Buch
Als schwarzes Schaf der Familie möchte Nella zu Ostern alles Mögliche tun. Nur nicht in ein Kaff an der Nordseeküste fahren, wohin Opa Otto alle Mann einbestellt hat. Die ganze Familie auf einem Haufen? Da ist der Stress vorprogrammiert. Aber der rüstige Rentner besteht darauf. Gibt es doch ein pikantes Familiengeheimnis, das er endlich lüften möchte. Keine Chance für Nella, ihrer spießigen großen Schwester Karen zu entkommen. Und die Begegnung mit Hauke, ihrem Freund aus Kindertagen, macht alles nur noch schlimmer.
Hat der sich doch vom dicklichen kleinen Jungen zum überaus attraktiven Tierarzt entwickelt. Die Funken sprühen zwischen den beiden. Blöd nur, dass Hauke bereits vergeben ist …
Autorin
Clara Jensen wuchs in Norddeutschland auf und war als Redakteurin viele Jahre lang in Hamburg für verschiedene Printmedien tätig. Mittlerweile ist sie eine erfolgreiche freie Autorin und tummelt sich in ihren Büchern gern an den Küsten ihrer Heimat. Ihre liebste Jahreszeit ist der Frühling, und jedes Jahr zu Ostern lässt sie sich an der Nordsee den Kopf freipusten.
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Clara Jensen
Roman
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Redaktion: Angela Kuepper
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JaB · Herstellung: kw/wag
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-25488-9
V002
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Bis fünfzehn Uhr dreiundzwanzig am Nachmittag verlief Nellas Sonntag höchst angenehm. Die Zeit merkte sie sich deshalb so genau, weil der Anruf, der sie zu dieser Zeit erreichte, ihr Leben verändern sollte. Was sie in dem Augenblick natürlich noch nicht wusste. Sie wühlte bloß unwillig zwischen Chipstüten und Kekspackungen auf dem Sofatisch herum, bis sie ihr klingelndes Handy fand. Dabei gähnte sie ausgiebig. Sie war wohl auf dem Sofa eingeschlafen, denn sie hatte noch deutlich ihren Traum vor Augen: Gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Karen war sie auf der Außenalster gerudert. Sie beide ganz allein. In einem Boot, das eigentlich vier Ruderer brauchte. Sie hatten Spaß gehabt, sich mächtig angestrengt und waren schließlich wieder heil und ziemlich stolz ans Ufer zurückgekehrt.
Während Nella sich über die Augen rieb, wurde ihr klar, dass dieser Traum eine echte Erinnerung war. Damals waren sie zwölf und achtzehn Jahre alt gewesen und hatten sich trotz einiger Reibereien und des Altersunterschieds gut verstanden und einander vertraut.
Das Handy klingelte und klingelte. Es war Karen.
Kurz erwog Nella die Möglichkeit, nicht ranzugehen. Hatte bloß keinen Zweck, wie sie aus Erfahrung wusste. Wenn ihre große Schwester sie sprechen wollte, gab sie nicht auf, egal, wie viele Versuche sie brauchte. Letzten Herbst hatte Nella es ausprobiert. Dreizehn Mal war sie nicht rangegangen, dann hatte sie sogar das Handy ausgeschaltet. Mit dem Ergebnis, dass Karen eine knappe Stunde später an ihrer Wohnungstür Sturm geklingelt hatte. Florian, der damals noch ihr Freund gewesen war, hatte sich ziemlich beeilen müssen, in seine Hosen zu schlüpfen. Unter Karens Blick aus eisblauen Augen war er dann schnell wie der Blitz aus Nellas Wohnung verschwunden. Nur wenige Wochen später sollte er fast ebenso schnell aus ihrem Leben verschwinden, aber das war eine andere Geschichte.
Gedankenverloren blickte Nella durchs Fenster nach draußen. Der Tag war grau und regnerisch, keine Spur von sonnigem Frühling, in dem es neue Hoffnung und neue Liebe geben konnte. Mit einem Mal war sie niedergeschlagen und meldete sich mit dumpfer, beinahe tonloser Stimme.
»Nella«, sagte Karen. »Warum dauert das immer so lange, bis du mal rangehst?«
»Äh …« Nella nahm an, dass dies eine rhetorische Frage war. Genauso gut hätte ihre Schwester sich erkundigen können, warum sie in kaum einer Anstellung länger als ein paar Monate geblieben war. Sie schwieg also lieber. Wie immer waren ihre Gefühle äußerst gegensätzlich. Sie liebte und bewunderte Karen, fühlte sich im Vergleich zu ihr jedoch weniger wert.
»Na, ist ja auch egal«, fuhr ihre Schwester fort. »Opa Otto hat mich angerufen.«
Sofort entstand vor Nellas geistigem Auge das Bild einer grünen, weiten und flachen Landschaft, wo man schon am Montag entdeckte, wer am Sonntag zu Besuch kam. Sie sah die Nordseeküste vor sich, mit Dünen und Deichen, mit Strandhafer, weißem Sand und unendlich weitem Meer. Möwen kreischten, Seehunde heulten, Wellen rauschten, und das Salzwasser trocknete auf der braun gebrannten Haut.
»Wieso hat er dich angerufen und nicht mich?«, wollte sie wissen.
»Weil du kein Telefon hast.«
»Habe ich wohl.«
Karen seufzte geduldig. »Du weißt schon, was ich meine. Kein Festnetz. Mit Handys hat es unser Großvater nicht so.«
Nella lächelte. Das stimmte. Otto Thiessens Welt war irgendwo zwischen 1969 und 1975 stehen geblieben. Alles, was danach gekommen war, blieb für ihn unnützer moderner Kram. Seine große Zeit war die Hippiezeit gewesen – sie war es bis heute geblieben.
