Zum Buch
Hormone dirigieren den Menschen, seinen Kopf und seinen Körper, ein Leben lang und besonders in Umbruchphasen: vom Kind zum Erwachsenen, von der Frau zur Mutter, von der Fruchtbarkeit in die Wechseljahre, vom Mann zur Frau. Hormone steuern auch unsere Stimmungen. Und besonders zu schaffen machen sie uns, wenn sie zusammen mit anderen Faktoren Krankheiten wie Diabetes, Schilddrüsenstörungen oder gar Depressionen erzeugen. Ebenso unterhaltsam wie fundiert untersucht Nataly Bleuel in diesem Aufklärungsbuch für Erwachsene, was Hormone in unseren Körpern und Köpfen anstellen – und wie wir damit umgehen.
Zur Autorin
Nataly Bleuel war nach dem Studium der Sozial- und Geisteswissenschaften an der Henri-Nannen-Schule für Journalismus und bei Spiegel Online. Als freie Autorin schreibt sie für Die Zeit, Geo, Brigitte, Süddeutsche Zeitung. Für ihre Recherchen zur Organspende wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Sozialpreis.
NATALY BLEUEL
Wie sie uns durchs Leben dirigieren,
wie sie Stimmung machen und
wie wir damit umgehen
C. Bertelsmann
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in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: total italic, Amsterdam/Berlin
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Gesetzt aus der Adobe Garamond
ISBN 978-3-641-23187-3
V001
www.cbertelsmann.de
Vorwort
1. Pubertät oder Wechseljahre I
Was sind Hormone? Wo kommen sie her, und wie hat man sie entdeckt? Wie das Hormonsystem funktioniert, auch im Zusammenspiel mit anderen Systemen des Körpers. Was Hormondrüsen und Organrezeptoren sind. Und über den Tanz der Moleküle in der Pubertät.
2. In der Mitte des Lebens
Über Partnersuchen und Existenzaufbauen und wie der Körper da durchkommt. Welche wichtigen Hormone ihm dabei neben den Sexualhormonen auch noch ganz wesentlich helfen: Insulin, Adrenalin, Thyroxin, Serotonin, Kisspeptin u. a. Plus ein heftiger Kratzer am Mythos Testosteron. Und wie Geschlechter(rollen) gemacht werden.
3. Geburten
Was passiert da hormonell? Außerdem: Zyklen, Libido, Östrogen, Oxytocin, Verhütung, Prolactin, Babyblues und wieder Lust kriegen.
4. Wechseljahre II
Über Meno- und Andropause. Was sind die Symptome, und woher kommen sie? Alles, was wir über Östrogene wissen können und über hormonell getriggerte Krankheiten wie beispielsweise Endometriose oder Hashimoto. Klassische Medizin, andere Ansätze, und was Hormone von außen bewirken. Außerdem ein Plädoyer für den Einklang von Körper, Geist und Sinn.
5. Zum Ende des Lebens: Das Alter
Was das Nachlassen und Verschwinden der Hormone mit uns machen kann: Osteoporose, Diabetes, Demenz, aber auch Ausgeglichenheit. Was unser Körpergefühl generell prägt. Und wie unterschiedlich man die Hormon-Metamorphose empfinden kann – je nach Mensch, Natur, Kultur.
6. Männer
Was sie über Hormone denken und wissen. Was eine Frau zum Mann macht, einen Vater zum Großvater, und wie sich Töchter und Söhne unterscheiden. Und der Unterschied zwischen dem gebrauchten und dem gefühlten Körper.
Schlusswort und eine To-do-List
Literatur
Register
Kürzlich, wir stehen in der Küche, mein jugendlicher Sohn und ich, und vermutlich war mein Ton mal wieder etwas verrutscht. Ins leicht Schrille. Gepresst, unter Druck – gereizt. Unschön jedenfalls, das wurde mir, wie immer, erst im Nachhinein bewusst. Ich muss etwas mir vollkommen Selbstverständliches, »Stell den Teller in die Spülmaschine« oder »Hast du an die Hausaufgaben gedacht«, auf eine Weise kommuniziert haben, die ihm missfiel.
