Buch
Mein Name ist Griz. Meine Kindheit war anders als deine. Ich hatte keine Freunde, einfach aus dem Grund, dass ich außer meiner Familie kaum jemanden kenne. Überhaupt bin ich in meinem ganzen Leben nur einer Handvoll Menschen begegnet. Zwar sagen meine Eltern, dass die Welt einst bevölkert war, doch jetzt gibt es nur noch uns. Aber wir sind nicht einsam auf unserer entlegenen Insel. Wir haben uns – und unsere Hunde. Aber dann kam der Dieb, und er stahl meinen Hund. Auch wenn es kein Gesetz mehr gibt, das Diebstahl bestraft, werde ich ihn mir zurückholen. Denn was bleibt von unserer Menschlichkeit übrig, wenn wir nicht für jene, die wir lieben, alles, wirklich ALLES tun …
Autor
C. A. Fletcher lebt in Schottland, zusammen mit seinen Kindern und seinen Hunden. Sein Roman »Ein Junge, sein Hund und das Ende der Welt« erschien zuerst in England und berührte mit seiner bewegenden Geschichte über Mut, Hoffnung und Überleben in einer den Menschen fremd gewordenen Welt unzählige Leser.
C. A. FLETCHER
EIN JUNGE,
SEIN HUND
UND DAS ENDE
DER WELT
Roman
Deutsch von Vanessa Lamatsch
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »A Boy and His Dog at the End of the World« bei Orbit, an imprint of Little, Brown Book Group London.
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Copyright der Originalausgabe © 2019 by Man Sunday Ltd.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Penhaligon in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Catherine Beck
Umschlaggestaltung: Max Meinzold, München, nach einer Idee von © 2019 Hachette Book Group, Inc.
Umschlagdesign: Lauren Panepinto
Umschlagfotos: Eren evik/EyeEm/Getty Images; Shutterstock.com
BL · Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-24938-0
V001
www.penhaligon.de
Für die Mitternachtsschwimmer – und alle ehemaligen und gegenwärtigen Mitglieder des Two O’clock Tea Clubs.
Besonders Jack, Ari, Molly und Hannah.
Möge es an euren Stränden immer Feuer, Hunde und Lachen geben, egal, wie das Wetter auch sein mag.
Ein Wort zu Spoilern
Es wäre freundlich gegenüber anderen Lesern – um nicht zu sagen gegenüber dem Autor – , wenn die Entdeckungen, die ihr mit Griz auf seiner Reise durch die Ruinen unserer Welt macht, unser Geheimnis bleiben …
C. A. F.
Ein Mann hat meinen Hund gestohlen.
Ich habe ihn verfolgt.
Schlimme Dinge sind geschehen.
Ich kann niemals nach Hause zurückkehren.
1
DAS ENDE
Hunde haben uns von Anfang an begleitet.
Als wir noch Jäger und Sammler waren, Afrika verlassen und angefangen haben, uns in der Welt auszubreiten, waren sie an unserer Seite. Sie haben unsere Feuer bewacht, während wir schliefen, und uns in der langen Morgendämmerung des Menschen, als wir unser Essen noch gejagt haben, statt es anzubauen, dabei geholfen, Beute zu erlegen. Später, als wir Bauern wurden, haben sie unsere Felder und Herden bewacht. Sie haben auf uns und wir auf sie aufgepasst. Noch später, als wir Dörfer und Städte gebaut haben, haben sie mit unseren Familien in unseren Häusern gelebt. Von all den Tieren, die uns durch die Jahrtausende begleitet haben, waren uns die Hunde immer am nächsten.
Und diejenigen, die übrig geblieben sind, begleiten uns immer noch, hier am Ende der Welt. Es mag keine Gesetze mehr geben außer jenen, die man selbst macht, aber wenn du meinen Hund stiehlst, kannst du zumindest damit rechnen, dass ich dich verfolge. Wenn wir denen gegenüber, die wir lieben, nicht loyal sind, was soll das Ganze dann? Das wäre, als hätte man kein Gedächtnis. Dann hört man auf, ein Mensch zu sein.
Es ist eine Art von Tod, selbst wenn man weiteratmet.
Also. Es hat sich herausgestellt, dass das Ende der Welt nicht von einem großen Knall begleitet wurde. Oder auch nur von einem Wimmern. Versteh mich nicht falsch: Es gab Explosionen, manche groß, manche klein, aber das war am Anfang, bevor die Leute richtig verstanden haben, was vor sich ging.
Doch die Explosionen waren nicht der Grund für das Ende. Sie waren Symptome, nicht die Ursache.
Es endete mit der Kastration, auch wenn die Auslöser dafür nie geklärt wurden – oder falls doch, dann erst, als es zu spät war, um etwas dagegen zu unternehmen. Es gab so viele Theorien für die plötzlich kinderlosen Menschen: eine Salve kosmischer Strahlen, eine außer Kontrolle geratene Chemiewaffe, Bioterror, Umweltverschmutzung (ihr habt die Welt wirklich ins Chaos gestürzt), irgendeine Art genetischer Mutation, die von einem Virus aus dem All ausgelöst wurde, oder sogar wütende Götter verschiedener Glaubensrichtungen. Das ›Wie‹ und ›Warum‹ wurden immer unwichtiger, als die Leute sich an das ›Was‹ gewöhnten und ihnen klar wurde, dass das große finale ›Wann‹ auf sie zukam wie eine Sturmfront. Eine, vor der nicht mal die Schnellsten, Reichesten, Klügsten oder Mächtigsten fliehen konnten.
Die Welt – der menschliche Teil davon – war kastriert worden oder vielleicht unfruchtbar geworden – vielleicht auch beides – , und die Leute hörten einfach auf, Kinder zu bekommen. Mehr brauchte es nicht. Die letztgeborene Generation – die Kinderlosen, wie sie sich selbst nannten, was beweist, dass Ironie zu den letzten Dingen gehörte, die untergingen – ist einfach immer älter und älter geworden, bis sie gestorben sind, wie Menschen es schon immer getan haben.
Und als sie weg waren, war es das. Kein Knall, kein Wimmern. Eher ein müdes Seufzen.
Es war eine weiche Apokalypse. Und obwohl sie denen, die sie durchleben mussten, wahrscheinlich hart vorkam, ist es geschehen. Und jetzt sind wir wenigen – wir unendlich wenigen – ganz allein, hängen auf der anderen Seite dieses Ereignisses fest.