»Also gut«, gab sie nach. »Was wollte er denn?«
»Wir sollen Ostern zu einem Besuch antreten. Er ist wütend, weil niemand ihn zu Weihnachten eingeladen hat.«
Augenblicklich meldete sich Nellas schlechtes Gewissen. Opa Otto war stolze fünfundachtzig Jahre alt und verdiente es nicht, allein unterm Tannenbaum zu sitzen. Da er sich weigerte, nach Teneriffa zu fliegen, wo sein einziges Kind, sein Sohn Walter, lebte, blieben ihm nur seine beiden Enkeltöchter. Aber Nella hatte zu Weihnachten andere Probleme gehabt und war irgendwie davon ausgegangen, dass ihre Schwester sich schon um den alten Herrn kümmern würde. Hatte sie offenbar nicht.
»Ich habe mal Zeit für meine eigene Familie gebraucht«, verteidigte sich Karen prompt. Dabei hatte Nella gar nichts gesagt.
»Schon klar«, murmelte sie nur.
Ihre Schwester war vierzig Jahre alt, verheiratet und hatte zwei Kinder. Noch so etwas, das ihr vermutlich nie im Leben gelingen würde. Inzwischen war Nella nämlich vierunddreißig, und ein geeigneter Mann für die Gründung einer Familie war weit und breit nicht in Sicht.
»Nun«, fuhr Karen fort. »Wir sollen jedenfalls Ostern zu ihm kommen.«
»Aber das ist ja schon nächste Woche«, gab Nella zu bedenken.
»Gut beobachtet«, kam es mit einem leisen Lachen zurück.
Sieben verflixt kurze Tage, fand Nella. Nicht im Traum würde es ihr gelingen, sich selbst und ihr Leben in so kurzer Zeit derart aufzubügeln, dass sie beide, also ihr Leben und sie, vor Opa Ottos scharfem Blick bestehen würden. Dieser Blick schien erblich zu sein, allerdings hatte er eine Generation übersprungen und war bei ihrer Schwester gelandet.
»Am besten«, sagte Karen, »komme ich kurz bei dir vorbei, und wir besprechen alles in Ruhe.«
»Was?«, fragte Nella und schaffte es nicht, die Panik in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Wozu soll das gut sein? Wir können doch jetzt reden.«
»Das passt schon. Ich kann mich gleich auf den Weg machen.«
Karen wohnte mit ihrer Familie im vornehmen Blankenese, Nella in Hamburg-Hamm, einem stolzen, aber nicht unbedingt schicken Arbeiterviertel östlich der Außenalster. Die Miete in dem dunkelroten Klinkerbau mit vier Etagen und sehr kleinen Wohnungen war niedrig; Karen hingegen residierte mit Gatte, Kindern und Haustieren in einer weißen Villa auf dem Süllberg. Einen größeren Kontrast zu Nellas zwei Zimmern konnte es in der Hansestadt kaum geben.
»Wir können uns auch irgendwo treffen«, schlug sie vor und sah sich mit wachsender Verzweiflung in ihrem Wohnzimmer um. Die Spuren einer wilden Party waren unübersehbar. Eigentlich hatte der gestrige Abend als Verkaufsveranstaltung begonnen, war dann jedoch irgendwann ausgeartet. Ein paar Freundinnen und Nachbarinnen waren ganz begeistert von Nellas neuesten Artikeln gewesen, und ihr stand womöglich eine große Karriere als Vertreterin bevor. Bloß hatte sie Angst, ihre Schwester könnte entdecken, was genau sie da verkaufte. Bisher hatte sie ihrer Familie gegenüber nur vage behauptet, sie sei jetzt in der Spielzeugbranche.
»Nein«, sagte Karen. »Lass gut sein, ich komme zu dir.«
Warum, war Nella ein Rätsel. Bei den paar Gelegenheiten, zu denen Karen sie besucht hatte, war ihre Nase die ganze Zeit lang gerümpft gewesen.
»Wieso verbringst du den Tag nicht mit deiner Familie?«, erkundigte sie sich vorsichtig.
»Torben ist beim Golf, Maximilian probt mit seiner Band, Katharina ist auf einem Geburtstag.«
Sie fand, das klang ein bisschen einsam. Bevor sie sich nach Hund, Katze und Meerschweinchen erkundigen konnte, unterbrach Karen die Verbindung. Offensichtlich zog sie die Gesellschaft ihrer kleinen Schwester der ihrer Haustiere vor. Was womöglich schmeichelhaft für sie war.
In den nächsten Minuten verwandelte Nella sich in einen Wirbelwind. Zwischen Karens Zuhause und ihrem eigenen lagen rund zwanzig Kilometer. An einem verkehrsarmen Sonntagnachmittag würde sie in einer guten halben Stunde klingeln.
Achtundzwanzig Minuten später überlegte Nella noch, ob sie schnell unter die Dusche springen konnte, da hörte sie auch schon Karens energische Schritte im Hausflur. Der Linoleumboden ächzte geradezu unter ihren Absätzen.
Nella riss die Tür auf. »Hast du neuerdings einen Privathubschrauber?«
»Sei nicht albern«, gab Karen trocken zurück, schob sie einfach zur Seite, trat ein und rümpfte die Nase.
Prima, dachte Nella. Der Sonntag war definitiv im Eimer.
Schon unter günstigen Bedingungen fühlte sie sich neben Karen minderwertig – also selbst dann, wenn sie top gestylt war. Aber heute, im alten Jogginganzug und mit ungewaschenen Haaren, hätte sie kein Mensch für Schwestern gehalten. Karen war blond, blauäugig, groß, gertenschlank, immer gut geschminkt und elegant gekleidet.
Nella war zwar auch blond, allerdings ging ihre Farbe eher ins Aschige. Und im Gegensatz zu Karens Haaren standen ihre wild vom Kopf ab, wenn sie nicht mindestens eine halbe Stunde mit dem Glätteisen bearbeitet wurden. Ihre großen braunen Augen waren vielleicht das Schönste an ihr. Ansonsten war sie klein und schlank. Also, manchmal schlank und manchmal nicht. Derzeit eher nicht. Sie neigte dazu, Kummer mit Essen zu kompensieren, was wenig originell war. Zwar gab sie sich keinen Fressattacken hin. Aber sie naschte gern, und wenn sie keiner liebte, dann eben auch ein bisschen öfter.
