Zum Buch
Eine Stimme, so glockenrein und klar, wie es sie selten gab, wehte zu ihm herüber. Fasziniert lauschte Thór in den Abend. Die Melodie war ihm nicht fremd, aber auf diese Weise hatte er sie noch nie gehört. Wie gebannt folgte er der Stimme und fand eine Elfe. Sie lag mit geschlossenen Augen im Wasser, die herrlichen Haare ausgebreitet wie ein Fächer. Von ihrem einzigartigen Gesang vollkommen verzaubert ließ er sich auf einem Felsen nieder.
Im schwachen Licht der Laternen glaubte er, rotes Haar zu erkennen und ein blasses, sommersprossiges Gesicht, aber das konnte ebenso gut Einbildung sein, denn sie glich auf erstaunliche Weise der seiner Fantasie entsprungenen Muse, für die er all die Songs geschrieben hatte, bis sie im letzten Jahr über Nacht einfach aus seinem Leben verschwunden war.
Zur Autorin
Kiri Johansson ist schon seit ihrer Kindheit fasziniert von guten Geschichten, von Island und seinen Pferden. Sie hält sich für eine talentierte Handwerkerin, hat in London Fashion History studiert und liebt die Farben des Nordens. In ihrer Freizeit geht sie gern ins Museum, liest oder tanzt bei Sonnenaufgang in ihrem Garten. Mehr über die Autorin unter: www.kiri-johansson.de und www.facebook.com/KiriJohansson.Author
Kiri Johansson
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Dieses Buch ist ein Werk der Fiktion. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sowie tatsächlich existierenden Einrichtungen oder Unternehmen ist rein zufällig und in keiner Weise beabsichtigt.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Originalausgabe 07/2020
Copyright © 2020 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Catherine Beck
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock (Shaiith, Andrew Mayovskyy, lavidaenunpixel)
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-26120-7
V001
www.heyne.de
Für Kerstin
You’ll never walk alone!
Am Ende werde ich einen großen Traum loslassen, um einen neuen zu leben …
Der schrille Ton der Türglocke fuhr durch Isvings Konzentration wie die Splitter eines zerbrechenden Spiegels und ließ sie für einen Augenblick orientierungslos von der Lichtinsel des Küchentischs aus ins Halbdunkel blinzeln.
Wie beinahe jeden Abend, wenn sie auf ihrem Lieblingsplatz am alten Backofen darauf wartete, Brote und Brötchen herauszuholen, hatte sie an einer Geschichte über die magische Welt Islands geschrieben, und es dauerte immer einige Augenblicke, bis sie zurückfand in das, was man gemeinhin als Realität bezeichnete.
In der Saison buk sie morgens, um den Hausgästen ofenwarmes Gebäck servieren zu können. Jetzt im Winter warf sie den Ofen seltener an und erledigte das Backen vor dem Schlafengehen.
Es klingelte erneut. Diesmal klang es dringlicher, und sie fasste sich ein Herz. Sicher, auch wenn es kurz vor Mitternacht war, musste man immer auf späte Reisende gefasst sein, besonders, wenn die Straßen im Winter unwegsam und gefährlich waren wie in den letzten Tagen. Schließlich führte sie eine Pension. So kurz nach Weihnachten verirrten sich allerdings nur wenige Touristen in die Westfjorde. Die beiden einzigen Gäste waren schon vor Stunden nach oben gegangen, und die anderen acht Zimmer ihres Bed & Breakfast standen leer. Den ganzen Tag über war es nicht hell geworden, draußen prasselte seit Stunden der Regen gegen die Scheiben, und deshalb hatte sich auch niemand ins Kaffi Vestfirðir verirrt.
Die Dorfbewohner kamen, wenn überhaupt, an die Hintertür. Es musste ein Fremder geklingelt haben. Einheimische, die nur einen Funken Verstand besaßen, waren bei diesem Wetter nicht freiwillig unterwegs.
Auf dem Weg zum Vordereingang rieb sich Isving über die kribbelnden Arme. »Ja, bitte?«, fragte sie in die Dunkelheit hinein und hielt die Tür ganz fest, damit der Wind sie ihr nicht aus der Hand reißen konnte.
Vor ihr stand ein ziemlich großer, schwarz gekleideter Mann. »Hast du ein Zimmer frei?«
Ein Isländer, kein Tourist. Aus seiner dunklen Stimme glaubte sie, eine Spur Ungeduld herauszuhören. »Hm«, machte Isving. Hierzulande duzte man sich ebenso wie in ihrem Heimatland Dänemark, da hatte sie sich nicht umstellen müssen.
Die Kapuze seines Hoodies hatte er sich tief ins bärtige Gesicht gezogen, obendrein trug er eine Sonnenbrille.
Der Typ hat womöglich nicht alle Tassen im Schrank, dachte sie. Das Klügste wäre, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen.
»Darf ich reinkommen? Es regnet«, fügte er hinzu und nahm die Brille ab, als wäre ihm bewusst geworden, wie er auf sie wirken musste.
»Okay.« Isving trat beiseite. Ob es der klare Blick seiner hellen Augen oder die Andeutung eines Lächelns gewesen waren, die sie dazu bewogen, hätte sie nicht sagen können. Doch sie konnte jede Einnahme gebrauchen, und außerdem wies man in einer solchen Nacht niemandem die Tür. Sie war, wie die meisten Menschen hier im Norden, gastfreundlich. Und das nicht nur, weil sie ein B&B betrieb, sondern weil man in der rauen Natur und auf einsamen Straßen selbst schnell in die Situation geraten konnte, Hilfe zu benötigen.
Andererseits stand sie nun mit einem fremden Mann hier, der sie im schwachen Schein der Nachtbeleuchtung aufmerksam musterte. Um Abstand zu gewinnen, trat sie rasch hinter den Tresen, der auch als Rezeption diente.
»Wie lange möchtest du bleiben?«
»Ich weiß nicht, was hat Kópavík denn zu bieten?«
Isving schluckte ein nicht viel herunter, das ihr schon auf der Zunge gelegen hatte, und zählte auf, wovon Gabrielle den Touristen auf diese Frage jedes Mal aufs Neue voller Begeisterung vorschwärmte: »Nicht weit von hier befindet sich der größte Wasserfall der Westfjorde. Man kann wunderbar wandern und eine der sehr beliebten Whale-Watching-Fahrten direkt von unserem Hafen aus buchen. Es gibt auch ein- oder mehrtägige Reitausflüge …« Sie verstummte und knipste eine Lampe an.
»Ah, ja.« Er hatte die Kapuze abgestreift und blinzelte.