Wie kann ich dir das erzählen und nicht tot sein? Ich gehöre zu den Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Schätzungen zufolge sind ungefähr 0,0001 Prozent der Weltpopulation irgendwie der Kastration entkommen. Sie sind als die Sonderfälle bekannt. Das bedeutet, wenn es vor der Kastration 7 000 000 000 Menschen gab, konnten weniger als 7 000 von ihnen noch Kinder bekommen. Einer von einer Million. Mehr oder weniger. Und nachdem man zwei Leute braucht, um ein Baby zu zeugen, waren es eher zwei von zwei Millionen Menschen.
Willst du wissen, ein wie großer Sonderfall ich bin? Auf dem alten Foto, das ich von dir habe, trägst du ein T-Shirt mit dem Namen eines noch älteren Fußballclubs darauf. Du siehst wirklich glücklich aus. In meinem gesamten Leben habe ich nicht genug Menschen getroffen, um zwei Mannschaften für ein Fußballspiel zu bilden. So leer ist die Welt.
Wenn das hier eine richtige Geschichte wäre, würde sie vielleicht ruhig anfangen und sich zu einer Katastrophe aufbauen, und dann würde sich vielleicht ein Held oder eine Gruppe Helden darum kümmern, dass alles wieder gut wird. Ich habe jede Menge solcher Geschichten gelesen. Ich mag sie. Besonders diejenigen, in denen sich eine große Gruppe Leute zusammentut – weil schon die Vorstellung einer großen Gruppe Menschen für mich interessant ist. Denn auch wenn ich schon viel gesehen habe, das noch nie.
Aber das ist nicht diese Art von Geschichte. Sie ist nicht erfunden. Hier gibt es nur mich als Chronist der Realität, um zu erzählen, was ich weiß, und zu berichten, was tatsächlich geschehen ist. Und alles, was ich weiß, selbst meine Geburt, geschah lange, lange nachdem diese Apokalypse zum letzten Mal gekeucht hat.
Ich sollte damit anfangen, mich vorzustellen. Ich bin Griz. Das ist nicht mein richtiger Name. Ich habe noch einen hochtrabenderen Namen, aber Griz werde ich schon sehr lange genannt. Sie haben gesagt, ich hätte als Kind immer geweint und ein Geräusch gemacht, das an meinen Namen erinnert. Also wurde ich zum kleinen Grizzler. Und als ich größer wurde, wurde mein Name kürzer, und jetzt bin ich einfach Griz. Ich weine nicht mehr. Dad sagt, ich sei stoisch – und er sagt das, als wäre es etwas Gutes. Stoisch heißt, dass ich mich nicht oft beschwere. Er sagt, es wirke, als hätte ich all mein Jammern schon erledigt, bevor ich reden konnte, und dass ich – auch wenn ich zu viele Fragen stelle – Dinge inzwischen einfach erledige. Und auch das klingt bei ihm, als wäre es etwas Gutes. Ist es auch. Jammern sorgt nicht dafür, dass Dinge erledigt werden.
Und wir haben immer eine Menge zu tun, hier, am Ende der Welt.
Hier ist mein Zuhause, und mein Zuhause ist eine Insel, und wir ist meine Familie. Meine Eltern, mein Bruder und meine Schwester, Ferg und Bar. Und natürlich die Hunde. Meine beiden heißen Jip und Jess. Jip ist ein langbeiniger Terrier, braun und schwarz, mit rauem Fell und Augen, die nichts übersehen. Jess ist genauso groß, aber sie hat glattes Fell, ist schmaler gebaut und hat einen weißen Fleck auf der Brust. Sie sind Mischlinge, Bruder und Schwester, aber trotzdem verschieden. Jess ist eine Seltenheit, weil jeder Wurf heutzutage nur noch aus Männchen zu bestehen scheint. Vielleicht hat das auch mit der Kastration zu tun. Vielleicht hat das, was uns getroffen hat, auch die Hunde getroffen, wenn auch weniger schlimm. Auf jeden Fall werden nur noch sehr wenige Hündinnen geboren. Vielleicht ist das ein Nachteil für die Hunde – eine Bestrafung für ihre Loyalität. Vielleicht sind sie ein kosmisch unfairer Kollateralschaden, weil sie uns all diese Jahrhunderte lang begleitet haben.
Wir sind die einzigen Menschen auf der Insel. Das ist in Ordnung, weil sie klein ist und genau für uns fünf ausreicht, auch wenn ich manchmal denke, sie würde besser zu uns passen und wäre weniger klaustrophobisch, wenn wir zu sechst wären. Die Insel heißt Mingulay. So hieß sie auch, als du noch am Leben warst. Sie liegt auf der Atlantikseite von etwas, das einmal Schottland war. Westlich gibt es nichts außer Meer und dann Amerika, aber wir sind uns ziemlich sicher, dass dieses Land nicht mehr existiert.
Im Norden liegen Pabbay und Sandray, niedrige Inseln, auf denen wir unsere Schafe und Pferde grasen lassen. Nördlich davon gibt es eine größere Insel namens Barra, doch dort landen wir nie an – was eine Schande ist, weil es dort eine Menge große Häuser und andere Sachen gibt. Doch wir betreten die Insel nie, weil irgendetwas passiert und das Land schlecht ist. Es ist seltsam, ein ganzes Leben lang an einem Ort vorbeizusegeln, der so groß ist, dass mitten im Hafen sogar eine klein Burg steht, ohne dort jemals an Land zu gehen. Wie ein Juckreiz, an den man nicht herankommt und wo man sich niemals kratzen kann. Doch Dad sagt, wenn man heute Barra betritt, bekommt man etwas viel Schlimmeres als Juckreiz. Und nachdem es seine Eltern getötet hat, gehen wir dort nicht hin. Die Insel bringt Unglück, und heutzutage leben dort nur Kaninchen. Selbst Vögel scheinen Barra nicht zu mögen; nicht einmal die Möwen, die nie höher landen als auf dem feuchten Sand unterhalb der Flutlinie.
Nordöstlich von uns zieht sich eine lang gezogene Inselkette entlang, die Uist heißt, und dort liegt auch Eriskay. Diese Orte bringen kein Unglück, und wir sind oft dort. Und obwohl es dort keine Menschen mehr gibt, gibt es doch jede Menge Wildtiere und wilde Kartoffeln. Einmal im Jahr fahren wir hin und campen dort eine Woche oder so, während wir die Gerste und den Hafer von den alten Feldern an der Küste ernten. Und manchmal fahren wir dorthin, um zu wikingern. »Den Wikinger machen« nennt Dad es, wenn wir länger als einen Tag segeln und auf dem Trip übernachten, um plündern zu gehen wie die uralten Seefahrer in den Büchern, mit ihren Langbooten und heroischen Taten. Wir allerdings sind keine Helden; wir wikingern nur, um zu überleben, suchen nützliche Dinge aus der alten Welt oder nach verschiedenen Materialien, die wir aus den verlassenen Häusern bergen können. Und Bücher, natürlich. Bücher sind ziemlich haltbar, wenn man sie vor Feuchtigkeit und Ratten schützt. Sie können locker Hunderte Jahre überleben. Lesen ist auch etwas, das wir tun, um zu überleben. Es hilft zu wissen, woher wir kommen und wie wir an diesen Punkt gelangt sind. Und jedes Mal, wenn man ein Buch öffnet, ist es, als würde sich eine Tür öffnen – selbst für mich, obwohl diese flachen, leeren Inseln alles sind, was ich je kennengelernt habe. Doch mit einem Buch kann ich reisen, über weite Strecken und durch die Zeit.
