Das Buch
Schon früh lernte Nimko Ali, wie Frauenkörper reglementiert werden. Die britische Frauenrechtsaktivistin wurde im Alter von acht Jahren Opfer weiblicher Genitalverstümmelung. Doch hat sie das nicht verängstigt oder mundtot gemacht, sondern es brachte sie dazu, alles über ihre Anatomie wissen zu wollen. In ihrem Debüt thematisiert sie die vier großen Themenbereiche des weiblichen Körpers – Menstruation, Orgasmen, Schwangerschaft und Menopause –, über die immer noch schamerfüllt geschwiegen wird, und ruft dazu auf, Erfahrungen zu teilen. Ali hat hierzu mit vielen Frauen aus unterschiedlichen Lebenswelten, Religionen, Altersgruppen und Ländern gesprochen und vereint ihre Stimmen in diesem Buch. Die mit dem UN-Frauenrechtspreis ausgezeichnete Autorin greift so das Gespräch über den weiblichen Körper auf neue und direkte Weise auf. Sie zeigt, dass es unbedingt notwendig ist, über ihn zu sprechen und Erfahrungen zu teilen, um die Tabus, alten Mythen und Abhängigkeiten von Mädchen und Frauen endlich aufzulösen.
Die Autorin
Nimko Ali, geboren 1982 in Somalia, ist eine britische Feministin, Frauenrechtsaktivistin, Rednerin und Mitbegründerin von »The Five Foundation«, einer weltweiten Organisation, die sich gegen weibliche Genitalverstümmelung (FGM) einsetzt. 2019 wurde sie für ihr Engagement mit dem UN-Frauenrechtspreis ausgezeichnet.
NIMKO ALI
Worüber wir nicht sprechen sollen – es jetzt aber trotzdem tun
Ein Manifest über den weiblichen Körper
Übersetzt von
Kristin Lohmann
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel What we’re told not to talk about (but we’re going to anyway). Women’s voices from East London to Ethiopia bei Viking, einem Imprint von Penguin Books Limited, UK, London.
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Deutsche Erstausgabe 2021
Copyright © 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright © 2019 by Nimko Ali
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,
unter Verwendung eines Fotos von © Marc Bordons/Stocksy
Lektorat: Judith Mark
MP · Herstellung: Claudia Frost
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-25537-4
V001
www.goldmann-verlag.de
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Für meine Ayeeyo, meine Großmutter:
Du bist meine Welt, bis heute.
Danke, dass du immer zu mir gehalten
und mir die Freiheiten gegeben hast,
die mich zu der Frau gemacht haben,
die ich heute bin.
Du fehlst mir.
Einleitung: Nichts ist unmöslich
1. Periode
2. Orgasmus
3. Schwangerschaft
4. Menopause
Schlusswort
Danksagung
»Bei allem Fortschritt in Sachen Feminismus ist es erschreckend, welche Verachtung der weiblichen Anatomie immer noch entgegengebracht wird, sofern sie nicht straff, ordentlich bedeckt, aufgehübscht und enthaart ist.«
Jessica Valenti
Könnt ihr euch noch an die Szene in dem Film Girls Club erinnern, wo die Mädchen in der Turnhalle über Probleme mit ihren Mitschülerinnen sprechen sollen und ein Mädchen dann verkündet: »Jemand hat in das Buch geschrieben, dass ich gelogen habe und dass ich keine Jungfrau mehr wäre, weil ich diese Superplus-Tampons benutze, aber was soll ich denn machen, ich habe ’ne echt heftige Regel und ’ne weit gebaute Vagina.«
Mit der letzten Zeile hatte die Zensur so ihre Schwierigkeiten. Der Film sollte ab 13 Jahren freigegeben werden, deshalb wollten sie die Zeile streichen. Fast zur selben Zeit kam Anchorman – Die Legende von Ron Burgundy in die Kinos. Darin hat die Hauptfigur Ron Burgundy in einer als visueller Gag gedachten Szene eine offensichtliche Erektion. Keine halbherzige oder auch nur normale Erektion, sondern eine, die Christina Applegate als »gewaltig« bezeichnet. Die Szene ging durch. Nein zur »weit gebauten Vagina« und Ja zur »gewaltigen Erektion«? Hallo? Als die Produzenten von Girls Club auf den offenkundigen Sexismus hinwiesen, hat man die Zeile schließlich durchgewunken.
