Cover

Zum Buch

»Ein bahnbrechendes Werk der deutschen Literatur.« Ocean Vuong

Sie ist dreißig Jahre alt und heißt Kiều, so wie das Mädchen im berühmtesten Werk der vietnamesischen Literatur. Doch sie nennt sich lieber Kim, weil das einfacher ist für ihre Freunde in Berlin. 1968 waren ihre Eltern aus Vietnam nach Deutschland gekommen. Für das, was sie zurückgelassen haben, hat sich die Journalistin nie interessiert. Im Gegenteil: Oft hat sie sich eine Familie gewünscht, die nicht erst deutsch werden muss, sondern es einfach schon ist. Bis zu jener Facebook-Nachricht. Sie stammt von ihrem Onkel, der seit seiner Flucht in Kalifornien lebt. Die ganze Familie soll sich zur Testamentseröffnung von Kiềus Großmutter treffen. Es wird eine Reise voller Offenbarungen – über ihre Familie und über sie selbst.

»Wo kommst du her? Zum ersten Mal denke ich, dass man diese Frage auch anders begreifen könnte. Nicht als Frage, die nur der Name eines vermeintlichen Ursprungslandes beantworten kann. Sondern als Suche nach all denen, die vor mir kamen und ihre Spuren auf sichtbare und unsichtbare Weise auf dem Weg in die Gegenwart hinterlassen haben.«

Zur Autorin

Khuê Phạm gehört zu den wichtigsten Stimmen einer neuen Generation von deutschen Autorinnen und Autoren. Sie wurde 1982 in Berlin geboren und studierte in London am Goldsmiths College und an der London School of Economics. Nach ihrer Ausbildung an der Henri-Nannen-Journalistenschule fing sie 2009 als Redakteurin bei der ZEIT an. Mehrfach wurde sie für ihre journalistische Arbeit ausgezeichnet. 2012 veröffentlichte sie mit Alice Bota und Özlem Topçu »Wir neuen Deutschen«, das von Einwandererkindern und ihrem Platz in Deutschland handelt. »Wo auch immer ihr seid« ist ihr Debütroman – eine literarische Annäherung an ihre eigene Familie, deren Lebensweg sie über fünf Jahrzehnte nachzeichnet. Khuê Phạm lebt in Berlin.

Khuê Phạm

WO AUCH IMMER
IHR SEID

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalveröffentlichung September 2021

Copyright © 2021 by btb Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

unter Verwendung einer Illustration von © Jan Steins

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-641-23208-5
V002

www.btb-verlag.de

www.instagram.com/btb_verlag

In diesem Roman sind die Namen der vietnamesischen Protagonisten, Gerichte und Kleider mit vietnamesischen Akzenten geschrieben. Bei historischen Persönlichkeiten und Städten wurde die deutsche Schreibweise gewählt.

Für Phương und Thoại,
die einen viel weiteren Weg gegangen sind als ich

KIỀU

Ich muss diese Geschichte mit einem Geständnis beginnen: Ich kann meinen eigenen Namen nicht aussprechen.

Solange ich mich erinnere, war es mir unangenehm, mich anderen Menschen vorzustellen. Waren sie Deutsche, konnten sie die melodischen Laute nicht verstehen. Waren sie Vietnamesen, hatten sie Probleme mit meinem harten Akzent. Die Deutschen umgingen das Problem, indem sie mich gar nicht ansprachen. Die Vietnamesen fragten: »Wie schreibt man das?«

Einer sagte: »Bist du dir sicher?«

Ich erinnere mich an meine kindlichen Versuche, mit meinem Problem umzugehen. Gingen wir zu Karstadt, fuhr ich in die Spielzeugabteilung und suchte unter den bedruckten Bleistiften nach meinem Namen. Gingen wir zum Baumarkt, setzte ich meine Hoffnungen auf die bunten, langen Schlüsselanhänger. Wenn ich meinen Namen nur finden würde, dachte ich, wäre das der Beweis, dass alles richtig war mit mir. Hunderte Bleistifte und Schlüsselanhänger durchsuchte ich. Ich fand »Katrin«, »Kristina« und einmal – da hüpfte mein Herz – »Kira«.

»Kiều« fand ich nicht.

»Kiều« existierte nur in der Welt meiner Familie und auf dem Titel eines Buches, das in dem Kellerregal meines Vaters stand: »Truyện Kiều, das Mädchen Kiều«. Ein Werk, das für die vietnamesische Literatur so wichtig war wie »Die Leiden des jungen Werther« für die deutsche.

Natürlich konnte ich es nicht lesen.

Immer wenn mein Vater aufräumen musste, holte er dieses Buch hervor und sagte: »Weißt du eigentlich, dass du nach einer berühmten jungen Frau benannt bist? Jeder Schüler hat diesen Roman gelesen! Du bist in ganz Vietnam bekannt!«

Und weil ich meinem Vater als Kind alles geglaubt habe, glaubte ich ihm auch das und stellte mir vor, wie ich durch Vietnam laufen und von allen möglichen Leuten angesprochen werden würde. Unzählige Male würde ich mich vorstellen und meinen Namen aussprechen müssen. Unzählige Nachfragen würden darauf folgen.

Als ich sechzehn war, nannte ich mich um, weil ich glaubte, mit einem besseren Namen bessere Chancen zu haben, in Jeanettes Clique aufgenommen zu werden. Als ich zwanzig war, ließ ich meinen Pass ändern, weil ich endlich so etwas wie Macht über mein Schicksal verspürte.

Seit zehn Jahren bin ich eine andere. Die Deutschen sagen »Kimm« zu mir, die Vietnamesen »Kihm«. Es ist nicht richtig, aber es ist einfacher so. Der Verlust meiner Vergangenheit hat mir nichts ausgemacht, wirklich nicht.