Er dreht sein Gesicht von mir weg. Als müsse er diesen Ton abwehren wie heransausende Fliegen und sagt: »Hast wohl deine Tage?!«
Ein paar Monate zuvor oder gar Jahre, und ich wäre umgehend ausgeflippt wie eine angestachelte Wespe. Gemeckert hätte ich, was ihm einfällt, Unverschämtheit, »Wie kommst’n darauf?« und »Stimmt ja gar nicht«, oder doch, und was das mit seinen Hausaufgaben zu tun habe?
Ich hätte mich torpediert gefühlt. Ja, auch erkannt. Vor allem aber: nicht ernst genommen. Lächerlich!
Mittlerweile bin ich etwas schlauer. Ich erkenne diese Szene wieder, denn ich kenne diese Stimmung. Ich habe sie so oft erlebt und so lange zu verdrängen versucht, bis sie mich derart fuchsig und schließlich wissbegierig machte, dass ich beschloss: sie durchschauen zu wollen. Es musste eine Erklärung dafür geben! Denn es ist, das weiß ich jetzt, eine im Leben vermutlich aller Menschen auftretende und wiederkehrende (Ver-)Stimmung. Und sie hat eine in sich meist ähnliche (Ab-)Folge. Ein bisschen wie ein verhaltensbiologisches Reiz-Reaktions-Schema, das sich nicht nur innerhalb einer Person abspielt, sondern soziale Interaktion zwischen den Menschen miteinbezieht. Ihren Alltag, ihre Beziehungen, ihr Selbstverständnis und somit auch ihre Kultur und ihr Weltbild.
In dieser Stimmung – in dieser hormonellen Verstimmung – ist man im Kopf wie vernebelt. Der Körper nicht voll unter Kontrolle, als würde er sich verselbständigen. Die Stimme, das Hirn, die Haut, der Blick, die Spannung, der Atem – sie gehorchen einem nicht mehr ganz. Man fühlt sich wie ferngesteuert. Aufgeweicht. Und dann schießen einem, zu allem Überfluss, wo man sich doch am liebsten vor der Welt verkriechen will, heftige Wallungen ein. Traurigkeit, so tief und umfassend und fließend, dass man vor sich hin weinen möchte, irgendeinen Grund findet man immer. Gereiztheit, so flirrend und wild, dass man aus der Haut fahren möchte und schreien. Erschöpfung, totale Erschöpfung, man fühlt sich selbst glasig und durchlässig, windig und erschütterbar. Und unter Umständen verspürt man auch eine irre Euphorie – himmelhoch jauchzend, völlig verstrahlt.
Über die Pubertierenden an seiner Schule hatte ein Direktor am Tag der Offenen Tür mal gesagt, wir Eltern sollten uns ein Schild vor ihren Hirnen vorstellen, auf dem steht: Achtung Baustelle, wegen Umbauarbeiten vorübergehend geschlossen! Und tatsächlich war auch mein 16-jähriger Sohn jetzt öfter mal voll daneben, verpeilt, verklärt, verknallt, verstrahlt und hie und da verpickelt. Wir sind beide in Wechseljahren.
Und ich wusste ja, aufgrund meiner Beobachtungen und Recherchen zum Thema und der frechen Herausforderung zum Trotz, dass nicht nur Frauen Hormone haben – und an ihnen leiden. Sondern auch Männer. Mäuse. Und Minderjährige. Und zwar nicht nur Sexualhormone, von denen es an die 30 gibt. Sondern an die 1000 weitere Hormone; von denen die Mediziner erst ein paar Dutzend als Auslöser für schwere Krankheiten erkannt haben. Es ist also ein ganzes Hormonsystem, das die Wissenschaft neben anderen Systemen im Körper kennt, dem der Nerven beispielsweise oder dem Immunsystem, und das sie als extrem wichtig und komplex erachtet. Auch wenn wir es noch längst nicht komplett verstehen.
