In Philip und die anderen erzählt Cees Nooteboom von einem jungen Mann, der – einem traumhaften chinesischen Mädchen auf der Spur – quer durch Europa trampt, von Bekanntschaft zu Bekanntschaft eilt und in den Jugendherbergen und auf den Straßen seine »Schule des Lebens« besucht. In sieben Kapiteln entfaltet Nooteboom, der »fabulierende Magier« (Frankfurter Allgemeine Zeitung), ein melancholisches Märchen, in dem die Erotik keine nebensächliche Rolle spielt.

Philip und die anderen ist der Erstling des Autors, vor gut fünfzig Jahren geschrieben und als Kultbuch von Generation zu Generation weitergereicht.

»Leicht wie die Luft und schwer wie der Regen, flüchtig wie ein Gedanke und schmerzlich wie eine Erinnerung ... Man liest, man staunt und wird verzaubert wie von einem großen Traum. Nootebooms erster Roman besitzt die Altersweisheit eines Kindes, das noch wenig erlebt hat, aber schon alles erinnert, das noch nicht viel weiß, aber schon alles versteht. Aber der Kern von Nootebooms Kunst, hier ist er schon, dieses unvergleichliche Ineinandergehen von Poesie und Philosophie.« Ulrich Greiner, Die Zeit

Cees Nooteboom, geboren 1933 in Den Haag, lebt in Amsterdam und auf Menorca. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Die Originalausgabe erschien 1955 unter dem Titel Philip en de anderen bei Em. Querido’s Uitgeverij NV, Amsterdam. 1958 erschien die deutsche Übersetzung von Josef Tichy unter dem Titel Das Paradies ist nebenan beim Eugen Diederichs Verlag, Köln.

Umschlagfoto: Detlef Odenhausen

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Erstausgabe im Suhrkamp Hauptprogramm, 2003.

© Cees Nooteboom 1955

Copyright der deutschen Ausgabe in der Neuübersetzung von Helga van Beuningen: © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2003

Copyright des Nachworts © 2003 Rüdiger Safranski

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Umschlaggestaltung: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73513-8

www.suhrkamp.de

Cees Nooteboom

Philip und die anderen

Roman

Suhrkamp

Inhalt

Buch eins

1

2

Buch zwei

1

2

3

4

5

Rüdiger Safranski
Nachwort zu Philip und die anderen

Pour Nicole et pour notre ami aux cheveux gris

Ces povres resveurs, ces amoureux enfants

Constantijn Huygens      

Je rêve que je dors, je rêve que je rêve

Paul Éluard      

Buch eins

1

Mein Onkel Antonin Alexander war ein merkwürdiger Mann. Als ich ihn zum erstenmal sah, war ich zehn Jahre alt und er ungefähr siebzig. Er wohnte in einem häßlichen, riesengroßen Haus im Gooi, das vollgestopft war mit den eigenartigsten, nutzlosesten und scheußlichsten Möbeln. Ich war damals noch sehr klein und kam nicht an die Klingel. Gegen die Tür zu hämmern oder mit der Klappe des Briefkastenschlitzes zu klappern, wie ich es sonst immer machte, traute ich mich hier nicht. Ratlos ging ich schließlich um das Haus herum. Mein Onkel Alexander saß in einem wackligen Sessel aus verblichenem violetten Plüsch mit drei gelblichen Schondeckchen, und er war tatsächlich der merkwürdigste Mann, den ich je gesehen hatte. An jeder Hand trug er zwei Ringe, und erst später, als ich nach sechs Jahren zum zweitenmal zu ihm kam, diesmal um zu bleiben, konnte ich erkennen, daß das Gold Messing war und die roten und grünen Steine (ich habe einen Onkel, der trägt Rubine und Smaragde) buntes Glas.

»Bist du Philip?« fragte er.

»Ja, Onkel«, sagte ich zu der Gestalt im Sessel. Ich sah nur die Hände. Der Kopf lag im Schatten.