Bis ich diese Nachricht erhielt.

*

Die Nachricht erreichte mich über Facebook und war auf Englisch geschrieben, ein gewisser »Sơn Saigon« hatte mich kontaktiert.

»Bist du es, Kiều? Es gibt etwas, das du und dein Vater wissen müsst!«

Es gibt nicht viele Leute, die meinen wahren Namen kennen, man kann den Kreis der Eingeweihten auf meine große, nebulöse Verwandtschaft beschränken. Auf der Seite meiner Mutter gibt es einen vietnamesischen Zweig, der laut und kinderreich ist; jedes Mal, wenn die Verwandten Fotos schicken, bin ich überrascht, lauter neue Cousins und Cousinen darauf zu entdecken, deren Namen ich mir nicht merken kann, obwohl – oder weil – sie nur aus zwei Buchstaben bestehen. Von der Familie meines Vaters erinnere ich vor allem eine gehörlose Tante. Soviel ich weiß, sind seine Geschwister nach Kriegsende aus Vietnam geflohen und schließlich in Kalifornien gelandet, vielleicht als Boatpeople, vielleicht auch nicht.

Dann gibt es noch eine Großtante in England, die als Anwältin der Cannabis-Mafia reich geworden ist, und einen angeheirateten Cousin, der Dichter war und nach dem Krieg vom PEN-Club aus Vietnam nach Kanada ausgeflogen wurde. Außerdem eine junge Cousine in Frankreich, die in dieser kitschigen Musik-Show aufgetreten ist, zu der meine Eltern so gerne Karaoke singen: »Paris by Night«.

All diese Leute kenne ich nur aus Erzählungen. Sie sind für mich so unwirklich wie die Geister der verstorbenen Ahnen, für die ich am vietnamesischen Neujahr ein paar Räucherstäbchen anzünde und ein Gebet simuliere. Einmal im Jahr schweben sie in mein Leben hinein, um sich nach einem kurzen Gruß wie Qualm zu verziehen.

Wer also ist Sơn?

Das Profilfoto seiner Facebook-Seite zeigt einen Mann mit buschigen Augenbrauen und einer geraden Nase, die mich an die meines Vaters erinnert. Vietnamesische Bekannte haben sie oft für ihre hohe, elegante Form bewundert, deswegen fällt sie mir bei Sơn als Erstes auf. Seine Augen sind ungewöhnlich rund, sodass sein Gesicht trotz der faltigen Stirn wie das eines Jungen wirkt. Offenbar lebt er in Westminster, Kalifornien, und führt ein Import-Export-Geschäft namens »Made in America«. Er muss der zweite Bruder meines Vaters sein. Der, der in der Schule so schlecht war und im Kartenspielen so gut.

Ich versuche, mich an die Familie meines Vaters zu erinnern, so wie man versucht, sich an Einträge aus Geschichtsbüchern zu erinnern. Vor fünfzehn Jahren habe ich meine Verwandten einmal getroffen – wir machten in Vietnam gerade Heimaturlaub und erfuhren zufällig, dass auch sie zu Besuch waren. Warum wir nie zu ihnen nach Kalifornien geflogen sind, weiß ich nicht. Als ich meine Mutter einmal fragte, ob es irgendein Zerwürfnis gegeben habe, überlegte sie erst, dann schüttelte sie den Kopf. »Eigentlich«, sagte sie und dehnte das Wort ganz eigenartig, »ist alles in Ordnung. Aber Papas Familie ist schwierig, es ist besser, wenn wir uns auf unser Leben konzentrieren und sie sich auf ihres. Wir schicken Geld, wir müssen sie nicht auch noch in Kalifornien besuchen.«

Dann war wieder alles husch-husch, und ich traute mich nicht, weiter nachzufragen.

Es gibt etwas, das ihr wissen müsst!

Was will dieser Mann von mir?

Ich klappe den Laptop zu, um hinauszugehen in meinen Berliner Alltag, der deutsch, geordnet und frei von transkontinentalen Familienproblemen ist. Fünfzehn Jahre hat mein Onkel nicht mit mir gesprochen, ob ich ihm später antworte – oder auch nie –, macht doch keinen Unterschied.

*

Zweieinhalb Wochen später fahre ich zu dem hellblauen Haus, in dem meine beiden Geschwister und ich aufgewachsen sind. Es ist Weihnachten, und wie jedes Jahr versetzt mich das in eine seltsame Stimmung. Ich kehre nicht nur nach Hause, sondern auch in die Deplatziertheit meiner Kindheit zurück.

Meine Eltern haben dieses Fest gelernt, so wie sie die deutsche Grammatik gelernt haben – als etwas, das man vollführt, um Teil von diesem Land zu sein. Den Tannenbaum im Wohnzimmer haben sie mit einem Weihnachtsmann-Kuscheltier, selbst bemalten Holzfiguren, kitschigen Glitzerkugeln und zwei Lichterketten in verschiedenen Farben geschmückt. Fehlt eigentlich nur noch der Kunstschnee.

Ich setze mich an mein altes Klavier und spiele das Präludium in C-Moll von Bach aus dem Wohltemperierten Klavier. Das Hämmern der Töne vermischt sich mit dem Klappern aus der Küche, wo meine Mutter wie immer mit ihren Töpfen hantiert. Wie oft habe ich mich mit ihr wegen meiner Klavierstunden gestritten und heulend auf diesem schwarzen Hocker gesessen. Wie oft habe ich mir gewünscht, in einer Familie aufzuwachsen, die nicht erst deutsch werden musste, sondern es einfach schon war.

