Das Buch
Es ist ein durch und durch normaler Tag in einer Kleinstadt in Upstate New York, als das Leben von Astrid Strick sich schlagartig ändert. Eine Bekannte wird vor Astrids Augen überfahren, und obwohl Astrid diese nicht einmal mochte, bringt sie der Vorfall zum Nachdenken. Das Leben kann so schnell vorbei sein – hat Astrid ihres wirklich gut genutzt? Ist es zu spät, Neues zu wagen? Und war sie wirklich eine gute Mutter? Astrid wollte immer das Beste für ihre Kinder, und doch scheint keines richtig angekommen im Leben. Elliot ist unglücklich in seiner Bilderbuchfamilie. Tochter Porter ist Single, gewollt schwanger und doch überfordert. Und Nicky lebt trotz Frau und Kind ein Vagabundenleben – aber zu welchem Preis? Astrid und ihre Kinder waren immer gut darin, ihre wahren Leben voreinander zu verbergen. Doch dann zieht Cecelia, Nickys Teenagertochter, bei Astrid im großen Haus am Fluss ein und stellt das ganze sorgsam gehegte Konstrukt auf den Kopf.
Die Autorin
Emma Straub ist eine »New York Times«-Bestsellerautorin, die bislang fünf Romane geschrieben hat, die in über 15 Sprachen übersetzt wurden. Außerdem verfasst sie Essays und Kurzgeschichten, unter anderem für »The Wall Street Journal«, »Vogue« und »Elle«. Zusammen mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen lebt Emma Straub in Brooklyn, New York City, wo sie auch den Buchladen »Books Are Magic« betreibt.
www.limes-verlag.de
EMMA STRAUB
Die Launen des Lebens
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Elfriede Peschel
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »All Adults Here« bei Riverhead, New York.
»No One’s Easy to Love« written by Sharon Van Etten
Excerpt from EVERY TIME THE SUN COMES UP written by Sharon Van Etten
© 2014 Big Deal Beats (BMI), Paperweight Music (BMI)
All rights on behalf of Big Deal Beats and Paperweight Music administered by Words & Music, a division of Big Deal Music Group.
All Rights Reserved. Used by Permission. International Copyright Secured.
The author gratefully acknowledges permission to quote lyrics from »You Love to Fail« written by Stephin Merritt. Published by Gay and Loud Music. Lyrics reprinted with permission of Stephin Merritt.
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Copyright © 2020 by Emma Straub
Copyright der Deutschen Erstausgabe © by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Margit von Cossart
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de, unter Verwendung von Motiven von
© T.S. Harris / Bridgeman Images
JB · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-26554-0
V002
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Für meine Eltern, die ihr Bestes gaben,
und für meine Kinder,
für die ich mein Bestes gebe
Every feeling you’re showing
Is a boomerang you’re throwing
ABBA
No one’s easy to love,
don’t look back, my dear, just say you tried
Sharon Van Etten
You love to fail, that’s all you love.
The Magnetic Fields
Gemocht hatte Astrid Strick Barbara Baker während ihrer vierzigjährigen Bekanntschaft nicht einen einzigen Tag, aber als Barbara vom leeren Schulbus am Kreisverkehr der Kreuzung von Main und Morrison Street erfasst wurde, stand für Astrid fest, dass ihr Leben sich verändert hatte, wenn Schock und Erleichterung sich auch nicht voneinander trennen ließen. Der Tag war ohnehin schon vollgepackt gewesen – den Vormittag hatte sie im Garten vom Big House zugebracht, um halb zwölf stand ein Friseurtermin an, und dann erwartete sie ihre Enkelin, die allein mit dem Zug kommen würde (sie brauchte mal eine Auszeit von ihrer Schule). Cecelia musste am Bahnhof von Clapham abgeholt werden.
Der Bus erwischte Barbara kurz nach elf. Astrid saß in ihrem geparkten Wagen auf der Innenspur des Kreisverkehrs und richtete im Rückspiegel ihr Haar. War es nicht immer so, dass die Frisur am Tag des geplanten Friseurtermins am besten saß? Sie wusch ihr Haar nie selbst, außer sie war am Strand gewesen oder in Chlorwasser geschwommen oder irgendeine fremdartige Substanz (Farbe, Kleber) hatte sich versehentlich hineinverirrt. Nein, Birdie Gonzales wusch es jeden Montag, und das bereits seit fünf Jahren. Davor war es von Nancy gewaschen worden, ebenfalls im Shear-Beauty-Salon. Wenn man durch die offenen Seiten des weißen Holzpavillons blickte, der auf der grünen Insel des Kreisverkehrs stand, befand sich der Salon auf der südöstlichen Seite, im Viertelkreis zwischen Clapham Credit Union und Susan’s Bookshop gleich neben Spiro’s Pancake House.
Dass Astrid das Waschen ihres Haares den Händen von Profis anvertraute, war ein Relikt aus der Generation ihrer Mutter, aber auch ein Bedürfnis, das diese nicht gekannt hatte. Es war ein Luxus, der nicht viel kostete, wenn man es gegen eine richtig gute Haarspülung aufrechnete. Jeden achten Montag schnitt Birdie ihr das Haar. Nancy war geschickter darin gewesen, aber Birdie shampoonierte besser, und eitel war sie, Astrid, nie gewesen, nur pragmatisch. Jedenfalls hatte sie Nancy noch nie vermisst, seit diese sich zur Ruhe gesetzt hatte. Birdie stammte aus Texas, ihre Eltern waren aus Mexiko eingewandert, und für Astrid war sie Mensch gewordener Sonnenschein: strahlend, warmherzig, manchmal ein wenig ruppig, aber immer ein Stimmungsaufheller.
Der Sommer war zu Ende, und das bedeutete, dass Clapham schon bald wieder von Montag bis Freitag den Einwohnern gehören würde. Kinder kehrten in die Schulen zurück, Feriengäste wurden wieder zu Wochenendgästen, und alles würde wieder ein wenig ruhiger vonstattengehen. Astrid untersuchte ihre Haut auf Flecken. Zecken und Hautkrebs waren die Ängste von allen, die im Hudson Valley Zeit im Freien verbrachten, auf jeden Fall von allen über fünfundzwanzig. Im Rückspiegel beobachtete sie das morgendliche Treiben von Clapham: Frauen mit zusammengerollten Yogamatten kamen aus der Stadthalle getrottet, wohlsituierte Sommergäste schlenderten über die Gehwege und hielten Ausschau nach möglichen Kaufangeboten, die ihnen während der vergangenen drei Monate entgangen waren, Einheimische tranken ihren Kaffee am Tresen von Spiro’s oder dem Croissant City, wo man morgens um halb acht die über fünfundsechzigjährigen Männer bei der Zeitungslektüre antraf, und das an sieben Tagen die Woche.