Bei Licht betrachtet wirkte er überhaupt nicht mehr unheimlich. Vor ihr stand ein teuer gekleideter Städter, der sich aus irgendwelchen Gründen ans Ende der Welt verirrt zu haben schien. Bestimmt war er nur auf Stippvisite und nicht an der bei gutem Wetter wirklich sagenhaft schönen Landschaft interessiert, die im Sommer Touristen scharenweise anlockte. Die Leute verschätzten sich oft mit den Fahrzeiten, besonders wenn sie unerfahren waren und sich am Navi orientierten.
»Kópavík hat die einzigen heißen Quellen hier in der Gegend«, fügte sie hinzu. Die Isländer liebten es, darin zu entspannen.
»Wirklich?«
Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, und sprach schnell weiter: »Ich kann ein Zweibettzimmer für zehntausend Kronen anbieten oder eines mit Queensize-Bett. Mit Frühstück kostet es elfeinhalb.«
»Frühstück mit Queen klingt gut«, sagte er und sah sich suchend um. »Jetzt kann man wohl nichts mehr zu essen bekommen?« Mit einer beredten Geste legte er sich die Hand auf den Bauch und schnupperte. »Backst du?«
Sie hätte ihn auf den Kühlschrank hingewiesen, in dem Getränke und kleine Snacks bereitstanden, falls ein Gast in der Nacht hungrig wurde, aber darin befanden sich nur ein paar Erdnüsse.
»Wenn du mit belegten Broten zufrieden bist …«
»Fantastisch!« Das Lächeln ließ seine Augen strahlen.
Sie bat ihn, den Anmeldebogen auszufüllen, nahm einen Zimmerschlüssel vom Haken und lief beschwingt vor ihm die Stufen in den ersten Stock hinauf.
»Der zweite Schlüssel ist für den Eingang am Parkplatz«, sagte Isving im Flüsterton, um die Französinnen nicht zu wecken. Dann öffnete sie seine Zimmertür und knipste das Licht an.
»Wow!«
Mit der Auswahl der Farben, der Dekoration, überhaupt mit der gesamten Inneneinrichtung hatte sie sich nach dem Kauf der kleinen Pension vor zwei Jahren große Mühe gegeben, und Isving freute sich jedes Mal über ein Kompliment ihrer Gäste.
Auch im Sommer, wenn sie Tische und Stühle auf die Veranda stellten, um bei gutem Wetter draußen servieren zu können, zog das blassblau und weiß gestrichene traditionelle Haus auf der Anhöhe am Ortseingang die Blicke auf sich, sodass sie über Besuchermangel nicht klagen konnten. Ihr Konzept mit dem angeschlossenen Laden, in dem sie Andenken und Kunsthandwerk aus der Region verkauften, war ebenfalls aufgegangen und brachte zusätzlich Geld in die Kasse.
»Alles in Ordnung?« Ihr nächtlicher Gast hatte die In-spektion des Zimmers beendet und sah sie aufmerksam an.
»Sicher.«
»Fein. Ich hole nur schnell meine Tasche aus dem Wagen …«
»Du findest mich in der Küche. Immer der Nase nach«, sagte sie mit einer Munterkeit, die sie nicht empfand, und lief schnell hinunter ins Erdgeschoss. Die Brote würden gleich fertig sein.
Das Kühlhaus sah ziemlich leer aus, aber mit Quark und einem frischen Salat, der in einer Geo-Farm nicht weit von hier angebaut wurde, lag sie bestimmt nicht falsch. Und von der Kürbissuppe war auch noch etwas da. Zum Schluss schob sie einen Gemüseflammkuchen in den nun leeren Ofen. Davon lagen immer einige vorbereitet im Gefrierschrank. Er hatte hungrig ausgesehen, und niemand sollte sagen können, man würde im Kaffi Vestfirðir schlecht bewirtet. Anschließend schnitt sie eins der dampfenden Brote auf, damit es schneller abkühlte.
»Ich sterbe vor Hunger.«
Wie er die Schwingtüren aufdrückte, die das Café von der Küche trennten, hatte etwas von einem modernen Kinohelden. Sein Look hätte besser in die kreative Szene Reykjavíks gepasst oder gleich in eine der großen Metropolen, einschließlich der dunklen Haare, die er am Hinterkopf in einem unordentlichen Knoten zusammengefasst trug. Beinahe so wie ihre eigenen roten Locken. Die waren mit Holzspießen festgesteckt, weil ihr das Haargummi gerissen war und sie keine Lust gehabt hatte, extra in ihre Dachstube hinaufzusteigen, um ein neues zu holen. Mit Besuch hatte sie nun wirklich nicht gerechnet, und schon gar nicht mit einem, der eine Flasche Wein aus der Tasche seines Sakkos zog.
»Magst du einen Schluck, oder ist das wie Eulen nach Athen tragen?«
»Überhaupt nicht. Also, die Sache mit den Eulen.« Isving fand, es war eine sympathische Geste, um sich für ihre nächtliche Gastfreundschaft zu revanchieren. »Hinter der Theke sind Gläser, da liegt auch ein Korkenzieher. Ich muss nur schnell den Flammkuchen rausnehmen …«
»Prima. Ich trinke nicht gern allein«, sagte er und stellte die Flasche auf den Tisch.
Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie er den Wein entkorkte und mit einer Drehung aus dem Handgelenk einschenkte. Auf solche Kleinigkeiten achtete sie immer. »Ich bin Isving.« Sie stellte den Flammkuchen auf den Tisch, strich die Schürze glatt und setzte sich.
»Herzlichen Dank für deine Gastfreundschaft«, sagte er und hob sein Weinglas.
Während des Essens erzählte er, dass er Urlaub habe und den Norden erkunden wolle. »Viele kleinere Straßen und einige Pässe sind leider geschlossen. Oben in den Bergen schneit es, und alles ist völlig vereist. Vermutlich war es eine Schnapsidee. Ich hätte im Sommer kommen sollen.«
»Du bist doch aber Isländer?« Sie wunderte sich, dass er über den Zustand der Straßen so wenig zu wissen schien.
»Da bist du nicht die Erste, die mich das fragt. Vermutlich halten mich alle Bewohner der Westfjorde für einen Trottel, aber ich bin als Kind kaum aus Reykjavík rausgekommen, jedenfalls nicht im Winter, und später war ich … viel unterwegs.«
Wie er dabei die Stirn in Falten legte, ließ sie an einen ziemlich zerknirscht blickenden Hund denken. Sie hatte sofort das Gefühl, ihn trösten zu müssen.
Er schenkte Wein nach. »Was hat dich in so eine zugige Ecke der Welt verschlagen?«
»Mehr oder weniger der Zufall. Ich wollte schon immer ein kleines Café oder ein Bed & Breakfast besitzen. Hier habe ich beides gefunden, und obendrein noch eine fantastische Landschaft.«
Sie hatte sich einen Traum erfüllt und sollte glücklich sein, warum nur wurde ihr das Herz so eng bei diesen Worten?
