Xerubian: Aath Lan‘Tis
Andreas Hagemann
Wie soll man ordentlich ermitteln, wenn der faule Dienstdrache dauernd schläft, die Bürokratie einen erschlägt und die Zeugen zickende Minidrachen sind?
Vor diesem Problem steht Inspektor Dalon, der herausfinden soll, was es mit dem Diebstahl eines uralten Artefakts auf sich hat. Und was haben Gott und Billiard mit der Sache zu tun? Sein einziger Hinweis, eine schwarze Feder, führt ihn direkt auf die Spur einer antiken Zivilisation; doch diese dürfte längst nicht mehr existieren.
Jetzt heißt es einen kühlen Kopf bewahren, denn die Ermittlungen rund um den Mythos des verlorenen Kontinents Aath Lan´Tis sind nichts für schwache Nerven.
Andreas Hagemann
Buchwächter
Das Buch der Seelen
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Andreas Hagemann
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Buchwächter: Das Buch der Seelen
1. Auflage
Copyright © Andreas Hagemann, 2021
Gesamtgestaltung, Coverart, Schmuckillustration:
saje design, www.saje-design.de
Titelgestaltung in Anlehnung an Band 1 von Alexander Kopainski
Illustration (ganzseitig): Andreas Hagemann
Lektorat: Nina C. Hasse
Korrektorat: Pia Euteneuer
Druck: booksfactory, 71-063 Szczecin (Polen)
Alle Rechte vorbehalten.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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Für alle Autoren,
durch deren einsames Schaffen Großes entsteht.
U nter keinen Umständen lassen wir diesen Jungen ins Reich der Toten gehen!« Kane deutete mit dem Finger zum großen Tisch, direkt auf Finn, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Gleich über dem Bart des hochgewachsenen Ratsmitglieds trat eine Ader an der Schläfe hervor. »Wie könnt ihr nur so leichtfertig Hoffnung in dem Jungen säen?«
Hoffnung. Finn hätte diesem eingebildeten Kerl am liebsten eine Phantasie in die Unterhose gewünscht – wenn das für diese nicht die Strafe ihres Lebens gewesen wäre. Kane schien der Einzige im Ratssaal zu sein, dem Arthurs Tod nichts ausmachte. Ihm fehlte jedoch die Kraft, sich gegen die negativen Gedanken zu wehren. In der Tat freute er sich darüber, dass Rondo das Buch der Seelen erwähnt hatte. Nur diese Äußerung des Ratsmitgliedes machte diese Situation gerade erträglich und gab ihm ein wenig Hoffnung. Finn hatte nie viele Freunde gehabt, und nun den wertvollsten zu verlieren, tat nicht nur weh, es gab ihm das Gefühl, einen gehörigen Teil von sich selbst aufzugeben.
»Wozu bewahren wir all dieses Wissen, wenn es doch nie etwas Gutes tun kann?«, fragte Rondo und stemmte die Hände in die runden Hüften.
»Tzt, wir bewahren es nicht, wir verstecken es, damit niemand es missbrauchen kann«, entgegnete Kane verächtlich. Dessen negative Ausstrahlung überlagerte jeden noch so kleinen Sonnenstrahl, der sich zwischen den Wolken hinab in den Saal kämpfte.
Finn spürte, wie sich Rings Finger fest in seine Schulter gruben. Der schlaksige Buchwächter stand direkt neben Finns Stuhl, in den feinen Zügen funkelte ein wütendes Paar Augen. Er schenkte ihm einen schmerzverzerrten Blick.
»Entschuldije«, sprach die Türglocke, die in ihrer menschlichen Gestalt dastand. »Wenn dieset Ekel aba noch een weiteret Wort jegen ne Lösung für Arthur sacht, muss ick eem wehtun.«
Finn schob die Hand von seiner Schulter. »Dann wäre es schön, wenn du nicht mit mir anfängst.«
Lautes Donnern lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf die Diskussion der Ratsmitglieder. Kane hatte energisch gegen eines der Holzregale geschlagen. Die drei standen im Durchgang zum angrenzenden Raum, um Diskretion walten zu lassen, doch die erhitzten Gemüter trugen sämtliche Details zu ihnen.
»Willst du dich dazu ausschweigen, Bartholomäus?«, fragte Kane den Dritten in der Runde barsch.
Der Alte hob abwehrend die Arme.
»Zwingt mich nicht, für einen von euch Partei zu ergreifen«, verteidigte sich Bartholomäus. »Ich weiß genauso wenig Rat wie ihr und möchte mir auch nicht anmaßen, eine Entscheidung zu erzwingen.«
»Ich werte das als eine Stimme mehr für uns«, flüsterte Ka-Tsching.
»Wir debattieren, obwohl wir den Verlust eines Freundes betrauern sollten«, schob Bartholomäus nach.
»Vergesst es, ich nehm’s zurück«, korrigierte die Kasse enttäuscht.
Rondo rollte mit den Augen und untermalte die Theatralik mit kreisendem Kopf. »Vielleicht hätte ich nicht so voreilig sein sollen, aber es gibt diese Möglichkeit und es wäre fatal, sie nicht zu nutzen.«
Kane löste sich vom Regal und stampfte energisch auf das untersetzte Ratsmitglied zu. »Was für eine Chance? Das Buch der Seelen ist noch nicht einmal vollendet! Wer soll dieses Buch abschließen, er etwa?«
Wieder deutete der Zeigefinger anklagend auf Finn. Dieses Mal jedoch wechselte er mit seinem Ankläger einen Blick. Nichts hatte sich an der Kälte in Kanes Augen verändert. Finn verlieh das noch mehr Mut, jetzt erst recht für diese Option einzustehen. Auch wenn er keine Ahnung hatte, was sie im Detail bedeutete. Ihm war jedes Mittel recht, Arthur zurückzuholen.