»Hast du mir etwas mitgebracht?« fragte die Stimme wieder. Ich hatte nichts mitgebracht und sagte: »Ich glaube nicht, Onkel.«

»Du mußt doch etwas mitbringen.«

Ich glaube nicht, daß ich das damals komisch fand. Wenn jemand kam, mußte er eigentlich etwas mitbringen. Ich stellte mein Köfferchen ab und ging zurück auf die Straße. Im Garten neben dem meines Onkels Alexander hatte ich Rhododendren gesehen, und ich schlich vorsichtig durch die Pforte und schnitt mit meinem Taschenmesser ein paar Blüten ab.

Wieder stand ich vor der Terrasse.

»Ich habe dir Blumen mitgebracht, Onkel«, sagte ich. Er stand auf, und nun sah ich auch sein Gesicht.

»Ich weiß das außerordentlich zu schätzen«, sagte er und verbeugte sich leicht. »Wollen wir ein Fest feiern?« Er wartete meine Antwort nicht ab und zog mich an der Hand ins Haus. Irgendwo knipste er eine kleine Lampe an, so daß das sonderbare Zimmer gelblich erleuchtet wurde. In der Mitte dieses Zimmers standen lauter Stühle – an den Wänden drei Sofas mit vielen weichen Kissen in Beige und Grau. Vor der Wand mit den Terrassentüren stand eine Art Klavier, das, wie ich später erfuhr, ein Cembalo war.

Er wies auf ein Sofa und sagte: »Leg dich hin, nimm dir viele Kissen.« Er selbst legte sich auf ein anderes Sofa, an der Wand mir gegenüber, und dann konnte ich ihn wegen der hohen Rücken der Stühle nicht mehr sehen, die zwischen uns standen. »Wir müssen also ein Fest feiern«, sagte er. »Was machst du gern?«

Ich las gern, und ich sah mir gern Bilder an, aber das kann man auf einem Fest nicht machen, dachte ich, also sagte ich das nicht. Ich dachte kurz nach und sagte dann: »Spätabends mit dem Bus fahren, oder nachts.«

Ich wartete auf Zustimmung, aber die kam nicht.

»Am Wasser sitzen«, sagte ich, »und im Regen herumgehen und manchmal jemanden küssen.«

»Wen?« fragte er. »Niemand, den ich kenne«, sagte ich, aber das stimmte nicht.

Ich hörte, wie er aufstand und zu meinem Sofa kam.

»Wir feiern ein Fest«, sagte er, »als erstes fahren wir mit dem Bus nach Loenen und dann wieder zurück nach Loosdrecht. Dort setzen wir uns ans Wasser, und vielleicht trinken wir etwas. Danach fahren wir mit dem Bus wieder nach Hause. Komm.«

So habe ich meinen Onkel Alexander kennengelernt. Er hatte ein altes, weißliches Gesicht, in dem alle Linien nach unten liefen, eine schöne, dünne Nase und dicke schwarze Augenbrauen wie ein alter, zotteliger Vogel.

Sein Mund war lang und rosig, und meist trug mein Onkel Alexander ein Judenkäppchen, obwohl er kein Jude war. Ich glaube, er war kahl unter dem Käppchen, aber sicher bin ich mir da nicht. An diesem Abend fand das erste richtige Fest statt, das ich je erlebt hatte.

Es waren kaum Leute im Bus, und ich dachte, ein Autobus bei Nacht ist wie eine Insel, auf der man fast allein lebt. Man kann sein eigenes Gesicht in den Fensterscheiben sehen und hört das leise Reden der Leute wie Farben am Geräusch des Motors. Das gelbe Licht der kleinen Lämpchen verwandelt die Dinge drinnen und draußen, und das Nickel ruckelt wegen der Steine auf der Straße. Weil so wenige Leute mitfahren, hält der Bus fast nie, und man kann sich vorstellen, wie er von außen aussehen muß, wenn er den Deich entlangfährt, mit den großen Augen vorn, den gelben Vierecken der Fenster und dem roten Licht hinten.

Mein Onkel Alexander setzte sich nicht neben mich, er ging in eine ganz andere Ecke, »denn sonst ist es kein Fest mehr, wenn man miteinander reden muß«, sagte er. Und das stimmt.