Träume sind Schäume, hörte sie ihre Großmutter unken, wenn sie wahr werden, steht das Schicksal schon bereit, um dir Knüppel zwischen die Beine zu werfen.
Um die Erinnerung abzuschütteln, fragte sie, welchen Weg er von Reykjavík gekommen war.
Kurzweilig erzählte er daraufhin von seinem Kampf gegen die Tücken einsamer Landstraßen und von menschenleeren Orten, in denen die einzigen lebenden Wesen immer in Tankstellen zu sitzen schienen, um dort Hot Dogs essend in einen tonlosen Fernseher zu starren, der unter der Decke hing.
Sie musste lachen, weil es ihr manchmal auch so vorgekommen war. »So gesehen ist in Kópavík mächtig was los.«
»Auf jeden Fall isst man hier viel besser.« Er schob sich ein großes Stück Brot in den Mund und sah sie an. »Ich glaube, ich habe überhaupt noch nie so gut gegessen. Du hast mich vor dem sicheren Hungertod gerettet.«
»Natürlich. Ich bin Köchin, das ist mein Job«, erwiderte sie ebenso ernsthaft. Dann lachten sie beide gleichzeitig los.
Du hast mir definitiv den Abend gerettet, dachte sie später dankbar und griff nach den Tellern, um abzuräumen.
»Warte, ich helfe dir.«
Schnell waren alle Spuren des Mitternachtsmahls beseitigt, und damit kehrte ihre Verlegenheit zurück. Als hätten die Elfen, denen sie manchmal Milch und Brot aufs Fensterbrett legte, ihr nur einen kurzen Ausflug in die Welt selbstbewusster und glücklicher Menschen geschenkt und sie nun wieder in den Alltag voller Schüchternheit und Selbstzweifel zurückgeholt.
Ihr Gast war freundlich, sie hatten sich nett unterhalten, und es gab keinen Grund für dieses lähmende Gefühl. Isving wusste das – theoretisch. Aber gegen ihre Gefühle kam sie häufig einfach nicht an. Manchmal machte sie das regelrecht zornig. Nicht heute, heute machte es sie traurig.
»Frühstück gibt es zwischen acht und zehn.« Ihre Stimme hatte wieder den kühlen Ton angenommen, der sie vor allzu großer Nähe schützen sollte.
»Das ist – früh«, sagte der Mann und lächelte sie an, als habe er von ihrem Stimmungsumschwung nichts mitbekommen.
»Findest du?«
»Ein bisschen später ginge es doch bestimmt auch? Das Bett sieht bequem aus, und hell wird es sowieso erst mittags.«
Sie dachte an all die Dinge, die sie morgen erledigen musste, und sagte strenger als geplant: »Sag mir einfach Bescheid, wenn du so weit bist.«
»Jawoll!«, sagt er schneidig und mit einem Akzent, der vermutlich deutsch klingen sollte.
»Ich bin Dänin«, entgegnete sie sanfter und erreichte damit, dass er verlegen blinzelte.
»Was möchtest du essen? Hering, Lýsi …«
»Lebertran?« Er lachte. »Auf keinen Fall. Eine Scheibe von deinem köstlichen Brot und schwarzer Kaffee reichen mir vollkommen aus. Na gut, gegen Butter dazu hätte ich auch nichts einzuwenden, oder Cerealien«, fügte er hinzu.
»Das lässt sich machen. Melde dich einfach, wenn du wach bist. Gute Nacht.« Hinter ihr lag ein langer Tag, und sie unterdrückte ein Gähnen.
»Gute Nacht und … danke.« Damit verschwand er durch die Schwingtüren, und wenig später hörte sie die Treppenstufen unter seinen Schritten knarren.
Isving sandte Gabrielle noch schnell eine Notiz, dass am Abend ein dritter Hausgast eingetroffen war, der möglicherweise später frühstücken wollte. Dann drehte sie die Lichter aus und ging auf leisen Sohlen den gleichen Weg, den er genommen hatte, an seinem Zimmer vorbei und eine schmale Stiege hinauf in ihre Mansarde unter dem Dach.
Als Isving am frühen Morgen die Gardinen aufzog, bemerkte sie eine Gestalt am Haus der Freundin. Im Schein der Laternen sah sie einen Mann schnell hinter dem Felsvorsprung am Hang verschwinden. Wenig später durchschnitt Scheinwerferlicht die Dunkelheit, und sie blickte dem großen Geländewagen nach, der langsam den Weg Richtung Kópavík entlangrollte. Wen mochte Gabrielle diesmal abgeschleppt haben?
Um das Seelenheil ihrer Schwägerin und Geschäftspartnerin machte sie sich keine Gedanken. Beide waren sie erwachsen und konnten tun oder lassen, was sie wollten. Aber Gabrielle lebte aus einem besonderen Grund in der hübschen Kate etwas weiter oben am Hang, während Isving ziemlich beengt unterm Dach der Pension schlief: Lili, ihre Tochter, die seit letztem Sommer die vierte Klasse der Grundschule besuchte.
Mit einem Seufzer zog sie ihr Handy hervor. Natürlich. Gegen vier war eine Nachricht hereingekommen: Bon jour, ma chère. Könntest du bitte Lili heute in die Schule bringen? Ich übernehme die Spätschicht.
Es gab im Winter keine Spätschicht, und außer Katla und Ursi, die manchmal aushalfen, hatten sie keine weiteren Mitarbeiterinnen. Die hätten sie sich auch nicht leisten können. Ihre Rücklagen waren durch den Umbau schon sehr zusammengeschmolzen, und es war einige Zeit vergangen, bis sich rumgesprochen hatte, dass man im Kaffi Vestfirðir hübsche Zimmer zu passablen Preisen bekam und sehr gut essen konnte. In Kópavík gab es außer ihrem B&B und einigen Privatzimmern nur einen sehr einfachen Campingplatz und das skurrile Hotel, das von zwei alten Leuten betrieben wurde, die seit Jahrzehnten nichts mehr investiert hatten.
Isving schwang die Beine aus dem Bett und schlüpfte in weiche Lammfellpantoffeln. Die Vorbesitzer hatten das Haus zwar rundherum renoviert, bevor sie aus familiären Gründen zurück nach Kanada gegangen waren, aber nicht das Dach. Was zur Folge hatte, dass die Wärme durch die Isolierung nun in der ersten Etage blieb und nicht mehr nach oben aufsteigen konnte. Im Prinzip war das gut – allerdings nicht für Isving. Bei diesen niedrigen Temperaturen glitzerten die schrägen Wände ihres Zimmers, und manchmal war morgens das Wasser im Glas auf dem Nachttisch gefroren. Ihr machte das nichts aus, denn hier oben schlief sie ja nur, und unter der Bettdecke aus Eiderdaunen war es warm und kuschelig.