Frank, dem das Haushaltswarengeschäft gehörte, wo es von Fensterventilatoren und frischen Eiern bis zu Batterien und einer kleinen Auswahl an DVDs alles gab, stand vor dem Haus unter der Markise, sein Teenagersohn zog das Eisentor hoch. Die kleinen Läden, die T-Shirts und Sweatshirts mit der Aufschrift CLAPHAM in Großbuchstaben verkauften, machten nicht vor Mittag auf. Der nobelste Kleiderladen auf der Main Street, die Boutique Etc?, deren Name sie sowohl der Grammatik als auch der Philosophie wegen immer irritiert hatte, würde auch erst mittags öffnen – das wusste sie, weil sie dort, wenn auch widerwillig, fast all ihre Kleidung kaufte.
Ihre Augen schweiften ab zum Schandfleck, dem Reizthema sämtlicher Bewohner von Clapham, egal ob dauerhaft ansässig oder nur sommerlicher Eindringling – dem riesigen trapezförmigen Gebäude, seit einem Jahr leer stehend bis auf das, was der letzte Mieter im Innenraum zurückgelassen hatte: eine Leiter, zwei Kübel Farbe und drei prall gefüllte Müllsäcke. Im Schaufenster hing ein VERKAUFT-Schild mit einer Telefonnummer, zu der aber schon lange kein Anschluss mehr gehörte. In den Bezirksakten, die für jedermann einsehbar waren, der sich die Mühe machte – und das hatte Astrid –, hieß es, dass das Gebäude in der Tat ein Jahr zuvor verkauft worden war, aber keiner wusste, an wen. Wer immer es war, hatte nichts weiter getan, als die Vermehrung der Staubmotten zu begünstigen. Und dabei war es so wichtig, was dort reinkam: Wäre es ein großes Kaufhaus oder ein Laden einer Kette, käme das einer Kriegserklärung gleich. Einem Todesurteil für die Stadt, so wie die Bewohner sie kannten.
Als die Drogeriekette Rite Aid sich angesiedelt hatte, und zwar nicht mal im Zentrum von Clapham, sondern am Stadtrand, waren die Leute durchgedreht. Sie hatte noch immer eines der LOKALE-EINZELHÄNDLER-UNTERSTÜTZEN-Schilder neben ihrem Briefkasten in der Erde stecken. Von ihrem eigenen Geld hatte sie die Schilder bezahlt und dann verteilt. Und wenn es den Stadtkern getroffen hätte? Das wollte Astrid sich gar nicht ausmalen. Wenn die Person, die das Gebäude erworben hatte, davon nichts wusste oder sich nicht darum scherte, würde es zu Krawallen kommen, die sie höchstpersönlich mit der größten Mistgabel, die sie besaß, anführen würde.
Weil die Schaufensterfront am östlichen Rand des Kreisverkehrs lag – aus der Richtung kamen die meisten Autos, die nach Clapham hineinfuhren –, begrüßte die Stadt nun die Menschen mit riesigen Schaufensterscheiben, hinter denen es nichts zu sehen gab. Ein sehr trauriger Anblick. Wenigstens war Sal’s Pizzeria mit den rot-weiß gefliesten Wänden und den Schachteln mit dem aufgedruckten Porträt des schnurrbärtigen Besitzers ein einladender Anblick.
Barbara stand auf dem Gehweg, direkt neben dem Briefkasten vor dem Friseursalon. Ihr Wagen, ein grüner Subaru Kombi, stand vor der Stadthalle, in der das Büro des Bürgermeisters sowie eine Vorschule, ein Yogastudio und im Winter der Bauernmarkt untergebracht waren. Wollte sie wieder in ihr Auto einsteigen, nachdem sie einen Brief eingeworfen hatte? Richtete sich ihr Blick auf die andere Straßenseite auf das VERKAUFT-Schild, als würde es eine neue Information liefern? Astrid würde es nie erfahren.
Sie beobachtete, wie Barbara um die vordere Stoßstange ihres Autos herum auf die Straße trat. Dann sah sie, wie der gelbe Schulbus der Clapham Junior High mit seinen vierundsechzig Sitzen die Straße entlanggebrettert kam und Barbara so ruhig umwarf wie ihre Enkel ihre Spielzeugsoldaten. Astrid klappte den Schminkspiegel zu und sprang aus dem Wagen. Bis sie bei Barbara war, hatte sich bereits ein halbes Dutzend Leute eingefunden. Da war Blut, aber nichts Blutrünstigeres als das, was jeder Zwölfjährige im Fernsehen zu Gesicht bekam. Tote hatte Astrid bereits aus der Nähe gesehen, aber nicht so, nicht auf der Straße, als wäre ein Waschbär überfahren worden.
»Er war leer«, sagte Randall. Ihm gehörte die Tankstelle, was ihn zu einer Autorität in puncto Fahrzeuge machte. »Bis auf den Fahrer. Keine Kinder.«
»Soll ich sie zudecken? Ich sollte sie zudecken, oder? Soll ich?«, fragte Louise, die den Yogakurs leitete – ein ziemlich begriffsstutziges süßes Mädel mit zwei linken Händen.
»Ich hab die Polizei dran«, rief ein nervös wirkender Mann, und das war natürlich das einzig Richtige, wenngleich die Wache zwei Häuserblocks weit entfernt war und die Polizei hier eindeutig nichts mehr tun konnte, jedenfalls nicht für Barbara. »Hallo«, sprach er ins Handy und wandte sich ab, wie um die Herumstehenden vor dem abzuschirmen, was noch auf dem Asphalt lag. »Es gab einen Unfall.«
»Ach, um Himmels willen«, sagte Birdie, die aus ihrem Laden kam.
Sie entdeckte Astrid und nahm sie beiseite, hielt ihren Ellbogen umklammert und wartete gemeinsam mit ihr schweigend, bis der Rettungswagen kam und die Polizei eintraf. Sie gab den Männern Telefonnummer und Adresse von Barbaras Ehemann. Für Situationen wie diese hatte sie immer ein wohlgeordnetes Adressbuch dabei. Die Rettungssanitäter hoben Barbaras Körper hoch und legten ihn auf eine Trage.
Nachdem die Ambulanz abgefahren war, schob Birdie Astrid sanft in Richtung Salon.
Shear Beauty war im Laufe der Jahre behutsam modernisiert worden. Die rahmenlosen Spiegel und die silbernen Tapeten mit dem grauen geometrischen Muster sollten dem Raum einen gehobenen Anstrich geben, was natürlich nicht wirklich gelungen war. Birdie konnte einfach nicht von den Schalen mit den verstaubten Potpourris auf der Toilette lassen und ebenso wenig auf die bestickten Kissen verzichten, die auf der Bank im Eingangsbereich lagen. Sollte jemand was Schickeres suchen, konnte er das gerne tun.