»Glaubt ihr wirklich, dass ein Junge von neun Jahren dazu in der Lage ist, ein magisches Buch zu schreiben? Nur wenige waren bisher überhaupt dazu im Stande und nun soll es jemand bewerkstelligen, der gerade Lesen und Schreiben gelernt hat?« Verächtlich wandte Kane sich von ihnen ab und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Es mag utopisch erscheinen, und doch gab es bisher auch niemanden, der Phantasien zum Leben erwecken konnte. Sprich dem Jungen kein Talent ab, welches du noch nicht gesehen hast«, erwiderte Rondo.
Finn saß einfach da, Geist und Körper wie gelähmt. Er hoffte, dass Rondo genug für ihn eintrat, um dieses Unterfangen zu wagen. Ist es nicht die Bestimmung der Buchwächter Gutes zu tun?
»Und du hältst es für ratsam, einem Jungen mit einer Begabung wie der seinen derart brisantes Wissen zu überlassen? Wer weiß, wofür er es verwendet!« Feine Speicheltropfen verteilten sich mit Kanes abschätzigen Worten, beides war widerlich.
Ka-Tsching ballte die Fäuste, zog die Stirn kraus und wäre am liebsten aufgesprungen, um Kane ein paar Takte zu sagen, doch Bartholomäus war schneller.
»Halte deine Zunge im Zaum«, mahnte der Alte. »Du beleidigst denjenigen, der dir vor wenigen Stunden die Haut gerettet hat. Allein der Respekt gebietet es, dass du ihn als einen der unseren betrachtest.«
Finn beobachtete Kanes Regungen ganz genau. Der hob den Kopf. Nur zu gut wusste der Professor, dass Bartholomäus recht hatte, eine Entschuldigung brachte er dennoch nicht über die Lippen. Stattdessen beugte er sich vor und tippte ihm gegen die Brust.
»Ihr würdet das Wagnis eingehen, einem Kind das geheime Wissen der Buchherstellung zu offenbaren? Ihr Narren! Uns alle verbindet der Eid, die Bücher und ihr Wissen zu verbergen. Ein Grundsatz, der diese Universität erst möglich gemacht hat. Was ihr vorschlagt, grenzt an Verrat!«
Nun war es an Rondo und Bartholomäus, betretene Mienen aufzusetzen. Da musste selbst Finn zustimmen. Er verstand zum ersten Mal, was der Rat ihm da eigentlich vorgeschlagen hatte.
Rondo straffte die Schultern. »In außergewöhnlichen Zeiten werden die Entscheidungen nicht einfacher. Und doch wäre dies eine, die ein ehrbares Mitglied des Rates zurück in unsere Reihen holen könnte. Und wir sind in der Lage, dies im Geheimen zu tun, ohne dass je ein Wörtchen davon nach draußen dringt. In Geheimniskrämerei sind wir mehr als geübt.«
Kane baute sich vor Rondo auf. »Wie wäre es, wenn wir den Dingen einfach ihren Lauf ließen?«
»Wie wäret, wenn de dich einfach ma in Luft ufflöst«, mopperte Ring leise neben ihm. Er konnte es nicht einmal mehr ertragen, der Unterhaltung zuzusehen; das Zuhören stresste ihn schon zur Genüge.
»Hättest du das auch für Rahn getan?«, schob Kane nach und traf damit bei Rondo einen wunden Punkt. Die plötzliche Stille war unangenehm.
Bartholomäus schob Kane von seinem Freund weg und zischte ihm entgegen: »Zum Glück hat uns Rahns Testament diese Entscheidung bereits abgenommen.«
Kane grinste und betrachtete die beiden eingehend. Was hätte Finn dafür gegeben, in diesem Moment in seinen Kopf zu schauen. Vielleicht war dies aber auch keine so gute Idee. Er bekam eine Gänsehaut, bei dem Gedanken gegebenenfalls unausgesprochene Dinge zu entdecken.
»Was ist mit all den anderen dort draußen, deren Liebsten von uns gegangen sind? Stellt euch vor, sie bekommen Wind davon«, fuhr Kane fort.
»Von uns würde es niemand erfahren«, sagte Finn und stand augenblicklich auf.
Kanes Verachtung fegte über ihn hinweg wie die Kälte eines plötzlich aufschlagenden Fensters im Winter. Er trat langsam mit schweren Schritten auf Finn zu.
»Sie Neunmalklug wissen am allerwenigsten, worauf Sie sich da einlassen. Glauben Sie, Sie nehmen ein Blatt Papier und schreiben eine illustre Geschichte?« Kane hob die Arme, um den spöttischen Unterton zu unterstreichen. »Voller Phantasien, die farbenfroh durch die Gegend hüpfen und nach Ihrer Pfeife tanzen? Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen sein sollte, Mr. Ward: Magische Bücher besitzen keine Phantasien. Es gibt niemanden, der Ihnen dort drin helfen kann, niemanden, der Sie schreien hört, sollte etwas schiefgehen.« Mit einer eleganten Bewegung wandte er sich wieder Rondo und Bartholomäus zu. »Oder übernehmt ihr die Verantwortung für all das? Seid ihr bereit, in diese fremde Welt zu springen, sollte dieser Bursche Hilfe benötigen? Oder schlimmer noch, wenn durch ein fehlerhaftes Buch das Chaos ausbräche?«
Fragen, deren Antworten alle Anwesenden interessierten – nicht zuletzt Finn selbst.