Ich habe mich schon immer gefragt, ob es vielleicht gar nicht die »Vagina« war, die den Zensoren damals aufstieß, sondern die Vorstellung einer »weit gebauten Vagina«. Mal angenommen, das Mädchen im Film hätte gesagt: »Jemand hat behauptet, dass ich keine Jungfrau mehr wäre, weil ich da unten diese Superplus-Tampons benutze« – wäre der Satz dann wohl gleich durchgegangen?
Aber das ist ja nichts Neues. Seit Jahrhunderten wissen Frauen so gut wie nichts über diesen Teil ihres Körpers, und anscheinend sollen sie das auch nicht. Verstohlen raunen sie sich winzige Informationshäppchen über ihre Fannys zu oder sprechen nur verschlüsselt darüber, so wie in meiner Familie. Geht es um »da unten«, wird die Stimme gesenkt, und man hüllt sich in schamhafte Verstohlenheit. In sehr religiösen Familien kann es vorkommen, dass nicht ein Wort über die Periode verloren wird, und wenn es dann so weit ist, sitzt der Schock tief.
Aus lauter Angst, man würde uns für derb oder verdorben halten, trauen wir uns nicht, Fragen zu stellen über das, was in unsere Fannys hinein- und/oder aus ihnen herauskommt. Stattdessen will man uns weismachen, dass wir zu gewissen Zeiten im Monat eben »unrein« seien. Seit Jahrtausenden bringen heilige Männer ihre Angst und (meist auch) ihre tiefe Abscheu vor unseren Fannys zum Ausdruck. Tatsächlich wurde die Anatomie der Klitoris, also des Teils, in dem die reine Lust sitzt, erst vor Kurzem vollständig erforscht (nämlich 1998 durch die australische Urologin Helen O’Connell).
Tja, warum hat das wohl so lange gedauert? Hmmm. Könnte es eventuell etwas damit zu tun haben, dass die Klitoris keine Fortpflanzungsfunktion hat, sondern in erster Linie Quelle der weiblichen sexuellen Lust ist?
Millionen Frauen und Mädchen werden beschnitten; auch ich bin es. Man will damit unsere Sexualität »kontrollieren« und uns heiratsfähig machen. So gut wie nie sprechen die betroffenen Frauen und Mädchen darüber oder tauschen sich aus – dabei gehört doch niemand anderem als ihnen dieses so angst-, schrecken-, scham- und lustbehaftete Körperteil. Frauen werden auch regelmäßig dazu gebracht, sich wegen irgendwelcher verrückter Normen zu einem angeblich perfekten Körper zu geißeln; der neueste perverse Spleen ist die Schamlippenkorrektur. Völlig normale, perfekte Vulven werden aufgeschnitten und wieder zugenäht – beziehungsweise »aufgefrischt und verjüngt«, wie uns die Anzeigen der plastischen Chirurgie glauben machen wollen. Ziel des Eingriffs ist eine »Barbie Vagina« – den Begriff hat Dr. Red Alinsod im Jahr 2005 geprägt. Komischerweise habe ich noch nie gehört, dass sich ein Typ nach einem »Ken« erkundigt hätte.
Diesem Ungleichgewicht hoffe ich mit meinem Buch etwas entgegenzusetzen.
In den letzten fünf Jahren habe ich ziemlich viel dafür getan, die Öffentlichkeit auf die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung aufmerksam zu machen; ich habe mit Politikern gesprochen, mit den Medien – eigentlich habe ich mit jedem gesprochen, der mir zugehört hat –, und immer ging es dabei um dieses großartige Teil von mir, eben meine Fanny. So nenne ich sie, aber es gibt natürlich noch jede Menge anderer Bezeichnungen dafür, einen ganzen bunten Blumenstrauß; verschämte, alberne und ganz schön derbe. Wie wär’s zum Beispiel damit: Scheide, Muschi, das da unten, untenrum, Pussy, Kätzchen, Liebesspalte, Mumu, Mupfel, Möse, Honigdöschen, Pflaume, Cookie, Schnecke, senkrechtes Lächeln, Fotze, Vulva und Vagina.
In einem eher formalen Rahmen spreche ich für gewöhnlich von Fanny. Etwas weiter hinten in diesem Buch werde ich noch auf mein Verhältnis zu »Asha« zu sprechen kommen, aber für den Moment bleiben wir dabei, dass meine Fanny und ich die letzten Jahre ziemlich beschäftigt waren, quasi die möste Zeit.
Ich habe eure rot glühenden Wangen förmlich vor Augen. Ist ja auch nicht gerade die feine englische Art, über Fannys zu sprechen; nicht gerade salonfähig, könnte man sagen; eigentlich wird es sogar als ziemlich derb angesehen. Aber über die Hälfte der Bevölkerung hat nun mal eine – und das verbindet uns, egal, wo wir leben oder aus welcher Kultur wir kommen. Jede Frau hat eine Beziehung zu ihrer Vagina, und wir alle machen entscheidende Erfahrungen mit ihr.