»Ich fass es nicht«, sagte Astrid. Sie legte ihre Handtasche auf der Bank ab. Der Salon war leer, wie er das montags immer war, denn da war er für die Öffentlichkeit geschlossen. »Ich fass es nicht. Ich stehe unter Schock, ich bin zweifellos geschockt. Hör mir zu! Mein Gehirn funktioniert nicht mehr.« Sie machte eine Pause. »Ob ich ein Aneurysma habe?«
»Du hast kein Aneurysma. Sonst würdest du einfach tot umfallen.« Birdie führte sie zu einem Waschbecken. »Versuch dich zu entspannen.«
Birdie schnitt auch im Heron Meadows Haare, einer Einrichtung für betreutes Wohnen am Stadtrand von Clapham, und hatte deshalb einen ziemlich gelassenen Blick auf die Vergänglichkeit. Am Ende versuchte jeder zu tricksen. Astrid nahm Platz und lehnte sich zurück, bis ihr Nacken das kalte Porzellan des Waschbeckens berührte. Sie schloss die Augen und lauschte, während Birdie das warme Wasser aufdrehte und mit der Hand die Temperatur testete.
Wenn Randall recht hatte und der Bus tatsächlich leer gewesen war, dann war das wichtig. Astrid hatte drei Kinder und drei Enkelkinder, und selbst wenn sie diese nicht hätte, fand sie, dass der Verlust eines Kindes die schlimmste Tragödie war, dicht gefolgt von dem eines jungen Elternteils, von Krebsforschern, dem jeweiligen Präsidenten, Filmstars und vielen anderen. Menschen ihres Alters – Astrids und Barbaras – waren zu alt, um für eine echte Tragödie zu sorgen, und in Anbetracht dessen, dass Barbara keine eigenen Kinder gehabt hatte, würde man es wohl einen Segen nennen, soll heißen, einen Segen, dass der Schulbus nicht jemand anderen umgefahren hatte. Aber das wäre Barbara gegenüber nicht fair. Sie hatte immerhin einen Ehemann und Katzen gehabt. Sie war – Ironie des Schicksals – viele Jahre zuvor sogar Schülerlotsin der Grundschule gewesen. Wenigstens ist es nicht in ihrem Viertel passiert, dachte Astrid und atmete tief durch, während Birdie ihr die Kopfhaut massierte.
Was mochte Barbara wohl durch den Kopf gegangen sein, als der Bus auf sie zugerast gekommen war? Warum hatte sie überhaupt dort geparkt und nicht auf der anderen Straßenseite? Was hatte sie sich für diesen Tag vorgenommen? Astrid richtete sich auf, und von ihren Haaren tropfte es in den Nacken und auf die Bluse.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Birdie und wickelte ein Handtuch um ihr nasses Haar.
»Nein«, erwiderte sie, »ich denke nicht. Dabei habe ich Barbara nicht mal gemocht, wie du weißt. Ich bin nur ein wenig … na ja … erschüttert.«
»Nun, wenn das so ist«, sagte Birdie, kam um den Sessel herum und ging davor in die Hocke, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. »Lass uns nach hinten gehen.«
Birdie wirkte so gefasst wie eine katholische Lehrerin. Sie hatte für alles eine Lösung.
Astrid nickte bedächtig und reichte ihr die Hand. Gemeinsam gingen sie in den Raum, in dem eine augenbrauenlose junge Frau namens Jessica an drei Tagen in der Woche anderen Leuten die Körperhaare entfernte. Dort legten sie sich nebeneinander auf die Doppelmatratze – sie selbst auf den Rücken und Birdie auf einen Ellbogen gestützt. Plötzlich erschöpft, schloss Astrid die Augen. Und wie üblich, denn nach so langer Zeit gab es einen gewissen Rhythmus, begann Birdie, sanft ihre Wangen und Ohren und ihren Hals zu küssen, alles bis auf den Mund, aber an diesem Tag war es anders. Astrid zog sie an sich und drückte ihre Lippen auf Birdies. Es gab keine Zeit zu verlieren, nicht in diesem Leben. Es gab immer irgendwelche Schulbusse. Wie oft musste man daran erinnert werden? Diesmal war es eindeutig. Sie war Witwe und achtundsechzig. Besser spät als nie.
Cecelia saß zwischen ihren Eltern auf dem Rücksitz eines Taxis, in dem es muffig nach Körperausdünstungen roch. Amtrak hatte sich für die Beförderung unbegleiteter Jugendlicher eine Reihe von Hindernissen einfallen lassen, wozu unter anderem gehörte, dass sie in Begleitung eines Erwachsenen zum Zug gebracht werden mussten. Eigentlich sollte so eine Reise Spaß machen, aber Cecelia wusste, was Sache war. Sie war dreizehn und hatte Zugang zum Internet. Es ging mehr oder weniger um Zeugenschutz. Sie war nicht der Schule verwiesen worden, jedenfalls nicht offiziell. Es war eher ein Übereinkommen, sich eine Auszeit zu nehmen, wie das im Fernsehen Eltern unmittelbar vor der unvermeidbaren Scheidung machten. Sie hatte es wie nebenbei erwähnt, als sie und ihre Eltern gemeinsam nach einer Lösung gesucht hatten. Eigentlich war es als Scherz gedacht gewesen: Vielleicht sollte ich einfach für den Rest des Jahres zu Granny ziehen. Aber am nächsten Morgen hatten ihre Eltern mit rot verweinten Augen am Küchentisch gesessen, als hätten sie sich seit dem Abendessen nicht mehr davon wegbewegt, und ihr erklärt, sie hätten es der Schule mitgeteilt und mit Astrid gesprochen und ja, das sei nun der Plan.
Die Entscheidung, auf wen ihre Wut am größten war, fiel Cecelia schwer: auf ihre Eltern, die sie aus allem herausrissen, oder auf ihre Schule, die das zuließ. Es war wirklich nicht fair. Eigentlich war es das genaue Gegenteil. Eine beschissene Situation, selbst wenn sie nun von einer kleinen Wohnung in ein großes Haus zog. Das Gefühl apokalyptischen Versagens und tiefster Ungerechtigkeit überwog bei Weitem jeden Vorteil. Aber sie hatte bereits tausendmal versucht, alles zu erklären, und war dennoch an diesem Punkt angelangt, weshalb der Gedanke an Gerechtigkeit nicht wirklich zählte. Es war passiert.