Wenn ich in der Fensterscheibe nach hinten schaute, sah ich ihn. Es war, als schliefe er, aber seine Hände bewegten sich über das Köfferchen, das er mitgenommen hatte. Ich hätte ihn gern gefragt, was darin war, aber ich dachte, er würde es vielleicht nicht sagen.

In Loosdrecht stiegen wir aus und gingen, bis wir zum Teich kamen.

Dort machte mein Onkel Alexander das Köfferchen auf und nahm ein Stück altes Segeltuch heraus, das er auf das Gras legte, weil es so naß war.

Wir setzten uns mit dem Gesicht zum Mond hin, der grünlich vor uns im Wasser schaukelte, und hörten die Schritte der Kühe auf der Wiese hinter dem Deich. Nebelschwaden und kleine Dunstschleier waren über dem Wasser und merkwürdige kleine Nachtgeräusche, so daß ich zunächst nicht merkte, daß mein Onkel Alexander wohl leise weinte.

Ich sagte: »Weinst du, Onkel?«

»Nein, ich weine nicht«, sagte mein Onkel, und da war ich mir sicher, daß er weinte, und fragte ihn: »Warum bist du nicht verheiratet?« Aber er sagte: »Ich bin verheiratet. Ich bin mit mir selbst verheiratet.« Und er trank etwas aus einer kleinen, flachen Flasche, die er in seiner Innentasche hatte (Courvoisier stand darauf, was ich damals nicht aussprechen konnte), und fuhr fort: »Ich bin verheiratet. Hast du schon mal etwas von den Metamorphosen des Ovid gehört?«

Davon hatte ich noch nie gehört, aber er sagte, das mache nichts, denn das eine habe mit dem anderen eigentlich auch nicht viel zu tun.

»Ich bin mit mir selbst verheiratet«, sagte er. »Nicht mit mir selbst, wie ich anfangs war, sondern mit einer Erinnerung, die ›ich‹ geworden ist. Verstehst du das?« fragte er.

»Nein, Onkel«, sagte ich.

»Gut«, sagte mein Onkel Alexander und fragte dann, ob ich Appetit auf Schokolade hätte, aber ich mochte keine Schokolade, und so aß er die Riegel, die er für mich mitgenommen hatte, selbst auf. Danach falteten wir das Segeltuch wieder zu einem kleinen Viereck zusammen und legten es in das Köfferchen. Wir gingen über den Deich zurück zur Bushaltestelle, und als wir zu den Häusern der Leute kamen, rochen wir den Jasmin und hörten, wie das Wasser sacht gegen die kleinen Ruderboote am Steg schlug. An der Bushaltestelle sahen wir ein Mädchen in einem roten Mantel, das sich von seinem Freund verabschiedete. Ich sah, wie sie mit einer schnellen Bewegung ihre Hand in seinen Nacken legte und seinen Kopf an ihren Mund zog. Sie küßte ihn auf den Mund, nur ganz kurz, und stieg dann schnell ein. Als wir in den Bus kamen, war sie bereits eine andere geworden. Mein Onkel Alexander setzte sich neben mich, woraus ich schloß, daß das Fest vorbei war. In Hilversum half der Schaffner ihm beim Aussteigen, denn er war jetzt sehr müde geworden und sah ganz, ganz alt aus

»Heute nacht werde ich für dich spielen«, sagte er, denn es war Nacht geworden und sehr still auf der Straße.

»Wie spielen?« fragte ich, aber er gab keine Antwort. Eigentlich achtete er nicht mehr sehr auf mich, auch nicht, als wir wieder zu Hause waren, im Wohnzimmer.

Er setzte sich an das Cembalo, und ich stellte mich hinter ihn und schaute auf seine Hände, die den Schlüssel zweimal herumdrehten und danach den Deckel aufklappten. »Partita«, sagte er, »Sinfonia«, und er begann zu spielen. Ich hatte so etwas noch nie zuvor gehört und dachte, nur mein Onkel Alexander könne das. Es klang wie aus einer fernen Vergangenheit, und als ich mich wieder auf mein Sofa legte, rückte es sehr weit weg.