Die Skiausrüstung im Keller, die BMWs in der Garage, die gerahmten Familienporträts aus Ibiza, Paris und der Bucht von Halong bebildern eine Geschichte, die sich alle immer gern erzählt haben: Schaut euch diese Familie an! Sind zwar Ausländer, haben es aber trotzdem geschafft! Irgendetwas hat mich immer gestört, wenn uns »die Deutschen« – so nannten wir sie, wie ein fremdes, fernes Volk – zu der Karriere meines Vaters, dem »Fleiß« meiner Mutter oder dem »hervorragenden Deutsch« von meinen Geschwistern und mir gratulierten. Während sich der Stolz auf den Gesichtern meiner Eltern ausbreitete, fühlte ich mich jäh verletzt.

Ich greife daneben, meine Hände bleiben auf dem schrägen Akkord liegen. Als die Geräusche aus der Küche verstummen, schließe ich den Deckel der Tastatur. Über dem Klavier hängt ein Schwarz-Weiß-Foto, das mein Vater vor vielen Jahrzehnten von seiner Mutter gemacht hat: Schmal und anmutig sitzt sie in einem Taxi. Ihre Haare sind in Locken zur Seite gesteckt, ihr vietnamesisches Seidenkleid, das Áo dài, ist mit goldenen Blumen bestickt. Er hat das Foto vor vielen Jahren in Saigon geschossen, kurz bevor er zum Studium nach Deutschland ging. Obwohl meine Großmutter mit einem breiten Lächeln und aufgerissenen Augen in die Kamera sieht, liegt etwas Wehmütiges in ihrem Blick.

Mein Vater hat mir einmal gesagt, dass ihn mein Gesicht an ihres erinnere. Ich sehe die Ähnlichkeit vor allem in der hohen Stirn, die ich mit wechselnden Pony-Frisuren kaschiere. Ich bin nicht ganz so dünn wie sie, etwas größer vielleicht, und natürlich trage ich nie Áo dài, sondern immer nur schwarze Hosen zu monochromen Oberteilen. Weil ich finde, dass Asiaten mit Brille so streberhaft aussehen, trage ich trotz meiner fünf Dioptrien ausschließlich Kontaktlinsen. Bei meinem letzten Vietnambesuch haben mich viele für eine Ausländerin gehalten, nicht für eine Vietnamesin. Ich muss gestehen, das hat mich gefreut.

*

Als die Dunkelheit durch die bodentiefen Fenster hereinbricht, setzen meine Geschwister und ich uns an den Esstisch, den meine Mutter zur Feier des Tages mit dem schweren Rosenthal-Porzellan gedeckt hat, das sie sonst ausschließlich für deutsche Gäste aus dem Schrank holt. Sie hat sich sogar eine weiße Seidentischdecke aus dem KaDeWe geleistet, obwohl sie dort so selten hingeht und aus Prinzip nur heruntergesetzte Produkte kauft. Sie lebt zwar schon Jahrzehnte in Deutschland, hat die vietnamesische Angewohnheit, immer sparen zu wollen, aber nie abgelegt. Sie war als Kind sehr arm und kann dieses Gefühl auch als Erwachsene nicht abschütteln; weder der BMW noch das große Haus kommen dagegen an.

»Hundert Euro! Ich habe echt lange überlegt«, zärtlich streicht sie über das schimmernde Tuch, »ich dachte, dass einer von euch sie später erben kann.«

Was wir heute essen würden, haben wir in den vergangenen Wochen ausgiebig diskutiert – am Ende haben wir uns auf Hummer geeinigt, wie auch in den drei Jahren davor. Keiner von uns mag Meeresfrüchte, aber Hummer sind festlich und schmecken nicht so fischig, einmal im Jahr gönnen wir sie uns. Auf einer Platte leuchten fünf Tiere unschuldig und orange-rot vor sich hin. Mein Vater greift zu einer Gartenzange, die er beim vorletzten Mal behelfsmäßig gekauft hat und dann so praktisch fand, dass er sie seitdem immer wieder verwendet hat.

Im Schlafzimmer klingelt das Telefon.

»Nicht abnehmen«, befiehlt meine Mutter und erhebt sich, um Salat zu servieren. In ihren Augen blitzt ein Ärger auf, den ich von unzähligen Auseinandersetzungen aus meiner Schulzeit kenne: der Ärger darüber, dass jemand es wagt, das heilige Beisammensein der Familie zu stören.

Das Läuten verstummt und beginnt nach einer kurzen Pause erneut.

»Unverschämt«, schimpft meine Mutter und sticht mit ihrer Gabel in den Salat. Mein Vater, wie immer solidarisch mit ihr, schneidet seinem Hummer eine Zange ab.

Stille, dann klingelt es wieder.

Ich springe von meinem Stuhl hoch. Vielleicht ist es ja ein Notfall. Oder, was ich nicht hoffe, mein alter Schulfreund Thomas, der weder Familienrituale noch Feiertagsruhe kennt. Ich renne zum Telefon, so wie ich als Schülerin oft zum Telefon gerannt bin, um zu verhindern, dass meine Mutter ihn an den Hörer bekommt und beschimpft.

»Ja?«, ich klinge unhöflich. Ich will unhöflich klingen.

Eine unbekannte Männerstimme antwortet. Auf Vietnamesisch fragt sie, wer am Apparat sei.

»Kim hier«, antworte ich. Ich habe seit unserem letzten Vietnam-Urlaub vor fünf Jahren kein Wort Vietnamesisch gesprochen und ärgere mich, die Sprache ausgerechnet jetzt mit diesem Unbekannten üben zu müssen.

»Wer?«

Vielleicht ist er einer meiner Verwandten, offenbar kennt er meinen deutschen Namen nicht. Ich versuche es noch einmal.

»Hier ist Kiều!«, ich spreche etwas lauter und dehne die Silbe.