»Big House ist im Spätsommer besonders schön, eigentlich das ganze Tal.«
Cecelias Vater Nicholas Strick, auch Nicky Stricky genannt und das Nesthäkchen der Familie, war noch vor seinem achtzehnten Geburtstag aus dem Haus seiner Eltern abgehauen und nur mehr für Feiertage oder besondere Anlässe, die schon Monate im Voraus mit Schuldgefühlen beladen gewesen waren, dorthin zurückgekehrt. Das Taxi bog in die Flatbush Avenue ein und steuerte die Manhattan Bridge an. Cecelia fand, dass ihr Vater die Liste der attraktivsten Väter dieser Welt anführen könnte, wenn er sich den Bart abrasieren würde oder den wirren Pferdeschwanz abschneiden ließe, den er für gewöhnlich um den Hals geschlungen trug, sowie sich Klamotten kaufte, die nicht für Cowboys und Rancher gedacht waren. So jedoch sah ihr Vater immer aus wie jemand, der gut aussehen könnte, wenn er wollte, wovon Bart, Kleidung und Haar jedoch wirksam ablenkten.
»Sie verfügt wirklich über einen ganz hervorragenden Geschmack, und sie kennt Gott und die Welt«, warf Juliette ein. Cecelias Mutter war Französin und kannte sich aus mit gutem Geschmack, das sagten alle. Sie war Astrid mehr zugetan, als ihr Ehemann es war. Womöglich mochte sie Astrid sogar lieber als ihren Ehemann. »Es gibt dort große saubere öffentliche Schwimmbäder, und du brauchst höchstens mal zu warten, weil jemand langsam ist, und nicht, weil hundert Leute vor dir sind. Clapham ist großartig, das weißt du. Du warst immer gern dort, sogar als das Haus eine Katastrophe für Kleinkinder war und ich in ständiger Sorge, du würdest irgendwo zu Tode kommen. Außerdem ist das Leben auf dem Land viel besser für die Gesundheit. Es gibt viel mehr Sauerstoff fürs Blut.«
Das klang wenig überzeugend, aber Cecelia wollte nicht widersprechen. Und wenn dem so wäre, wie zum Teufel hatten ihre Eltern es dann verantworten können, ihrem Blut während der vergangenen dreizehn Jahre das Maximum an Sauerstoff vorzuenthalten?
»Ich habe diesem Plan doch bereits zugestimmt. Es ist in Ordnung, ehrlich.«
Cecelias Koffer befanden sich im Kofferraum. Gemeinsam füllten sie – Cecelia, ihre Eltern und der Fahrer – den Platz im Wagen bis auf den letzten Zentimeter, wie Pendler in der U-Bahn zur Stoßzeit.
»D’accord«, sagte Juliette und tätschelte Cecelias Schenkel. Ihr Kinn bebte, und sie wandte ihr Gesicht dem Fenster zu. »Okay.«
»Bist du dir auch sicher, dass du allein dorthin reisen möchtest? Wir könnten im Zug mitfahren und bleiben, bis du dich eingelebt hast.«
Nicky hatte bisher nie freiwillig nach Clapham fahren wollen – vielleicht war bereits das ein Fortschritt. Er strich mit den Händen über seinen Bart.
»Es ist alles gut, Dad. Ich werde einfach Harry Potter weiterlesen. Es sind doch nur ein paar Stunden.«
»Wirst du das mit den zwei Koffern schaffen, was meinst du? Dort gibt es hoffentlich Rolltreppen.«
Juliette war Tänzerin und in Körperhaltungsfragen streng und erfahren. Eine gute Eigenschaft einer Mutter. Cecelia versuchte, sich an die vielen positiven Eigenschaften ihrer Eltern zu erinnern. Es war nicht ihr Fehler, aber sie selbst war auch nicht schuld, und Eltern sollten schließlich diejenigen sein, die einschritten und alles wieder zurechtrückten, was im Leben ihrer Kinder durcheinandergeraten war. Nur dass ihre Eltern nie um irgendwas Aufhebens gemacht hatten.
Ihre Mutter gab vor, aus gesundheitlichen Gründen nicht zu rauchen. Ihr Vater war ein Hippie, der übers Internet an jüngere Hippies Räucherstäbchen und Kristalle vertickte. Seinen Anspruch auf Ruhm außerhalb der Familie, wo er sich diesen mit Quinoasalaten, Trompetenfürzen und lustigen improvisierten Songs verdient hatte, verdankte er einer Rolle als gut aussehender Highschoolschüler in dem Film The Life and Times of Jake George, der gedreht worden war, als er noch ein gut aussehender Oberstufenschüler gewesen war. Die Erfahrung, von Teenagermädchen angebetet zu werden, hatte er als so beängstigend empfunden, dass er sich zum Buddhismus bekehrt und das darauffolgende Jahr in einem Kloster in Tibet verbracht hatte. Weder er noch Cecelias Mutter waren dafür geschaffen, irgendjemandes wegen loszubrüllen, nicht einmal um ihrer selbst willen.
»Ich komm schon zurecht, Mom.«
Am Rückspiegel baumelte ein Duftbäumchen, und Cecelia verfolgte, wie es bei ihrer Fahrt über die Brücke hin und her baumelte. Das Taxi-TV plärrte, und Juliette brachte es mit ihrem Daumen zum Schweigen. Es war ein herrlicher Tag – blauer Himmel, wolkenlos, kein Verkehr. Fast wurde Cecelia traurig, die Stadt zu verlassen, aber dann dachte sie daran, wie es wäre, nach den Ferien wieder zur Schule zu gehen, wo ihre beste Freundin nicht mehr mit ihr sprechen wollte und alle anderen annehmen würden, dass sie die Schuldige war. Schande über sie! Cecelia Raskin-Strick, die noch bis vor einem Jahr mit ihren American-Girl-Puppen gespielt hatte!
Und schon war sie nicht mehr traurig, jedenfalls nicht, weil sie wegging. Für den Rest der Fahrt starrten ihre Eltern aus ihren jeweiligen Fenstern, sie selbst schaute über die Schultern des Fahrers nach vorn und vertraute darauf, dass er den richtigen Weg wusste.
Porters Badezimmer roch nach Ziege, weil sie selbst nach Ziegen roch. Sie konnte das nicht immer riechen, schon gar nicht, wenn sie bei den Tieren war, und sobald sie nach Hause kam und unter der Dusche stand, öffnete der Dampf die Poren, und der ganze Raum wurde zum Bauernhof. Schlimmer war es nur, wenn sie nach Käse roch, hauptsächlich weil die Leute den Käsegeruch eher ihren Körperausdünstungen zuschrieben, wohingegen sie ganz klar den Tieren die Schuld gaben, wenn sie nach Ziege roch.
Nach ihrem Abschluss am Hampshire College war Porter umgehend nach Clapham zurückgekehrt. Ihr Vater war damals bereits seit zweieinhalb Jahren tot gewesen, und es hatte sich völlig bescheuert angefühlt, weiterhin in Massachusetts zur Schule zu gehen, aber ihre Mutter hatte darauf bestanden. Was soll das bringen?, hatte sie gefragt. Was würdest du außer herumsitzen und Trübsinn blasen in Clapham tun?