Ich konnte alle möglichen Dinge im Garten sehen, und mir war, als gehöre alles zu der Musik und zum leisen Schnaufen meines Onkels Alexander.

Von Zeit zu Zeit sagte er unvermittelt etwas.

»Sarabande«, rief er, »Sarabande.« Und später: »Menuett.«

Das Zimmer füllte sich mit den Klängen, und ich wünschte, er würde nie aufhören, aber ich spürte, daß es fast zu Ende war. Als er nicht mehr spielte, hörte ich, wie er keuchte, denn er war schon ein alter Mann. Er blieb für einen Moment so sitzen, doch dann stand er auf und wandte sich mir zu. Seine Augen leuchteten, und sie waren sehr groß und dunkelgrün, und er wedelte mit seinen großen weißen Händen.

»Warum stehst du nicht auf?« sagte er, »du mußt aufstehen.«

Ich stand auf und ging zu ihm.

»Das ist Herr Bach«, sagte er.

Ich sah niemanden, aber er mußte jemanden sehen, denn er lachte so merkwürdig und sagte: »Und das ist Philip, Philip Emanuel.«

Ich wußte nicht, daß ich auch Emanuel hieß, aber man hat mir später erzählt, mein Onkel Alexander habe bei meiner Geburt darauf gedrängt, weil einer der Söhne Bachs so hieß.

»Gib Herrn Bach die Hand«, sagte mein Onkel. »Na los, gib ihm die Hand.«

Ich glaube nicht, daß ich Angst hatte – ich streckte die Hand aus und tat so, als schüttelte ich eine Hand. An der Wand sah ich plötzlich einen Stich – einen dicken Mann mit vielen Locken, der mich freundlich, aber aus großer Ferne ansah.

J. S. Bach stand darunter.

»Gut so«, sagte mein Onkel, »gut so.«

»Darf ich jetzt ins Bett gehen, Onkel?« fragte ich, denn ich war sehr müde.

»Ins Bett? Ja, natürlich, wir müssen schlafen«, sagte er und brachte mich in ein kleines Zimmer mit gelber Blümchentapete und einem alten eisernen Bettgestell mit Messingknaufen.

»In dem grauen Schränkchen steht ein Topf«, sagte er und ging. Ich schlief sofort ein.

Am nächsten Morgen wachte ich auf, weil die Sonne durch die Glasscheibe warm hereinschien. Ich rührte mich nicht, denn um mich herum waren viele merkwürdige Dinge.

Neben mir auf dem grauen Schränkchen standen die Rhododendronblüten, die ich am Abend für meinen Onkel Alexander gepflückt hatte. In der Nacht hatten sie da nicht gestanden, da war ich mir sicher, also mußte er sie, während ich schlief, dort hingestellt haben. An der Wand hingen vier Gegenstände. Ein Artikel aus einer Zeitung, fein säuberlich ausgeschnitten und mit vier Messingreißzwecken angeheftet. Er war völlig vergilbt, aber ich konnte die Buchstaben noch gut lesen. Da stand: Schiffsabfahrten und -positionen – 12. September 1910. Daneben hing ein altes Bild hinter Glas, in einem schwarzlackierten Rahmen. Zwischen dem Bild und dem Glas hatte sich viel Staub angesammelt, so daß die Farben blaß geworden waren. »Return from school« stand darauf, und ein Junge in Kniebundhose und mit einem breitkrempigen Hut sprang aus einer Kutsche mit zwei Pferden und lief schnell zu seiner Mutter, die an der Tür mit ausgebreiteten Armen auf ihn wartete. Im Garten des Hauses blühten große gelbe und blaue Blumen, die ich in Wirklichkeit noch nie gesehen hatte.