Rondo legte die verschränkten Arme auf seinem runden Bauch ab und holte tief Luft, bevor er antwortete. »Du scheinst zu vergessen, dass die Fertigung eines Buches bestimmten Regeln unterliegt. Man kann nicht tun und lassen, was man möchte.«
»Das hat in der Vergangenheit auch niemanden davon abgehalten. Regeln schaffen nur einen Rahmen, ebenso wie diese Mauern lediglich eine schützende Hülle bilden. Und doch kann man in ihrem Innern falsche Entscheidungen treffen.« Kane straffte die Schultern, die Überheblichkeit in seiner Stimme zeigte, wie sicher er sich fühlte. »Falls ich es noch nicht erwähnt haben sollte: Noch nie ist es gelungen, ein bereits begonnenes Buch zu beenden! Wisst ihr überhaupt, wo es sich befindet? Wie viel Zeit bliebe dem Jungen denn, bis die Würmer Arthur vollends verspeisen?«
»Es reicht!«, rief Finn. Er war nicht bereit, seinen Freund einfach so aufzugeben, erst recht durfte niemand so über ihn sprechen. Doch die beabsichtigten Worte steckten im Halse fest, bildeten einen dicken Kloß, der nur als unartikulierter Laut aus seinem Mund drang.
Ring und Ka-Tsching erhoben sich, um ihm beizustehen. Die Türglocke verzog immer wieder den Mund, als hätte sie zu gern einige Verwünschungen ausformuliert. Es wäre der Situation nicht dienlich gewesen. Der Kasse gelang es indes, ihre Gedanken sachlich zu verpacken.
»Sie können sich glücklich schätzen, Kane, dass es niemanden betrifft, der Ihnen am Herzen liegt. Und doch würden Sie die gleiche Chance ergreifen, wenn dem so wäre. Solange wir eine Möglichkeit haben, Arthur zurückzuholen, sollten wir sie nutzen. Scheitern können wir immer noch.«
»Oh, das werden Sie gewiss sogar«, gab Kane voller Überzeugung zurück. Den Kopf erhoben, blickte er auf sie herab.
»Was haben Sie dann zu verlieren?«, entgegnete Finn.
»Mr. Ward, falls Sie anstreben, tatsächlich ein Buchwächter zu werden, dann sollten Sie unsere Werte nicht mit den Füßen treten.« Der hochgewachsene Mann in der blauen Robe sah nun zu seinen Ratsmitgliedern. Sie hatten entweder alles gesagt oder konnten Kane nichts mehr entgegensetzen.
»Ich trauere mit euch, meinen Standpunkt habe ich aber deutlich gemacht. Ich kann und werde solch eine Entscheidung nicht gutheißen. Nicht solange dieser Rat etwas Ehrgefühl besitzt.« Damit wandte sich Kane ab und verließ den Saal. Ihm folgte das Krachen der schweren Holztür.
Finn und die Buchwächter fielen augenblicklich zurück auf ihre Stühle.
»Wat für een Kotzbrockn«, raunte Ring und entließ den Unmut wie ein davon schwirrender Korken.
»Falls dies ein Gedanke war, konnten wir ihn deutlich vernehmen«, warf Bartholomäus ein, der sich aus der Starre löste und zum Tisch ging. Rondo folgte ihm. Zu fünft hingen sie auf ihren Plätzen, die Anspannung ließ von ihnen ab. Nur Finn konnte nicht ruhig sitzen.
»Hat Kane recht?«, wollte er wissen und sah die beiden Ältesten sorgenvoll an. »Gibt es das Buch der Seelen überhaupt und kann man es beenden?«
Rondo seufzte und verschränkte die Hände auf dem Tisch. »Das Buch existiert. Es ist allerdings auch richtig, dass ein Buch zu schreiben, sehr viel Übung und Wissen voraussetzt. Selbst bei Professorin Abbott hätte ich meine Zweifel, dass sie es bewerkstelligen könnte.«
Rondo vermied den Augenkontakt zu ihm. Ehrlichkeit war wichtig, und doch besaß sie die Kraft zu verletzen.
Ring tippte sich ans Kinn. »Et is also nich unmöglee!«
Zunächst sah Rondo den Buchwächter eingehend an, dann schüttelte er den Kopf.
»Ha! Also hamm wa doch eene Chance, wa?«, rief Ring freudestrahlend und schlug sich in die Handfläche.
Ka-Tsching verdrehte die Augen. »Was an ›Man braucht das entsprechende Wissen‹ hast du nicht verstanden?«
»Dit hab ick schon kapiert. Aba dit heißt ja nich, dat wa dit Wissen nich besorgn können, oda? Die Professorin wees ja och nich allet und muss Sachn nachschlagn.«
Die Glocke hob süffisant die Brauen und blinzelte Finn neunmalklug an. Dem gefiel der Einwand und er sprang von seinem Stuhl.
»Es muss doch ein Buch geben, in dem beschrieben steht, wie man das Schreiben lernt. Oder worauf man achten muss. Oder was man dafür alles braucht.«
Seine Augen funkelten, doch die Begeisterung färbte nicht wie erwartet auf den Rat ab. Bartholomäus hob abwehrend die Hände, selbst Rondo stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben.