»Ich habe den Namen immer noch nicht verstanden. Wer?«

»Kiều!«, wiederhole ich noch einmal. »Die Tochter von Minh!«

»Ach so, Kiều! Warum hast du das nicht gleich gesagt?«

Das Gespräch ist keine dreißig Sekunden alt und hat mich schon in die dunkle Kammer meiner beschämendsten Erinnerungen zurückversetzt. Plötzlich sehe ich wieder vor mir, wie ich bei meinem letzten Besuch in Saigon versuche, mich radebrechend verständlich zu machen. Ich hatte diese Erinnerung lange verschlossen; nun fällt mir ein, warum.

Vielleicht sollte ich einfach wieder auflegen.

»Hier ist dein Onkel Sơn aus Kalifornien«, sagt der Mann am anderen Ende. »Ich hatte schon versucht, dich über Facebook zu erreichen, wahrscheinlich hast du meine Nachricht nicht gesehen.«

Er macht eine Pause, es scheint ihm schwerzufallen zu sprechen. Weil ich nicht weiß, ob oder wie ich mich jetzt entschuldigen soll, schweige ich. Irgendetwas rauscht in der Leitung. Die Verbindung ist sehr schlecht.

»Es geht um deine Großmutter«, sagt er schließlich, »sie liegt im Sterben. Ich muss unbedingt mit deinem Vater reden.«

In einer anderen Situation – in einer anderen Sprache – hätte ich jetzt gerne etwas gesagt. »Ich wünschte, ich hätte sie besser kennengelernt. Jetzt ist es zu spät dafür«, wäre zum Beispiel gut gewesen. Aber da ich offenbar nicht mal in der Lage bin, meinen eigenen Namen zu kommunizieren, murmele ich nur »okay« und rufe, den Hörer mit einer Hand abdeckend, nach meinem Vater.

Deine Großmutter liegt im Sterben. Das war es also, was uns Onkel Sơn sagen wollte. Ich fühle mich plötzlich schuldig, ihm nicht auf seine Nachricht geantwortet zu haben; hochmütig in meiner Annahme, er belästige mich mit Belanglosigkeiten, wo er mich doch nur über eine ernste Familienangelegenheit informieren wollte. Ich hole mein Handy, sinke wieder auf meinen Platz und tippe darauf am Esstisch herum, obwohl ich sonst die Erste bin, die andere deswegen ermahnt.

Die Fotos, die er in den letzten Monaten auf seiner Facebook-Seite hochgeladen hat, erzählen die Geschichte eines langsamen Dahinsiechens. Dutzende Male hat er meine Großmutter fotografiert, mit jeder Bilderserie scheint ihr Körper schmaler zu werden. Mir war nie klar gewesen, wie sehr Menschen schrumpeln können, nun sehe ich es im Internet. Dunkle Flecken breiten sich auf ihrer Haut aus wie Wasserlachen. Ihre Haare werden immer drahtiger, ihre Augen immer trüber. Auch die Gesichter der anderen verändern sich: Auf den früheren Fotos sieht man meine Großmutter noch mit tapfer lächelnden Verwandten. Am Ende scheinen auch deren Mienen seltsam entleert. So, als ob die Krankheit nicht nur das Leben aus der Patientin saugen würde, sondern auch die Hoffnung aus ihrer Familie.

Ich betrachte die Bilder mit der Distanz einer Zuschauerin, die einen Stummfilm in Schwarz-Weiß ansieht. Ihr Leiden wirkt auf mich wie eine Handlung, die sich in weiter Ferne vollzieht. So traurig die Fotos auch sind, so unwirklich scheinen sie. Kalifornien ist neun Zeitzonen und eine Lebenswelt entfernt; was dort geschieht, berührt weder meinen Alltag noch – ich sage es ganz ehrlich – mein Herz.

Mein Vater kehrt mit einer Flasche Rotwein zurück an den Tisch. Er trägt die Frisur, die gefühlt alle asiatischen Männer seiner Generation tragen: Das Haar ist dicht und schwarz, hinten und an der Seite kurz geschoren. Nur vorne, über der Stirn, hat er es in einem Seitenscheitel nach rechts gekämmt. Selbst mir kommen die Fotos von Versammlungen des chinesischen Nationalkongresses so vor, als sei ein einzelner Funktionär per Photoshop geklont und hundertfach neu eingesetzt worden; immer, wenn ich sie ansehe, rechne ich halb damit, meinen Vater in einer dieser Reihen sitzen zu sehen. Dabei ist er doch gar kein chinesischer Politiker, sondern ein deutsch-vietnamesischer Herzchirurg, der manchmal, wenn wir in die Philharmonie gehen, von anderen Konzertbesuchern mit »Herr Professor! Wie schön, Sie hier zu sehen!« angesprochen wird.

In der Hand hält er einen teuren Bordeaux, garantiert ein Geschenk von einem seiner Patienten.

»Und, wie war’s?« Ich versuche, beiläufig zu klingen.

Er schaut mich über den goldenen Rand seiner Brille an.

»Was denn?«

»Tu doch nicht so! Was hat er über Oma gesagt?«

Ich halte ihm mein Weinglas hin. Konzentriert hebt er die Flasche in die Halbsenke, um langsam einzugießen. Das Plätschern der Flüssigkeit untermalt die Stille seiner Gedanken.

»Er hat gesagt, dass sie seit zwei Wochen künstlich beatmet wird. Ihre Nieren und ihr Kreislauf haben mittlerweile versagt. Die Ärzte wollen wissen, ob sie die künstliche Beatmung fortsetzen sollen oder nicht. Sơn hat mich angerufen, weil er meinen medizinischen Rat wollte.«

Er spricht so nüchtern, als würde er einem seiner Patienten den Verlauf der bevorstehenden OP erklären.