An der anderen Wand hing ein Schwimmerzeugnis A. Brust- und Rückenschwimmen, und darauf war mit dünnen spitzen Buchstaben geschrieben: Inhaber Paul Sweeloo. Genau darüber hing ein großes, vergilbtes, auf Karton aufgezogenes Foto eines indonesischen Jungen mit sehr großen Augen und einem Pony in der Stirn, wie auch ich ihn trage.

Ich stieg langsam aus dem Bett, um nach unten zu gehen. Mein Zimmer lag an einem langen Flur, an dem noch viele andere Zimmer lagen. An allen Türen horchte ich, ob mein Onkel Alexander vielleicht drinnen war, und ich versuchte auch, durch das Schlüsselloch zu schauen, aber das ging nicht.

Beide Hände am Geländer, lief ich die Treppe hinab und sah mich in der Diele um. Es war sehr still im Haus, und ich hatte ein bißchen Angst, ich wußte nicht mehr, welche der Türen die Tür von gestern abend war.

Also nahm ich mein Taschenmesser, klappte es auf und legte es flach auf das Parkett in der Diele.

Danach ließ ich es sehr schnell kreisen und wartete, bis es still liegenblieb. Überall waren Türen, und durch die Tür, auf welche die Spitze meines Taschenmessers zeigen würde, wollte ich hineingehen. Es war die Tür des Zimmers, in dem die Sofas standen, denn als ich die Klinke ganz langsam heruntergedrückt hatte und die Tür einen Spalt offenstand, hörte ich meinen Onkel Alexander schlafen. Er lag noch angekleidet auf dem Sofa, den Mund offen und die Knie ein wenig angezogen. Seine Arme hingen schlaff herab, so daß die Hände den Boden berührten. Ich konnte ihn jetzt sehr gut erkennen und sah, daß er ein schwarzes Jackett trug und eine Hose ohne Umschlag; Nadelstreifenhose nennt man so eine Hose, und die Leute tragen sie bei einer Hochzeit oder einer Beerdigung, oder wenn sie ganz alt geworden sind, wie mein Onkel Antonin Alexander.

Weil ich Angst hatte, er würde aufwachen, zog ich die Tür langsam zu, damit das Schloß nicht klickte, und ging wieder in mein kleines Zimmer hinauf.

Und da sah ich die Bücher, Paul Sweeloos Bücher. Es waren nicht sehr viele, und von den meisten konnte ich damals die Titel noch nicht lesen, aber sechs Jahre später, als ich im selben Zimmer schlief, habe ich sie mal notiert. Das erste in der Reihe war ein Deutsches Jahrbüchlein für Zahnärzte 1909.

Darin stand: für Paul Sweeloo, von …, aber das konnte ich nicht lesen. Daneben ein Band der gesammelten Werke von Bilderdijk – für Paul Sweeloo von Alexander, deinem Freund. Ich verstand damals nicht recht, wie das Buch dort hinkam, denn, dachte ich, wenn man ein Buch verschenkt, behält man es doch nicht selbst.

Das nächste war die Kritik der reinen Vernunft – von Immanuel Kant – für Paul Sweeloo, von deinem dir zugetanen …, und wieder konnte ich es nicht lesen.

So ging es weiter. – Histoire de la Révolution Française, sieben Bände, von Michelet. Die Architektur und ihre Hauptperioden, von Henri Eevers, Le rouge et le noir von Stendhal; die Briefe von Cd. Busken Huet, herausgegeben von seiner Frau und seinem Sohn, und schließlich ein ganz kleines, altes Büchlein, Dell’ Imitazione di Cristo. Di Tomasso da Kempis.

In allen Büchern stand immer wieder »Für Paul Sweeloo«, aber die Namen hinter »von« waren unleserlich.

Ich warf einen Blick auf das Bild, wie hilfesuchend, doch der indonesische Junge starrte mich merkwürdig an, und plötzlich wurde mir klar, daß ich in seine Bücher sah. Bist du Paul Sweeloo? dachte ich und stellte die Bücher wieder in den Schrank zurück, so daß sie mit ihren Rücken genau auf einer Linie standen. Nachdem ich das getan hatte, merkte ich, daß meine Hände von dickem grauem Staub bedeckt waren.

