachtung und Adaption und das Übertragen der Gefühle und Gedanken von einem auf den anderen. Kulturen der Empathie versucht dagegen zu zeigen, dass Prozesse der Institutionalisierung und mithin der Kultur auch für kognitive Fähigkeiten des Menschen Geltung haben. Gerade weil Menschen derartig empathiefähig sind und im Vergleich zu Tieren als hyperempathisch gelten können,[16] ist die Ausgangsannahme, dass Menschen individuell und kollektiv Mechanismen schaffen, um Empathie zu kontrollieren, zu steuern und also auch zu blockieren. Nicht jeder Bettler nötigt uns Mitgefühl ab, und einem Verbrecher gegenüber empfinden wir wohl häufig weniger Mitleid, da wir uns sagen, er habe ja selber Schuld an seiner Strafe. Die Fähigkeit, Empathie zu blockieren, ist alleine schon deshalb nötig, um den Selbstverlust zu verhindern, da Empathie eine zumindest momentane Aufgabe der eigenen Perspektive beinhaltet. Die darauf aufbauende Annahme lautet, dass Empathie meist nur dann zugelassen wird, wenn diese Blockademechanismen umgangen, ausgehebelt oder durchbrochen werden.
20Das Buch identifiziert zwei Mechanismen, wie dies geschehen kann: Narration und Parteinahme in Dreierszenen. Einfach gesagt: Wenn wir beginnen, uns das Schicksal eines anderen als kleine Geschichte zu erzählen oder vorzustellen, zumal wenn wir in einem Konflikt seine Partei ergreifen, beginnen wir, selbst wider Willen, Empathie zu entwickeln. Die primäre Institution der eigenen Identität wird dabei kurzfristig verlassen, um im anderen eine Identität aufzubauen. Dabei erklärt, kontextualisiert und entschuldigt der Beobachter die Tat des anderen und schafft in diesem Sinne eine »Ausrede« für sein Tun. Ebendiese narrative Individualisierung des anderen macht ihn nicht nur zugänglich für das empathische Verständnis des Beobachters, sondern in der Regel auch zum Sympathieträger.
Ausredenartige Narrationen stellen also in beiden Studien das produktive Element dar, welches die Institution konsolidiert oder unterläuft. In Ich-Effekt des Geldes sind es Narrationen, die dem Einzelnen erlauben, auf den Ich-Zwang zu reagieren und die Vorstellung des Ich zu verteidigen, auch wenn man seinem Anspruch einmal nicht genügt (siehe Kapitel 5). In Kulturen der Empathie liefern Narrationen Ausreden für den anderen und ermöglichen dabei Empathie (Kapitel 6).
Die Zeit rennt uns allen davon, und auch bei diesem Buch kann man sich eine Bresche schlagen, indem man manches überspringt. Dem eiligen Leser wird empfohlen, folgende Abschnitte zur Kenntnis zu nehmen:
Einleitung, Abschnitt 1 (These)
Kapitel 1, Abschnitt 1-4 (Narrationstheorie)
Kapitel 3, Abschnitt 6 (zum Gewissen)
Kapitel 6 (Empathie)
In den meisten Kapiteln wird als roter Faden des Buches auf die Geschichte von Adam und Eva referiert (etwa: Kapitel 1, Abschnitt 2; Kapitel 3, Abschnitt 8). Auch die Diskussion der Ausrede als eines kontexterzeugenden Aktes wird in mehreren Phasen entwickelt 21(vor allem: Kapitel 1, Abschnitt 3; Kapitel 2, Abschnitt 7; Kapitel 3, Abschnitt 8). Schließlich findet sich eine schrittweise Darstellung des Ich-Begriffs in Korrelation zu Fragen der Narration (Kapitel 1, Abschnitt 7; Kapitel 3, Abschnitt 6-7; Kapitel 5). Ansonsten kann den Lesern geraten werden, sich auf die Kapitel zu konzentrieren, deren Themen sie ansprechen. Kapitel 3-6 stehen parallel und müssen nicht nacheinander gelesen werden. Kapitel 2 liefert eine evolutionsbiologische Spekulation zum Ursprung der Erzählfähigkeit. Nur die ersten Abschnitte des ersten Kapitels stellen das Fundament dar, die dünne Spitze, auf dem alle späteren Argumentationen aufbauen.