»Ich fürchte, bei einer Frau in ihrem Alter kann man nicht mehr viel machen. Sie hat seit fünf Jahren Alzheimer und musste ins Krankenhaus, weil sie eine schwere Lungenentzündung hatte. Jetzt ist ihr Immunsystem zusammengebrochen.«

Mein Vater ist schon immer rational gewesen, selbst als sein ältester Freund an Krebs erkrankte (und es überlebte), hat er seine Gefühle nicht gezeigt. Ich hatte mir seine Sachlichkeit stets als eine professionelle und eigentlich nützliche Deformation erklärt; dass er sie auch jetzt bewahrt, wo seine eigene Mutter im Sterben liegt, überrascht mich aber doch.

»Und was sagen deine Geschwister dazu?«, frage ich weiter.

Mein Vater zuckt die Schultern.

»Sơn klang am Telefon sehr aufgelöst. Sie stehen an ihrem Krankenbett und machen sich gegenseitig nervös. Sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen, sie sind sehr emotional. Bevor sie mich angerufen haben, haben sie eine Stunde lang gestritten.«

Er setzt das Weinglas an seine Lippen, setzt es dann aber ab, ohne zu trinken.

»Eigentlich ist es wie früher.«

Fast könnte man meinen, die Zankerei seiner Geschwister mache ihm mehr zu schaffen als die Frage nach den lebenserhaltenden Maßnahmen für seine Mutter. Vielleicht ist sein Stoizismus aber auch seine Art, damit umzugehen; immerhin ist er der älteste Sohn. Sein Blick wandert zu dem Foto, das sie in ihrem Seidenkleid zeigt, und bleibt dort einige Sekunden lang hängen.

»Was war denn dein Rat?«, fragt mein Bruder Tuấn, der Medizin studiert und auch Arzt werden will.

»Sie sollen es sein lassen«, antwortet mein Vater.

»Echt?«, das Gesicht meines Bruders weitet sich in Staunen. »Du willst deine eigene Mutter sterben lassen?«

»Aber Tuấn, du bist doch Mediziner!«, verärgert schiebt mein Vater sein Weinglas zur Seite. »Ich habe am Telefon kurz mit dem Arzt gesprochen, der hat mir ihren Zustand beschrieben. Die Chance, dass sie wieder gesund wird, liegt fast bei null. Es ist besser, die Therapie zu beenden, statt ihr Leiden zu verlängern. Manchmal muss man eben Entscheidungen treffen, die hart sind.«

»Und manchmal sind Menschen eben emotional, wenn es um ihre Familie geht«, erwidert meine Schwester Lan und wirft Tuấn und mir diesen Blick zu, mit dem wir uns früher oft gegen unsere Eltern verschworen haben. »Wann wird die Maschine denn abgestellt?«, fragt sie.

»Jetzt.«

»Du meinst, sie stirbt in diesem Moment?«

»So ist es.«

Mein Vater rückt seinen Stuhl am Kopfende des Tisches ein Stück zurück und schaut ruhig in die Runde. Sein Gesicht hat inzwischen die Farbe der Hummer angenommen, was wahrscheinlich an seinem asiatischen Enzymmangel liegt, vielleicht aber auch an etwas anderem. Er räuspert sich, als würde er zu einer Rede ansetzen, schweigt dann aber.

Stumm pulen wir an unseren Hummerteilen herum. Es ist seltsam zu wissen, dass an einem anderen Fleck dieser Welt gerade die Person stirbt, ohne die es uns alle nicht geben würde.

Was tut man in so einer Situation?

Was fühlt man in so einer Situation?

Ich horche in mich hinein, aber da ist nichts. Keine Trauer, kein Schock und erst recht kein Bedürfnis, mit irgendjemandem über diese Frau zu sprechen, die ich nur einmal in meinem Leben getroffen habe. Vor ein paar Monaten ist die alte polnische Nachbarin gestorben, die mir manchmal Kuchen vorbeibrachte; die Vorstellung, dass ich ihr nie wieder im Hausflur begegnen würde, hatte mir die Tränen in die Augen getrieben. Ihr Tod brachte meinen Alltag in Unordnung, doch der meiner Großmutter lässt alles beim Alten.

Ich registriere Durst, greife zur Wasserflasche und stoße sie um. Die weiße Seidentischdecke saugt sich voll.

»Ach Kiều! Dass du immer alles kaputt machen musst!«

Meine Mutter springt auf und eilt in die Küche, um einen Lappen zu holen. Mein Malheur unterbricht die bedrückende Stille, diese emotionale Invasion unseres Familien-Festmahls. Mit ruckartigen Bewegungen reibt sie über die Nässe, so stark, dass die Tischdecke sich wellt und der Stoff unter ihrem Schaben aufreißt.

*

Am Abend vor Silvester sehe ich Dorian endlich wieder. Er war über Weihnachten in Frankreich Snowboarden und trägt den gelben Wollpullover, den ich ihm vor seiner Abreise als Geschenk mitgegeben habe. Mit seinem Alpen-Teint und den braunblonden Haaren sieht er so gut und gesund aus, dass ich einen seltsamen Besitzerstolz verspüre. Er steht hinter der Theke der »Neuen Heimat« und belegt eine Abendbrotplatte.