Auf dem untersten Regal des Bücherschranks stand ein großer Kasten, und da ich, wenn ich auf den Fersen hockte, das Bild mit den großen Augen doch nicht sehen konnte, hob ich vorsichtig den Deckel. Ein Grammophon.

Es lag noch eine Platte darauf, »Die Gralserzählung«, Arie aus Lohengrin, von Richard Wagner. Neben der Platte lag eine Kurbel, die man außen in den Kasten stecken und dann drehen mußte, um Musik zu bekommen. Ich wedelte mit meinem Taschentuch den Staub von der Platte und begann zu kurbeln. Die Musik war laut und ergriff bösartig Besitz vom Zimmer, als wäre ich gar nicht mehr da.

Weil die Platte so laut spielte, hörte ich meinen Onkel Alexander erst, als er dicht vor meiner Tür war. Er ging schnell und keuchte und schrie: »Ausmachen – du mußt die Platte ausmachen.«

Und er stieß mich beiseite und schob den schweren Arm mit der Nadel wild oder vielleicht auch nur ängstlich von der Platte, so daß ein großer Kratzer entstand und die Musik mit einem Kreischer aufhörte, plötzlich.

Mein Onkel Alexander wartete, bis sein Keuchen weniger wurde; dann nahm er vorsichtig, fast scheu die Platte hoch und stellte sich mit ihr in eine Ecke des Zimmers.

»Ein Kratzer«, murmelte er, »die Platte hat einen Kratzer«, und als wäre es Staub, versuchte er, den Kratzer mit einer Manschette seines weißen Hemds wegzuwischen. Ich zog die Kurbel ab und legte sie in den Kasten. Dann ging ich hinunter.

Auf der Straße spielten Kinder. Von der Terrasse aus konnte ich sie rufen hören:

Wer spielt mit uns Zauberhexe

Wer spielt mit uns Zauberhexe

Durch die Sträucher hinter dem Zaun konnte ich sie gut sehen. Das Mädchen war braun, mit ganz langem hellblondem Haar und einem hellblauen Kleid ohne Ärmel. Der Junge war klein und hatte ein dünnes, ältliches Gesicht mit grauen Augen. Er hinkte.

Als das Mädchen zu dem Teil des Zaunes kam, hinter dem ich stand, trat ich aus dem Gebüsch hervor und sagte: »Ich möchte gern mitspielen, aber ich weiß nicht, wie es geht.«

»Wer bist du?« fragte sie.

»Ich bin Philip Emanuel.«

»Das ist ein alberner Name«, sagte der Junge, der sich dazugestellt hatte, »und du darfst nicht mitspielen, du hast Mädchenhaare.«

»Das stimmt nicht«, sagte ich, »ich bin ein Junge.«

»Das stimmt wohl«, sagte er und begann in quengelndem Ton zu singen:

Philip hat Mädchenhaar

Philip ist do-of

Philip darf nicht mitspielen.

»Laß das«, sagte das Mädchen, »hör auf, er darf wohl mitspielen.«

»Darf er nicht.«

»Verschwinde«, sagte sie, und zu mir: »Kommst du mit?«

»Wohin?« fragte ich, aber sie zog die Brauen ganz hoch, so daß ihre Augen riesengroß wurden, und antwortete: »Nach Afrika natürlich.«

»Aber das ist doch viel zu weit.«

»Och, du Blödmann«, schrie der Junge, »Afrika ist gar nicht weit, es ist hier um die Ecke, in der anderen Straße.«

»Halt den Mund«, sagte das Mädchen, »halt deinen großen, dämlichen Mund.«

»Kommst du mit?« sagte sie zu mir, und ich kletterte über den Zaun und ging mit ihr die Straße hinunter.