»Wir hätten diesen Vorschlag nicht machen dürfen. Kanes Einwände sind berechtigt«, stöhnte Bartholomäus und wandte sich zum Gehen. »Uns ist besser gedient, wenn wir die Trauerfeier für unseren Freund vorbereiten.«
Finn ließ seine Faust auf die Tischplatte krachen und zog so die Blicke auf sich. »Damit gebe ich mich nicht zufrieden! Wir haben in den letzten Wochen nie aufgegeben, egal wie schwierig, gefährlich oder aussichtslos es schien. Gebt mir wenigstens die Chance, es zu versuchen. Wenn es eine Möglichkeit gibt, unser Ziel zu erreichen, dann werde ich alles tun, um dorthin zu gelangen. Koste es, was es wolle!«
Über Rondos Gesichtszüge huschte ein Lächeln. »Dein Eifer und deine Loyalität ehren dich, Finn«, sagte er. »Bartholomäus, die drei haben recht. Wir können bei der Sache nur einen Freund zurückgewinnen. Verloren haben wir bereits genug. Ich könnte es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, es nicht wenigstens versucht zu haben.«
Bartholomäus schloss die Augen. »Ihr verlangt diesem Rat in der Tat einiges ab. Wie kann ich mich dem verwehren? Arthur hat es verdient.«
»Wo ist er überhaupt? Woher sollen wir zudem die Zeit für das Buch nehmen? Ist er nicht bereits im Himmel?« Finn sprach so leise, dass die anderen ihn kaum vernahmen. Seine Schultern hingen herab, er sehnte sich sehr nach dem Buchhändler.
Rondo trieb der Anblick einen Kloß in den Hals. »Also …« Er räusperte sich. »Arthur wurde in den Krankenbereich unterm Dach gebracht. Es gibt die Annahme, dass eine Seele eine Weile reist, bevor sie … na ja, in den Himmel übergeht. Allerdings werden wir uns etwas einfallen lassen müssen. Ohne Magie wird man Arthur kaum vor den natürlichen Prozessen bewahren. Viel Zeit verschafft sie uns also nicht, möglicherweise ein bis zwei Wochen.«
Finn schluckte. Sein Kopf war leer, das Herz wog unheimlich schwer.
»Das alles muss unter bestimmten Voraussetzungen ablaufen«, begann Bartholomäus, fuhr sich mit den Fingern durchs weiße Haar und rutschte auf dem Stuhl umher. Finn tat es ihm gleich. Bartholomäus hielt die Stimme gedämpft, als er sich über den Tisch lehnte.
»Ein Buch zu schreiben, ist kein leichtes Unterfangen. Da niemand von uns dies je getan hat, können wir auch nur raten, welche Schritte im Detail notwendig sind. In den Mauern von Esidor wirst du allerdings kein Buch finden, das dich über diese Geheimnisse aufklärt. Und auch sonst in keiner Bibliothek der angrenzenden Städte.«
Rondo und er tauschten einen geheimniskrämerischen Blick, während die anderen jede noch so kleine Regung gebannt verfolgten.
»Mir fällt derzeit nur ein Ort ein, wo ihr fündig werden könntet: die Bibliothek von Mordus.« Bartholomäus machte eine Pause und genoss die fragenden Gesichter der Buchwächter sichtlich.
»Die wat? Davon hab ick ja noch nie jehört«, sagte Ring und legte die Stirn in Falten.
Nun übernahm Rondo. »Das hat seine Gründe. Ihr wisst, dass die Welt der Buchwächter auf Geheimnissen beruht.« Er schob sich auf dem Stuhl zurecht, denn der Bauch drückte an der Tischkante. »Als die magischen Bücher sowie ihr Missbrauch bekannt wurden, hatten unsere Vorgänger entschieden, sie zunächst an einem geheimen Ort zu verbergen. Eine Bibliothek, tief in den Fels gehauen, am Fuße eines Berges. Seinerzeit hatte der Rat es nicht für möglich gehalten, dass sich die riesigen Hallen je gänzlich füllen würden, doch so war es. Das ist auch der Grund, weshalb Buchläden wie Arthurs einige der Exemplare aufnehmen müssen. Selbst die Regale in Esidor sind buchstäblich bis unters Dach gefüllt.«
Ring lehnte sich zurück und verschränkte mürrisch die Arme vor der Brust. »Dit heißt, wir Buchwächta sind nur Handlanga für dit Kleinvieh? Na tolle Wurst. Und wer passt uff die große Sammlung uff?«
Wäre die Thematik nicht so ernst, hätte Finn bei Rings Anblick am liebsten losgelacht. Die beleidigte Leberwurst stand ihm ausgezeichnet.
Wieder folgte dieser merkwürdige Blick zwischen den beiden Alten.
»Magie«, sagte Rondo nur.
Ka-Tsching drehte den Kopf erwartungsvoll hin und her, doch es folgte nichts weiter. »Das ist, als würde jemand einfach nur Kuchen sagen, damit kann ich nichts anfangen«, schob er nach.
»Na, ick glob, mit Kuchen kannste schon wat anfangn.« Ring gluckste, erntete dafür aber finstere Blicke.
Nun übernahm Bartholomäus wieder. »Diese Bibliothek ist mit nichts vergleichbar, was ihr kennt. Viel können wir über sie gar nicht sagen, denn wir sind nie dort gewesen.«
Nun verschlug es allen die Sprache. Finns Geist kam wieder in Wallung.