Porter jedoch war davon überzeugt, dass die Suche nach ihrem Vater, in welcher Form auch immer, nur zu Hause erfolgreich sein konnte. Und so war sie zurückgekommen und rasch wieder in ihre Teenagergewohnheiten verfallen, nur dass die nun unvollständige Familie ihr vermittelt hatte, ihr Vater sei nur ein Traum gewesen. Es war so gewesen, als hätte sie lernen müssen, sich mit einem Gehfehler zu bewegen – was anfangs schwierig gewesen war, bis sie sich so daran gewöhnt hatte, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, wie sich das Leben auf zwei gesunden Beinen angefühlt hatte.
Sie hatte als Vertretungslehrerin an der Highschool gearbeitet, dann im Clay Depot, einem Töpferladen auf der Main Street. Danach, mit fast dreißig, hatte Porter sich mit ihrer Freundin Harriet aus Kindertagen zusammengetan, die das von ihren Eltern geerbte Land in einen Biohof hatte umwandeln wollen. Sie hatten ein paar Ziegen gekauft und Bücher über Fermentierung gelesen, und nun, fast acht Jahre später, gab es den Clap-Happy-Ziegenkäse sowohl in New York als auch in jedem Restaurant Claphams, sogar in besonderen Käseläden im ganzen Land. Harriet hatte ihr das Land und ihren Anteil an den Ziegen verkauft (es waren insgesamt zwei Dutzend) und war mit ihrem Ehemann nach Oregon gezogen, sodass die Käserei nun ihr allein gehörte.
Womöglich lag es an den Ziegen, dass sie die Idee, eine Schwangerschaft selbst in die Hand zu nehmen, gar nicht so beängstigend fand. Sie war es schließlich gewohnt, bei der Fortpflanzung zu assistieren, die Hand bei der Schaffung von Leben im Spiel zu haben, auch wenn es Ziegen waren. Samenbanken gab es auch für ihre Tiere, und sie war mit genügend Bauern groß geworden, um sich in Biologie auszukennen. War es inzwischen nicht verrückterweise Mainstream, dass ganz normale Heteropaare sich den Partner aufgrund von Eigenschaften wie Sinn für Humor aussuchten? Oder aufgrund des besuchten Colleges? Was sie beim Küssen mit ihrer Zunge anstellten? Und dann ein Baby bekamen. Warum suchte sich nicht jeder einfach eine Person zum Heiraten und wählte dann das gewünschte Spermium getrennt davon aus? Väter starben nun mal irgendwann, jeder konnte irgendwann sterben. War das den Leuten denn nicht bewusst?
Menschen konnten einem weggenommen werden, also war es besser, sie gar nicht erst zu bitten, einem Ein und Alles zu sein. Natürlich wäre es ideal, einen Partner zu haben, der einem half, wenn das Kind geboren war – sie war nicht blöd und wusste, dass sie nur zwei Hände hatte –, aber sie wollte nicht warten, bis sie vierzig wäre. Würde sie an einem größeren Ort wohnen, wo auch ihre Chancen, sich zu verabreden, größer wären, empfände sie ihre Lage vielleicht als weniger dringlich. Aber in Clapham kannte Porter jeden, mit dem sie eventuell Sex haben könnte, und auf dieser Liste war kein Glückslos dabei.
Es hatte Liebespartner gegeben, mit denen sie Babys hätte haben können: Jeremy, ihren Freund und ihre erste Liebe aus der Highschool, der sie mit achtzehn hatte heiraten wollen und jetzt am anderen Ende der Stadt wohnte mit seiner Frau und zwei Kids im Schulalter. Jonah, ihren Freund aus dem College, der lieber Gras geraucht hatte, als etwas zu essen. Er war nach Vermont gezogen und machte sich dort auf Facebook für Bernie Sanders stark. Hiro, der Typ, mit dem sie während ihrer Beziehung zum Kiffer einmal geschlafen hatte – ein japanischer Student, der keinerlei Kontakte in den sozialen Medien unterhielt und dessen Name sich nicht googeln ließ, weshalb sie seine Spur verloren hatte. Der Sex war nicht gut gewesen. Aber was war schon guter Sex? Womöglich wäre er ein guter Ehemann, ein guter Vater gewesen, wer weiß? Und vermutlich war er das auch – mit einer anderen. Dann waren da noch die Typen gewesen, mit denen sie nach dem College geschlafen hatte: Chad, der Anwalt, den sie genauso sexy und langweilig gefunden hatte wie ein Baseballspiel. Matthew, der unausgelastete Kellner, mit dem sie ein paar Monate zusammen gewesen war, der eine andere Freundin gehabt, ihr aber manchmal spät nachts geschrieben hatte und seinem Hey, ich denk an dich kleine leere Sprechblasen hatte folgen lassen, die genauso schnell verschwunden gewesen waren, wie sie aufgetaucht waren. Billy, der Mann aus Wisconsin, den sie in ihrem Urlaub in Puerto Rico kennengelernt hatte und dessen linker Ringfinger, wie Porter sich ziemlich sicher war, ein hellerer Bräunungsstreifen geziert hatte. Und dann Ryan, ihr letzter Freund, der Einzige seit dem College, den sie auch ihrer Familie vorgestellt, der sie aber wahrscheinlich gar nicht geliebt und der definitiv keine Kinder gewollt hatte.
Unfälle waren nicht auszuschließen, aber Porter hatte die Pille genommen, seit sie auf der Highschool gewesen war, und war seitdem bis auf einen Ausrutscher davon verschont geblieben. Ihre Freundinnen feierten ausgiebige Verlobungspartys, Hochzeiten, Babypartys und Geburten, sie gingen ab wie Raketen – von ihr weg. Ihre beiden Brüder hatten Kinder, und wenigstens eins davon, nämlich ihre Nichte Cecelia, war das tollste Kind, das je geboren worden war. Porter war auch bereit, abzugehen wie eine Rakete, und verzichtete deshalb darauf, auf einen Piloten zu warten.
Sich Spermien auszusuchen war das ultimative Onlinedating – alle Informationen, die man brauchte, hatte man schwarz auf weiß vor sich. Porter war sich aber nicht sicher, ob sie dem trauen sollte, was im Wesentlichen Lebensläufe waren, denn bei Lebensläufen nahm es keiner so genau mit der Wahrheit. Sie konzentrierte sich deshalb auf die Fakten. Sie selbst war groß und brauchte keine Gene für Größe, sie war keine Jüdin, und deshalb wäre ein jüdischer Spender im Hinblick auf das Tay-Sachs-Syndrom und anderen Krankheiten auf der »jüdischen Liste« eine gute Wahl, wie ihre Endokrinologin für Fortpflanzungsbiologie ihr erklärt hatte. Porter wollte eigene Mängel wettmachen – Körperkoordination, die Fähigkeit, einen Ton zu halten.