Karen riss den rechten Arm hoch. Erst jetzt entdeckte Nella den Blumenstrauß in ihrer Hand. »Hier. Für dich. Aus meinem Garten.«
Als sie den Strauß entgegennahm, das Papier abwickelte und ein halbes Dutzend herrlicher sattgelber Osterglocken erblickte, war sie gerührt. Ihre Schwester hatte sich daran erinnert, dass dies ihre Lieblingsblumen waren.
»Stehen als Einzige jetzt in Blüte.«
Oder auch nicht.
»Die Krokusse sind schon verwelkt, außerdem passen die nicht so gut in eine Vase. Die Tulpen brauchen noch eine Woche. Du hast doch hoffentlich eine?«
»Äh, ja, natürlich.« Nella überlegte fieberhaft, während sie an den satt duftenden Blumen schnupperte. Zum Glück fiel ihr ein, dass Karen höchstselbst ihr einmal eine Vase geschenkt hatte. Ein recht hässliches Teil, das sie tief im Kleiderschrank versenkt hatte.
Schnell lief sie in ihr winziges Schlafzimmer, kramte eine Weile im Schrank herum und kehrte mit der Vase in der einen und dem Strauß in der anderen Hand zurück.
Karen stand immer noch da. Sie hatte sich keinen Millimeter gerührt. Auf einmal rollte eine Welle der Zärtlichkeit über Nella hinweg. Karen mochte manchmal schroff sein, aber sie war nun mal ihre Schwester.
»Vielen Dank«, sagte sie inbrünstig. »Das ist wirklich sehr, sehr nett von dir.«
»Denk dran, sie nicht mit anderen Blumen zusammen ins Wasser zu stellen. Die werden nämlich vom Saft der Osterglocken vergiftet.«
Nella nickte nur.
»Wo ist denn dein halb verhungerter Freund?«, fragte Karen dann mit einem halben Grinsen.
»Wer?«
»Na, dieser Spargeltarzan, der mir bei meinem letzten Besuch seine Hühnerbrust gezeigt hat.«
Ach ja. Florian. In die Hose hatte er es damals geschafft. Ins Hemd nicht.
»Der ist Vergangenheit.«
Ihre Schwester hob eine perfekt gezupfte Augenbraue. »Tatsächlich? Das hast du ja gar nicht erzählt.«
»Wozu auch.« Nella kicherte ein bisschen, und ihre Schwester tat es ihr gleich.
Aufmerksam ließ Karen den Blick durchs Zimmer wandern. Entweder fragte sie sich, ob gleich ein anderer Liebhaber unter dem Sofa hervorkriechen würde, oder sie suchte nach einer Sitzgelegenheit, die ihren weißen Leinenrock nicht ruinieren würde.
»Wann hat er dich denn verlassen?«, hakte sie nach. Karen ging grundsätzlich davon aus, dass die Männer Nella sitzenließen.
»Kurz vor Weihnachten. Aber ich war es, die sich von ihm getrennt hat.« Nachdem er sie zweimal betrogen hatte, doch das musste sie hier und jetzt nicht unbedingt ausplaudern.
Nun lächelte Karen. »Du hast bestimmt deine Gründe gehabt.«
»Ja.« Sie hatte Florian ziemlich eindeutig die Tür vor der Nase zugeknallt. Gern hätte sie ihm vorher noch einen Handkantenschlag verpasst, nur leider beherrschte sie kein Karate.
Kurz überlegte sie, Karen von ihrer Enttäuschung zu erzählen, entschied sich jedoch dagegen. Die Vergangenheit war vergangen. Es hatte keinen Sinn, sie erneut ans Tageslicht zu zerren.
Also fragte sie nur: »Möchtest du einen Tee?«
»Gern.« Ihre Schwester folgte ihr in die winzige Küche. Dort sah es weniger ordentlich aus als im Wohnzimmer, und Karen lehnte sich vorsichtig gegen den Türrahmen, während Nella zunächst die Osterglocken versorgte, dann Wasser zum Kochen brachte und schließlich Teebeutel in zwei Becher hängte.
»Was macht denn der tolle Torben?«, fragte sie über die Schulter.
»Du sollst ihn doch nicht so nennen.«
Nella grinste in sich hinein. Es machte ihr Spaß, ihre Schwester mit ihrem perfekten Ehemann aufzuziehen – ein großer, sportlicher Traumtyp mit fein gemeißelten Gesichtszügen und vollem Haupthaar, das auch mit Anfang vierzig noch keine grauen Strähnen aufwies. Außerdem ein hochintelligenter Mann und von bester Abstammung.
Nella hegte den Verdacht, dass Karen ihn nur wegen seines Namens geheiratet hatte. Torben von Tannenberg. Klang adlig, war er aber nicht. Doch immerhin entstammte er einer alteingesessenen Familie, und irgendein Vorfahr hatte die weiße Villa auf den Süllberg gesetzt, als dort noch Schafe und Kühe geweidet hatten.
Karen und Torben hatten sich im Medizinstudium kennengelernt. Inzwischen führten sie gemeinsam eine Praxis für Kinderheilkunde am Mittelweg im vornehmen Stadtteil Harvestehude.
Nella seufzte lautlos und gestand sich ein, dass sie ein bisschen neidisch war. Sie goss kochendes Wasser in die Becher, ließ den Tee zwei Minuten lang ziehen und tat dann je zwei Stück Kandiszucker hinzu. Als sie sich umdrehte und Karen einen Becher reichte, war sie überrascht.
Ihre Schwester stellte nicht mehr diesen zufriedenen Gesichtsausdruck zur Schau, den Nella jedes Mal entdeckte, wenn es um Torben ging. Vielmehr glaubte sie, in ihren Augen einen Hauch von Unsicherheit, ja, beinahe von Traurigkeit zu entdecken.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich vorsichtig. In diesem Moment vergaß sie die Spannungen, die zwischen ihnen beiden herrschten, seit sie in die Pubertät gekommen war. Ihr Herz flog Karen zu, und am liebsten hätte sie diese in die Arme genommen.
Ihre Schwester schlug den Blick nieder und starrte angestrengt auf den Boden. Unwillkürlich überlegte Nella, wann sie das letzte Mal die Küche gewischt hatte. Musste schon eine Weile her sein, da sie sich nicht daran erinnern konnte.