Selbst die weite See und der freie Himmel können klaustrophobisch wirken, wenn man ihnen niemals entkommt.
Also, das bin ich … womit nur noch du bleibst. In gewisser Weise weißt du, wer du bist, oder zumindest wusstest du es. Natürlich bist du tot, wie jeder Mensch, der früher auf der Erde gewandelt ist. Schon lange.
Und wieso rede ich mit einem toten Menschen? Dazu kommen wir noch. Doch zuerst sollte ich die Geschichte weitererzählen. Ich habe genug gelesen, um zu wissen, dass ich die Erklärungen nach und nach einstreuen sollte.
2
DER REISENDE
Hätte er keine roten Segel gehabt, hätten wir ihm wahrscheinlich weniger vertraut.
Das Boot war schon aus der Ferne zu erkennen, viel früher, als es ein Boot mit weißen Segeln vor dem Dunst im Nordwesten gewesen wäre. Diese roten Segel waren ein Schock aus Farbe, der den Blick einfing und Aufmerksamkeit erregte wie ein plötzlicher Schrei, der eine lang andauernde Stille zerreißt. Das waren nicht die Segel von jemandem, der versucht, sich anzuschleichen. Sie hatten die ehrliche Strahlkraft von Mohnblüten. Vielleicht haben wir ihm deswegen vertraut. Deswegen, und wegen seines Lächelns und seiner Geschichten.
Vertraue niemals jemandem, der gute Geschichten erzählt, zumindest nicht, bevor du nicht weißt, warum er es tut.
Ich befand mich hoch oben auf Sandray, als ich die Segel sah. Ich war müde und mehr als wütend. Ich hatte den Morgen damit verbracht, einen Anker zu retten, der sich letzte Woche von Fergs Boot gelöst hatte … schwere Arbeit, die er meines Erachtens selbst hätte machen müssen, obwohl er behauptete, dass seine Ohren ihm nicht erlaubten, so tief zu tauchen, wie ich es konnte, und dass Anker nicht auf Bäumen wuchsen. Nachdem ich das geschafft hatte, war ich jetzt damit beschäftigt, einen Hammel zu retten, der in einen schmalen Felsspalt unterhalb der Weide gefallen war und dort feststeckte. Das Tier war nicht schlimm verletzt, aber es war stur und undankbar, wie die meisten Schafe, also ließ es nicht zu, dass ich ein Seil um ihn legte. Er hatte mich schon zweimal gerammt. Beim ersten Mal hatte er mich heftig genug unter dem Kinn erwischt, dass mir unten rechts ein Zahn abgebrochen war. Ich hatte den Hammel verflucht und es dann erneut probiert. Meine Knöchel waren übel verkratzt, weil er beim zweiten Angriff meine Hand gegen den rauen Stein geschlagen hatte, und ich stand gerade ein Stück von ihm entfernt, leckte meine Faust und fluchte, als ich das Boot entdeckte.
Das plötzliche Aufblitzen von Farbe ließ mich erstarren.
Ich war zu schockiert, um bei dem Geschmack von Blut in meinem Mund an das Rot der Segel zu denken, aber andererseits besitze ich auch nicht die Gabe der Prophezeiung. Keine im Vergleich zu meiner anderen Schwester Joy, die anscheinend immer wusste, dass Leute nach Hause zurückkehren würden, kurz bevor sie tatsächlich kamen, oder die an einem sonnigen Tag den nahenden Sturm riechen konnte. Inzwischen glaube ich nicht mehr an solche Dinge … auch wenn ich es getan habe, als ich noch kleiner war und weniger gedacht habe … als ich noch mit ihr frei über die Insel lief, glücklich und ohne Sorgen außer der Frage, was es zum Abendessen geben würde. In diesen Tagen nahm ich Joys scheinbare prophetische Gabe als so alltäglich und real hin wie das kalte Wasser aus der Quelle hinter dem Haus. Später, als ich größer wurde und anfing, mehr zu denken, habe ich beschlossen, dass es überwiegend mit Glück zu tun hatte. Und nachdem sie letztendlich für immer über die schwarze Klippe am höchsten Punkt der Insel verschwunden ist, war ihr Glück nicht mal zuverlässig.
Hätte sie wirklich eine prophetische Gabe besessen, hätte Joy nicht versucht, ihren Drachen zu retten und wäre nicht in diesem einsamen Moment aus dem Leben gestürzt. Hätte sie eine prophetische Gabe besessen, hätte sie gewartet, bis wir auf die Insel zurückgekehrt waren, um ihr zu helfen. Ich habe den Drachen hinterher in einer Felsspalte hängen sehen und wusste, dass wir ihn mit einer langen Harke hätten erreichen können, sodass niemandem ein Leid hätte geschehen müssen. Doch Joy musste versucht haben, ihn selbst zu erreichen, und war in die freie Luft zweihundert Meter über der Stelle gestürzt, an der die Wellen zweitausend Meilen Zeit hatten, um Schwung aufzunehmen, bevor sie gegen das erste unbewegliche Objekt brandeten, das ihnen je begegnet war: die dunkle Klippe, die unser Zuhause bewacht. Joy allerdings hätte nie darauf gewartet, dass wir kamen, um ihr zu helfen. Sie war immer ungeduldig. Ein zähes kleines Ding, das es immer eilig hatte, mit Ferg und Bar Schritt zu halten und alles zu tun, was sie taten, obwohl sie viel jünger war. Bar meinte später, man könnte meinen, dass sie immer so in Eile gewesen war, weil sie gespürt hatte, dass ihr nicht so viel Zeit blieb wie dem Rest von uns.
Wir haben Joys Körper nie gefunden. Und mit ihr verschwand auch meine Kindheit, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt war und sie nur ein Jahr älter. Zwei Geburtstage später, inzwischen ein Jahr älter, als sie je werden würde, war ich geistig so wie jetzt: erwachsen. Obwohl mich Bar und Ferg selbst heute, viele Jahre danach, immer noch Kind nennen. Aber sie sind auch sechs und sieben Jahre älter als wir. Also waren Joy und ich immer die Babys. Unsere Mutter hat uns so genannt, um uns von den anderen beiden zu unterscheiden.