Was hält den Rat ab, diese Bibliothek zu besuchen? Ist sie gefährlich? Schaffen wir es dann dort überhaupt hinein?
Den letzten Gedanken teilte er mit der Gruppe.
»Uns ist lediglich bekannt, dass der Eingang zwar sichtbar, aber nicht für jeden erreichbar ist«, sagte Rondo. »Ich weiß, es klingt rätselhaft, aber mehr wissen wir nicht.«
Ka-Tsching sah die beiden schief an. »Dennoch seid ihr euch sicher, dass wir dort die Informationen finden, die wir suchen?«
»Nein, sind wir nicht«, erwiderte Bartholomäus. »Es hat einen Grund, weshalb die Fertigung der Bücher unterbunden wird. Genauso wie leicht zugängliches Wissen darüber, zugänglich zu machen. Auch wir sind nicht in alle Geheimnisse eingeweiht, damit sie Geheimnisse bleiben.«
Rondo ergriff Finns Hand. »Hör zu: Findest du keinen Weg hinein, verweigert man dir den Zugang oder kannst du derlei Bücher nicht finden, dann endet der Versuch. Bist du erfolgreich, dann bleiben dir nur etwa vierzehn Tage, bevor die Natur sich Arthurs Körper zurückholt. Eher weniger. Das sind die Bedingung dieses Unterfangens. Hast du das verstanden?«
In Finn machte sich eine Schwere breit, die ihm für einen Augenblick die Hoffnung nahm. Das waren so viele Unwägbarkeiten, da müsste es an ein Wunder grenzen, Erfolg zu haben.
Das Schicksal wäre aber ein mieser Spielverderber, wenn ich nur scheitern soll.
Er nickte.
»Ich gehe davon aus, ihr werdet Finn begleiten?«, wandte sich Rondo an die Buchwächter, die angespannt auf ihren Stühlen weilten.
»Na klar! Jibt nüscht Wichtijeres grade«, erwiderte Ring mit stolzgeschwellter Brust.
»Werdet ihr uns nicht begleiten?«, fragte Finn zaghaft.
Bartholomäus seufzte einmal mehr. »Es geht nicht«, sagte er und Finn sah ihm an, wie gerne er sie unterstützt hätte. »Wir dürfen unsere Aufgaben hier nicht vernachlässigen. Die Studenten würden merken, dass etwas nicht stimmt. Der Tod von einem von uns könnte eine Welle des Misstrauens auslösen, die sich vor allem gegen uns selbst richtet. Je weniger Fragen wir aufwerfen, desto mehr ist uns in dieser Situation geholfen.«
Rondo ließ Finns Hand los. »Und es ist ja nicht so, dass wir hier keine Hilfe sind. Irgendjemand muss das Buch der Seelen ausfindig machen und hierherbringen. Ohne jemanden zu Rate zu ziehen, dürfte das äußerst schwierig werden.« Er zwinkerte dennoch, um seine Zuversicht auszudrücken.
»Was ist mit Kane?«, wollte die Kasse wissen.
Rondo holte tief Luft. »Wir behalten ihn im Auge, damit er uns nicht in die Quere kommt. Er ist und bleibt ein Hitzkopf. Hoffen wir, dass er nicht ewig die Ausdauer zu schmollen hat – wenngleich sein Ansatz ehrbar ist.«
»Seht zu, dass ihr ein paar Sachen zusammenpackt.« Bartholomäus machte eine scheuchende Geste. »Ich lasse derweil die Kutsche vorbereiten. Zeit ist gerade jetzt ein kostbares Gut.«
Finn blickte in die Gesichter seiner Freunde, in denen ein Quäntchen Vorfreude stand. Bei all der Euphorie, den Rat nun hinter sich zu wissen, kam er nicht umhin, sich einzugestehen, dass der Weg, der nun vor ihm lag, wohl steinig und steil sein würde.
K anes Blick folgte den beiden völlig in Schwarz gekleideten Figuren, als sie das Verlies betraten. Vier Buchagenten waren in kürzester Zeit eingetroffen, um Ava in Gewahrsam zu nehmen. Zwei von ihnen warteten vor dem Raum und boten einen beängstigenden Anblick. Schwarze Lederplatten bedeckten die großflächigen Bereiche des Körpers, während die Abschnitte dazwischen genug Bewegungsspielraum ließen. Sie waren keine gewöhnlichen Buchagenten, sondern Teil der SoBuKo, dem Sonder-Buchkommando, speziell ausgebildet, um sich den gefährlichsten Geschöpfen der Buchwächterwelt zu stellen. Um sie rankten sich etliche Legenden, von magischen Wesen bis hin zu skrupellosen Geschöpfen. Keiner davon schenkte er Glauben. Damit passte ihre Erscheinung jedoch in den trostlosen, von Fackeln erleuchteten Gang.
Kane wollte sich gerade gegen die Wand lehnen, als in dem Raum ein Tumult losbrach. Ketten rasselten, gefolgt von dumpfen Schlägen und dem Knistern unterbundener Magie. Der erstickte Wutschrei eines Mädchens durchschnitt die Geräuschkulisse wie eine Klinge feinen Stoff. Er wollte zur Tür der Kammer springen, doch die beiden Hünen am Eingang brauchten nur zu zucken, um ihn von diesem Vorhaben abzubringen.