Als er mich sieht, erhellt sich sein Gesicht. Mit weichen Lippen küsst er mich und erzählt, wie pulverig der Tiefschnee gewesen sei, nächstes Mal müsse ich unbedingt mitkommen. Scheppernd stellt er mir einen Teller mit etwas Baguette und selbst gemachter Wasabi-Butter auf den Tresen. Ein paar Stammgäste sitzen in der Ecke ganz hinten, ansonsten ist der Laden leer. An der Wand hängen grobkörnige Schwarz-Weiß-Porträts von Freunden; die Fotografie gehört neben dem Kochen zu den Dingen, die sich Dorian selbst beigebracht hat, nachdem er sein Mathematik-Studium geschmissen hat. Er ist einer dieser Menschen, die für viele Dinge begabt sind; ich beneide ihn nicht nur um seine Talente, sondern auch um die Leichtigkeit, mit der er damit umgeht.

»Und wie ist das so, wenn die Oma an Weihnachten stirbt? Wahrscheinlich ziemlich beschissen, oder?«

Er streicht mir über die Haare. Ich schließe die Augen und bette meinen Kopf auf meine Arme.

»Was sollte es für einen Unterschied machen, ob sie am 24. Dezember oder am 24. Januar stirbt?«, antworte ich. »Tot ist tot.«

»Ich meine ja nur. Als meine Oma vorletztes Jahr gestorben ist, hat es uns alle ziemlich mitgenommen. Es war kurz vor Ostern, und als ich über die Feiertage nach Hause gefahren bin, war die Stimmung echt düster.«

Ich denke darüber nach, ihn darauf hinzuweisen, dass christliche Feiertage, erstens, für meine Familie keine tiefere Bedeutung haben und dass meine Oma mir, zweitens, völlig fremd war, lasse es dann aber bleiben. Meine Kollegen beim »Monocle«-Magazin, für das ich als Restaurantkritikerin arbeite, waren auch so schrecklich mitfühlend. Großmütter haben in anderen Familien offenbar einen besonderen Stellenwert. Sie sind der wärmende Ofen, an dem sich ihre Nachfahren versammeln, um sich Familiengeschichten zu erzählen.

Mehr zu mir als zu ihm sage ich: »Die ganze Sache ist einfach seltsam. Jahrelang hören wir nichts von unseren Verwandten in Kalifornien, nichts! Dann stirbt meine Oma, und mein Onkel schreibt, dass mein Vater in ihrem Testament erwähnt wird und nach Kalifornien kommen soll. Sie hat irgendwas für ihn hinterlassen. Ich will ja nicht schlecht über Tote reden, aber hätte ihr das nicht fünf oder zehn Jahre früher einfallen können?!«

Er lacht trocken.

»So schlimm?«

Ich zucke die Schultern.

»Vielleicht wäre es gut, ein paar Probleme anzusprechen und auszuräumen«, sagt er aufmunternd.

»Vielleicht wäre es besser, die Probleme einfach zu begraben und ruhen zu lassen«, entgegne ich.

»Dein Vater wird schon wissen, wie er sich von seiner Familie abgrenzt. Alt genug ist er ja.«

»Genau deshalb wird es einen Grund geben, warum er sich dagegen sträubt. Ich kenne unsere Verwandten in Kalifornien kaum, deswegen weiß ich nicht, was da kaputt ist. Aber mein Vater ist der pflichtbewussteste Mensch, den ich kenne, und jetzt schiebt er lauter Entschuldigungen vor, um nicht hinfahren zu müssen. Es ist wirklich unheimlich.«

»Wahrscheinlich verdrängt er seine Trauer. Schließlich ist seine Mutter gerade gestorben.«

Trauer, bei meinem Vater? Ich glaube, ich habe den Mann in meinem ganzen Leben nicht einmal weinen sehen.

»Ich bin nicht sicher, ob er so tickt«, murmele ich. »In unserer Familie laufen die Dinge etwas anders als bei anderen.«

Dorian greift nach einem Weinglas neben der Spüle und trocknet es mit einem Geschirrtuch ab, obwohl es eigentlich sauber ist. Er hat jetzt diesen wohlmeinenden, aber ernsten Blick drauf, den er immer aufsetzt, wenn er mir seine Einsichten in meine Seele mitteilen will.

»Ehrlich gesagt habe ich manchmal das Gefühl, dass du überempfindlich bist, wenn es um deine Familie geht«, sagt er vorsichtig. »Ich glaube, du machst dir da zu viele Gedanken. Jede Familie hat ihre Dramen. Meine doch auch.«

Er sieht mich so treuherzig an, dass ich davon ablasse, ihm den kleinen Unterschied zwischen seiner Bodensee- und meiner vietnamesischen Verwandtschaft zu erklären. Weil seine Eltern so liberal sind, kann er sich nicht vorstellen, wie autoritär meine waren. Sie wirken doch so nett. Sie lächeln doch so freundlich. Selbst als meine Mutter bei dem ersten Treffen mit ihm kokett seufzte und erzählte, wie viele Hoffnungen sie einst für meine Zukunft hatte (»Du weißt, dass sie ein Abitur von 1,0 gemacht hat, oder?! Das beste Abitur von ganz Berlin!«), selbst da hatte er es nicht verstanden und mich erst überrascht und dann stolz angeguckt. Auch seine Eltern, erzählte er, hätten immer an ihn geglaubt. Dafür liebe er sie so.

Liebe, dachte ich, was für ein klischeehaftes Wort, um die Beziehung zwischen Eltern und Kindern zu beschreiben. Habe ich es je in Bezug auf sie benutzt? Oder sie in Bezug auf mich?

Nein, wahrscheinlich nicht.

Seitdem verschone ich Dorian damit, ihn in die Codes unserer Familie einzuweihen. Keine der Erwartungen meiner Eltern könnte er auch nur ansatzweise verstehen, keine der Arten und Unarten, wie wir unseren emotionalen Haushalt regeln, könnte ich ihm irgendwie begreiflich machen. Obwohl ich jeden Freitag mit meinen Eltern und Geschwistern essen gehe, nehme ich Dorian nur an Geburtstagen mit. Er ist deutsch, ich will ihm nicht zu viel zumuten. Sind wir zusammen, tue ich, als gäbe es diese Krümmung meiner Seele nicht: kein Hineinpassen in etwas größeres Ganzes, keine Pflicht- und Schuldgefühle.