Doch nachdem Joy abgestürzt ist, hat Mum keinen von uns je wieder irgendwie genannt. Sie hat überhaupt nie wieder gesprochen. Wir haben sie auf halbem Weg auf dem Hügel gefunden, der zum Fuß der Klippe führt, und hätten sie fast ebenfalls verloren. Soweit wir es nachvollziehen konnten, musste sie den Hang hinuntergerannt sein, so schnell sie konnte – vielleicht verrückt vor Trauer, vielleicht auf dem Weg zum Dory, in der verzweifelten, sinnlosen Hoffnung, das Boot ins Meer zu schieben und gegen die Flut um die Insel zu fahren, um ein Kind zu retten, das diesen Sturz in Wirklichkeit niemals hätte überleben können. Sie hat niemals wieder gesprochen, weil sie sich fast das Hirn zerstört hat, als sie gestürzt und mit dem Kopf gegen einen Stein geknallt ist, sodass eine große Wunde an ihrer Schläfe klaffte und wässriges Blut aus ihren Ohren drang.
Das war der schlimmste Tag von allen, obwohl die folgenden kaum fröhlicher waren. Mum ist nicht gestorben, aber sie war nicht mehr da und ihr Hirn zu schwer verwundet oder zu vernarbt, um ihren eigenen Kopf jemals wieder zu verlassen. Im Vorher wäre sie in ein Krankenhaus gebracht worden, und sie hätten sie operiert, um den Druck im Schädel zu mildern, hat Dad gesagt. Doch wir leben im Danach, also hat er beschlossen, es selbst zu tun, mit einem Handbohrer. Und er hätte es auch getan, wenn er den Bohrer gefunden hätte. Doch das Werkzeug war nicht dort, wo es hätte sein sollen, und dann hörte die Blutung auf, und sie schlief einfach für lange, lange Zeit, und es drang keine Flüssigkeit mehr aus ihren Ohren. Also war es vielleicht besser, dass er nicht versucht hat, ihr ein Loch in den Kopf zu bohren, um sie zu retten.
Ich hoffe es, weil ich weiß, dass Ferg den Bohrer versteckt hat. Er hat gesehen, dass ich ihn beobachtet habe, aber wir haben niemals darüber gesprochen. Würden wir es tun, dann würde ich ihm sagen, dass ich ihn dafür bewundere – weil Dad Mom umgebracht hätte und dann zusätzlich zu allem anderen auch noch mit diesem Wissen hätte leben müssen. Und obwohl sie inzwischen in ihrem Kopf gefangen ist, kann man neben ihr sitzen und ihre Hand halten. Manchmal drückt sie einem die Finger und lächelt fast. Es ist tröstend, dass dieses winzige Stück von ihr geblieben ist … die Wärme ihrer Hand, der Hautkontakt. Dad hat gesagt, an diesem Tag sei das Schlimmste passiert, was uns je zugestoßen ist, und dass wir jetzt weitermachen und weiterleben müssen, genau wie im großen Zusammenhang der Welt das Schlimmste zugestoßen ist und sie trotzdem fortbesteht.
Manchmal hält Dad Mums Hand, in der Dunkelheit neben dem Feuer, wenn er denkt, dass es keiner von uns bemerkt. Er tut es im Geheimen, weil er glaubt, wir würden es als Zeichen von Schwäche deuten, dass ein erwachsener Mann diesen Moment der Wärme braucht. Vielleicht ist es schwach. Vielleicht verbirgt sich unter der Schwäche nur Bedürftigkeit. Das hat Bar an einem Abend zu Ferg gesagt, als sie aufgebracht war, und niemand wusste, dass ich zuhörte.
Mir blieb genug Zeit, den Hammel zurückzulassen, meine Hunde mit einem Pfiff von ihrer Kaninchenjagd zurückzurufen und die kurze Seemeile nach Hause zu fahren, um die anderen zu warnen, lange bevor der Reisende an Land kam. Ich hätte mir Zeit lassen können, weil die scharfsichtige Bar die roten Segel ebenfalls gesehen hatte und alle bereit waren – was bedeutete, dass sie und Dad an der Küste standen und Ferg nirgendwo zu entdecken war. Bar war sich nicht sicher, ob es wirklich nötig war, dass er sich versteckte und mit dem Gewehr über uns wachte. Sie fand, das Boot unter den roten Segeln sähe aus wie das, was die Lewisleute benutzten, also hatten sie vielleicht einfach neue Segel gefunden. Die Lewisleute waren eine sechsköpfige Familie, die fünf Inseln weiter nördlich lebten. Wir wussten von niemandem, der näher bei uns wohnte, und wir kannten sie gut. Bar trug ihr Haar in einem langen Zopf, der ihr weit über den Rücken fiel, und sie würde sich irgendwann mit einem der Jungs zusammentun. Das hatte sie bereits beschlossen. Doch da sie Bar war und daher in jeder Hinsicht eigenwillig, sagte sie, dass sie keinen Grund sah, die Entscheidung zu überstürzen, wer von den vieren es werden sollte. Es war ja nicht so, als würden sie irgendwohin verschwinden oder als gäbe es vier andere Mädchen, mit denen sie sich zusammentun könnten. Die Lewisleute waren praktisch veranlagt, und manchmal arbeiteten wir zusammen, um Dinge zu erledigen, bei denen man mehr als vier Paar Hände brauchte. Doch wir griffen ihren Vorschlag, näher zu ihnen zu ziehen, nie auf, und sie dachten nie daran, nach Süden umzusiedeln. Oder wenn sie darüber nachdachten, hielten sie nicht viel von der Idee. Aber sie waren unsere Nachbarn und die einzigen anderen Menschen in einem Umkreis von hundert Meilen. Sie waren für uns einfach die Lewisleute, obwohl sie auch einen Familiennamen hatten, der Little lautete.
Als die roten Segel näher kamen, sahen wir alle, dass Bar sich geirrt hatte; es war ein ganz anderes Boot. Es war größer, und der Mann am Ruder hatte Haare, die wie ein Banner hinter ihm im Wind flatterten. Alle Lewisleute schnitten sich das Haar kurz, selbst Mary, die Mutter. Allerdings wirkte sie sowieso eher wie ein Mann, obwohl sie vier Jungen geboren hatte.