In jeder Sekunde geschehen in einem lebendigen Körper 10 hoch 14 Stoffwechselvorgänge, also 100 Billionen. Der Stoffwechsel, Metabolismus, im Körper ist die Gesamtheit aller biochemischen Prozesse in den Zellen. Gesteuert werden sie auch von Hormonen. Sie dirigieren den Menschen, seinen Kopf und Körper im Hier und Jetzt; das ganze Leben lang, von der Geburt bis zum Tod. Insbesondere in Umbruchphasen, in denen der Mensch Verwandlungen durchmacht: vom Embryo zum Baby, vom Kind zum Erwachsenen, von der Frau zur Mutter und vom Mann zum Vater oder sogar zur Frau und umgekehrt, bis ins Alter. Und besonders auffällig dann, wenn sie nicht funktionieren, wie sie sollten, und im Zusammenspiel mit vielen Faktoren, inneren wie äußeren – also körperlichen wie psychischen, sozialen oder umweltbedingten –, Depressionen erzeugen, Diabetes, Schlaf- oder Wachstumsstörungen, Schilddrüsen-, Stoffwechsel- und etliche andere Erkrankungen – oder einen Kinderwunsch unerfüllt lassen.
Ich lächele also meinen Sohn an und antworte auf die Frage mit dem Subtext, ob ich hysterische Zicke wohl hormonell bedingt nicht ganz zurechnungsfähig sei: »Yes – aber du weißt ja, wie das ist, denn du hast ja jetzt auch manchmal deine Tage!«
Mittlerweile sage ich das öfter zu ihm, wenn er hormonell daherkommt. Beim ersten Mal war er entsetzt. Ich, junger Mann? Meine Tage? Aber er hat sich daran gewöhnt. Und sogar mal genickt. Alles nur eine Frage der Zuschreibungen und Gewohnheiten.
Diese offenbar irgendwie hormonell bedingte Verstimmung ist jedoch nicht nur deshalb ein Schlüsselreiz, weil man darin gereizt und reizbar ist. Sie wird – zumindest für mich, und ich sage das ehrlich und hoffentlich entwaffnend, nachdem ich sie wieder und wieder beobachtet und reflektiert habe wie eine Verhaltensforscherin sich selbst als Fall … – von einer in sich geradezu zwanghaften Gedankenabfolge begleitet.
Die geht so: Ich bin irgendwie neben der Spur und lasse mich treiben und beuteln und leiden. Eigentlich kann ich mich selbst nicht ausstehen. Aber ich bin jetzt halt mal so. Weil … ich ausnahmsweise auch mal nicht funktionieren und mich gehen lassen will, wild sein will oder schwach und bedürftig und heulen. Weil ich mich in der Verstimmung suhlen will. Denn die Reizbarkeit macht Lust, sogar wenn sie destruktiv ist. Aber wehe, ein Außenstehender hält mir den Zerrspiegel vor und reduziert mich auf ein deterministisches Phänomen wie PMS, Pubertier oder Testosteronüberschuss. Schilddrüsenüberfunktion, Unterzuckerung oder Hitzewallungen, die Alte tickt wohl nicht sauber?
Das Ding ist nämlich, dass ich in diesem Zustand ernst genommen werden will; selbst wenn mir selber nicht danach ist. Keiner soll dann zu mir sagen: Hast wohl deine Tage? Weil es mich demütigt. Und zu einem instinktgesteuerten, hirnverbrannten, hysterischen und nicht zurechnungsfähigen Wesen degradiert.
Und jetzt kommt der Kniff. Danach, wenn die Stimmung vorbei ist, tippe ich mir selbst an die Stirn, denn mit einem Schlag wird mir klar: War doch nur das PMS, die Pubertät, das Testosteron. Verrückt!