Damit ihre Kleidung in der feuchten Luft nicht stockig wurde, bewahrte sie sie unten im Wäschezimmer auf. Wenn sie also, wie gestern Abend, vergaß, sich frische Sachen mit hinaufzunehmen, dann musste sie im Morgenmantel durchs Treppenhaus huschen und hoffen, nicht gesehen zu werden. Es wäre ihr zu peinlich gewesen, in diesem Aufzug einem Gast zu begegnen. Natürlich hätte sie jetzt im Winter auch in eines der Pensionszimmer einziehen können, aber es war immer möglich, dass überraschend Gäste auftauchten, wie man heute wieder gesehen hatte. Und dann sollten auch alle Zimmer bezugsbereit sein. Außerdem mochte sie ihr kleines Reich unterm Dach mit dem großen Fenster im Giebel, von dem aus sie im Sommer direkt auf den Fjord sehen konnte, wenn sie morgens die Augen öffnete.
Es war zwar noch nicht mal sechs Uhr und stockdunkel, aber schlafen konnte sie jetzt auch nicht mehr. Also schloss sie ihre Kammer ab, um zum Duschen nach unten zu gehen. Auf der Treppe hörte sie ein rhythmisches Klopfen und verharrte. Es kam aus dem Raum des späten Gasts, und sie konnte sich zuerst keinen Reim darauf machen, bis sie meinte, so etwas wie ein Lied zu hören. Das Klopfen brach ab, dann war es wieder zu hören. Der Rhythmus hatte sich minimal verändert. Sie schüttelte den Kopf. Was ging es sie an, womit sich ihre Gäste die Nacht um die Ohren schlugen?
Nachdem Isving alles fürs Frühstück vorbereitet und die Heizung im Frühstücksraum aufgedreht hatte, lief sie durch den frisch gefallenen Schnee den Weg hinauf zu Gabrielles Haus, um Lili zu wecken.
Doch das Mädchen saß schon fertig angezogen in ihrem Zimmer auf der Bettkante und las. Als Isving hereinkam, sah sie auf: »’Tschuldigung, ich wollte schon rüberkommen, aber die Geschichte war so spannend.«
»Hast du dir die Zähne geputzt?«, fragte Isving, obwohl sie wusste, dass es nicht notwendig gewesen wäre. Lili war das ganze Gegenteil ihrer Mutter und hätte etwas so Wichtiges nie vergessen.
»Klar!«, sagte die Kleine und klappte ihr Buch zu. »Bevor du weiterfragst: Der Ranzen ist gepackt. Wir schreiben heute eine Mathearbeit.« Sie wirkte kein bisschen beunruhigt, was Isving freute, weil sie selbst ein eher ambivalentes Verhältnis zu Zahlen hatte und sich regelmäßig zwingen musste, die Buchhaltung des Cafés zu erledigen, wenn Gabrielle, zu deren Aufgaben die Finanzen eigentlich gehörten, es nicht geschafft hatte.
»Dann komm«, sagte sie und streckte eine Hand aus. »Was wünschen Mademoiselle denn zum Frühstück?«
»Das weißt du doch«, entgegnet Lili, zog ihren Mantel an und folgte ihr schnell durch den eisigen Wind hinüber in die warme Restaurantküche, wo sie sich an den alten Holztisch setzte und ihr Buch aufklappte.
»Was liest du da?«
»Das schönste Buch der Welt. Die Heldin sieht aus wie du, und wenn sie singt, kann sie die bösesten Teufel verzaubern. Sie ist eine Hexe«, fügte Lili hinzu.
»Das erklärt alles«, sagte Isving schmunzelnd und stellte ihr eine Schüssel mit Müsli hin, das sie mit einem Klecks Kirschkompott garnierte. »Hexen sind meistens nette Leute.«
»Ich weiß, und sie sind sehr, sehr schön.« Das zarte Mädchen sah nur kurz auf und aß dann mit einem solchen Heißhunger weiter, dass Isving schon die Frage auf der Zunge lag, ob sie gestern überhaupt Abendbrot bekommen hatte. Aber sie verzichtete darauf, um das Kind nicht in Verlegenheit zu bringen. Ganz gleich, welche Defizite Gabrielles Erziehung in Isvings Augen haben mochte, Lili liebte ihre Mutter.
Nachdem sie aufgegessen hatte, leerte sie ihre Teetasse, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und sagte: »Maman war betrunken. Warum?«
Erschrocken sah Isving auf, und in ihrem Kopf rasten zahllose mögliche Erklärungen herum, von denen ihr keine kindgerecht erschien, bis sie schließlich einen Arm um Lilis Schultern legte und sagte: »Du musst dir deine Mama wie eine Lichtelfe vorstellen. Wenn es zu lange dunkel ist, wird sie traurig.« Hier wusste sie nicht mehr weiter.
»Das verstehe ich«, sagte das Kind und nickte. »Sie ist wie eine Blume. Die brauchen auch Licht und Wasser, um zu überleben.«
Erleichtert pflichtete sie ihr bei.
»Aber wenn Maman traurig ist, warum lacht sie dann in der Nacht und quiekt so komisch? Hat sie Sex?«
Isving erstarrte. Woher wusste dieses neunjährige Mädchen solche Dinge? »Lili …«, begann sie hilflos.
»Schon gut. Ich weiß, dass Erwachsene nicht darüber reden wollen. Aber in der Schule habe wir Filme gesehen, und da haben die Leute auch so geklungen wie Maman und der Mann heute Nacht.«
»Ja«, sagte Isving und holte tief Luft. »Dann wird deine Mutter wohl Sex gehabt haben.« Sie hoffte inbrünstig, dass das Kind nicht verstand, wovon es sprach, und nahm sich vor, mit der Lehrerin zu sprechen. Und mit Gabrielle, die sich in ihren Augen absolut verantwortungslos verhielt.
Nachdem sie Lili in der Schule abgegeben hatte, befreite sie zuerst die Wege rund ums Haus vom Schnee und fuhr danach zu Kristín Stefansdóttir. Die junge Frau hielt Hühner, ein paar Schafe und züchtete Islandpferde. Ihr Mann fuhr zur See, doch wenn er zu Hause war, organisierte er gemeinsam mit ihr Trekking-Touren für Touristen.
Wann immer Isving es einrichten konnte, fuhr sie auf den Hof der beiden, um Eier und manchmal auch Schafsfleisch zu kaufen, vor allem aber, um ihrer Leidenschaft nachzugehen. Sie ritt seit ihrem sechsten Lebensjahr und war inzwischen ebenso vernarrt in die kleinen, selbstbewussten Pferde der Insel wie die Züchterin. Wann immer es ihre Zeit und der Geldbeutel erlaubten, machte sie einen Ausritt. In der Weite der isländischen Landschaft war nichts mehr wichtig, außer der Harmonie zwischen dem Einzelnen und der Schöpfung. Hier draußen fühlte sie sich frei und glücklich.