»Karen«, sagte Nella sanft und hoffte, sie würde wieder hochsehen. Tat sie nicht, stattdessen tropfte etwas in ihren Teebecher. Tränen etwa?
Nella war fassungslos. Ihre Schwester hatte noch nie geweint. Nicht mal, als ihr Vater die Familie verlassen hatte. Sie war nur furchtbar wütend gewesen und hatte Nella die Schuld an allem gegeben.
»Hat der tolle Torben eine andere?«, fragte sie, da sie mit dem Thema seit Florians Untaten nur zu gut vertraut war.
Urplötzlich straffte ihre Schwester die Schultern und hob den Kopf.
»Rede keinen Unsinn. Torben und ich sind glücklich. Sehr sogar. Maximilian und Katharina auch.«
Nella fand zwar, es klang merkwürdig, dass Karen das Glück ihres fünfzehnjährigen Sohnes und ihrer sechsjährigen Tochter betonte, hielt aber wohlweislich die Klappe und setzte sich auf einen der klapprigen Küchenstühle.
»Möchtest du Kuchen oder Kekse?«, fragte sie, hoffend, dass Karen wie gewohnt ablehnen würde. Sie war sich nämlich nicht sicher, ob sie noch irgendetwas Essbares im Haus hatte.
»Nein, ich muss gleich wieder gehen.« Offenbar hatte ihr Moment der Schwäche Karen durcheinandergebracht.
»Du wolltest mit mir über Opa Otto reden«, warf Nella schnell ein.
»Ach ja. Also, wir sollen allesamt Karfreitag in Friedrichskoog antanzen.«
»Mama und Papa auch?«, fragte sie verwundert.
»Natürlich nicht. Du weißt, dass Opa Otto sich mit seiner Ex-Schwiegertochter noch nie vertragen hat.«
Das stimmte. Ihre Mutter Thelma war ihm immer zu forsch gewesen, zu modern, zu karrierebewusst. Dass sie trotz zweier Töchter ihr Medizinstudium durchgezogen hatte und inzwischen Chirurgin an einer Berliner Klinik war, imponierte ihm nicht weiter. Opa Otto glaubte zwar an die freie Liebe, aber nicht unbedingt an das Recht auf Selbstverwirklichung der Frauen.
»Und Papa ist zu weit weg«, fuhr ihre Schwester fort, obwohl Nella das natürlich selbst wusste. »Der kommt bestimmt nicht von Teneriffa angeflogen.«
»Und du und der t …, also, du und Torben, ihr werdet hinfahren?«
»Ja«, erwiderte Karen. »Ich finde die Idee eigentlich ganz schön. Es wird uns guttun, als Familie mal den Alltag hinter uns zu lassen.«
Da war er wieder, dieser flüchtige traurige Ausdruck in ihren Augen. Nella beschloss, nicht darauf einzugehen. Karen hatte sich ihr schon seit vielen Jahren nicht mehr anvertraut und sah in ihr bloß die kleine Schwester, die zu doof war, ihr Leben zu meistern.
»Opa hat gesagt, du sollst unbedingt auch kommen.«
Das freute Nella mehr, als sie zugeben mochte. Ihren Opa Otto hatte sie immer geliebt, obwohl er ein bisschen seltsam war. Na, vielleicht gerade deshalb.
»Er hat nämlich etwas Wichtiges mit uns zu besprechen«, fuhr Karen fort. »Das hat er sogar zweimal wiederholt.«
»Ach ja? Und was?«
»Damit wollte er am Telefon nicht rausrücken. Er meinte nur, es gibt ein Geheimnis in unserer Familie, das gelüftet werden muss. Hast du eine Ahnung, wovon er redet?«
»Absolut nicht«, entgegnete Nella und spürte, wie ihr Gesicht ganz heiß wurde. Panisch fragte sie sich, wie ihr Opa Otto im gut hundert Kilometer entfernten Friedrichskoog das bloß herausgefunden haben konnte. Wie sollte sie ihm jemals wieder unter die Augen treten? Andererseits war ihr Großvater bekanntlich ein Freigeist.
»Ich glaube«, meinte Karen, »es geht um die Scheidung.«
Vor lauter Erleichterung hätte Nella fast losgelacht. Als ihr Vater die Familie verlassen hatte, war sie vierzehn gewesen. Demnach konnte das Geheimnis nichts mit ihrer heutigen Tätigkeit zu tun haben.
»Hat Opa etwas in der Richtung angedeutet?«
Ihre Schwester schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich kann mir nichts anderes vorstellen. Du etwa?«
»Nein.« Nella wand sich unter dem Blick. Das Thema Scheidung war zwar weniger peinlich, aber letztlich auch nicht viel besser. Karen hatte ihr immer vorgeworfen, sie sei schuld daran gewesen, dass der Vater es bei ihnen nicht mehr ausgehalten hatte. Weil sie in der Pubertät unausstehlich gewesen sei. Inzwischen war sie seit einiger Zeit erwachsen und hatte so ihre Zweifel an dieser Theorie. Aber sie sagte nichts, wie gewöhnlich.
»Na, dann«, meinte Karen endlich. »Wir sehen uns in Friedrichskoog. Oder willst du bei uns mitfahren?«
Das war keine Einladung, also verneinte sie brav.
»Gut.«
»Danke für die Blumen«, sagte sie noch, als ihre Schwester schon zur Tür hinaus war. Kurz schien Karen nachzudenken. »Bis Ostern sind die Blumen natürlich verwelkt, aber wenn du jeden Tag das Wasser wechselst, halten sie vielleicht die ganze Woche. Schaffst du das?«
»Ich gebe mir Mühe.« Der ironische Ton in ihrer Stimme entging Karen völlig.
Kaum hatte ihre Schwester die Wohnung verlassen, rief Nella auch schon ihren Vater auf Teneriffa an. Dank WhatsApp ein kostenloses Unterfangen.
»Nella-Schatz!«, brüllte er. »Wie schön, dass du dich mal wieder meldest!«
Walter Thiessen traute der neuen Technik nicht besonders und sprach stets in einer Lautstärke, als wollte er die Entfernung mit bloßer Stimmgewalt überbrücken. Im Hintergrund hörte Nella leises Meeresrauschen, aber vielleicht waren das auch bloß atmosphärische Störungen. Dennoch verspürte sie eine plötzliche Sehnsucht nach Wellen, Sand und frischer Brise.