Die frappierendste Erkenntnis dieser Art habe ich persönlich mit dem Beginn der Einnahme von Thyroxin-Tabletten gemacht. Man hatte mir eine Schilddrüsenunterfunktion, also den bei Frauen nicht seltenen Mangel an Schilddrüsenhormonen, attestiert. Die Kinder waren klein, die Tage dicht, die Finanzen knapp, die Nächte schlecht. Doch mit den ersten Tabletten war die Gereiztheit, diese ätzende Stimmung, die mich andauernd unter Druck gesetzt hatte wie einen Kessel vor der Explosion, mit einem Mal weg. Obwohl sich an den äußeren Bedingungen rein gar nichts geändert hatte. Die Stimmung kam aber schnell wieder, sobald ich die Pillen eine Zeit lang nicht nahm. Diese Erfahrung hat mich erschreckt: So einfach kann mein Temperament manipuliert werden? Du schluckst eine Hormontablette und wirst ein anderer Mensch?
Der Schlüsselreiz ist ein wiederkehrendes paradoxes Muster. Und daher wollte ich mehr über die Hormone wissen, viel mehr als das Wenige, das immer und immer wieder in plumpe Klischees verpackt wird: Frau = Östrogen, Mann = Testosteron, Schilddrüse = Thyroxin, Kuscheln = Oxytocin. Obwohl doch das Hormonsystem so wunderbar komplex ist wie die Menschen und das Leben auch.
Paradoxien sind Knackpunkte im Leben der Menschen, sie können auf Tabus verweisen und Reibung, Kraft und Neugier erzeugen. Und Hoffnungen, wie Bertolt Brecht schrieb. Sie anzugehen, ist auch deshalb so spannend, weil sich da beispielsweise im Fall der Hormone Natur und Kultur verwirren. Und sich so über Jahrzehnte und Jahrhunderte (Vor-)Urteile und Konnotationen in unsere Hirne, unser Verhalten, unsere Gesellschaften eingefräst haben – die nicht haltbar und total bescheuert sind. Und uns Freiheiten verwehren, die wir eigentlich hätten.
Weil ich als Frau eben keine hysterische, hormongesteuerte Zicke bin, der man daher die volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben absprechen darf; mein jugendlicher Sohn kein blödes Pubertier, dessen rebellische Kraft man ins Lächerliche ziehen muss; und der Mann: eh nur schwanzgesteuert.
Das Hormonsystem ist komplex. Wie der Körper, der Mensch, die Natur, das Leben. Das behagt uns oft nicht, denn das Komplexe scheint anstrengend. Wir hätten das Leben und die Welt gern einfach. Und deshalb reduzieren wir sie, indem wir sie in einfache Bilder, in Metaphern und in schlichte Klischees packen. Männer vom Mars, Frauen von der Venus, Mario mit Bart.
Generell bedeutet Komplexität Vielfalt, auch an Möglichkeiten. Indem ich Vielfalt reduziere, schränke ich Spielraum ein. Warum beraube ich mich ihrer selbst, und das freiwillig? Anstatt sie zu nutzen und zu feiern! Und mich an einer lebendigen Vielfalt von Entscheidungen, Erfahrungen, Chancen und Freiheiten zu bereichern. Für die ich letztlich allein verantwortlich bin. Jeder Mensch sei doch so oder so, hat der Philosoph Jean-Paul Sartre provokant gesagt, zur Freiheit verurteilt. Wir müssen unsere Freiheit mit Sinn füllen. Und wir können es. Und sollten es. Jede für sich, alle zusammen und manchmal auch allein und gegeneinander. Ein Gedanke von erschütternder, revolutionärer und wahnsinnig befreiender Schönheit. Denn er bedeutet, dass ich mir, jenseits des Faktischen, überlegen und aussuchen kann, wie ich mein Leben, meinen Körper, meine Krankheiten und meine Hormone interpretiere. Welche Bedeutungen, Bilder und Metaphern ich ihnen zuschreibe. Und ob ich mit den Zuschreibungen, die in meiner Kultur, meiner Gesellschaft, meinem Alltag, meiner Arztpraxis und meinem Ratgeber kursieren, einverstanden sein will. Oder eben nicht. Will ich die Komplexität des Hormonsystems feiern, weil es mir Möglichkeiten eröffnet und damit auch die Freiheit zu sagen: Damit kann ich leben – oder eben nicht.