»Wenn er mitgeht, komm ich nicht mit«, schrie der Junge böse, »der hat nämlich Mädchenhaare und weiß nicht mal, wo Afrika liegt.«

Ich habe keine Mädchenhaare, wollte ich sagen, und ich weiß sehr wohl, wo Afrika liegt, um die Ecke, in der anderen Straße, aber sie sagte: »Er geht mit.« Und wir gingen zusammen los, während der Junge beim Zaun stehenblieb und mit einemmal zu schreien begann: »Philip geht mit Ingrid. Philip geht mit Ingrid.« Wir drehten uns nicht um, und ich sagte zu ihr: »Stimmt das?« »Ich weiß nicht«, sagte sie, »darüber muß ich erst nachdenken; hier um die Ecke ist Afrika.« Es war ein Stück Land, auf dem in Kürze Häuser gebaut werden würden, es stand da ein großes Schild: Hier entstehen Häuser. Zu verkaufen. Ingrid spuckte auf das Schild. »Mistschild«, sagte sie.

Die Erde war voller Kuhlen, und vor uns lag eine große Pfütze mit schleimigen hellgrünen Wasserpflanzen. Ferner gab es hier und da Flächen mit gräulichem hartem Sand und einen kleinen Hügel aus fettiger gelber Erde, Lehm, denke ich, aber es standen auch Sträucher da und scharfes, hohes Gras, dazwischen an manchen Stellen Bärenklau und Hahnenfuß.

Ingrid ging auf einem schmalen Pfad vor mir her durch Afrika und schlug mit einem Stock gegen die trockenen Blätter der Sträucher, so daß große Fliegen brummend aufflogen.

Bei einer kahlen, freien Fläche setzten wir uns.

»Hast du Proviant?« fragte sie. Aber ich hatte natürlich nichts dabei. »Dann müssen wir erst Proviant besorgen«, beschloß sie, und wir gingen einen anderen Pfad entlang, bis wir zu den Häusern kamen.

»In dem Laden da«, sagte Ingrid, »haben sie keinen losen Lakritz, nur welchen in Rollen. Jetzt mußt du fragen – haben Sie auch losen Lakritz?«

»Warum?« fragte ich, »wenn sie doch keinen haben.«

»Sag ich dir nicht«, sagte sie, »sonst traust du dich nicht mehr.«

»Ich trau mich wohl«, sagte ich. »Wenn ich’s tu, bin ich dann dein Freund?«

Sie nickte.

Wir gingen hinein, und nachdem die Glocke geläutet hatte, erschien eine dicke Frau in einem blanken schwarzen Kittel.

»Haben Sie bitte losen Lakritz?« fragte ich.

Aber sie hatte keinen.

Draußen rannte Ingrid auf einmal los, bis wir um die nächste Ecke gebogen waren.

»Schau«, sagte sie, als wir stehenblieben, und sie öffnete vorsichtig ihre Hand einen Spaltbreit, und ich sah, daß sie die Hände voller Rosinen hatte, die sie jetzt vorsichtig in ihre Kleidertaschen gleiten ließ.

»Jetzt bin ich dein Freund«, sagte ich, und ich gab meiner Freundin Ingrid die Hand, und wir gingen zurück nach Afrika und aßen die Rosinen auf, auf dem gelben Hügel, so daß wir ganz Afrika sehen konnten, bis an die Grenzen.

Meine Freundin Ingrid sagte nichts mehr und sah mich nur an. Sie bewegte den Kopf ganz sacht, so daß ihre Haare über die Arme glitten. Aber es war, als bewegten sich ihre Augen nicht mit. Während auch ich sie unverwandt ansah, deutete ich mit der Hand nach rechts und sagte: »Die Blumen da, das ist Wiesenschaumkraut.«

Aber meine Freundin Ingrid blieb still und sah mich an. So kam es, daß wir beide eine Klingel in der Ferne hörten. Sie stand auf und ich auch. »Das ist die Klingel von unserem Haus«, sagte sie, und dann: »Ja, ich will mit dir gehen«, und mit noch offenem Mund küßte mich meine Freundin Ingrid ganz schnell, so daß mein Mund naß wurde und ich ihre Zähne spüren konnte. Danach rannte sie schnell davon. Ich machte mich erst später auf und fand den Weg mühelos, denn sie hatte überall Blätter von den Sträuchern und von den Gartenhecken abgestreift.