Am besten stellte man sich diese in einen Becher masturbierenden Männer gar nicht vor. Schwer zu sagen, was abstoßender war – ein Mann, der Samen spendete, um Geld zu verdienen, oder ein Mann, der Samen spendete, weil ihm die Vorstellung gefiel, jede Menge Kinder mit fremden Frauen zu haben. Porter verdrängte das. Der Samen war eine Zutat, und auf diese Weise hatte sie die Wahl, welche Art von Kuchen sie zubereiten wollte. Das Kind wäre ihres ganz allein, und dieser Becher voller Schwimmer war nur ein Mittel zum Zweck. Und jetzt war sie mit einem Mädchen schwanger. Die Wissenschaft funktionierte, Wunder geschahen. Beides schloss sich nicht gegenseitig aus.
Porter drehte den Wasserhahn ab und betrachtete die seifige Pfütze um ihre Füße. Ihre Brüste waren immer klein und bescheiden gewesen, obwohl der restliche Körper mit dem Alter in die Breite gegangen war. Ihre weichen Hüften und der Bauch wahrten ihr Geheimnis noch – dünnen Leuten, die mit Käse zu tun hatten, traute sie nicht. Man traf hin und wieder welche, hauptsächlich im Verkauf, von ihnen hielt sie sich immer fern. Man musste das Produkt genießen. Gott sei Dank war ihr Käse pasteurisiert.
Nun hatte sie Halbzeit, und da man ihr die Schwangerschaft mittlerweile ansah, stand für sie fest, dass sie diese publik machen musste. Aber bevor sie das tat, würde sie es ihren Brüdern erzählen müssen. Und bevor sie es ihren Brüdern erzählte, würde sie es ihrer Mutter sagen müssen. Für die meisten Frauen war es mit Sicherheit unvorstellbar, nicht mit ihren Müttern über ihre Schwangerschaft zu sprechen – Porter hatte jede Menge erwachsener Frauen erlebt, die sich im Wartezimmer der Frauenärztin an die Hände ihrer Mütter klammerten. Aber Astrid Strick war keine solche Mutter. Sie wusste, wie man Flecken aus weißen Hemden bekam. Sie kannte die Namen sämtlicher Pflanzen in ihrem Garten und konnte Bäume und Vögel identifizieren. Sie konnte aus nichts alles backen. Nur lud sie nicht zu einer Vertraulichkeit ein, wie Porter sie bei anderen Müttern beobachtet hatte, Müttern, die ihre Kinder bei sich im Bett schlafen ließen, wenn sie schlecht geträumt hatten, oder zuließen, nach dem Schwimmen mit nassen Haaren nach Hause zu fahren.
Die Existenz ihrer Mutter war immer – sowohl vor als auch nach dem Tod ihres Ehemanns – geordnet gewesen. Bei ihr gab es Regeln und für jedes Wetter die richtige Kleidung, beides gab es für sie selbst nicht. Das spielte natürlich mit. Porter würde ihre Tochter bei sich im Bett schlafen lassen, und zwar jede Nacht, sofern sie das wollte. Sie würde ihr das Essen vorkauen und in den Mund spucken, wenn das Baby das brauchte. Porter würde ihr ein warmer, kuschliger Ort sein. Und das würde sie ihrer Mutter auch sagen.
Ihr verstorbener Vater Russell war Fan von Twilight Zone gewesen, und Porter überlegte, was sie ihm erzählt hätte: Sie hätte ihn gebeten, sich eine Episode vorzustellen, in der ihr ein in einem Labor erschaffenes Baby in den Körper eingepflanzt wurde. Es war ungerecht, dass die meisten Leute ihre beiden Elternteile behalten durften und damit Großeltern für ihre Kinder hatten und süße Kosenamen. An diese Ungerechtigkeit war sie gewöhnt – ihr Collegeabschluss, die Hochzeiten ihrer Brüder, der fünfzigste Geburtstag ihrer Mutter, der sechzigste, all diese verdammt großen Tage ohne ihren Vater –, aber irgendwie war es nicht leichter geworden. Er fehlte ihr noch immer, und er würde auch ihre großen Tage verpassen, genauso wie die ihrer Brüder. Er hätte sich gefreut, dass sie ein Baby bekam, und es vielleicht sogar ein wenig genossen, neben ihren Brüdern die männliche Hauptrolle zu übernehmen und als Grandpa von großer Bedeutung zu sein. Grampa, Gramps, Pops. Porter wusste nicht, welch albernen Spitznamen Cecelia ihm erteilt hätte, einen, den dann alle weiteren Enkelkinder übernommen hätten.
Sie hatte davon geträumt, dass ihr Vater durch eine Mischung aus Zeitreise und Magie, aber ohne eine der verstörenden Konnotationen, die so etwas im realen Leben hätte, irgendwie auch der Vater des Babys wäre – in ihrem Traum war ihr Vater gleichzeitig ihr Großvater und ihr Vater und der Vater des Kindes alles zugleich, ein altersloser Geist. Die Frauen in der Familie erledigten die Arbeit. Wie in diesem Brad-Pitt-Film, der einen auch dann zum Heulen brachte, wenn er vernichtende Kritiken bekam.
Porter stieg aus der Dusche und wickelte sich in ein Handtuch. Mit der Hand wischte sie den Spiegel ab, eine Fläche so groß, dass sie sich betrachten konnte.
»Du bist erwachsen«, sagte sie zu sich. »Du bist eine ausgewachsene Frau mit einem heranwachsenden Baby im Bauch. Du bist eine Erwachsene. Es ist dein Leben.« Porter stellte sich seitlich vor den Spiegel und legte ihre Hand unter ihren Bauch. »Hey du. Ich bin deine Mom, und ich schwöre bei Gott, dass alles gut werden wird. Ich bin mir zu fünfundneunzig Prozent sicher, dass alles gut werden wird. Mindestens zu siebzig Prozent. Ich schwör’s. Verdammt.«
Heute würde sie es ihrer Mutter sagen. Oder morgen. Allerspätestens würde sie es ihrer Mutter morgen sagen.
Der Zug hielt unterwegs nur viermal – in Yonkers, Croton, Poughkeepsie, Clapham. Cecelia hatte einen Fensterplatz, was ihr aber nicht wichtig war, denn sie war sowieso in ihr Buch vertieft. Der Schaffner hatte ihr ein Armband mit der Aufschrift UNBEGLEITET gegeben, aber genauso gut hätte FINDELKIND, BITTE NIMM MICH MIT ZU DIR UND MACH MIR EIN SANDWICH darauf stehen können. Sämtliche Mütter im Zug – Cecelia erkannte sie, obwohl nur wenige Kinder bei sich hatten – bedachten sie mit mitleidigen Blicken und sagten sinnlose Sachen zu ihr wie »Sie wird sicherlich da sein, wenn du ankommst«, was sie mit einem Lächeln und einem bestätigenden Nicken beantwortete. Väter hüteten sich, ein heranwachsendes Mädchen anzusprechen, das sie nicht kannten, vielleicht blendete ihr Gehirn aber auch Kinder, die nicht die ihren waren, völlig aus.