Diese Freiheit gibt es. Und um sie zu ermessen und zu begreifen, muss man sich anschauen, was über die Hormone gesagt wird. Welche Bedeutungen werden ihnen zugeschrieben? Was wissen wir wirklich über sie, biochemisch, medizinisch, physiologisch? Wie funktionieren sie? Und wie erkennen wir sie? Wie ordnen wir sie ein, wie empfinden wir sie? Und sogar das, was wir medizinisch für erwiesen halten, können wir hinterfragen: Ist das wirklich so – und warum? Wenn ich etwas nicht sehen, erkennen oder messen, aber spüren kann, ist es dann trotzdem da? Wie hängen Prägung, Wahrnehmung und Erkenntnis zusammen? Was ist Einbildung, esoterisch, Poesie oder Placebo? Und wenn es doch wirkt? Warum belächeln wir Erklärungsmodelle anderer Menschen- und Weltbilder, die uns fremd und anders erscheinen? Obwohl sie auch nur versuchen, sich das erstaunlich reichhaltige und komplexe Leben im Körper und um ihn herum zu erklären – aber eben anders, beispielsweise anhand von Chakren, Meridianen, Energien.
In diesem Buch geht es um die Hormone, weil sie unser Leben prägen und steuern. Es ist kein Fachbuch, sondern ein Aufklärungsbuch für Erwachsene. Es soll eine Ahnung und ein Bewusstsein davon vermitteln, was das Hormonsystem alles bewirkt – und welche Bedeutung wir ihm beimessen (wollen). Es will vermitteln, vom Endokrinologischen zum Verständlichen, und das unterhaltsam. Endokrinologisch heißt: die Hormone betreffend, von griechisch endon für ›innen‹ und krein für ›absondern‹. Denn Drüsen sondern Hormonsekrete im Körper ab. Exokrine Drüsen sondern hingegen meist Sekrete nach außen ab, Schweiß beispielsweise oder Tränen. Hier bekommt man also quasi eine Anleitung zum kritischen Beobachten und Lesen dessen, was in unserem Körper passiert.
Warum handelt auch dieses Buch über die Hormone schon wieder fast nur von Frauen? Als hätten Männer keine Hormone wie Adrenalin, Insulin, Kisspeptin, Serotonin, Testosteron, Sulfakinin? Als wären nur Frauen hormonelle Wesen? – Genau deshalb.
Denn der Frau wurde die Idee vom hysterischen, hormonellen Wesen zugeschrieben. Ein uraltes Bild, Venus und Mars, zum Ausflippen, zum Gähnen. Von Männern erfunden und auch von Frauen wiederholt. Denn von Frauen sprach man doch allzu lang als »vom ›anderen Geschlecht‹, worin sich ausdrückt, dass sie dem Mann in erster Linie als Sexualwesen erscheint«, schrieb Simone de Beauvoir, auch schon 1949.
Um die Zuschreibung vom hormongesteuerten Sexualwesen Frau zu hinterfragen, habe ich Frauen dazu eingeladen, sich gemeinsam damit auseinanderzusetzen. Sie haben sich zu Gesprächen getroffen, ein bisschen wie die klugen Kerle in Platons Gastmahl, griechisch: Symposion, über die Liebe. Und haben über Hormone gesprochen.
Das Erstaunliche ist – und jeder kann es testen, es funktioniert fast immer –: Sobald man den Begriff Hormone in eine Runde wirft, gehen die Diskussionen los. Erlebnisse, Erfahrungen, Augenrollen, Ablehnung. Studie gelesen, Ärzte sagen. Bin ich meine Hormone, wer bin ich eigentlich? Mann/Frau/beides/neutral? Am Anfang des Lebens, in den ersten Wechseljahren (Pubertät), in der Mitte des Lebens, mitten im Zyklus, und dann noch mal Wechseljahre und auf ins Alter! All die Phasen im Leben, die zu hormonellen Veränderungen und Verwerfungen führen können, auch bei mir? Und was noch?