Der langhaarige Reisende entpuppte sich als der einzige Mensch auf dem Boot, obwohl es auf den ersten Blick zu groß wirkte, um von einem allein gesegelt zu werden. Geschickt steuerte er in das Flachwasser im Windschatten der kleinen Landzunge vor unserem Strand, womit er sein gutes Auge für sichere Liegeplätze verriet, und rief uns einen Gruß zu, als er Anker warf. Seine Stimme war heiser, aber laut, und er sagte, er sei allein und würde gern an Land kommen, wenn wir es erlaubten. Er habe Dinge zum Tauschen und von den Lewisleuten, bei denen er vor zwei Tagen aufgebrochen war, von unserem Aufenthaltsort erfahren. Er hatte auch einen Brief von ihnen dabei, mit dem er in der Luft herumwedelte, das Papier weiß vor der dunkler werdenden See hinter ihm.
Dad winkte ihn heran.
Der Mann senkte ein kleines Beiboot über die Reling und ruderte zum Ufer. Ich half ihm an Land, dann zogen wir gemeinsam das Boot über die Flutlinie.
Ich spürte Dads Hand wie eine Warnung auf meiner Schulter, als wäre ich zu enthusiastisch und unbedacht, doch dann wuschelte er mir durch die kurzen Haare am Hinterkopf, was er nur tut, wenn er freundlich gestimmt ist.
Ich bin Abraham, sagte Dad und nickte dem Fremden zu. Nenn mich Abe. Und das ist mein Junge, Griz.
Hallo Griz, sagte er mit einem Grinsen, das mir gefiel, kaum dass es seinen dichten roten Bart in einem Aufblitzen von Weiß teilte.
Und dann rasten die Hunde heran, um ihn zu umringen, bevor ich nach seinem Namen fragen konnte. Sie bellten und knurrten und tobten in einem Durcheinander aus Zähnen und Schwänzen. Als er sich hinkniete, um sie zu begrüßen, fingen die Schwänze an zu wedeln, und das Knurren verwandelte sich in Winseln, weil offenbar alle Hunde von diesem Fremden, der vom Meer gekommen war, gestreichelt und gekrault werden wollten. Er konnte mit Hunden umgehen und erzählte uns, dass er seine eigene Hündin erst vor wenigen Wochen verloren habe, als sie in einem Sturm am Nordkap über Bord gespült worden sei, und dass er sie vermissen würde wie einen Arm. Sie war ein halber Husky-Mischling namens Saga gewesen, clever wie ein Mann, sagte er, weiß, schwarz und braun mit einem braunen Auge, das zu ihren Ohren passte, und einem blauen, das die Farbe des Himmels aufgriff. Er hatte sie sicher unter Deck in der kleinen Kabine untergebracht, doch als er stürzte und sich verletzte, weil das Boot in den Sog einer ungewöhnlich hohen Welle geriet, hatte Saga seinen Schmerzensschrei gehört und – da sie ein cleverer Hund war – den Riegel geöffnet, um ihm zu helfen. Die nächste Welle hatte sie über Bord gespült, und er hatte sie nie wiedergesehen, nicht einmal als Kopf, der in den berghohen Wellen hinter dem Heck trieb. Der Wind hatte sein Boot fortgetrieben, sodass er keine Chance hatte, sie wiederzufinden. Er zeigte uns die Narbe an seinem Kopf, und daran, wie er beim Reden sanft das Fell unserer Hunde liebkoste, konnten wir sehen, dass der Schmerz tiefer ging als seine geheilte Haut.
Wie ich schon sagte, es war eine gute Geschichte. Und wie ich später herausgefunden habe, waren Teile davon sogar wahr. Der Hund mit einem braunen Augen und einem blauen, clever wie ein Mann, der war so wahr wie der Tod selbst.
Ich nehme an, du hättest es nicht so interessant gefunden wie wir, einen neuen Menschen zu betrachten. Du hast in einer Welt gelebt, in der dir ständig neue Leute begegnet sind. Wenn du in einer Großstadt gewohnt hast, müssen sie um dich herumgeflossen sein wie ein riesiger Makrelenschwarm, und du wärst nur einer von Tausenden oder Millionen gewesen. Zweifellos immer noch du selbst und in deinem eigenen Kopf, aber auch Teil von etwas Größerem. Hier ist jedes neue Gesicht ein Ereignis, fast ein Schock – jeder Neue selten genug, dass er einem fast wie eine andere Spezies erscheint. Der Reisende sah ganz anders aus als die Menschen, die ich bisher getroffen hatte. Zum Beispiel war sein langes Haar dicht und wellig und hatte die Farbe von Flammen. Ein Rotschopf. Etwas, wovon ich gelesen und was ich auch auf verblassten Bildern gesehen hatte, aber im wahren Leben war es mir noch nie begegnet. Die Haare hatten eine erstaunliche Farbe, so fremd und abrupt wie die Explosionen orangefarbener Blumen, die wir regelmäßig auf anderen Inseln entdeckten, immer in der Nähe alter Gärten. Blumen, die meine Mutter Krokus genannt hatte, als sie noch sprach. Sie kannte alle Blumen und Pflanzen. Bar hat mir erzählt, dass Mom gesagt hat, die Krokusse seien eigentlich nicht auf den Inseln heimisch gewesen, seien aber Überlebenskünstler, so wie wir. Und der Reisende war nicht nur ein Rotschopf, sondern auch ein Rotbart. Der Bart war ein Urwald, der fast genauso tief vor seinem Gesicht herunterhing wie das Haar dahinter. Seine Haut war fahl, aber wettergegerbt, und seine Augen, die unter einer schroffen Stirn in die Welt hinausspähten, zeigten ein gefährliches Blau. Ich weiß nicht, warum ich das Blau gefährlich fand, aber das war das Wort, das mir in den Kopf kam, als ich sie sah. Vielleicht, weil sich diese Augen in diesem Moment auf mich richteten und ich sie nur für einen Moment – als er mich dabei ertappte, wie ich ihn anblickte – ohne das Lächeln sah, das folgte. Und ich weiß, dass ich das Wort in diesem Moment gedacht und nicht erst hinterher, nachdem alles passiert war, hinzugefügt habe: Ich habe definitiv gefährliches Blau gedacht, doch dann habe ich diesen Eindruck wieder verworfen.