Als ich 2011 das erste Mal über mein eigenes Erleben der weiblichen Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM) sprach, wusste ich, dass ich eine von 140 Millionen beschnittenen Frauen weltweit bin. Aber ich wusste auch, dass ich einer von Milliarden Menschen bin, die eine Vagina haben, und ich wusste aus Gesprächen mit anderen Frauen, was für unterschiedliche und tiefgehende Geschichten diese großartige Öffnung bereithält. Ich bin übrigens bekannt dafür, vehement Einspruch zu erheben, wenn Männer als »Fotze« bezeichnet werden. Die Fotze, das weibliche Loch, ist tief und warm, und genau das fehlt den meisten Menschen, die als solche bezeichnet werden.
Die eigene Geschichte mit anderen zu teilen, hat etwas ungeheuer Kraftvolles. Manchmal tun mir Männer leid; klar, meistens liegt es daran, wie sie aufgewachsen sind oder am sozialen Druck, aber es ist doch verrückt, dass jemand 40 Jahre lang seinen Schreibtisch neben jemandem haben kann, von dem er nicht mal weiß, wo er wohnt. Und wenn sie über Sex reden, ist es quasi undenkbar, auch nur die kleinste Schwachstelle preiszugeben. Frauen dagegen können sich gerade mal eine Viertelstunde kennen und schon über ihre bevorzugte Tamponmarke sprechen. Ich kann mir ganz gut vorstellen, wie sich eine verhaltene Konversation zweier Frauen während der Zeit, als Freud über vaginale Orgasmen herumpolterte, angehört haben mag:
»Also, ich hatte ja noch nie einen vaginalen Orgasmus«, raunt die eine, und die andere: »Echt? Ich auch nicht. Mein Mann denkt, ich bin frigide.« Pause. »Hm, vielleicht ist er einfach eine ziemliche Niete im Bett. Hast du schon mal versucht, diesen kleinen Knubbel zu streicheln, den man erst 1998 so richtig begreifen wird?« Okay, das ist natürlich ein ziemlicher Quantensprung zu heute, wo ich gerade eine Bewegung für »gleichberechtigte Orgasmen« ins Leben rufe (die möglicherweise »Oh Mann« heißen wird).
Jedenfalls haben sich Frauen immer schon viel mehr über Intimitäten ausgetauscht als Männer. Mir gegenüber hat mal ein Mann zugegeben, viel mehr Schiss zu haben, wenn er das erste Mal die Freundinnen seiner Freundin trifft, als wenn er ihren Eltern begegnet. Warum? »Weil die einfach alles wissen.«
Dieses Buch trägt eine Reihe sehr unterschiedlicher Geschichten von Frauen über ihre Erfahrungen mit dem Frausein zusammen: über die erste Periode, die erste lustvolle sexuelle Erfahrung, die Suche nach mehr davon, über Schwangerschaften – Geschichten über die Realität all dessen und über alles dazwischen und natürlich auch über die Menopause. Ja, auch um diese Galaxie geht es, um diese letzte kosmische Reise.
Überall auf der Welt durchleben Frauen und Mädchen Extremsituationen, egal, ob sie im Weißen Haus leben oder in einem Palast oder als syrische Geflüchtete in einem dieser weißen Zelte untergebracht sind. Ihr Leben könnte kaum unterschiedlicher sein, aber wenn sie das erste Mal ihre Tage bekommen, wenn sie ihren ersten Orgasmus haben, das erste Mal schwanger sind oder ihre Menopause einsetzt, dann sind sie in gewisser Weise doch alle gleich. Manchen mag weniger bewusst sein als anderen, was gerade mit ihnen vor sich geht, manche mögen Angst haben, andere nicht; eines aber ist sicher: Etwas hat sich in diesem Moment für immer verändert.
Die Vagina-Monologe hatten wir schon; jetzt ist es Zeit für Vagina-Dialoge. Zeit, sich mit anderen Frauen und Mädchen auszutauschen, über Erfahrungen und Erlebnisse zu sprechen; und genau darum geht es in diesem Buch. Denn über Fannys kann frau sich gar nicht genug austauschen. Glaubt mir – ich habe schließlich ein ganzes Buch darüber geschrieben. Und ich habe gesehen, wie meine Offenheit dazu geführt hat, dass bis zum Jahr 2030 sehr wahrscheinlich 70 Millionen Mädchen vor FGM bewahrt werden.