Kristín arbeitete gemeinsam mit ihrer Praktikantin im Stall. »Ich bin gleich fertig«, rief sie.
»Kann ich helfen?« Isving hatte zu Hause in Dänemark viel Zeit im Pferdestall der Nachbarn verbracht. Doch Kristín lehnte ab, und so setzte sie sich auf einen Strohballen und genoss die beruhigenden Laute der Pferde, die voller Hingabe ihr Futter zwischen den großen Zähnen zermalmten. Ihr Lieblingspferd Stjarni kam angeschlendert und stieß sie mit dem Kopf an, weil sie genau wusste, dass ihr Mensch immer eine Leckerei in der Tasche bereithielt.
»Wenn du sie weiter so verwöhnst, platzt sie bald«, rief Kristín und schnitt einen Ballen Heu auf. »Entweder du kommst öfter zum Reiten, oder es gibt keine Leckerlis mehr für das feine Fräulein.«
»Sie meint das nicht so«, sagte sie leise, und das Pferd schüttelte den Kopf. In Wirklichkeit hatte die Kritik keinesfalls spaßig geklungen. Die Landwirtin hatte oft einen rauen Ton am Leib, und Isving fragte sich manchmal, ob es etwas mit ihrer Herkunft zu tun hatte. Island hatte bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts noch zu Dänemark gehört, und nicht bei jedem waren Dänen hierzulande willkommen.
Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, tauchte Bjarne auf. Kristíns jüngerer Bruder studierte in Reykjavík. Dort teilte er sich mit seiner Zwillingsschwester ein Apartment. Er trug eine Reisetasche und schob einen aufdringlichen Jährling beiseite, um Kristín kurz zu umarmen. »Ich fahr dann mal los.«
»Fahr vorsichtig.«
»Jaja.«
»Die Pässe sind stark vereist«, sagte Isving, obwohl sie dieses Familiengeplänkel nichts anging. »Gestern ist spät ein Gast bei uns eingetrudelt, der sagt, er sei kaum noch durchgekommen.«
»Touristen.« Bjarne lachte und klimperte mit dem Autoschlüssel.
»Na ja, er ist schon Isländer, wenn auch nicht von hier«, sagte sie. »Ich meine ja nur. Pass einfach ein bisschen auf, okay?«
»Klar, mache ich doch immer.« Bjarne umarmte seine große Schwester und Isving gleich mit. Dann winkte er noch kurz und ging hinaus.
»Danke«, sagte Kristín. »Mich hätte er ausgelacht, aber wenn du so was sagst, hört er wenigstens zu.«
Die beiden Frauen verdrehten in einer neu gefundenen Allianz die Augen. Dann fragte Kristín: »Ich muss raus zu den Weiden – hast du Zeit mitzukommen?«
Das klang nach einer Einladung und nicht nach einem bezahlten Reitausflug. Sehnsüchtig blickte sie auf Stjarni, eine stürmische Fuchsstute, deren Mähne ihrer eigenen farblich sehr nahe kam. »Leider nein. Wir haben Gäste und Gabrielle … es ist spät geworden.«
Von den 231 Einwohnern, die während des gesamten Winters in Kópavík blieben, feierten am Abend des Dreizehnten fast alle bei Ragnars Halle am Hafen. Das Þrettándinn-Feuer war der traditionelle Abschluss der Weihnachtszeit im Januar, und sogar der alte Pfarrer fehlte nicht, obwohl die Wurzeln dieses Fests in der heidnischen Vergangenheit Islands lagen.
Doch weder Freigetränke noch die Tanzkapelle aus Akureyri mit ihren schmissigen Liedern und den leicht bekleideten Sängerinnen hatten darüber hinwegtäuschen können, dass nicht nur ein Jahr, sondern auch eine Ära zu Ende ging.
Óskar Ragnarsson hatte kurz vor den Feiertagen verkündet, die hiesige Fischfabrik schließen zu wollen, die sich seit drei Generationen im Besitz seiner Familie befand. Fünfzig Jahre lang hatte sein Vater Ragnar eine schützende Hand über die kleine Gemeinde im Norden Islands gehalten, doch in Zukunft würden die Einwohner auf sich selbst gestellt sein.
Ragnar, dessen Vorfahren zu Islands Gründerfamilien gehörten, hatte in den letzten Jahren viele neue Initiativen angestoßen. Touristen aus aller Welt kamen, weil sie hinausfahren und Wale beobachten wollten, oder die putzigen Papageitaucher, die nicht weit von hier an einer Felswand brüteten. Der Fischfabrikant hatte eine Stiftung eingerichtet, um zwei Ranger zu finanzieren, die sich um den Erhalt der Natur rund um den Ort kümmerten, und die Energieversorgung war dank seiner finanzkräftigen Unterstützung auf dem neuesten Stand, was Kópavík die Auszeichnung »Öko-Gemeinde« eingebracht hatte.
Das alles schien Óskar Ragnarsson, der auf den besten Schulen und Universitäten der Welt ausgebildet worden war, wenig zu interessieren. Die Stiftung konnte er nicht antasten, aber zum Ende der Saison wäre Schluss, ließ er verlauten, und dafür könne man sich bei den verrückten Tierschützern, bei Europa und den Fangquoten bedanken. Das stimmte zwar so nicht, aber Isländer waren schließlich die Nachkommen der Wikinger und ließen sich ungern Vorschriften machen. Die EU bot vielen ein willkommenes Feindbild. Das Schicksal der Saisonkräfte oder die Einwände der Fischer interessierten Óskar nicht im Geringsten, er tat sie mit einer gelangweilten Geste ab.
Obwohl die Stimmung also denkbar schlecht war, wollte sich kaum jemand das Fest entgehen lassen, zu dem noch der alte Ragnar geladen hatte, kurz bevor er Ende November überraschend gestorben war.