Vielleicht warst du, der du in einer Welt voller Unterschiede und Wahlmöglichkeiten gelebt hast, besser darin, deinem Bauchgefühl zu folgen, wenn es um Menschen ging. Ich hatte – und habe immer noch – wenig, womit ich Leute vergleichen kann. Also habe ich das gefährliche Blau seiner Augen abgetan und entschieden, dass diese Bläue einfach anders war, weil ich bisher nur braune oder grüne Augen gesehen hatte. Und als er lächelte, fiel es schwer, diese Augen kalt zu finden. Aber vielleicht fiel es mir so schwer, weil ich mit zwei Dingen gleichzeitig umgehen musste: dem Feuer in seinem Haar und dem Eis in seinen Augen. Wenn er nicht lächelte, war das Gesicht hart wie ein Hammer, aber wenn das Lächeln auf dich gerichtet war, schien es die Welt zu erwärmen.
Du siehst aus wie ein Wikinger, waren die ersten Worte, die ich zu ihm sagte. Und so war es. Ich hatte ihn, oder Gesichter wie seines, in Geschichtsbüchern und auf alten Bildern gesehen – Männer in gehörnten Helmen, die Äxte und Raubgut trugen.
Und da fragte mich dieser Mann, der aus dem Norden herangesegelt war: Was ist ein Wikinger?
Es zeigt, dass sogar eine Frage eine Lüge sein kann, wenn sie richtig gestellt wird.
3
WER BIST DU?
Ich habe dich in einem Sommer gefunden, als wir zum wikingern unterwegs waren. Als Feg anfing, mich aufzuziehen, weil ich Dinge aufschreiben wollte – denn wer in dieser ganzen leeren Welt sollte das jemals lesen? – , sagte Dad, das sei eine natürliche Folge davon, dass ich zu viel lese. Er sagte, wenn man eine Menge liest, fängt man an, wie ein Schriftsteller zu denken, so wie man, wenn man mit einem Fiedelspieler im Haus aufwächst, anfängt zu pfeifen und die Melodien zu lernen, wie Ferg es getan hatte.
Ich lese eine Menge. Dazu komme ich noch. Dad spielt die Fiedel. Ich habe ihm gesagt, Ferg hätte vielleicht durchaus recht, weil ich nicht wusste, für wen ich schreiben sollte. Alle um mich herum kennen meine Geschichte, weil sie Teil davon sind. Aber ich wollte vielleicht eine Art Tagebuch führen, also sagte er, dann schreib einfach, wie du redest, sei nicht hochtrabend. Und ich sagte, aber wenn man spricht, dann spricht man mit jemandem, zumindest meistens.
Und Dad sagte, dann setz deine Vorstellungskraft ein. Stell dir jemanden vor und behalte ihn im Kopf, während du schreibst.
Und ich habe an dich gedacht, den Jungen mit meinem Gesicht.
Also. Du.
Du bist auf einem Foto zu sehen, das ich in einem Sommer in einem Haus auf North Uist gefunden habe. Diesmal haben wir nach Teilen für die Windmühle gesucht, die uns Strom verschafft, und Dad wusste, dass es Windmühlen desselben Typs oben im Norden gibt, wo North Uist durch den alten Damm mit Bernaray verbunden ist. Wir sind mit der Lugger nach oben gesegelt, und er und Ferg haben die Turbine aus einer alten, umgefallenen Mühle ausgebaut, während ich das große Haus am Horizont durchsucht habe. Wir hatten beschlossen, über Nacht in dem Haus zu bleiben, das wir schon kannten. Ein solides, aus Stein errichtetes Gebäude mit einem Dach, das immer noch einen Großteil des Wetters abhielt. Noch besser: Es gab dort eine Menge voller Bücherregale und etwas, das sich Snooker-Tisch nannte.
Es war eines der alten Gebäude, ein großes Bauernhaus, an das man über die Jahre immer wieder angebaut hatte, sodass es im Vergleich mit anderen Inselhäusern sehr weitläufig war. Die Wände waren einst gekalkt gewesen, doch von der Farbe war kaum etwas übrig, also war es ein graues Haus mit einem dunklen Schieferdach und intakten Glasfenstern, die mich scheinbar beobachteten, während ich die alte Einfahrt hinaufging. Ein Auto, das bis auf die Achsen verrostet war, stand im hohen Gras neben der Hintertür, als lauere es darauf, mich anzuspringen. Die Tür war nicht so leicht zu öffnen wie bei unserem letzten Besuch vor drei Jahren, aber ich war inzwischen größer und schaffte es, sie so vorsichtig aufzutreten, dass sie sich später auch noch schließen lassen sollte. Ich ließ sie offen, während ich darauf wartete, dass die Hunde vor mir in den Flur stürmten und alle wartenden Ratten vertrieben.
Jip und Jess rasten ins Haus. Ihre Krallen kratzten über den aufgesprungenen Plastikboden, als sie verschwanden, winselnd und bellend, wie immer, wenn sie aufgeregt waren. Doch es folgte kein Geräusch von Rattenmord, ob nun nah oder fern, und bald endete ihr Gebell, und sie trotteten zu mir zurück, wobei sie wie so oft enttäuscht und ein wenig verletzt wirkten, als hätte ich ihnen einen Spaß versprochen, der dann nicht geliefert wurde.
Etwas hatte sich im Haus verändert, seit wir das letzte Mal hier gewesen waren. Ich konnte nicht sagen, was es war, und ich konnte es auch nicht hören oder riechen, was mich nervös machte. Aber es gab einen Unterschied. Bisher war das Gebäude gewesen wie so viele der Häuser, die wir betraten, feucht und schimmelnd, voller Dinge, die man als ergreifend oder sinnlos empfinden konnte, je nachdem, wie man die Welt sah. Dad zum Beispiel drehte Fotos von Menschen mit den Gesichtern zur Wand, wenn er durch verlassene Häuser ging. Ich weiß nicht, warum er das tat. Er sagte, es wäre, um den Geistern Frieden zu schenken, aber eigentlich glaubt er nicht wirklich an Geister, oder zumindest behauptet er das. Bar, meine Schwester, hat diese Angewohnheit übernommen, aber sie sagt, sie täte es, damit uns diese toten Augen nicht ständig beobachten.
Ich glaube nicht, dass das wirklich stimmt.
Ich glaube, sie versucht nur, mir Angst einzujagen, weil sie immer Witze reißt und mich aufzieht, wenn sie guter Laune ist. Abgesehen von den Büchern, faszinieren mich an den leeren Häusern die kleinen Sammlungen von Dingen, die Leute früher auf ihre Regale gestellt haben. Es sind nicht nur die Fotos, von denen viele so verblasst sind, dass sie nur noch aussehen wie nass gewordenes Papier – es sei denn, die Räume sind dunkel. Es sind auch die kleinen Porzellanfiguren und Tassen und Karaffen und Gläser und Schnitzereien und das andere Zeug. Schmuck. Trophäen. Erinnerungsstücke. Dinge, die Leuten einmal etwas bedeutet haben – genug bedeutet haben, dass sie Platz dafür geschaffen und sie ausgestellt haben, um sie jeden Tag zu sehen. Wir haben eigentlich keinen Schmuck oder Zeit für Erinnerungsstücke. Alles, was wir tun, dreht sich ums Überleben, darum weiterzumachen. Wir haben keine Zeit für Relikte oder Souvenirs. Immer wenn wir wikingern gehen, sagt Dad, nehmt nur die nützlichen Sachen. Vielleicht habe ich deswegen beschlossen, das hier zu schreiben. Ein Souvenir, das ich in der Tasche herumtragen kann. Na ja.