Eine Erzähltheorie
So beginnt es: einer erwischt einen anderen bei einer unerwünschten oder ausdrücklich verbotenen Tat, vielleicht in flagranti, vielleicht im Nachhinein anhand von Indizien. Aus irgendeinem Grund schreitet er nicht sofort zur Bestrafung, sondern artikuliert eine Anklage. Vielleicht will er durch seine Anklage Dritten erklären, warum er strafen will. Vielleicht ist der Angeklagte stärker als der Kläger, und er muss sich den Beistand zur Bestrafung sichern. Vielleicht ist der Angeklagte in der Lage zu fliehen, und der Ankläger will, dass andere die Flucht verhindern. Vielleicht will er auch eine Entschuldigung oder andere Art der Wiedergutmachung. Auf jeden Fall eröffnet die verbale Anklage die Szene.
Die Anklage liefert die Master Story, den zunächst einzig gültigen Bericht der relevanten Vorgänge, den Bericht, den sie für gültig erklärt, die Version der Geschehnisse, die rechtlich bedeutsam ist. Die Anklage schildert, wie es wirklich war. So zumindest will es der Ankläger. Selbst wenn er eine falsche Beschuldigung erhebt, behauptet er, dass seine Sprache mimetisch verfährt und Wirklichkeit abbildet. Es stört den Ankläger dabei nicht, dass an den Akademien heutzutage nur noch selten Sprachtheorien verhandelt werden, die von einem »mimetischen« oder »abbildenden« Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit sprechen. Die Einwände sind alt. Bereits Platon hat im Sophistes auf die Paradoxien hingewiesen, die sich aus der Annahme einer schlicht abbildenden Sprache ergeben.[1] Nur in sprachevolutionären Theorien ist von einer mimetischen Protosprache die Rede.[2] Dennoch maßt sich die Anklage an, dass ihr Bericht die Dinge schlicht benennt, wie sie sind.
Natürlich gilt dies nicht für jede Anklage. Ankläger wissen häufig sehr wohl, dass es eine andere Sicht der Dinge gibt. Doch die 23Idealform der Anklage, um die es hier zunächst geht, besteht auf dem Wahrheitsmonopol. Das Ideal der Anklage ist die wahre Rede, denn von der Wahrheit leitet sie die Notwendigkeit von Strafe oder Wiedergutmachung ab.
Bei der Story der Anklage handelt es sich auch deshalb um eine Master Story, weil der Ankläger durch seine Sprache ermächtigt wird. Er spricht mit der Macht und Souveränität des Herrschenden, des Masters. Insofern ist die Master Story zugleich ein Bericht, der den Sachverhalt meisterlich darstellt, und eine Rede, die die Autorität des Masters sichert.[3] Ein derartig Herrschender könnte auch eine falsche Anklage erheben oder ein Gesetz erfinden, nur um eine Anklage erheben zu können, um dadurch die empirische Welt nach seinem Gutdünken zu strukturieren. In ihrer Grundform richtet sich die angeprangerte Untat gegen die Autorität des Masters, des Alphamännchens. In ihrer abgeleiteten Form handelt es sich um den Bruch einer Norm, als deren Wächter der Ankläger nun auftritt. Indem der Ankläger sich zum Wächter erhebt, macht er die Norm zu seiner Norm und das Gesetz zu seinem Gesetz. Daher verdankt er seine Autorität der Autorität von Norm und Gesetz. In jedem Fall befindet sich der Ankläger auf der Seite der Autorität, spricht mit Autorität, befestigt seine Autorität und bindet diese an die Authentizität des »So war es und nicht anders«, denn indem er die Anklage erhebt und die Bestrafung einleitet, erscheint er selbst als der Hüter des Gesetzes und der Ordnung.[4]