»Lass mich raten. Du warst nicht beim Þrettándinn-Feuer, oder?« Als Isving etwas entgegnen wollte, hob Kristín die Hand. »Natürlich nicht. Der späte Gast, nicht wahr?«
Sie ging nicht über die Brücke, die ihr Kristín baute. »Ich war nur kurz da, weil Gabrielle meinte, wir müssten uns dort sehen lassen. Aber ich bin gleich wieder weg, weil es mir vorkam wie ein verfrühter Leichenschmaus – noch vor der Beerdigung. Óskar Ragnarsson ist ein egozentrischer Idiot. Wie kann er alles kaputt machen, was sein Vater aufgebaut hat? Wusstest du, dass er ein Ultimatum gestellt hat? Entweder wir stimmen für den Walfang, oder er schließt die Fabrik.«
»Ich weiß.« Interessiert musterte Kristín sie. »Dann bist du nicht dafür?«
»Ich? Nie im Leben! Die Tiere sind doch schon durch Klimawandel, Krillfang und all die Lärmverschmutzung in den Meeren furchtbar belastet. Muss man sie dann wirklich noch jagen und abschlachten, wenn sie nicht mal jemand essen will?«
Kristín sah sie nachdenklich an. »Das frage ich mich auch.« Dann lächelte sie wieder geschäftsmäßig. »Komm, ich habe deine Bestellung schon fertig gemacht. Der Käse ist diesmal ganz großartig geworden.«
Auf dem Rückweg schneite es wieder, und als sie nach einer anstrengenden Fahrt über eisglatte Straßen ihre Küche durch den Hintereingang betrat, wehte gurrendes Lachen aus dem Café herüber. So hörte es sich an, wenn Gabrielle in Fahrt war. Eine warme Männerstimme fiel ein. Der späte Gast.
Sie hatte sich so sehr beeilt und seinetwegen auf den Ausritt verzichtet, und jetzt flirtete er mit ihrer Freundin. Heftiger als notwendig warf sie die Tür hinter sich zu.
»Da bist du ja!« Gabrielles schmales Gesicht erschien über den Pendeltüren. »Wurde auch Zeit. Ich dachte schon, ich müsste Frühstück für diesen Waldschrat machen.« Sie kam herein und zog den Morgenmantel über der Brust zusammen. Ihr Atem roch nach Alkohol.
War sie wirklich halb nackt durch die Kälte herübergekommen? Wundern würde es Isving nicht. »Geh zurück ins Bett, ich kümmere mich darum«, sagte sie, doch als Gabrielle zur Tür eilte, rief sie ihr nach: »Wir müssen über Lili reden. Heute Nachmittag.«
»Jaja!« Gabrielle winkte, ohne sich umzudrehen, und verschwand.
Isving hätte sie am liebsten geschüttelt. Wie konnte jemand so wenig Interesse für sein eigenes Kind aufbringen? Ärgerlich holte sie eine Pfanne und ein großes Messer hervor, mit dem sie die Frühlingszwiebeln aus Kristíns Hofladen schneiden wollte.
»Gut geschlafen?« Der späte Gast kam herein und sah sie aufmerksam an. Isving hatte das Gefühl, unter seinem Blick zu einer Pfütze aus Verlegenheit und Scham zusammenzuschmelzen.
»Ja«, sagte sie und schnitt energisch viel mehr Zwiebeln klein, als sie brauchen würde.
»Schön.« Seine Stimme hatte einen kühlen Ton angenommen, als hätte er einen Mantel umgelegt, an dem alles abgleiten würde.
Du bist so eine dumme Gans, schalt sie sich in Gedanken. Er war doch nur freundlich gewesen, hatte sich für ihre Gastfreundschaft bedankt und höflich mit Gabrielle gesprochen, die in ihrem leichten Gewand keinesfalls so seriös wirkte, wie man es von der Inhaberin einer ordentlichen Pension erwarten durfte. Und gestern Abend hatten sie zusammen gelacht, als würden sie sich schon lange kennen. Selten hatte sich Isving in der Gegenwart eines Mannes entspannter gefühlt.
»Ich bin gleich fertig. Setz dich doch schon mal in den Frühstücksraum«, sagte sie freundlicher, aber er drehte sich wortlos um und verließ die Küche.
Als sie ihm Kaffee brachte, saß er mit lang ausgestreckten Beinen im Frühstücksraum und sah hinaus zum Fjord, der im milchigen Sonnenlicht aussah wie ein Spiegel mit eisglitzerndem Rahmen. Zwischen den Fingern drehte er gedankenverloren eine Postkarte.
Isving stellte die silberfarbene Thermoskanne auf den Tisch und zeigte auf die Karte. »Alexanders Gitarrenwerkstatt. Er ist letzten Sommer hergezogen. Interessierst du dich für Instrumente?«
Er sah sie merkwürdig an, und der Hauch eines Lächelns erschien auf seinen Lippen. Es war, als amüsierte er sich über einen geheimen Scherz. »Klingt interessant.« Dabei tippte er auf sein Smartphone. Es war riesengroß und gehörte zu den teuren Geräten, die sie sich niemals hätte leisten können. »Was für ein Wetter! Die Straßen nach Süden werden frühestens übermorgen wieder frei sein. Du wirst mich wohl noch ein paar Tage länger ertragen müssen.«
»Ich …« Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. »Was möchtest du denn frühstücken?«, fragte sie stattdessen. Nur eine Scheibe Brot, wie er gestern Abend behauptet hatte, das konnte doch nicht sein Ernst sein. »Ich habe frische Eier geholt, und die Brötchen sind auch gleich fertig.«
Er sah auf und lächelte, als wüsste er, dass gutes Essen ihre Art war, Freundlichkeit zu zeigen, wenn es ihr nicht gelang, die passenden Worte zu finden. »Ich hätte Lust auf ein Omelette, wenn es nicht zu viele Umstände macht, und falls du noch etwas von dem leckeren Quark von gestern haben solltest …«, sagte er. »Brötchen klingen auch himmlisch.«
In diesem Augenblick kamen die Französinnen herein, sie wünschten einen guten Morgen und suchten sich ebenfalls einen Platz am Fenster.
Lässig zog er die Sonnenbrille herunter, die kurioserweise in seinem Haar gesteckt hatte.
Isving fragte sich, ob ihm seine Augen Probleme machten und er womöglich unter einer extremen Lichtempfindlichkeit litt. Nachdem sie die Bestellungen der beiden Frauen entgegengenommen hatte, verschwand sie wieder in ihr Küchenreich, das warm und vom Duft gebackenen Brots erfüllt war.
Normalerweise gab es eine klare Arbeitsteilung zwischen Gabrielle und ihr. Alles, was hinter den Kulissen passierte, war Isvings Aufgabe. Kundenkontakt, das Café und der Laden wurden von Gabrielle betreut. Sie sprach neben Englisch und Isländisch, ihrer Muttersprache, auch noch fließend Französisch, und weil sie in der Schweiz aufgewachsen war, ein bisschen Deutsch und Italienisch. Außerdem wirkte sie auf andere selbst dann mädchenhaft heiter, wenn ihr zum Heulen zumute war. Isving nannte es insgeheim den Instagram-Modus, weil Gabrielle nur von sich zeigte, was oberflächlich, glatt und schön war.