Das Bild von dir.
Das Bild von dir war definitiv ein Erinnerungsstück. Du hast jemandem etwas bedeutet, selbst wenn dieser Jemand du selbst warst. Ich habe dich unter dem Snooker-Tisch gefunden. Und wie ich dich gefunden habe, war seltsam und geheimnisvoll, und weil ein Foto etwas Kleines ist, habe ich dich mitgenommen, ohne dass jemand etwas davon wusste. Und jetzt lebst du zwischen den Seiten des Notizbuchs, in das ich all das hier schreibe. Bis jemand das hier liest, bist du wohl immer noch ein Geheimnis.
Ich hatte das Snooker-Zimmer schon mal betreten, als wir das letzte Mal im Haus gewesen waren. Der Raum wurde fast ganz eingenommen von dem Tisch, bedeckt von einem Staublaken, das an den Ecken bereits in Fetzen hing, weil vielleicht hundert Jahre des eigenen Gewichts dort Löcher gerissen hatten. Wir hatten das Laken abgenommen und die bunten Bälle über die hellgrüne Spieloberfläche gleiten lassen, um sie in den Taschen zu versenken. Früher hatte es Stöcke gegeben, mit denen man die Bälle anstieß, aber jetzt waren die Regale, in denen sie gestanden hatten, leer. Mir hatten die gleichmäßige Bewegung der Kugeln gefallen, und das Klappern, wenn sie gegeneinanderstießen. In unserer täglichen Welt läuft nicht viel so glatt, so zusammengeschustert, wie alles ist. Es gab eine große Wand aus Büchern auf der linken Seite, mit einem Fenster im rechten Winkel dazu. Ich hatte die Bücher bereits durchgesehen. Doch jetzt, da ich älter war, wollte ich schauen, ob mein erwachsenes Ich Bücher finden würde, die mir beim letzten Mal noch nicht gefallen hatten.
Die Fensterläden hatten sich verklemmt, und obwohl ich sie hätte öffnen können, tat ich es nicht. Mangelnder Lichteinfall schützte die Bücher, und ich wusste, dass ich die Läden zerstören würde, wenn ich sie öffnete, sodass es hinterher schwerer fiele, sie wieder zu schließen. Scharniere rosten. Und wenn nicht sie, dann die Schrauben, bis sie irgendwann aus dem alten Holz fallen. Also zog ich meinen Feuerstahl heraus und entzündete meine Öllaterne. Dann fiel mir der Feuerstahl aus den Händen und rollte unter den Snooker-Tisch.
Bei unserem letzten Besuch hatten wir dich wegen der Kisten nicht gefunden. Jemand hatte Kisten voll alter Korkfliesen unter dem Tisch gestapelt, sodass alles damit ausgefüllt war. Es waren dieselben Korkfliesen, die sich in der Küche und den Flur entlang langsam vom Boden lösten. Wir hatten übersehen, dass die Kisten um den Rand des Tisches gestapelt waren und die Mitte leer war, wie eine viereckige Höhle, ein Raum versteckt in einem Raum. Mein Feuerstahl war in den schmalen Spalt zwischen zwei Kisten gerollt, und ich habe das Geheimnis nur entdeckt, weil ich einen der Kartons verschieben musste.
Fischöl-Laternen verströmen mehr Geruch als Licht, aber selbst im sanften Glühen meiner Lampe konnte ich sehen, dass jemand den Platz als geheime Höhle genutzt hatte. Es war die Reflexion meiner Flamme in den Glasgefäßen auf der anderen Seite, die meine Aufmerksamkeit erregte. Gefäße mit Kerzenstummeln darin. Alte Kerzen brennen besser als die, die Bar anfertigt, also war mein erster Gedanke, die Stummel mitzunehmen und zu sehen, ob ich vielleicht noch ganze Kerzen finden konnte. Also kroch ich in die Höhle, und so fand ich die geheime Kammer.
Jemand hatte hier geschlafen, vor langer, langer Zeit. Es gab einen ausgerollten Schlafsack, Decken und Kissen, und Bücher und Dosen und Erste-Hilfe-Kästen standen an den Wänden aus Kisten aufgereiht. Eine Kette aus winzigen Lichtern war an den Rändern der Kammer unter den Boden des Tisches geklebt worden, die Art Lichter, wie sie in den alten Bildern, die ich gesehen habe, an Weihnachtsbäumen leuchten. Aber natürlich brannten sie nicht und würden das auch nie wieder tun. Doch das brachte mich dazu, darüber nachzudenken, wie dieser versteckte Ort wohl damals ausgesehen hatte – gemütlich, fröhlich, sogar ein wenig magisch. Am Boden des Tischs, der aus Schiefer bestand, hatte jemand ein paar der Korkplatten geklebt, um ein verziertes Dach für die Höhle zu schaffen. Ein Dach und eine Pinnwand, denn der Kork war mit Fotografien und Zeichnungen bedeckt.
Vielleicht lag es an dieser Lichterkette, die niemals wieder brennen würde, aber ich stellte fest, dass ich sehen wollte, wie es hier aussah, wenn es mehr Licht gab als meine rauchende Fischöl-Lampe. Also habe ich ein paar der Kerzenstummel entzündet und mich auf den knisternden Schlafsack gelegt. Ich fühlte, wie der synthetische Stoff unter meinem Gewicht zu Staub zerfiel, und in diesem Moment sah ich dich. Du warst das Bild direkt über den Kissen. Du musst das Letzte gewesen sein, was jemand, der hier schlief, gesehen hat, bevor er das Licht ausgeschaltet hat, und das Erste, was er am Morgen erblickte. Oder vielleicht warst du es sogar selbst. Vielleicht war dies deine Höhle. Auf jeden Fall warst du jemandem wichtig. Du wurdest geliebt. Vielleicht betrauert. Oder gefeiert. Oder beides.