»Sie ist ein Kind!«, protestierte Kane, doch man brachte ihm weder Mitgefühl noch sonst irgendeine Regung entgegen. Was immer in dem Raum geschah, ebbte ab.
»Au, das …«
Schritte näherten sich.
Im Durchgang erschien eine kindliche Gestalt, die Arme auf dem Rücken zusammengehalten, den Oberkörper nach vorn gedrückt. Die zwei Buchagenten waren nicht zimperlich. Ava sollte nicht die Möglichkeit haben, handgreiflich zu werden, selbst wenn an Flucht bei all den Sicherungen ohnehin nicht zu denken war.
Ein Schwerverbrecher im Körper eines Kindes, ging es Kane durch den Kopf und sogleich schämte er sich für diesen Gedanken. Ava war sein Kind, sein Fleisch und Blut. Gerade einmal dreizehn Jahre alt, trotzdem brauchte es zwei ausgewachsene Agenten, um sie im Zaum zu halten. Und nicht nur das. Erst jetzt bemerkte er die Robe, in die man sie gekleidet hatte. In dem groben Stoff pulsierten rote Linien auf und ab. Ein magischer Schild, der ihre Zauberkräfte in dieser Welt unterband. Und das war offensichtlich nötig. Darüber täuschte ihr angeborener Gehfehler in Form eines hinkenden Gangs nicht hinweg.
Ava hing das Haar ins Gesicht, beim Blick seitwärts glomm immer noch Magie in ihren Augen. Kane wäre am liebsten zurückgewichen, doch er stand bereits dicht an der Wand.
»Wie kannst du nur dastehen?«, fauchte sie ihn an. Ihre Stimme besaß keinen lieblichen Klang mehr. Hass und Heiserkeit formten sie zur Waffe. »Sie behandeln mich wie Vieh! Lasst mich los, ihr ungehobelten …!« Von der Wut völlig eingenommen, warf sie sich hin und her. Es brachte den Tross zum Stillstand. Die Agenten hatten aufgrund ihrer geringen Körpergröße alle Mühe, das wendige Geschöpf im Zaum zu halten.
»Ich habe nichts Verwerfliches getan!«, schrie sie, während sie einer der Wachen gegen das geschützte Schienbein trat. Der Mann zuckte nicht einmal. »Finn hat dafür gesorgt, dass ich ihn fallen gelassen habe. Ihr bestraft mich für etwas, das mir angeboren ist.«
Kane wollte ihr helfen, sie in den Arm nehmen und ihr zumindest einen Teil der emotionalen Last abnehmen, doch er konnte nicht. Der Anblick seiner Tochter ließ ihn zurück wie eine Gliederpuppe. Unfähig, sich zu bewegen, war er zum Zusehen verdammt. Vor allem aber hörte er ihren Schmerz. Ava wimmerte, als die Agenten den Griff intensivierten und sie stärker in die unnatürliche Position zwangen.
Eine sachte Berührung riss Kane aus der Lethargie. Rondo stand plötzlich neben ihm, begleitet von Bartholomäus. Beide sahen ihn mit aufgewühltem Blick an. Sie kannten Ava von klein auf und hatten ihn dazu gebracht, Ava überhaupt in die Buchwächterwelt einzuführen. Nun hing sie in den Klauen derer, die sie einst vergöttert hatte.
Kane hatte sich der Entscheidung des Rates über Avas Schicksal enthalten. Wie hätte er solch ein Urteil über seine eigene Tochter fällen sollen? Es stand nicht weniger als die Verbannung im Raum, ein Dasein in einem der Gefängnisbücher bis ans Ende aller Tage. Allein der Gedanke daran ließ ihn an die Wand des Ganges sinken. Er wusste zu viel über diese besonderen magischen Exemplare und somit über die Tragweite eines solchen Urteils. In welches Buch man sie schicken würde, entzog sich seiner Kenntnis, da er den Saal noch vor der Urteilsverkündung vorzeitig verlassen hatte. Er wollte verhindern, dass sein Herz in Scherben sprang.
Die Gruppe verschwand unter Avas Flüchen links im Korridor. Kanes Knie waren so weich, dass er sich um Jahre gealtert vorkam. Schwankend trottete er hinterher, stützte sich immer wieder an der Wand ab. In den Fluren tief unter Esidor herrschten für gewöhnlich Stille und Einsamkeit. Nicht heute. Das stumpfe Dröhnen der schweren Stiefel verschwand nun rechts in einem Raum. Kane kämpfte sich bis zur Tür vor und lugte hinein.
Neben den Anwesenden stand lediglich ein Buchständer samt Buch in der Mitte sowie einige Kerzenständer, die unruhiges Licht verbreiteten. Selbst ihnen schien das Geschehen nicht geheuer.
»Ist alles vorbereitet?«, fragte Rondo und bekam von den Agenten ein kurzes Nicken. In einem Spalt zwischen den breiten Schultern konnte Kane das Buch ausmachen, das seiner Tochter als neue Heimat dienen würde. Beim Anblick des giftgrünen Einbands mit den schwarzen Ornamenten sackte ihm das Blut in die Beine.
»Nicht nach Urfanor!«, keuchte Kane. Mit einem Satz stolperte er in den Raum, die Arme ausgestreckt. Sofort packte ihn ein Buchagent, umschlang seinen Brustkorb und drängte ihn zurück an den Türrahmen. Der kräftige Arm presste ihm die Luft aus der Lunge.