»Ich wünschte, du wärst ein klein wenig wie sie. Du könntest echt ganz hübsch sein, wenn du dich ein bisschen lockerer machen würdest«, hatte Isvings großer Bruder oft gesagt.
Mads und Gabrielle waren glücklich gewesen, bis zu dem Tag, als er trotz der Wetterwarnungen hinausgesegelt war. Die Ostsee konnte tückisch sein. Es war dieses Unglück, das die unterschiedlichen Frauen zusammengeschmiedet und schließlich hier nach Island geführt hatte.
Nach dem Frühstück wurde das Haus ganz still. Die Französinnen hatten ausgecheckt und sich unbeeindruckt vom Wetterbericht zur Weiterfahrt entschlossen. Isving putzte die Zimmer und kümmerte sich anschließend um die Wäsche. Sie liebte den Duft frisch gebügelter Baumwolle und die trockene Wärme in der Wäschekammer, aber es wäre einfacher gewesen, wenn sie jemanden gehabt hätte, der ihr beim Zusammenlegen der großen Laken geholfen hätte.
Gegen Mittag kam Gabrielle herüber. Sie war jetzt wieder ihr gepflegtes Selbst und lächelte, als amüsiere sie sich über einen geheimen Scherz. »Ich übernehme«, sagte sie mit dem typischen französisch angehauchten Singsang in der Stimme und tat so, als hätte es die Begegnung am Morgen gar nicht gegeben. Isvings Versuch, mit ihr über Lili zu reden, wedelte sie mit einer ungeduldigen Geste weg.
»Ich weiß, sie hat mitbekommen, dass ich nicht allein war. Das war blöd, ich werde mit ihr reden«, sagte sie, schenkte sich einen Kaffee ein und ging damit hinüber in den Shop. »Weißt du, Óskar ist wirklich in Ordnung.«
»Óskar? Wie in der meistgehasste Fischfabrikant der Westfjorde?«, fragte Isving entsetzt und folgte ihr. »Geht das schon lange mit euch?«
»Eine Weile.« Gabrielle sah sie herausfordernd an. »Ich habe Bedürfnisse. Wie jede gesunde Frau.« Es war ihr anzusehen, dass sie noch mehr hatte sagen wollen, aber stattdessen stellte sie die Tasse ab und begann, Postkarten zu sortieren. »Hier kommen am Tag bestenfalls drei Touristen vorbei und hinterlassen trotzdem maximales Chaos«, brummte sie wie zu sich selbst. Als sie zufrieden mit der neu geschaffenen Ordnung war, drehte sie sich zu Isving um. »Er hat Lili und mich am Wochenende eingeladen, damit sie ihn kennenlernen kann. So ganz offiziell.« Ihre Augen strahlten, und sie wirkte das erste Mal seit Wochen, wenn nicht sogar seit Monaten, entspannt.
Diesen glücklichen Moment wollte sie nicht zerstören. Gabrielle hatte lange genug getrauert, und für Lili war es gut, wenn ihre Mutter endlich ausgeglichener wurde. »Das ist nett von ihm«, sagte sie deshalb nur und verabschiedete sich. Sie musste noch mal raus zum Schneeschieben, bevor es wieder dunkel wurde, und wenn schon keine Gäste kamen, konnte sie diese Gelegenheit nutzen und die unter den Tischen und Stühlen klebenden Kaugummimumien abkratzen.
Auf das Kochen am Nachmittag freute sie sich. Es würde Lammkeule geben, anders als in Island üblich, denn Isving liebte die orientalische Küche. Der Aufwand für einen einzelnen Gast war natürlich unwirtschaftlich, aber das gehörte zu ihrem gemeinsam erarbeiteten Konzept: jeden so zu betreuen, als käme er oder sie bei ihnen zu Hause zu Besuch.
Wenn sie ganz tief in sich hineinhorchte, gab es heute einen zusätzlichen Anlass zur Vorfreude: Sie wollte vor allem den seltsamen Gast überraschen, der offenbar gern aß. Ihr Omelett hatte er mit einem geradezu lustvollen Appetit verspeist, der sie beschwingt durch den gesamten Vormittag getragen hatte. Auch am Ende der Welt konnte man gut leben! Die Insel war zwar eine einzigartige geologische Besonderheit zwischen zwei tektonischen Platten, deren beständiges Auseinanderdriften für Vulkanausbrüche, aber auch für einige Annehmlichkeiten verantwortlich war. In den Westfjorden gab es weniger geothermale Quellen als in anderen Landesteilen, doch Kópavík konnte sich rühmen, gleich zwei davon zu besitzen. Eine beheizte ihre Häuser und die öffentlichen Heitir Pottar. Von den drei schlichten Becken konnte man das Herz des Orts, den Hafen samt Seehundstrand, überblicken. Neu war ein Haus mit Umkleidekabinen und Dusche. Einwohner und Touristen saßen gern darin, obwohl zu dem modernen Schwimmbad am Campingplatz auch ein Hot Pot gehörte, für den allerdings Eintritt verlangt wurde. Dafür erwartete die Besucher aber auch eine architektonische Besonderheit, denn das Gebäude war so geschickt in den Felsen gebaut worden, dass es eine nahezu perfekte Einheit mit der Natur bildete. Isving ging gern dort schwimmen, wenn sie Zeit dafür fand, was selten genug vorkam.
Der einzige natürliche Hot Pot befand sich auf ihrem Grundstück oberhalb von Gabrielles Haus, und sie nutzte ihn regelmäßig. Er war allerdings wirklich sehr heiß. Doch es gab eine Kaltwasserpumpe, um die Temperatur wenigstens für eine Weile zu senken.
Zu dieser Jahreszeit traf man dort praktisch nie jemanden. Obwohl der Blick über den Fjord bei gutem Wetter sensationell war, mieden die Bewohner diesen Ort. Man sagte, er gehöre den Elfen, und nur Verrückte würden ihnen den Platz streitig machen. Womöglich war den Leuten aber auch einfach nur der Weg dorthin zu beschwerlich. Mit dem Auto konnte man, anders als unten am Hafen, nicht vorfahren.
Genau der richtige Platz für Isving, um in Ruhe zu entspannen. Die Elfen jedenfalls ließen sie gewähren. Sie zog ihren Lieblingsbikini an, den Gabrielle als eine unerhört frivole Anschaffung für jemanden, der nicht gern unter Menschen geht bezeichnet hatte. Was sie ärgerte. Trug man hübsche Wäsche – und dazu zählte auch Badekleidung – nicht in erster Linie für sich selbst? Nach einem Blick in den schmalen Spiegel vor dem Schlafzimmer verbarg sie ihr Nixengewand jedoch vorläufig unter einem molligen, schon in die Jahre gekommenen Jogginganzug.