Auf dem Foto machst du gerade einen Sternsprung am Strand, und neben dir ist ein Mädchen, das deine Schwester sein muss. Es ist ein strahlend sonniger Tag. Ihr seht euch sehr ähnlich. Sie ist kleiner. Das Bild hat euch beide auf dem Scheitelpunkt eures Sprungs eingefangen, für immer eingefroren zwischen Sand und Himmel, eure Arme und Beine weit ausgebreitet, lachend, ein fröhliches Blitzen in den Augen. Du schaust direkt in die Kamera. Sie dagegen sieht dich an, mit einem wilden, glücklichen Ausdruck, so wild, dass es fast schmerzt, ihn zu betrachten. Neben euch auf der anderen Seite ist ein kurzbeiniger Terrier, der ebenfalls springt und zu deinem Gesicht aufschaut, das Maul geöffnet in einem Lächeln oder einem Bellen. Und genau wie ich manchmal denke, dass du mir sehr ähnlich siehst, wirkt auch das Mädchen vertraut. Wenn ich die Augen zusammenkneife und meine Fantasie einsetze, sieht es ein wenig aus wie Joy. Vielleicht habe ich das Bild deswegen mitgenommen. Denn natürlich habe ich kein Bild meiner einst größeren, aber jetzt für immer kleineren Schwester. Vielleicht dachte ich, das Foto würde mir helfen, mich zu erinnern, wenn ich älter werde und sich mehr Erinnerungen aufhäufen und den Platz fordern, der einst nur uns beiden gehört hat. Vielleicht ist die leichte Ähnlichkeit auch einfach nur der Grund, warum ich diesen Bericht an dich richte. Ich weiß nur, dass ich noch nie ein Bild gesehen hatte, dass mich gleichzeitig so glücklich und so traurig gemacht hat. Selbst ohne das Mädchen – so sieht das Foto aus, nachdem ich es gefaltet habe, damit es in mein Notizbuch passt: Es zeigt dich und deinen Hund. Ihr wirkt wie die letzten glücklichen Leute am Ende der Welt, bevor das Danach begann.
Vielleicht schreibe ich aber auch mein Leben für dich auf, weil die Leute, mit denen ich reden konnte, nicht mehr da sind oder mir nicht mehr antworten können. Dad sagt, ich denke zu viel. Sagt, ich stelle zu viele Fragen. Sagt, er glaubt, dass der Mangel an Antworten mich unglücklich macht. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber ich weiß, dass er die ständige Fragerei hasst. Als nähme es ihm etwas weg, wenn er nicht weiß, wie er antworten soll. Ich suche einfach nur Informationen und will ihm keine Verantwortung für etwas aufladen, das sowieso zu groß ist, um von ihm verursacht worden zu sein. Und wieso verbringt er fast die gesamte Zeit, wenn er nicht arbeitet oder die Fiedel spielt, mit dem Kopf über einem Buch voller Fakten, als suche auch er nach Antworten?
Und das war das andere, was ich aus der geheimen Kammer mitgenommen habe. Die Bücher. Wer auch immer diese Höhle gebaut hatte, hatte an einer Seite eine ganze Reihe Bücher aufgestellt. Nachdem ich auf dem Rücken gelegen hatte, um mir die Fotos anzusehen, rollte ich mich auf die Seite und betrachtete die Bücher. Ich ließ den Blick mehrmals über die Rücken gleiten, dann fing ich an, sie aufs Geratewohl herauszuziehen, um die Klappentexte zu lesen. Es waren keine praktischen Bücher, wie die Geschichtsbände oder die technischen Anleitungen, die Dad uns immer unterjubeln wollte, damit wichtiges Wissen nicht verloren geht – etwas, das ich später leibowitzen getauft habe. Dies waren Romane, erfundene Geschichten. Es kostete mich ein paar Sekunden herauszufinden, was all diese Bücher gemeinsam hatten. Als ich es begriff, zuckte ich zusammen, weil ich einen Schock verspürte, fast so was wie Aufregung, obwohl ich nicht weiß, wieso mich das so begeisterte. Alle Bücher drehten sich um erfundene Zukunftsvisionen, in denen deine Welt, das Vorher, zusammengebrochen war. Es waren alles Geschichten über mein Jetzt, das Danach, geschrieben von Leuten, die nicht wussten, wie es aussehen würde.
Ich stopfte den Schatz aus Büchern in meinen Rucksack und fand noch eine Tüte auf dem Dachboden, die ich mit dem Rest füllte. Dad und Ferg versuchten, mich dazu zu bringen, die Bücher zurückzulassen, doch sie waren guter Laune, weil sie zwei funktionierende Teile der alten Windmühlen gefunden hatten, und außerdem gefielen ihnen die dreieinhalb Kartons voller Kerzen, die ich unter dem Tisch hervorzog. Ich erzählte ihnen allerdings nichts von der versteckten Kammer. Nachdem ich herausgekrochen war, schob ich die Kiste wieder an ihren Platz. Wenn das also dein geheimer Ort war, dann ist er immer noch geheim. Jedenfalls, soweit ich weiß.
In diesem Herbst las ich die ganzen Bücher, manche sogar zweimal (da habe ich angefangen, Dads Besessenheit mit technischen Handbüchern ›Leibowitzen‹ zu nennen, nach einem Buch namens Lobgesang auf Leibowitz. Darin geht es um Menschen in einer zerstörten, weit entfernten Zukunft, die versuchen, anhand eines elektrischen Handbuchs, das sie in der Wüste gefunden haben, die gesamte Welt wieder aufzubauen). Ich habe die Bücher in der Hoffnung gelesen, auf gute Ideen zu stoßen, doch ich bekam Albträume und eine Art von Traurigkeit, die meinen Geist wochenlang beschmutzte.
Ich weiß, dass man keine Nostalgie nach etwas empfinden kann, das man nie wirklich gekannt hat, doch so ähnlich war die Sehnsucht, die diese Bücher oft in mir ausgelöst haben. Dad hat es gehasst, dass ich sie las. Er fand, sie wären das Sinnloseste, was es geben kann – veraltete Prophezeiungen, die sich sowieso als falsch herausgestellt haben. Ich mochte sie. Tue ich immer noch. Sie mögen das Leben nach dem Ende der Welt nicht akkurat dargestellt haben, aber wenn man sie beim Lesen aus dem Blickwinkel des Geistes betrachtet, stellt man fest, dass sie viel darüber aussagen, wie die Dinge im Vorher waren. Sie sind wie Antworten auf Fragen, die man nicht stellen konnte, weil man dafür nicht genug wusste. Doch Dad so etwas zu sagen, würde ihn nur noch wütender machen. Die Vergangenheit ist verschwunden. Er sagt, wir haben nur das Jetzt, und die einzigen Antworten, die nützlich sind, sind diejenigen, die uns dabei helfen zu überleben, um eine Zukunft zu haben.