»Es gibt andere, weniger dunkle Orte! Wählt ein anderes Gefängnis, aber nicht Urfanor!«, flehte er. Er hätte nicht vorzeitig gehen dürfen. Vielleicht hätte er Einfluss auf den Rat nehmen können. Es gab andere Welten, in denen man nicht auf kleinstem Raum sämtlicher menschlichen Werte beraubt wurde. Ein Pfad, den das Schicksal ihn nun nicht mehr gehen lassen würde.
Bartholomäus und Rondo sahen betreten zu Boden. Ihre Entscheidung war ihnen nur allzu bewusst, doch es gab Regeln und die waren im Umgang mit Magiebegabten strikt. Insbesondere bei solchen, die anderen das Leben nahmen.
Einer der Buchagenten trat vor und öffnete das Buch nach Urfanor. Dunkel flackerte ein Fenster auf dem Blatt Papier. Augenblicklich drangen Schreie, Flüstern und andere Laute daraus hervor und sorgten für Eiseskälte im Raum.
Ava stemmte sich wieder gegen ihre Wächter und die unheilvollen Geräusche.
»Ich will dort nicht rein! Vater, VATER!« Schrill hallten Avas Worte von den Steinwänden wider.
Kane war froh über den Halt des Agenten, sonst wäre er zu Boden gesunken. Er konnte nichts sagen, ihr nicht helfen, nicht einmal den Mund für eine Verabschiedung öffnen. Jede Möglichkeit der Flucht wurde rigoros unterbunden und der Schock nahm den Rest seines Körpers in Beschlag.
»Vater! Nein …« Unter heftigem Schluchzen verschluckte Ava den Satz, versuchte stattdessen, sich gegen das Unvermeidliche zu wehren.
Rondo und Bartholomäus traten beiseite, um die Agenten ihre Arbeit machen zu lassen. In Urfanor warteten bereits andere Agenten, um die neue Gefangene in Gewahrsam zu nehmen. Sie drückten ihren Kopf auf das Fenster und dezentes Rauschen zog sie mit sich.
»Ava«, hauchte Kane, doch sie konnte es nicht mehr hören. Sein Blick hing auf dem leeren Platz zwischen den Hünen. Wie konnte ein einsamer Fleck so schmerzen?
Sie hatten es getan.
Er würde seine Tochter nie wiedersehen.
»Gefangene zwei-neun-eins-sechs wurde nach Urfanor übergeben. Bitte um Bestätigung«, brummte der größte der Agenten dem Buch zugewandt. Ein Gesicht schob sich vor das Sichtfenster.
»Bestätige Übernahme der Gefangenen zwei-neun-eins-sechs«, kam verzerrt die Rückmeldung. Dann wurde das Buch zugeschlagen. Ein Agent nahm es an sich und verließ den Raum, dicht gefolgt von den anderen. Ohne den sicheren Halt sank Kane zu Boden. Geist und Körper konnten das Geschehene noch nicht überein bringen. Ihm war schlecht.
Dumpfes Klopfen riss Kane aus seinen Gedanken. Ohne es zu merken, war er in die Erinnerungen der vorherigen Nacht abgetaucht. In der Hand hielt er noch immer den Federhalter, die Tinte war von der goldenen Spitze als blauer Klecks aufs Papier getropft.
Erneut gingen die Schläge auf das dicke Holz der Tür nieder. Kane stand nicht der Sinn nach Besuch.
»Verflucht«, murrte er das Blatt an und wischte den Tropfen energisch fort. Doch der rächte sich mit blauen Schlieren bis auf die lederne Unterlage. »Ich bin beschäftigt!«, rief er.
Drei weitere Schläge donnerten gegen die Tür.
Kane wollte indes aufspringen, packte seinen Unmut jedoch in eine Antwort: »VERSCHWINDE!« Die Übelkeit ließ ihm den Kopf schwirren und gegen die Lehne sinken. Es klopfte kein weiteres Mal mehr. Seine Schreibhand zitterte. Kurzerhand verstaute er die Schreibutensilien an ihren Platz und holte tief Luft. Was immer er hatte schreiben wollen, war ohnehin mit seinen Gedanken davongeflogen.
Tief sitzende Erschöpfung lähmte ihm die Glieder, während sein Geist unentwegt arbeitete. Er presste den Kopf in die Hände und versuchte, die Müdigkeit aus den Augen zu reiben. Bis auf einen blauen Streifen über der Stirn brachte es nichts. Ohne Schlaf und ohne etwas zu Essen im Magen war auch der Morgen im Ratssaal schlicht desaströs verlaufen. Noch immer konnte Kane nicht begreifen, was Rondo und Bartholomäus dazu getrieben hatte, das Buch der Seelen ins Spiel zu bringen. Sicherlich hatten sie in den letzten Wochen auch andere magische Bücher zur Lösungsfindung herangezogen, aber das? Vollständige Exemplare bargen bereits genug Gefahren, dem Jungen nun eines anzubieten, das noch nicht einmal beendet war, kam ihm zutiefst abstrus vor. Ein schlechter Scherz, der einem benebelten Geist entsprungen sein musste.
Kane schob den Sessel zurück und öffnete ein Fenster. Vielleicht half ein wenig frische Luft. Eine dünne Wolkendecke lag über dem Tal und sorgte für ein wenig Abkühlung. Dem Treiben in den Gassen von Esidor tat dies keinen Abbruch. Die farbigen Punkte der Studenten durchmischten das Grün und Grau der zahlreichen Bäume und Dächer, fanden ihren Weg, zielstrebig wie Murmeln einen Abhang hinab.