»Ich fahre über Ostern nach Friedrichskoog«, erzählte sie, nachdem sie einander versichert hatten, dass es ihnen gut gehe.
»Ach, und ich hatte gehofft, du würdest herkommen!« Er schien ehrlich enttäuscht darüber zu sein, dass sie die Halbinsel an der Nordsee seiner Wahlheimat im Atlantik vorzog.
»Papa«, sagte Nella sanft. »Du weißt, ich kann mir kein Flugticket leisten.« Und er konnte ihr keines bezahlen. Ihr Vater lebte seit gut zehn Jahren mit seiner neuen Partnerin in Puerto de la Cruz. Vera betrieb einen kleinen Souvenirshop, Walter kam mit einer schmalen Rente gerade so über die Runden. Im Gegensatz zu seiner Ex-Frau war er nie besonders ehrgeizig gewesen, und als seine älteste Tochter zur Welt gekommen war, hatte er mit Freuden sein Jurastudium abgebrochen, war Gerichtsdiener geworden und hatte sich um die Familie gekümmert. Das mit dem fehlenden Ehrgeiz hatte Nella mit ihm gemeinsam.
»Schon gut, Schatz. Aber warte mal ab, ich habe eventuell was in Aussicht. Ein Kumpel will mir einen gut bezahlten Job vermitteln. Dann kannst du im Sommer hier Ferien machen.«
Das kannte sie schon. Ihr Vater fand stets irgendwelche Jobs, die aber entweder kein Geld einbrachten oder sich als reines Wunschdenken entpuppten.
Weil sie spüren konnte, wie enttäuscht er war, sagte sie schnell: »Ich habe auch einen neuen Job. Es läuft sogar ganz gut.« Was maßlos untertrieben war, wenn sie an den gestrigen Abend dachte. Sie musste unbedingt Inventur machen.
»So? Und was tust du?«
»Ich verkaufe – ähm – Spielzeug.«
Ihr Vater erwiderte nichts darauf. Wahrscheinlich dachte er, sie würde genau wie er selbst sowieso nie auf einen grünen Zweig kommen. Wie sollte seine nicht sonderlich geschäftstüchtige Zweitgeborene ausgerechnet mit Puppen, Bällen oder Zauberkästen Geld verdienen? Tja, wenn er wüsste!
»Also Friedrichskoog!«, brüllte er.
»Ja.«
»Dann kannst du den Halunken vergessen und wieder mit Hauke Johannsen anbändeln.«
Nella schnappte kurz nach Luft. Ihr Vater war der einzige Mensch, dem sie von Florians Betrug erzählt hatte. Bei ihren diversen Pleiten in Herzensangelegenheiten war er stets auf ihrer Seite gewesen.
»Hauke Johannsen?«, hakte sie nach und runzelte die Stirn. »Wer ist das denn?« Irgendwo in ihrem Hinterkopf meldete sich eine vage Erinnerung, aber sie bekam sie nicht zu fassen.
»Das weißt du nicht mehr?« Walter lachte dröhnend. »Ihr wart als Kinder unzertrennlich. Jedes Mal, wenn wir die Sommerferien im Dithmarscher Land verbracht haben, wolltest du nur mit ihm spielen.«
Dunkel entsann sie sich eines molligen Jungen mit Brillengläsern, dick wie Flaschenböden, der mit ihr im Watt nach Muscheln gesucht und auf den Salzwiesen die Schafe an den Ohren gezogen hatte.
»Aha. Der Hauke. Den habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.«
»Das ist unwichtig. Ich habe immer gedacht, dass ihr zwei perfekt füreinander geschaffen seid.«
»Papa, wir waren Kinder.«
»Na und? Du siehst ja, was passiert ist, nachdem du ihn nicht genommen hast.«
Als sie daraufhin schwer beleidigt verstummte, entschuldigte er sich sofort. »Die Männer, die du bisher kennengelernt hast, haben nichts getaugt, Nella-Schatz. Das ist aber bestimmt nicht deine Schuld.«
»Wenn du meinst.« Sie verzichtete darauf, ihn an ihren Freund Timo zu erinnern. Der war nämlich ein richtig netter Kerl gewesen – solide, herzensgut und bereit, mit ihr eine Zukunft aufzubauen. Nella hatte sich auch total viel Mühe gegeben. Sogar volle sechs Monate lang. Sie hatte mindestens so perfekt sein wollen wie ihre Schwester. Sogar einen Job in einer Tierarztpraxis hatte sie gefunden und sich dort so gut gemacht, dass man ihr einen Ausbildungsplatz angeboten hatte. Damals war alles wunderbar. Bloß, dass sie irgendwann in ihren Bemühungen nachließ. Sie kochte nicht mehr so oft für Timo, sie zog mal wieder mit Freundinnen um die Häuser, war nicht immer gut gelaunt, wenn er zu ihr kam. Und der Gedanke, mit ihm zusammenzuziehen, machte ihr Angst. Schließlich wurde sie von ihm sitzengelassen. Sie sei ihm zu ruhelos, sagte er, für ihr Alter viel zu unreif.
Dabei war sie zu dem Zeitpunkt erst achtundzwanzig gewesen! Ein bisschen hing ihr die Sache mit Timo immer noch nach. Seitdem hatte sie sich jedenfalls ausschließlich den einen oder anderen Mann angelacht, der noch weniger vertrauenswürdig war als sie selbst.
»Bist du noch dran?«, schrie Papa.
Vor Schreck machte sie einen kleinen Satz zur Seite und hielt dann das Handy weit weg vom Ohr. »Ja, bin ich.«
»Also, Hauke. Grüß den mal schön von mir.«
»Äh … okay.«
Sie sah immer noch den dicken strohblonden Jungen vor sich. Dunkel meinte sie sich zu erinnern, dass er einmal versucht hatte, sie zu küssen. Es hatte sich angefühlt, als würde ihr ein schleimiger Prielwurm über die Lippen schlüpfen. Igitt!