Ich lächele ihn an.

»Wahrscheinlich hast du recht. Ich mache es nur schlimmer, als es ist.«

Ich ziehe das frisch geputzte Weinglas zu mir herüber und halte es ihm auffordernd entgegen. Schwungvoll dreht er sich um seine Achse, um eine Flasche aus dem Kühlschrank zu holen. Mit einem Plopp öffnet er sie und gießt ein. Der Wein ist trüb wie Apfelsaft, samtig läuft er mir die Kehle hinunter.

»Ein neuer Orangener, den ich in Frankreich in einem Restaurant getrunken habe. Du wirst ihn lieben!«

Ich denke daran, wie wir uns vor zwei Jahren auf dieser Berlinale-Party begegnet sind, er stand in der Büffetschlange vor mir und machte Witze über das viel zu milde Thai-Curry. Als er mir sagte, wo er arbeitete, wusste ich sofort, wovon er sprach; ich hatte die »Neue Heimat« schon mehrmals besucht und auf meine Liste für zukünftige Kritiken gesetzt (»Eine Bar, in der man mit Fremden gut über die neueste Serie auf Netflix diskutieren kann, während man hervorragenden Whisky aus Japan trinkt.«). Natürlich erzählte ich ihm das nicht, sondern spielte ihm die Unwissende vor, während er direkt erklärte, ein großer Fan meiner Kolumne zu sein.

Er fragte, ob ich allein da sei, und als ich »Ja« sagte, rief er »Fantastisch! Ich auch!«, obwohl zwei seiner Freunde in der Ecke standen. Er trug ein weißes T-Shirt, das beim Hochrutschen ein Wappen auf seinem Oberarm entblößte; ich fand ihn umwerfend unbekümmert und nicht so vorhersehbar wie die anderen Männer, die mich mit ihren Schwärmereien über Asien so nerven. Als mir am Dessert-Tisch das Weinglas aus der Hand rutschte und ein Dutzend Schälchen Mousse au Chocolat vernichtete, zog er mich lachend beiseite und hielt mich davon ab, mich bei einem der Kellner sofort und inbrünstig für das Unglück zu entschuldigen. Wir verbrachten den Abend auf einem kleinen Balkon in der oberen Etage und machten Witze über die Leute, die unter uns umherflanierten und sich selbst zu wichtig nahmen. Er erzählte mir von seinem Traum, ein eigenes Restaurant zu eröffnen, und stellte mir in sechs Stunden keine einzige Frage zu meiner Herkunft. Das gefiel mir an ihm.

*

Wir verlassen die »Neue Heimat«, als der Mond schon hoch am Himmel steht und die Luft so trocken und eisig ist, dass ich zu husten beginne. Eingepackt in wattige Daunenjacken, in denen wir wie gepolsterte Riesenkäfer aussehen, stapfen wir am Ufer des Landwehrkanals entlang. Drei Jungs mit Goldkettchen und Trainingshosen hocken frierend auf den Bänken; sie zischen uns an, wenden sich aber schnell wieder ab, als Dorian den Kopf schüttelt: Er raucht nur Gras, das er selbst anbaut und mit Spezialdünger behandelt.

Während wir durch die Nacht laufen, überbieten wir uns darin, den Berliner Winter zu beschimpfen; ich töne, dass meine DNA nicht für diese Klimazone gemacht sei, er kontert, dass auch er viel lieber in Asien leben würde als hier.

»Ich meine es ernst«, sagt er.

Er bleibt stehen, zieht seine Kapuze herunter und nimmt meine Hand in seine, sodass mir der seltsame Gedanke kommt, dass er mir gleich einen Heiratsantrag machen könnte.

Obwohl mir Heiraten offiziell egal ist, spüre ich eine ungeahnte Aufregung in mir; ich hatte auf diesen Moment gewartet und nicht gewartet; ich habe Angst vor meiner Antwort und sehne mich gleichzeitig danach, gefragt zu werden. Mein Rachen kribbelt, ich huste wieder laut und heftig.

»Tschuldigung, was wolltest du sagen?«

Er lacht.

»Ich wollte sagen, dass ich in den letzten Wochen viel über die Zukunft nachgedacht habe. Ich weiß, das ist ein großes Wort, aber wenn man da oben auf den Bergen steht, sieht das eigene Leben plötzlich so klein aus. Die Zeit fühlt sich so anders an.«

»Ja? Und was hast du da gesehen?«

»Ich bin jetzt fast vierzig, ich kann nicht ewig so weitermachen. Es ist ja schön und gut, das Leben zu genießen und einen Job zu haben, der quasi ein Hobby ist. Aber ich muss etwas anderes machen. Etwas Größeres. Es ist Zeit dafür.«

Ich warte darauf, dass er endlich zum Punkt kommt, bemühe mich aber, nicht ungeduldig oder unromantisch zu sein.

»Und an was hast du da gedacht, Schatz?«

Er wird ganz ernst.

»Es klingt vielleicht verrückt, aber ich überlege, für eine Weile nach Tokio zu ziehen.«

»Nach Tokio

Überrascht vom Ausmaß meiner eigenen Enttäuschung schnappe ich nach Luft. Wie kam ich nur auf die lächerliche Idee, dass er mir einen Antrag machen würde? Und wie kommt er nur auf die lächerliche Idee, dass er in Tokio leben könnte?