»Ein unvollendetes Buch … was ist nur in sie gefahren?«, murmelte er vor sich hin. »Wie können sie genau das vorschlagen, was wir seit Dekaden zu vermeiden suchen?« Kopfschüttelnd sah Kane zum Fenstersims, doch sein Blick fixierte nichts, wanderte nur unstet hin und her. Er löste sich vom Fenster und begann, seine Runden im Arbeitszimmer zu drehen. Dabei konnte er am besten denken.
Welchen Ansatz er auch verfolgte, die Entscheidung der Ratsmitglieder ergab keinen Sinn. Vielleicht war er auch einfach zu aufgewühlt, um die Logik dahinter zu erkennen. Seine Gefühle sprangen von Hilflosigkeit zu Wut, führten ein kurzes Intermezzo mit Enttäuschung und Trauer und krallten sich letztendlich in die Angst um Ava.
»Ava …«
Ihr Name klang wie ein unheilvolles Vermächtnis, eine Krankheit, die augenblicklich jede Lebensfreude vertrieb. Was sie getan hatte, war unverzeihlich. Die Zeit hatte jegliche Sympathien für Arthur abhandenkommen lassen, aber nie wäre er auf die Idee gekommen, ihm das Leben zu nehmen. Da gab es andere, weniger endgültige Optionen. Dennoch war sie seine Tochter. Ein junges Geschöpf, das nun in eines der schlimmsten Gefängnisbücher verbannt worden war und sich dank der Unterdrückungsrobe, die sie tragen musste, noch nicht einmal wehren konnte.
Kane kam wieder am Schreibtisch vorbei, sein Blick streifte das Blatt Papier. Ihm fiel noch immer nicht ein, was er darauf hatte niederschreiben wollen. Der blaue Streifen darauf erinnerte ihn lediglich an seine Unfähigkeit, selbst dies zu bewerkstelligen. Er ließ der Hilflosigkeit freien Lauf und schlug mit der Faust auf den Tisch. Das dumpfe Dröhnen in den Ohren und der Schmerz in den Fingern taten gut. Sie sorgten für eine Klarheit, in der sich einige seiner Überlegungen lichteten und Raum für Erkenntnisse machten.
»Ich darf nicht zulassen, dass dieses Buch beendet wird. Meine Ehre als Ratsmitglied verbietet es mir, etwas derart Schändliches zu tun. Diesem Jungen folgt das Glück wie keinem Zweiten. Selbst wenn ihm das Talent fehlen würde, fänden sich genug, die ihm den Weg bereiten. Diese vermaledeite Gabe ist ein Fluch für alle anderen.«
Feine Speichelfäden folgten den Worten. Er sprach zum Raum, als säße darin ein stummes Publikum.
»Weshalb verliert eigentlich jeder dabei das Wesentliche aus den Augen? Es geht hier nicht um Arthur. Es geht hier einzig um die Folgen des Erfolgs oder des Scheiterns eines solchen Unterfangens. Beides birgt Gefahren, die nicht einzuschätzen und schon gar nicht zu kontrollieren sind.«
Kanes Körper sprudelte vor Energie, und so setzte er den Weg durchs Zimmer fort.
»Ein Buch, das ein Portal zu den Toten schafft …« Verächtlich presste er die Luft zwischen den Zähnen hindurch. »Allein der Gedanke daran gehört im Keim erstickt. Im schlimmsten Fall kämen die Seelen aus einem Buch mit schlechter Sicherung einfach heraus. Und Gott bewahre, wenn nur ein Einziger – ob tot oder lebendig – Schlechtes im Sinn führt.«
Zurück am Tisch hielt er kurz inne, sah geradeaus und setzte den Monolog, untermauert von ausufernder Gestik, fort.
»Dass ein derartiges Buch überhaupt wieder geschrieben werden soll, nach all den Jahren des Versteckens, der Vernichtung und Bindung all ihrer Übel, grenzt an Blasphemie. Ein Tritt sämtlicher Buchwächterwerte. Und wer sagt eigentlich, dass der Junge mental dafür geeignet ist? Was, wenn er daran zerbricht, weil es nicht möglich ist, es zu vollenden? Was passiert dann mit dieser Kinderseele, erfüllt von solch einer Macht? Schaffen wir uns einen neuen Feind, den wir selbst kaum bezwingen können?«
Kane schüttelte den Kopf. Er hielt die Hände an die Schläfen, als brächten die Gedanken seinen Kopf zum Explodieren. All die möglichen Szenarien und Konsequenzen.
»Ich kann das nicht zulassen. Unter keinen Umständen.« Die Stimme in seinem Kopf war nun klar. Hastig machte er auf dem Absatz kehrt und eilte zurück zum Schreibtisch. Er musste etwas niederschreiben, um seine Entscheidung selbst zu besiegeln.
Auf keinen Fall darf ich Spuren hinterlassen. Bekommen die anderen Wind von meinem Vorhaben, mache ich mich angreifbar. Ich muss einen Weg finden, dem Rat zu dienen, ohne dessen Werte zu beschmutzen.
Er stützte sich an der Tischkante ab und ließ sich zurück in den Sessel fallen. Eine solche Entscheidung war nicht einfach zu treffen. Aber er musste in einer Weise intervenieren, damit es wie Finns eigenes Scheitern aussah.