Trotzdem ermöglicht die Anklage auch andere Protokolle als die der Strafe. Die Anklage kann die Strafe aufschieben, sofern eine solche zu erwarten ist. Dadurch wird es möglich, die Einheit der Untat, des Ergreifens des Täters, der Verhandlungen über die Strafe und der Strafe selbst aufzubrechen. Dieses Auseinanderfallen der Einheit verschafft Aufschub. Und Aufschub bedeutet, dass es Möglichkeiten zum Ausgleich geben kann. Die Schuld kann dann 24statt durch eine Strafe auch durch Wiedergutmachung, Bezahlung, Gabe, Vertrag oder Entschuldigung beglichen werden. Das Aufbrechen dieser Einheit ist bereits an sich eine große kognitive Leistung. Die Wut muss »vertagt« werden können. Der Ankläger zeigt sich unter welchem Druck auch immer bereit, seine Wut kurzzeitig zu mindern, um ihren Gegenstand zunächst verbal zu verhandeln. Eine solche Transformation einer primären Erregung in ein verwaltetes Gefühl setzt die Zuversicht des Wütenden voraus, dass er später noch seine Wut ausleben darf, dass die Wut noch zu ihrem Recht kommen wird. Dies wiederum impliziert, dass die Wut erinnert, aufbewahrt und vielleicht auch in symbolischen Zeichen kommuniziert werden kann. Mit der Aufbewahrung gibt es die Möglichkeit der Reaktivierung des Aufbewahrten. Die Wut kann wieder gegenwärtig werden. Zudem verspricht die Kommunikation durch symbolische Zeichen, dass andere nicht nur die rechtliche Frage, sondern auch die Tiefe der Wut oder des Schmerzes einsehen können.
Sind Menschen besonders gut im Aufschieben? Wahrscheinlich nicht. In kognitiven Tests haben sich manche Affen als möglicherweise geduldiger als Menschen erwiesen.[5] Insofern ist es eine erstaunliche Leistung, den vollen Ausdruck einer Erregung wie der Wut zu verzögern. Dies ist wohl nur möglich, weil die Menschen Techniken entwickelt haben, die Wut im Zustand der Latenz präsent zu halten, um ihr später noch den vollen Ausdruck zu gewähren. Für viele Menschenaffen dagegen ist die wütende Reaktion auf eine von ihnen nicht geduldete Tat (etwa die Kopulation eines tieferstehenden Männchens mit einem Weibchen) nur möglich, wenn sie unmittelbar auf die Szene reagieren können. Befindet sich das Alphamännchen aber in einem Käfig und muss eine derartige »Untat« beobachten oder wird, sofort nachdem der Täter ertappt wurde, von diesem getrennt, kommt es nicht mehr zu einer Strafe (was nicht heißt, die Untat wäre schlicht vergessen). Die menschliche Technik des Aufbrechens der Einheit von Anklage und Strafe erlaubt also ein zeitliches Fortwirken der Tat, da die Strafe zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden kann. Die Artikulation der Anklage 25ermöglicht (beinhaltet aber noch nicht notwendigerweise) das Reglement einer Strafe, denn sonst hätte der Anklagende wohl nicht die Gewissheit, dass er sich durch die Artikulation nicht der Strafe beraubt. Der Ankläger ist gewiss, dass die Strafe später kommen wird oder zumindest kommen könnte. Dafür sorgt diese minimale Institution, das erste Gericht, der Verknüpfung von Anklage und aufgeschobener Strafe. Der erste Akt dieses Gerichts ist die sprachliche Kodifizierung von Realität.