Obwohl Gabrielle sie dafür auslachte, schminkte sich Isving seit Jahren jeden Morgen, bis die Sommersprossen, die ihr ganzes Gesicht bedeckten, nicht mehr zu sehen waren. Wären es bloß ein paar Pünktchen auf der Nase gewesen, sie hätten ihr nichts ausgemacht. Früher waren die Betroffenen ihren Sommersprossen mit Schwanenweiß und anderen Mittelchen zu Leibe gerückt, aber das brauchte sie gar nicht erst zu versuchen. Eher hätte sie damit ihr Gesicht verätzt, als dass die ungeliebten dunkelroten Punkte verschwunden wären. Ungeschminkt fühlte sie sich wie das Abbild einer Mondlandschaft, oder, wie die Mitschüler früher gesagt hatten: eine vollgekotzte Kuh. Die Alten im Dorf hatten sie Hexenbalg genannt, wenn sie glaubten, Isving würde es nicht hören. Niemals wäre sie freiwillig mit offenen Haaren oder ohne Make-up unter Menschen gegangen.
Doch die deckenden Schichten taten ihrer Haut nicht gut. Schon gar nicht, wenn sie in heißem Wasser saß, das jede Pore öffnete. Deshalb schminkte sie sich nun sorgfältig ab und öffnete die fest geflochtenen Zöpfe, die ihr heute Kopfschmerzen bereiteten. Sie waren lang geworden, und eigentlich hatte Isving sie längst abschneiden wollen, aber was immer auch andere sagten: Sie mochte ihre Haare und genoss es, wenn sie ihr abends vor dem Schlafengehen sanft über die Haut strichen und sich dabei anfühlten wie federleichte Berührungen. Was hatte Gabrielle vorhin gesagt? Eine Frau hat Bedürfnisse.
Damit war sie nicht allein. Stjarnis weiche Pferdeschnauze auf ihrer Handfläche, wenn sie eine Leckerei entgegennahm, die Wärme unter der dichten Mähne, das alles war wunderbar und tat ihr gut, aber so ein Tier konnte kein vollständiger Ersatz für menschliche Zuwendung sein. Isving sehnte sich nach einer warmen Hand auf ihrer Schulter, nach Berührungen.
Einsam fühlte sie sich nicht. Introvertiert und scheu, ja, aber sie konnte gut mit sich allein sein, brauchte diese Zeit für sich sogar, um entspannen zu können und ihre Batterien nach einem anstrengenden Tag wieder aufzuladen. Anders als Gabrielle, bei der immer viel los sein musste, langweilte sie sich nie. Es gab immer irgendetwas zu tun – sie schrieb oder ging bei gutem Wetter an den Seehundstrand, um die Tiere zu beobachten oder manchmal auch nur übers Wasser zu blicken und nichts zu denken, nur zu sein, den Wind auf der Haut zu spüren, die Sonne und die kristallklare Luft zu schmecken, die einen Hauch von Meer und wilden Kräutern mit sich brachte.
Ihr Alleinsein gründete nicht darin, dass sie sich am Ende eines Fjords niedergelassen hatte. In Kópavík verliebten sich die Leute wie überall auf der Welt. Sie zeugten Kinder, heirateten und ließen sich wieder scheiden. Das ganze Programm.
Aber Isving ließ trotz einer gewissen Sehnsucht niemanden an sich heran: Zu groß war ihre Angst vor Verletzungen ihrer Seele, von denen sie schon genug erlebt hatte. Doch die Sehnsucht blieb, und zu Hause in Århus war sie einmal sogar zum Arzt gegangen und hatte über Verspannungen und Rückenschmerzen geklagt, um sich die begehrten Berührungen verschreiben zu lassen.
Der Mensch ist nie zufrieden, dachte sie. In ihrem neuen Leben ging es ihr besser, aber sie sehnte sich mehr denn je danach, jemandem zu begegnen, der ihr Zärtlichkeit schenkte, ohne dafür Geld oder Sex zu erwarten. Obwohl ihr klar war, dass sie mit ihrer schroffen Art jeden Annäherungsversuch im Keim erstickte, war es keineswegs so, dass sich niemand für sie interessierte. Doch daran war ganz sicher das unsinnige Gerede schuld, Rothaarige wären im Bett wild und leidenschaftlich. Früher oder später machte fast jeder Mann eine Bemerkung in diese Richtung, und die meisten hielten sich auch noch für kolossal originell.
Dass es mit dieser Wildheit nicht weit her sein konnte, dafür war sie selbst der lebende Beweis. Die wenigen Male, die sie mit einem Mann geschlafen hatte, konnten getrost als Enttäuschungen für beide verbucht werden.
Genug gegrübelt, dachte Isving. Sie lief die Treppe hinunter, zog sich an der Tür den dicken Steppmantel über, stieg in ihre Stiefel und machte sich auf den Weg zu ihrem Lieblingsplatz.
Jemandem dort draußen am Álfhóll zu begegnen, hielt sie für unwahrscheinlich, und wenn es doch passierte, dann würde es vermutlich der Polarfuchs sein, der seit letztem Sommer in der Nähe wohnte. Die Begegnung mit ihm war immer eine große Freude, denn sie mochte den hübschen kleinen Kerl, der jetzt einen wunderbaren weißen Pelz trug.
Der Himmel hing zwischen den Wolken fest und ließ Eiskristalle zu Boden rieseln. Immerhin stürmte es nicht, dafür konnte man im Winterhalbjahr schon dankbar sein.
Mit langen Schritten eilte Isving den schmalen Pfad hinauf zum Hot Pot. Bis sie genügend klares Meerwasser hineingepumpt hatte, war ihr ziemlich warm geworden. Um nicht auszukühlen, zog sie sich so schwungvoll aus, dass ihre Sachen hinter den Felsen rutschten, auf dem sie sie hatte ablegen wollen. Doch das war ihr im Augenblick ganz egal, Isving wollte nur noch rein ins entspannende Bad.
Das Gefühl von Schwerelosigkeit genießend, das sie hier oben immer befiel, setzte sie sich Kopfhörer auf und legte den Kopf zurück auf den felsigen Rand des Beckens. Mit geschlossenen Augen lauschte sie den Melodien einer isländischen Künstlerin, deren melancholische Lieder über Freiheit der Seele, Einsamkeit und geheimnisvolle Begegnungen an verwunschenen Orten sie so sehr mochte, dass sie sich einige Texte übersetzt hatte.
Während Isving selbstvergessen mitsang, beschlich sie auf einmal das Gefühl, nicht mehr allein zu sein: ein warnendes Ziehen die Wirbelsäule hinauf, das aus dem Nichts zu kommen schien. Rasch öffnete sie die Augen. Doch natürlich war es albern zu glauben, jemand vom Stillen Volk würde ihr lauschen und sich obendrein dabei sehen lassen.