Andere Mädchen – die Mädchen, mit denen sie noch bis vor Kurzem befreundet gewesen war, solche die den kalten Kaffee aus den auf dem Küchentisch stehen gebliebenen Bechern ihrer Eltern tranken und sich manchmal einen Schluck Wodka aus dem Kühlschrank mopsten – hätten sich wohl in einem passenden Moment auf der Toilette versteckt und wären an einem Ort rausgesprungen, der verlockender klang als Clapham – Rome etwa (auch wenn es Rome, New York, war) oder Niagara Falls (obwohl sie keinen Regenmantel hatte und zu jung fürs Glücksspiel war) –, aber Cecelia wollte nicht, dass ihre Eltern sich Sorgen machen mussten. Schon gar nicht jetzt.
Was würde passieren, wenn sie nicht aus dem Zug stieg? Richtig vorstellen konnte sie es sich nicht. Ihre Granny würde zweifellos wissen, was zu tun war, wie man den Zug anhalten und die Bahnsteige der folgenden Dutzend Haltebahnhöfe durchkämmen konnte zum Beispiel. Vermutlich hatte sie sogar ein Walkie-Talkie in einer Schublade mit allerlei Plunder, mit dem sie den Schaffner persönlich erreichen könnte. Und dann wäre Cecelia in Schwierigkeiten, und ihre Eltern müssten gemeinsam in den nächsten Zug springen, und sie würden sich anschreien, und wenn sie dann im Big House wären, würden sie sich darüber streiten, wessen Fehler das Ganze war, ohne je zu verstehen, dass es tatsächlich ihr Fehler war, wenn man es genau betrachtete. Davon abgesehen hatte sie nur vierzig Dollar dabei und eine Kreditkarte mit Zugriff auf das Bankkonto ihrer Eltern, was diese sicher gleich sperren lassen würden, weshalb sie nicht lange durchhalten könnte, selbst wenn sie allen gern Stress bereiten würde. Für ein Leben auf der Flucht war sie nicht gemacht.
Der Bahnhof von Clapham hatte nur einen langen Bahnsteig mit Gleisen an jeder Seite. Daneben rauschte der Hudson vorbei. Cecelia wuchtete mithilfe des Schaffners ihre Koffer auf den Bahnsteig und gab sich Mühe, nicht vor Peinlichkeit im Erdboden zu versinken, als der Bahnbedienstete mit seiner dröhnenden Stimme den Namen ihrer Großmutter rief, wobei er das Summen des Zuges und die Geräusche der vorbeifahrenden Autos und der zwitschernden Vögel übertönte. Das Bahnhofsgebäude befand sich oberhalb einer gewagten Treppenflucht, wo der Warteraum mit Bänken aus Holzlatten war. Und dort sollte Astrid im Moment sein. Niemand war zu sehen.
Städte flößten manchen Menschen Angst ein, wie Cecelia wusste, aber diese Leute hatten sich durch fehlgeleitete Statistiken und Batman-Filme verunsichern lassen. An Orten zu sein, an denen man von Hunderten von Leuten umgeben war, hatte nichts Beängstigendes – immer war jemand in der Nähe, der einen schreien hören konnte. Außerdem wusste Cecelia als modernes Mädchen, dass man sie dank ihrer ethnischen Herkunft und ihres ökonomischen Status nicht nur schreien hören, sondern ihr auch helfen würde. Und weil sie ein Mädchen war, hatten ihre Eltern ihr beigebracht, dass sie ihre Hausschlüssel, wenn sie allein nach Hause kam, immer in der Hand halten sollte, für alle Fälle.
Der Schaffner rief wieder den Namen ihrer Granny. »As-trid Stri-ick!«
Als wäre ihre Großmutter die einzige Kandidatin der Show Wer möchte sich um diese Minderjährige kümmern?. Sie lachte nervös, weil sie sehr gut wusste, dass ihre Granny in ihrem Leben nie zu spät gekommen war.
»Sie ist sicherlich oben auf der Toilette.«
Cecelia verschränkte die Arme vor der Brust. Alle anderen waren bereits ausgestiegen und trabten fröhlich die Treppe hinauf in die wartenden Arme ihrer Lieben oder stiegen in ihre Autos oder gingen zu Spiro’s, das nur einen Häuserblock vom Wasser entfernt war.
Der Schaffner warf sichtlich genervt einen Blick auf seine Uhr. »Jetzt halten wir den Zug auf, Ma’am.«
Cecelia wollte ihn schon fragen, warum um alles auf der Welt er eine Dreizehnjährige »Ma’am« nannte, da entdeckte sie ihre Großmutter, die mit flatternder Jacke die Treppe heruntergerannt kam.
»Da ist sie ja, sie ist da«, sagte Cecelia und war so erleichtert, dass sie glaubte, weinen zu müssen.
Sobald ihre Großmutter den Bahnsteig betreten hatte, winkte sie mit beiden Armen, bis sie bei ihr war, griff dann nach ihren Oberarmen und küsste sie auf die Stirn. Sie waren jetzt mehr oder weniger auf Augenhöhe, wobei sich das Gleichgewicht ein wenig zugunsten der Jugend verschoben hatte.
»Sie dürfen sie jetzt freilassen, Sir«, sagte ihre Granny. »Mission erfüllt.«
Der Schaffner machte mit einem knappen Nicken auf dem Absatz kehrt, und gleich darauf fuhr der Zug los, als wäre er beleidigt.
»Hallo, Granny«, sagte Cecelia.
»Hallo, meine Liebe«, sagte Astrid. »Ich habe heute gesehen, wie jemand vom Bus überfahren wurde.«
Cecelia riss die Augen auf. »Wer?«
»Eine Frau in meinem Alter. Ich kannte sie fast mein ganzes Leben. Deshalb bin ich auch ein wenig durcheinander. Kannst du zufällig Auto fahren?«
Ihre Großmutter schob ihre Sonnenbrille auf den Kopf. Ihre Augen wirkten ein wenig verschwommen, und einen Moment lang wünschte Cecelia sich auf die andere Seite des Bahnsteigs mit Ziel in die Gegenrichtung.