Nach der Trennung ihrer Eltern war sie nicht mehr so oft an die Küste gefahren, und Hauke hatte sie tatsächlich nie mehr wiedergesehen. Hatte ihr auch nicht gefehlt, und als Opa Otto erzählt hatte, er sei zum Studium nach Bremen gezogen, war ihr das absolut gleichgültig gewesen.
»Weiß mein verrückter Vater eigentlich schon von seinem Glück?«
»Was?«, fragte Nella, in Gedanken immer noch bei ihrem Freund aus Kindertagen.
»Na, von deinem Besuch.«
»Ach so, klar. Er hat uns ja eingeladen. Oder befohlen zu kommen, das passt besser.«
»Uns? Wer soll das sein?« Auf einmal schwang Panik in seiner Stimme mit.
»Karen mit ihrer Familie und ich.«
»Nanu?« Das kam jetzt leiser, und Nella konnte regelrecht hören, wie ihr Vater scharf nachdachte. Er gab dann immer so kleine Grunzlaute von sich.
»Hat er denn einen Grund genannt?«, fragte er nach einer ganzen Weile.
»Er ist sauer, weil ihn niemand zu Weihnachten eingeladen hat.«
»Ich schon«, warf ihr Vater ein. »Zweimal sogar. Aber Otto hat steif und fest behauptet, einen so langen Flug könne er nicht überstehen, wenn er zwischendurch keinen Joint rauchen darf.«
Nella lachte. Typisch Opa Otto.
»Außerdem war er nicht bereit, sein Ticket selbst zu zahlen. Und ins Hotel wollte er auch nicht. Aber bei Vera und mir ist nun mal wenig Platz.«
In Wahrheit, das ahnte sie, hatte die Lebensgefährtin ihres Vaters sich rundheraus geweigert, den »bekloppten Alten«, wie sie ihn zu nennen pflegte, bei sich zu beherbergen.
»Na ja«, sagte Nella langsam. »Unser Opa schwimmt auch nicht gerade im Geld.«
»Von wegen! Er besitzt ein altes Bauernhaus in Friedrichskoog-Spitze und dazu noch ein paar hübsche Wiesen.«
»Aber er würde niemals verkaufen, das weißt du doch.«
»Für wen auch immer er das Erbe bewahren will«, brummte Walter.
»Für dich, Papa, für wen denn sonst?«
Ihr Vater erwiderte darauf nichts und fragte nur noch mal nach: »Sonst gibt es keinen Grund für dieses Familientreffen?«
»Ich weiß nicht genau. Karen sagt, er wolle uns irgendwas Wichtiges mitteilen. Hast du eine Ahnung, worum es da gehen könnte?«
»Nicht die geringste.«
Seltsam, dachte Nella. Ihr Vater war einer der ehrlichsten Menschen, die sie kannte, aber in diesem Augenblick beschlich sie das eindeutige Gefühl, dass er sie anlog.
Er hatte es auch auf einmal ziemlich eilig, das Telefonat zu beenden.
»Wenn das man gut geht«, sagte er nur noch. Es klang wie ein äußerst düsteres Orakel.
Sie schaffte es gerade noch, ihm zu versprechen, dass sie ihn Ostern wieder anrufen würde. Vielleicht zusammen mit Opa Otto, Karen und ihrer Familie auf Skype.
»Schauen wir mal«, erwiderte Papa vage, was sie noch seltsamer fand. Normalerweise freute er sich, sie zu sehen, und betonte immer wieder, wie schön es doch sei, dass die Technik solche virtuellen Familientreffen möglich mache.
Er unterbrach das Gespräch, bevor sie noch etwas fragen konnte.
Frechheit! Zum zweiten Mal an diesem Sonntag wurde sie einfach weggedrückt. Nachdenklich rieb sie sich über die Stirn. Was war eben bloß mit ihrem Vater los gewesen? Fast hätte man meinen können, er hätte Angst vor dem, was Opa Otto ihnen mitteilen würde.
Aber das war natürlich Quatsch. Familie Thiessen hatte keine Leichen im Keller, bloß ein schwarzes Schaf, das sich ehrlich bemühte, so weiß wie die anderen zu werden. Sie selbst nämlich.
Zum Glück teilte sie sich diese Rolle mit ihrem Großvater. Kurz überlegte Nella, ihn anzurufen, ließ es aber bleiben. Otto telefonierte nicht gern, und ein drittes abrupt beendetes Gespräch hätte ihr ohnehin schwaches Selbstvertrauen dauerhaft geschädigt.
Als es an der Tür klingelte, staunte sie. Normalerweise bekam sie nicht viel Besuch. Der gestrige Abend war eine Ausnahme gewesen. Also entweder fand Karen auf einmal Spaß daran, zwischen dem Süllberg und Hamburg-Hamm hin- und herzufahren, oder eine Nachbarin brauchte etwas.
Auf die dritte Möglichkeit wäre sie im Leben nicht gekommen.
»Du?«, fragte sie und klang nicht besonders intelligent. Verzeihlich, fand sie.
Der Besucher schenkte ihr sein schönstes Lächeln. Damit hatte er sie einmal erobert, und auch jetzt wurden ihre Knie weich.
»Hallo, Süße. Du siehst toll aus!«
Komplimente konnte er auch gut verteilen, sogar, wenn sie glatt gelogen waren. Nella wusste genau, welches Bild sie abgab. Übernächtigt, ungekämmt, ungeschminkt und ein bisschen familiengeschädigt.
Der Besucher zwinkerte ihr zu, und sie krallte unauffällig die Fingernägel ihrer rechten Hand in den Türrahmen, damit sie dem Mann bloß nicht um den Hals fiel. Sie überlegte, wie lange sie keinen Sex mehr gehabt hatte. Zwei Monate, mindestens. Für eine Frau Anfang dreißig eine verdammt lange Zeit.
»Spargeltarzan«, flüsterte Karen in ihrem Kopf. Das half ein bisschen.
»Halunke«, setzte Papa aus weiter Ferne hinzu. Das half auch.