Während der Diskussionen kamen immer wieder folgende Fragen auf: Was sind Hormone überhaupt? Wie funktionieren sie? Was machen sie mit uns? Machen sie mit uns allen das Gleiche? Zu jeder Zeit? Machen sie mich zu dem Individuum, das ich bin? Wie abhängig bin ich von ihnen? Was ist der Mensch, innere oder äußere Einflüsse, Natur oder Kultur, das, was ihn im Körper steuert, oder das, was er im Kopf denkt – und fühlt? Tut er das etwa auch im Hypothalamus? Warum machen die Hormone einen krank, glücklich, traurig, wütend, wuschig? Kann ich damit leben, oder wollen wir sie ersetzen? Und sind sie echt so wichtig – oder total überbewertet?
Diese Fragen werden im ersten Teil jedes Kapitels ausgebreitet und anschließend in einem sachlichen und informativen Teil zu beantworten versucht, gleichsam als wären wir beim Arzt in der Praxis. Wobei die Kapitel im Buch denen im Leben folgen: von der Pubertät über die Mitte des Lebens ins Alter. Manche Fragen und Gedanken scheinen auf den ersten, den gewohnten Blick vom Thema abzuschweifen. Aber auch Hormone sind eine Sache des ›Framings‹: Fokussiere ich mich auf einen speziellen Ausschnitt oder erweitere ich meinen Horizont? Hormone haben mit Identität zu tun – und damit eröffnen sie in allen Gesprächen einen erstaunlich großen Rahmen. Nicht alle Fragen werden umgehend beantwortet, und zwar vorsätzlich. Das ist ein dramaturgischer Trick, um eingeübte Erwartungshaltungen zu konterkarieren. Wenn man umdenken will, braucht man neue Begriffe und Bilder und sollte nicht die althergebrachten Klischees und Folgerungen verwenden. Und erst recht nicht schnuckelige Metaphern. Metaphern werden oft benutzt, um uns scheinbar schwierige Sachverhalte aus der Wissenschaft in bekannte Bilder aus dem Alltag zu übersetzen. Dann ist die Rede von Glückshormonen, dem Männlichkeitshormon oder einem Kuschelhormon und davon, dass Hormone funktionierten wie die Rohrpost oder, ein klein bisschen moderner, wie Radiowellen. Diese Bilder werden aber dem wahren und komplexen Leben so gut wie nie gerecht, weil sie verkürzen und oft schief sind. Und wenn’s an Innereien geht oder Sex, sind sie meistens auch noch albern, verschämt und unerwachsen. Es gilt jedoch, der Vielfalt und dem Reichtum des Lebens mit Hormonen mit klarem Verstand in die schillernden Augen zu blicken, denn: Hormone versetzen uns Menschen auch ohne unsere komischen Konnotationen in die empfindlichsten Zustände. Man kann sie auch Stimmungen oder Gefühle nennen. Und gerade die gilt es genau zu betrachten und zu beschreiben. Um die wahre Schönheit und Poesie der Natur zu begreifen.
Man kann es auch nüchterner sagen, mit der Denkerin Susan Sontag: »Mein Thema ist nicht die physische Krankheit als solche, sondern die Verwendung der Krankheit als Bild oder Metapher. Zeigen will ich, dass Krankheit keine Metapher ist und dass die ehrlichste Weise, sich mit ihr auseinanderzusetzen – und die gesündeste Weise, krank zu sein –, darin besteht, sich so weit wie möglich von metaphorischem Denken zu lösen, ihm größtmöglichen Widerstand entgegenzusetzen.«
Ersetzt man Krankheit durch Hormone und die ehrlichste und gesündeste Weise, krank zu sein, mit hormonell – dann ist sehr schön in Worte gefasst, worauf die Frauen hier hinauswollten: nämlich auf einen ganz alltäglichen Zustand. In einer ganz schön eigenartigen Ordnung der Dinge. Der es zu widerstehen gilt. Denn anhand von Zuschreibungen, Metaphern und Narrativen werden Fakten geschaffen, die Lebensläufe beeinflussen: Mit dem Körperlichen wird Politik gemacht.