»Ich bin dreizehn.«
»Ich weiß, wie alt du bist. Ich habe deinem Vater das Fahren mit Schaltgetriebe beigebracht, als er elf war.« Astrid gestikulierte. »Gleich da oben an der nächsten Straße neben dem Fluss haben wir paralleles Einparken geübt.« Sie mimte ein Auto, das die Uferböschung hinunterfuhr und ins Wasser fiel. »Ha! Platsch!«
Ihr Vater Nicky war als Jüngster unter seinen Geschwistern mit allem sehr früh dran gewesen. Wenn Elliot, der Älteste, der Familiensaga nach etwas mit sechs Jahren konnte, konnte Nicky es mit drei und Porter irgendwann dazwischen. In der Mitte zu sein bedeutete, dass alle nur noch eine nebulöse Erinnerung hatten, lediglich die allgemeine Vorstellung, dass da auch noch Porter gewesen war. Und genau dieses Gefühl hatte Cecelia auch manchmal bei ihren Eltern, obwohl sie ein Einzelkind war und sie niemanden hatten, auf den sie ihre Aufmerksamkeit richten konnten, außer auf sie selbst.
Cecelia zuckte zusammen. »Ich hab kein Auto. Ich meine, nicht mal meine Eltern haben eins.« Es war heiß, viel zu heiß, um in der prallen Sonne zu stehen. In Brooklyn war es ihr nicht so heiß vorgekommen. Sie trug einen Pullover, den sie gern ausgezogen hätte, aber sie hatte die zwei Koffer und ihren Rucksack und wollte nicht noch mehr tragen müssen. »Diese Frau, die überfahren wurde, wie hieß sie? Und ist sie gestorben?«
»Barbara Baker hieß sie, eine richtige Nervensäge. Und ja, sie ist gestorben. Von dort, wo ich saß, sah es aus, als wäre sie sofort tot gewesen, so sterben wollen wir weiß Gott ja alle. Ist schon gut, ich kann fahren. Aber wir sollten uns das als eines unserer kleinen Projekte vornehmen, hm? Jede Frau sollte Autofahren können. Man weiß nie, wann man es brauchen kann. Komm, ich nehme einen Koffer, du nimmst den anderen.«
Ihre Großmutter griff nach dem Griff des kleineren Koffers und zog ihn hinter sich her, sodass er von einer Stufe zur nächsten holperte. Cecelia packte den Griff des größeren und folgte ihr.
Normalerweise war man in fünf Minuten am Big House, doch der Kreisverkehr war gesperrt, und so würde es bestimmt acht dauern. Ihre Großmutter schaltete das Radio ein – WCLP, Claphams Lokalsender mit dem Nachrichtensprecher Wesley Drewes, war voreingestellt. Cecelia stellte ihn sich immer als eine Wolke mit Augäpfeln vor, welche die ganze Stadt im Blick hatten und diese näher heranzoomen konnten, sofern es nötig war. Sie drückte ihren auf dem Schoß liegenden Rucksack an sich.
»Wann geht dein Vater wieder zurück nach New Mexico?« Dass ihre Granny dieses Vorhaben nicht guthieß, war unüberhörbar.
»Ich weiß nicht. In ein paar Tagen, denke ich.«
»Es scheint ihm dort zu gefallen. Wie man sich für Jurten und Skorpione begeistern kann, übersteigt meine Vorstellungskraft, aber es ist eben Nicky. Weißt du, dass er nie Erdnussbutter mochte, nur weil alle anderen sie mochten? Er gab vor, allergisch zu sein. Wie geht’s deiner schönen Mutter?«
Das wurde ohne Sarkasmus oder Groll gesagt. Juliette war als Teenager Model geworden, nachdem ein Talentscout sie und ihre Mutter auf dem Gehweg vor ihrem Pariser Tanzstudio in Clignancourt angesprochen hatte. Es zog sich wie ein roter Faden durch ihr Leben – jemand hatte eine Idee, öffnete eine Tür. Und Juliette ging dann durch diese Tür, selbst wenn sie zum Wäscheschacht führte. Cecelia sah eher ihrem Vater ähnlich mit der markanten Nase und dem weichen hellbraunen Haar, das blond wirkte, sofern sie nicht direkt neben einer Blondine stand.
»Immer dasselbe, weißt du. Sie isst Rettich mit Butter, solche Sachen eben.« Auf die breiten Straßen von Clapham fiel das Licht fleckig durch die Blätter, jedenfalls im Hochsommer war das so. Hier hatte Cecelia Fahrrad fahren, schwimmen und fangen mit einem echten Baseballhandschuh gelernt, alles Dinge, die man in New York nicht einfach so tun konnte, jedenfalls nicht mit Eltern wie den ihren. Dort war sie zum Ballettunterricht bei ihrer Mutter genötigt worden, doch Ungeschick und beidseitig empfundene Peinlichkeiten hatten es Cecelia ermöglicht, bald wieder damit aufzuhören. »Aber ich glaube, dass sie vor allem traurig ist.«
»Keiner schickt gern sein Kind weg«, erwiderte Astrid. »Na ja, manche Leute wohl schon. Manche schicken ihre Kinder, sobald sie alt genug sind, aufs Internat! Aber deine Mutter darf ruhig traurig sein. Es wird alles gut werden.«
»Okay.« Cecelia wusste nicht, in welchem Umfang ihre Eltern ihrer Großmutter über das, was in Brooklyn vorgefallen war, informiert hatten.
Hi Süße, will nur wissen, ob Granny dich abgeholt hat und alles gut ist. HDL. Ruf mich an, wenn du im Big House bist Cecelia schob das Smartphone zurück in den Rucksack und stellte diesen dann zwischen ihren Füßen ab. »Wir können hier den ganzen Tag sitzen bleiben, wenn du das möchtest.«
Es hatte Probleme mit ihren Freundinnen gegeben, das konnte man so sagen, diese hatten jedoch hauptsächlich darin bestanden, dass einige offenbar glaubten, in einem Videospiel zu leben und Erwachsene zu sein, deren Handeln keine Konsequenzen hatte, und nicht Teenager, deren Urteilsvermögen noch nicht voll entwickelt war. Problematisch war, dass diese Leute ihr immer Dinge anvertrauten, sie aber weder Anwältin noch Therapeutin war. Sie war nur eine Jugendliche wie ihre Freundinnen, nur dass sie sich als Einzige darüber im Klaren zu sein schien. Problematisch war, dass ihre Eltern, sobald die Schwierigkeiten aufgetaucht waren, aufgegeben hatten wie ein missmutiges Kind, das zum ersten Mal Monopoly spielt und verliert. Sie waren eingeknickt. Eingeknickt vor ihr.
Ihre Großmutter griff nach ihrer Hand. »Danke, meine Liebe. Ich weiß das zu schätzen. Die meisten Leute sind ständig in Eile.«
»Ich nicht«, sagte Cecelia. »Ich habe absolut keine Eile.« Sie schloss die Augen und hörte sich Wesley Drewes’ Wetterbericht an.