Die minimale Form der Anklage beinhaltet mithin vier Elemente:
All dies zeigt, dass wir mit der Anklage ein komplexes soziales Feld betreten, welches vier soziale Aspekte miteinander verzahnt: (1) menschliche Handlung (was ist eine menschliche Handlung und was ist Zufall?), (2) normative Steuerung (was darf man tun und was nicht?), (3) öffentliche Rede (was sind die Voraussetzungen für ein öffentliches, also kollektives Bestrafen? Wer kann und wie kann er die Rede an das Kollektiv richten?) und (4) kollektives Gedächtnis (wie kann die jetzige Wut auch später ihren Ausdruck finden?). Mit der Anklage kann aus der Emotion der Wut eine Handlung werden, die das Kollektiv als Zeuge und Jury aufruft. Dennoch bewegt sich die Rede der Anklage in ihrer hier unterstellten Idealform 26noch in einem mimetischen Verhältnis zum dargestellten Vorgang. In sprachlicher Hinsicht liefert die Anklage ihrem Selbstverständnis nach die eine und einzig richtige Darstellung des relevanten Vorgangs. Es ist eine Rede, die sich selbst gegenüber dem Sachverhalt für überflüssig erklärt. Sie liefert den Zeugen des Ereignisses nichts, was ihnen nicht bereits bekannt wäre. Die Rede der Anklage wäre daher auch überflüssig, wenn alle Zeugen der Tat wären. Die Rede der Anklage behauptet, monolithisch die relevanten Verhältnisse abzubilden; sie behauptet damit zugleich, die einzige gültige, akkurate Darstellung der Verhältnisse zu sein. Sollte in ihr eine Auslassung oder ein Fehler enthalten sein, so sind diese schlicht durch eine Ergänzung oder Korrektur zu beheben. Die sprachlichen Ausdrücke sind rein sekundär gegenüber dem geschilderten Hergang. Der einzige Zweck der Anklage ist institutionell, insofern die Anklage die Verbreitung, Übertragung und Speicherung der Informationen bewirkt und damit die Strafmechanik in Gang setzt.
Heutzutage sind wir es gewohnt, dass nach der Anklage die Verteidigung zu Wort kommt. Wir hören die Anklage also ausgehend von dem Erwartungshorizont des gesamten rechtlichen Theaters. Wir erwarten, dass die Anklage bestenfalls eine Version der Verhältnisse darstellt, die aber keineswegs autoritär die empirischen Fakten kommandiert und vor allem keineswegs einen direkten Schluss auf Verantwortung und Strafe zulässt. Doch diese moderne Erwartung einer Verteidigungsrede liegt nicht in der Anklage begründet, sondern verdankt sich einer jahrtausendelangen Ausdifferenzierung des dreigliedrigen Gerichtswesens mit Richter, Staatsanwalt und Verteidigung. Der Ursprung der Anklage impliziert aber keineswegs die Verteidigung.[7] Man erinnere sich auch daran, dass der Angeklagte in vielen archaischen und vormodernen Gerichten nicht zu Wort kommt. Für sich alleine will die Rede der Anklage nicht das Feld einer Untersuchung auftun, sondern den Fall zu einem sofortigen Ende bringen. Die Anklage muss dabei nicht einmal an 27eine richtende Instanz appellieren, da sie selbst direkt die Aufforderung zur Strafe enthält. An sich steht die Anklage dem Fluch oder Bann näher, die bereits die Strafe beinhalten und aus denen die Anklage historisch vermutlich hervorging.[8]
Doch mit der Anklagerede, eben weil es eine Rede ist, wird anderes möglich. Die Rede der Anklage schafft Raum für die Entgegnung des Beschuldigten. Gewissermaßen ist diese Möglichkeit der Entgegnung der Preis dafür, dass man auch noch später als in unmittelbarer Tatnähe strafen kann. Solange der Beschuldigte der Anklage recht gibt oder sie für sachlich falsch erklärt, bewegt er sich in der Welt der mimetischen Namenssprache. Doch es passiert etwas gänzlich anderes, wenn er eine Ausrede als Antwort gibt.
Was leistet die Ausrede? Sie legitimiert nicht die Tat an sich, sondern liefert eine Gegenversion der Geschehnisse, die sich in einem entscheidenden Punkt von der der Anklage unterscheidet, nämlich dem Punkt, wer hier Rede und Antwort für das Vergehen stehen muss, wer also »Verantwortung« zu übernehmen hat, wie es erst seit wenigen Jahrhunderten heißt. Dabei geschieht etwas Neues. Plötzlich stehen sich zwei Versionen des gleichen Sachverhalts gegenüber. Es gibt eine Version der Anklage und eine Version der Ausrede. In der Diskrepanz zwischen beiden geht es nicht unbedingt um die Fakten und tatsächlichen Handlungen, die ausgeführt wurden, also den objektiven Sachverhalt. Vielmehr verändert sich die gesamte Landschaft der Untersuchung von einer Verhandlung über die empirischen Fakten (den Sachverhalt) zu einer Diskussion über die verbale Konstruktion von Akten, Sprechakten und sprachlichen Nuancen sowie um Wahrscheinlichkeiten und Verantwortungsstrukturen. Es geht um Interpretation. Und wo Interpretation ist, dort ist auch eine Vielzahl an Erklärungen möglich. Adam bestreitet keineswegs den Anklagepunkt, vom Baum der Erkenntnis gegessen zu haben. Aber er bestreitet seine Schuld.