Hätte sie wenigstens nach Weihnachten noch Karate gelernt, wäre die Sache schnell erledigt gewesen. So jedoch konnte sie nur so unwirsch wie möglich fragen: »Was zum Teufel willst du hier?«
»Na, na«, erwiderte Florian sanft. »Am Tag des Herrn sollte man den Namen des Antichristen nicht in den Mund nehmen.«
»Hä?«
Florians Hang zur Ironie hatte ihr noch nie gefallen.
Immerhin. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle und konnte den Türrahmen loslassen. Dann drehte sie sich um und marschierte zurück in ihr Wohnzimmer.
Die Hoffnung, er würde sich einfach entmaterialisieren, erfüllte sich nicht. Er folgte ihr und machte es sich auf dem Sofa gemütlich. Ganz so, als wäre er hier zu Hause. War er ja auch mal gewesen.
Schon kurz nach ihrem Kennenlernen auf einem Rockfestival letzten Sommer hatte er ihr gestanden, dass er derzeit etwas knapp bei Kasse sei. Leider habe er seinen Job als Barkeeper verloren und seine Wohnung gleich dazu. Tatsächlich müsse er im Auto schlafen, wenn er nicht bei Freunden unterkäme. Und er hatte ihr auch gestanden, dass er sich ein bisschen vor dem Herbst und den kälteren Temperaturen fürchtete.
Eigentlich hatte sie da schon genug von ihm gehabt. Ihrer Meinung nach sollte Magie entstehen, wenn zwei Menschen sich ineinander verliebten. Unbezahlte Rechnungen und prekäre Lebenssituationen waren verlässliche Killer dieser Magie. Aber Nella hatte es nicht übers Herz gebracht, ihn seinem grausamen Schicksal zu überlassen. Er war doch ihr Seelenverwandter, hatte sie gedacht. Bis sie gemerkt hatte, dass er nur ein Schmarotzer war. Im Grunde war ihr sein Fremdgehen kurz vor Weihnachten gerade recht gekommen. So hatte sie einen guten Grund gehabt, ihn rauszuwerfen.
»Was willst du?«
Er sah sie aus seinen teddybärbraunen Augen an. »Das frage ich dich, Süße.«
Hm, dachte sie, er ist offenbar nicht bei Sinnen.
»Wie meinst du das?«
»Kleine Erinnerungslücke?«, fragte er zurück.
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Aber ich.«
»Jetzt rück endlich raus mit der Sprache!«
Florian lehnte sich entspannt zurück. »Du hast mich gestern Nacht angerufen, weißt du nicht mehr?«
Ihr Blick erklärte ihm wohl, dass es doch ein paar Erinnerungslücken gab.
»Bisschen gefeiert, was?«, fragte er augenzwinkernd. »Wo ich so drüber nachdenke, hast du tatsächlich angeheitert geklungen. Na, jedenfalls, sollte ich auf der Stelle herkommen und mit dir Sex haben. So lautete dein Befehl.«
»Nein, unmöglich.«
»Doch. Du hast gesagt, nichts sei so gut wie die Natur.«
»Nie im Leben!«
»Ich schwöre.« Florian hielt sein Handy hoch. »Gleich danach hast du mir auch noch eine Sprachnachricht geschickt. Willst du mal hören?«
Herr im Himmel!
»Nein, danke.«
Er lachte, und Nella hatte ein wenig mit ihrem festen Stand zu kämpfen.
»Nun, da bin ich, Süße. Ich wollte dich erst mal in aller Ruhe deinen Rausch ausschlafen lassen.«
Weil ihr keine Erwiderung einfiel, schwieg sie.
Florian machte sich derweil eifrig an seiner Jeans zu schaffen.
»Untersteh dich!«, brüllte sie so laut, dass er zusammenzuckte. Was ihr Vater konnte, das konnte sie schon lange.
»Schade«, meinte Florian und grinste schief.
Seltsamerweise sehnte Nella sich auf einmal nach Timo. Er war ein guter, verlässlicher Mann gewesen. Einer, an dessen Schulter sie sich geborgen gefühlt hatte, bis ihr langweilig geworden war. Was aus ihrem Kinderfreund Hauke wohl für eine Sorte Mann geworden war? Ein sexy Parasit wie Florian oder ein humorloser Fels in der Brandung? Und wieso musste sie jetzt überhaupt an ihn denken? Daran war allein ihr Vater schuld! Außerdem war sie von den Ereignissen dieses Sonntagnachmittags definitiv überfordert.
»Am besten, du verschwindest gleich wieder«, sagte sie entschlossen. Dazu setzte sie ein möglichst böses Gesicht auf.
»Okay«, erwiderte Florian gedehnt und stand auf. »Ich geb’s auf. Aber ruf mich in Zukunft nicht mehr mitten in der Nacht an.«
»Niemals«, versprach sie und nahm sich vor, augenblicklich seine Nummer zu löschen. Warum hatte sie die überhaupt noch? Ach ja, Florian schuldete ihr ein paar hundert Euro.
»Gibt es irgendeine Chance, dass ich meine Kohle wiederkriege?«
Er zuckte die Schultern. »Sorry. Ich bin zurzeit etwas knapp bei Kasse.«
Zurzeit. Ja, klar.
Sie wies mit dem ausgestreckten Arm zur Tür. Er ging, ohne zu murren.
»Auf Nimmerwiedersehen«, sagte sie, als sie hinter ihm abschloss. Dabei wunderte sie sich über sich selbst. Ausgerechnet Florian hatte sie angerufen? Hätte es da keine bessere Wahl gegeben?
Leider nein, musste sie jetzt mit völlig nüchternem Kopf feststellen. Ihr Liebesleben lag absolut brach.
Vielleicht war ein kleiner Urlaub in Friedrichskoog keine schlechte Idee. Sie würde sich den frischen Wind um die Nase wehen lassen und den Kopf freibekommen. Ihr neues Geschäft musste halt so lange ruhen.
Oder … Nella grinste plötzlich. Warum nicht wenigstens den Präsentierkoffer mitnehmen? Auf dem platten Land gab es bestimmt genügend interessierte Kundinnen.