Bei den Hormonen funktioniert das deshalb so gut, weil da Stimmungen und Gefühle mit reinspielen. Kann man eine Frau, die schwach wird und heult, wenn es heißt, einen kühlen Kopf zu bewahren, an die Front schicken, um die Welt zu retten, eine Frau, die, uargh, blutet? – Quark!?
Was ist mit dem Mann, der Frauen, und Männer, sexuell demütigt? Hormongesteuert, machtbesessen oder psychisch gestört? Helfen da Pillen? Eine Therapie? Oder sollten wir uns nicht alle noch viel intensiver mit dem Gedankengebäude auseinandersetzen, das wir beispielsweise über Testosteron und Östrogenen aufgetürmt haben?
Die Endokrinologie ist eine relativ junge Wissenschaft. Mitte des 19. Jahrhunderts haben westliche Mediziner begonnen, Hormone neu zu erkennen. Doch auch jetzt ist das Hormonsystem mit seinen Wechselwirkungen und Balancen längst noch nicht gänzlich erforscht. Und auch hier werden nur die Basics vermittelt. Der weibliche Körper spielt dabei eine Rolle. Der männliche aber auch. Und Sex ist nicht alles im Leben.
Endokrinologen forschen an Hormonen. Sie folgen ihnen ins kleinste Detail, zu den Molekülen. Unsere Medizin geht dabei in der Regel abweichenden und pathologischen Prozessen nach, das heißt, sie versucht, Krankheiten zu verstehen, zu behandeln und zu heilen und manchmal auch zu verhindern. Dabei spezialisiert sie sich mitunter so intensiv, dass sie den Blick für die Zusammenhänge verlieren kann. Nach den ganz normalen, nicht-kranken, sondern gesunden hormonellen Prozessen im Leben von uns Menschen gefragt, antwortete Joachim Spranger, Direktor der Medizinischen Klinik für Endokrinologie und Stoffwechselmedizin an der Berliner Charité: »Zu uns Endokrinologen kommen auch Menschen mit Befindlichkeitsstörungen und wollen wissen, was mit ihren Hormonen los ist. Einige Erkrankungen können wir regulieren. Aber weshalb manche Menschen sich trotzdem noch schlecht fühlen, verstehen auch wir Forscher oft nicht. Hormone steuern auch Stimmungen, und im Grunde muss man sagen: Die Menschen sind mit ihren Erfahrungen weiter als wir Mediziner.« Über die Physiologie der Hormone, also die Lehre von ihren ganz normalen Prozessen, Auswirkungen und Einflüssen auf unser tägliches Leben sollen die Menschen da draußen also mehr wissen als die vielen Wissenschaftler, die an dysfunktionalen Veränderungen im Hormonhaushalt forschen, beispielsweise von Insulin, Serotonin, Anabolika oder Thyroxin?
Was ist Wissen? Erfahrung oder Statistik, Empirie oder Evidenz? Oder, wie so oft, wenn in komplexen Welten scheinbare Widersprüche aufgebaut werden, beides: Gefühl und Beweis?
Das Extreme und das Kranke erscheinen auch uns hier draußen oftmals sensationeller als das Alltägliche. Transsexualität und Kleinwüchsige erregen dann eher unsere Aufmerksamkeit als stinknormale Östrogen- oder Kisspeptin-Signale. Wenn wir krank sind, interessiert uns unser Körper naturgemäß mehr, als wenn er still und leise funktioniert. Dabei kommt sein hochkompliziertes Zusammenspiel immer noch einem Wunder gleich. Von dem wir im Alltag viel zu wenig wissen. Auch weil die Schule darauf weniger Wert legt als auf, beispielsweise, die Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre. Dabei müssten die Zauberwörter eigentlich sein: Homöostase und Salutogenese. Wie bringe ich mich als ganzen Menschen in ein Gleichgewicht von Physis und Psyche? Wie erhalte ich Gesundheit? Leider fehlt sie uns erst dann, wenn sie weg ist. Man muss aber gar nicht sterben, um tot zu sein. Manche sind es schon vorher. Und dagegen gibt es eine gute Medizin, und das ist das Wissen um die Vielfalt, also Lebendigkeit des Lebens.