28Vnd Gott der HERR rieff Adam / vnd sprach zu jm / Wo bistu? Vnd er sprach / Jch hörete deine stimme im Garten / vnd furchte mich / Denn ich bin nacket / darumb verstecket ich mich. Vnd er sprach / Wer hat dirs gesagt / das du nacket bist? Hastu nicht gessen von dem Bawm / da von ich dir gebot / Du soltest nicht da von essen? Da sprach Adam / Das Weib / das du mir zugesellet hast / gab mir von dem Bawm / vnd ich ass. Da sprach Gott der HERR zum Weibe / warumb hastu das gethan? Das Weib sprach / Die Schlange betrog mich also / das ich ass.[9]
Was in den Versionen der Anklage und der Ausrede verschieden artikuliert wird, ist, wer die Tat zu verantworten hat. Und die Antwort auf diese Frage geht nicht allein aus den empirischen Fakten (dem Sachverhalt) hervor, da nun mehr verhandelt wird als nur die Frage, wer der Akteur der physischen Handlung war. Adams Rede bestreitet nicht die Handlung, sondern die Frage der Initiative, »Ja, ich habe es getan, aber ich wurde dazu von einem anderen überredet, von einer anderen, um genauer zu sein. Ich habe also eigentlich nicht aus freiem Willen gehandelt und es ist daher auch nicht meine Schuld.« Evas Überredung hat Adam hineingeritten, und nun will er seinen Kopf aus der Schlinge ziehen, indem er seinerseits Gott überredet, ihn für schuldfrei zu erklären oder ihm zumindest mildernde Umstände einzuräumen.
Was also genau ist eine Ausrede?
Es gibt zwei Typen von Ausreden. Zum einen gibt es die Form der obigen adamitischen Ausrede, in der die Tatsachen der Master Story der Anklage nicht bestritten werden, aber sich etwa mittels eines kleinen Zusatzes (»Eva hat es mir eingeflüstert«) die Fragen von Täterschaft, Verantwortung und Schuld verschieben. Dies muss nicht unbedingt heißen, dass einem anderen Lebewesen die Schuld zugeschoben wird. Man denke nur an: »Ich bin spät, weil der Fahrstuhl steckengeblieben ist.« Zum anderen gibt es die Ausrede, die den Sachverhalt bestreitet: »Mama, ich habe gerade nicht mit meinem Freund geschlafen. Wir haben im Bett Tierstimmen nachgemacht.«
Beide Fälle werden als Ausreden bezeichnet, weil sie als Reden darauf zielen, dem adressierten Beschuldigten die Verantwortung abzusprechen, sei es, indem sie leugnen, dass der Handelnde die Kontrolle über die Tat hatte, sei es, indem sie die Tat an sich be29streiten. Zugleich unterscheiden sich beide Typen von Ausreden in der Art und Weise, wie die Anklage verunsichert wird. Die adamitische Ausrede bestreitet weder die Tat noch die Fakten, sondern ergänzt zu dem Bericht der Master Story einige Elemente, so dass sich das Gesamtbild der Tatsachen verändert. Die zweite Ausrede des Typus »Es war anders« verneint dagegen die Ausübung der Tat und liefert eine andere, den vom Ankläger beobachteten Fakten durchaus korrespondierende Erklärung dessen, was passiert ist. Die erwischte Tochter etwa folgert, dass ihre Mutter drei Informationen hat. Erstens waren Freund und Freundin allein, zweitens sind sie im Bett und drittens haben sie »Geräusche« produziert. Während die Schlussfolgerung der Mutter naheliegend war, kontert die Tochter damit, dass die Geräusche eben »Tierstimmen« waren und dass es sich um ein (Kinder-)Spiel von zwei Freunden handelte und keineswegs um ein Liebesspiel. (Warum das Ganze im Bett stattfinden musste, wird fadenscheinigerweise unterschlagen.)