Am Ende fuhr Nella doch gemeinsam mit Karen und ihren Lieben nach Friedrichskoog. Torben habe darauf bestanden, verkündete ihre Schwester. Man wolle als Familie auftreten, wo es eventuell etwas Wichtiges zu besprechen gab, eine Erbschaft womöglich.
Nella leuchtete die Erklärung nicht ganz ein, aber sie war einverstanden. Wobei ihr seit Tagen das alte Heimatlied nicht mehr aus dem Kopf ging:
Wo de Nordseewellen trecken an den Strand,
wo de geelen Böme bleuhn int gröne Land,
wo de Möwen schrieen gell int Stormgebrus,
dor ist mine Heimat, dor bün ick to Hus.
Die Vorstellung von spülenden Nordseewellen, blühenden gelben Bäumen und im Sturmgebraus schrill schreienden Möwen wurde ihr langsam unheimlich. Sie empfand Friedrichskoog nämlich keineswegs als ihre Heimat und verstand nicht, warum der Ohrwurm sie so plagte. Also hoffte sie, zusammen mit Karen und ihrer Familie auf andere Gedanken zu kommen.
Sie saß an diesem Karfreitagmorgen auf der Rückbank von Torbens Nobelkutsche, leicht eingeklemmt zwischen Neffe und Nichte, weil sich Maximilian aus unerfindlichen Gründen ungebührlich breitmachte. Zuvor hatte sie sich eine Schimpftirade von Karen über ihr Gepäck anhören müssen. So eine große Reisetasche? Und dazu noch zwei prall gefüllte Kleidersäcke? Wie lange wolle sie den fortbleiben? Ein Jahr? Und dieser eckige pinkfarbene Koffer? Was sei denn da wohl drin? Ihr gesamtes Schminkzeug? Wollte sie etwa als Vogelscheuche an der Nordseeküste einfallen? Nella hatte eine Entschuldigung gemurmelt und sich nach hinten verkrümelt. Maximilian hatte nach einem knappen Gruß seine Kopfhörer wieder aufgesetzt, und sie fragte sich, wie er den Krach bloß aushielt. Bässe und Beats waren so laut, dass sie alles gut mithörte.
Na, dachte sie, wenigstens trecken die Nordseewellen jetzt nicht mehr so rhythmisch an den Strand. Sie mochte Maximilian gern, auch wenn er mitten in der Pubertät steckte und die ganze Welt uncool fand. Das war normal. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie sich damals gefühlt hatte. Sein wahres Wesen war ausgesprochen liebenswert, und Nella wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis es wieder zum Vorschein kommen würde. Im Augenblick fühlte er sich eben selbstsicher, wenn er sich unnahbar gab.
Äußerlich kam Maximilian ganz nach seinem Vater. Sein Haar war dunkel und voll, wies neuerdings aber diesen modischen Schnitt auf, den Nella ziemlich hässlich fand. Oben eine Tolle und an den Seiten fast kahl rasiert. Er würde auch mindestens so groß wie sein Vater werden, und sein Gesicht zeigte bereits dessen markante Züge, wobei es von einigen Pickeln verunstaltet war. Schon bald, davon war Nella überzeugt, würde er so manches Mädchenherz brechen.
Ihre Nichte Katharina liebte Nella geradezu abgöttisch. Vom Aussehen her war sie ein kindliches Abbild von Karen, besaß ein großes Herz und liebte Tiere über alles. Genau wie Nella selbst als Kind. Und Karen auch. Außerdem war Katharina immer fröhlich. Fast immer. Während sie Hamburg in Richtung Nordwesten verließen, verzog die Kleine kummervoll die Mundwinkel nach unten.
»Es geht ihm gut«, sagte Nella zum ungefähr hundertfünfzigsten Mal und meinte damit das Meerschweinchen, das Katharina in einem Reisekäfig auf ihrem Schoß hielt.
»Aber es ist so eng da drin, und Herr Schmidt ist es gewohnt, frei in seinem Zimmer rumzulaufen«, erwiderte ihre Nichte weinerlich. Warum das dunkelbraune Meerschweinchen Herr Schmidt hieß, wusste Nella nicht, zumal es, wie Karen behauptete, ein Mädchen war.
»Weißt du«, erwiderte sie zögernd auf der Suche nach den richtigen Worten, »ich glaube, das macht ihm … ähm … ihr gar nichts aus. Siehst du? Er … sie ist ganz entspannt.«
Katharinas Augen wurden groß. »Warum redest du so komisch?«
»Na ja, ich bin mir nicht sicher, ob das Meerschweinchen ein Er oder eine Sie ist.«
»Du bist aber dumm, Tante Nella. Papa heißt Herr von Tannenberg, und er ist doch auch ein Er.« Katharina grinste sie an, und Nella grinste zurück.
Torben, der wohl nicht gern mit einem Meerschweinchen auf eine Stufe gestellt wurde, stieß hinter dem Steuer einen kleinen kehligen Laut aus und fing sich einen mahnenden Seitenblick von seiner Frau ein. Allerdings zuckten seine Schultern verdächtig, und Nella ahnte, er unterdrückte einen Lachanfall.
»Hoffentlich geht es Struppi und Missy gut«, sorgte sich Katharina weiter. Das waren wenigstens normale Namen für einen Hund und eine Katze.
Karen drehte sich halb nach hinten um. »Du weißt, dass Rosa sich gut um sie kümmern wird.«
Rosa war die polnische Haushälterin der von Tannenbergs. Nella hatte von ihrer Existenz noch nichts gewusst und war schwer beeindruckt gewesen, als sie die energische Frau mittleren Alters vor einer Stunde in der Villa kennengelernt hatte.
»Hast du auch eine Haushälterin?«, fragte Katharina nun und vergaß vorübergehend ihre Sorgen um die geliebten Vierbeiner.
»Nein«, gab Nella zurück. »Meine Wohnung ist nicht so groß wie euer Haus, weißt du.«
»Und du hast keine Kinder. Da brauchst du ja auch keine Hilfe.« Sie sagte es ohne jegliche Bosheit, dennoch versetzte es Nella einen Stich.
»Katharina«, mahnte Karen streng und wandte sich erneut zu ihnen um. »Sei nicht so vorlaut.«