»Du kannst doch gar kein Japanisch! Du warst doch noch nicht mal da!«

»Aber es ist die kulinarische Hauptstadt der Welt!«

»Na und?!«

Wenn Dorian nach Tokio ziehen will, bedeutet das, dass er Berlin verlassen will. Und wenn er Berlin verlassen will, bedeutet das, dass ich in seiner Zukunft nicht vorkomme. Oder habe ich da was falsch verstanden?

»Wie stellst du dir das vor?«, frage ich, obwohl ich in Wahrheit natürlich meine: Wie stellst du dir das mit uns vor?

»David will da ein Restaurant aufmachen und sucht nach einem Partner. Er ist schon im Gespräch mit einem Investor. Irgendein Nachfahre der Toyota-Familie; ein junger Typ, aber steinreich. Wenn es klappt, wäre es eine einmalige Chance!«

Natürlich. Er hängt sich an David ran. An David, der die ganze Arbeit macht, so wie ich zu Hause immer aufräume und alle gemeinsamen Reisen buche, damit Dorian locker, leicht und mit lauter Träumen durchs Leben gehen kann.

»Hättest du denn etwas dagegen?«, fragt er.

Ich ziehe meine Schultern hoch, als wäre ich eine Aufziehpuppe. Dass er mir diese Frage überhaupt stellen muss, ist eigentlich schon eine Antwort an sich.

»Wenn es dir wichtig ist, werde ich dir nicht im Weg stehen«, erwidere ich stolz.

»Cool«, seufzt er erleichtert. »Ich hatte gehofft, dass du mich unterstützen würdest.«

Er tritt an mich heran, nimmt mich in seine Arme und legt seine Wange an meine. Sie ist kalt, dann weich, ich spüre seine Wärme in der eisigen Luft.

»Vielleicht könntest dir mal eine Auszeit nehmen und mich für ein paar Monate besuchen, hm?«

»Ich schaue mal«, sage ich kühl.

Er merkt jetzt doch, dass etwas nicht stimmt, und küsst mich sanft auf meinen Mund. Leise spricht er in mein Ohr.

»Ich werde dich da sehr vermissen, Kim! Aber ich würde nur für ein Jahr hingehen, maximal zwei, dann komm ich zurück. Du weißt doch, dass ich von so was immer geträumt habe!«

Wir setzen uns wieder in Bewegung, und er redet weiter von diesem Toyota-Erben und Zeitplänen, die David schon aufgestellt hat, und Wohngegenden, die David empfiehlt. Von den vielen Sterne-Restaurants und echtem Wasabi, von japanischen Toiletten und der richtigen Art, einen Shinkansen zu besteigen. Er klingt wie ein Reiseführer, und das nervt mich und überrascht mich zugleich.

Er redet, während ich schweige; entweder ignoriert er meine Enttäuschung absichtlich, oder er hat nicht bemerkt, wie groß sie ist, und das wäre auch nicht viel besser. Den ganzen Fußweg nach Neukölln hindurch warte ich, ob in diesem Redeschwall irgendwann die Frage fällt, die ich von ihm hören will. Als wir vor unserer Haustür stehen, weiß ich, dass er sie mir nicht stellen wird.

*

Mitten in der Nacht bin ich plötzlich hellwach. Licht dringt von außen durch den weißen Stoff der Fensterblende und schwebt durch den Raum. Ich höre ein Hämmern und begreife: Es ist mein Herz. Obwohl es kalt ist, schwitze ich, als sei ich einen Marathon gerannt. Mein Wecker zeigt 4:37 Uhr, neben mir hebt und senkt sich Dorians Körper mit ruhiger Gleichmäßigkeit. Wie immer, wenn wir uns streiten, haben wir so lange gekifft, bis uns das Problem egal war und wir uns in einen nebligen Versöhnungssex fallen lassen konnten. Jetzt fühle ich mich dunkel, als hätte jemand in mir das Licht ausgemacht.

Ich erhebe mich aus dem Bett, um in die Küche zu schlurfen. Ohne Erwartungshaltung öffne ich den Kühlschrank und werde trotzdem enttäuscht: eine Flasche Sancerre, eine Packung Eier, ein gelblicher Brokkoli. Nichts, was ich mir einfach in den Mund stecken kann.

Ich ziehe einen Küchenstuhl heran und steige hinauf. Meine Hand tastet sich durch das oberste Fach des Küchenschranks, dort, wo ich die ungesunden Lebensmittel gelagert habe. Plastik raschelt, als ich die Instantnudeln finde, die salzige Sorte mit Shrimps-Geschmack. Ich reiße die silberne Folie auf und entnehme das helle Brikett. Eigentlich müsste ich jetzt Wasser aufsetzen, um Suppe zu machen, aber Wasserkochen ist anstrengend, wenn es halb fünf ist und man die Dunkelheit nur irgendwie füllen will.

Ich greife nach meinem Telefon.

Am Abend, als ich noch in der »Neuen Heimat« saß und meinen orangenen Wein trank, hatte mir mein Vater per WhatsApp ein Foto geschickt. Zu sehen war eine hagere Frau mit drahtigen Locken, die Farbe ihres Áo dài hatte das Weißgrau ihrer Haare. Ihre Falten zogen sich wie Flussadern durch das Gesicht, ihre eingefallenen Wangen waren mit Rouge betupft. Sie lag auf einem weißen, schimmernden Kissen und strahlte diesen universellen Look der Toten aus: friedlich, wächsern und schon halb entschwebt.

»Sie war als junge Frau sehr schön«, schrieb mein Vater, ein für seine Verhältnisse regelrecht sentimentaler Satz.

Ich beiße in die trockene Nudelmasse und spüle sie mit dem Sancerre herunter. Auf meiner Zunge spüre ich, wie die Nudeln von einem harten Zustand in den weichen wechseln, wie sie matt werden und zerfließen. Würziger Glibber bildet sich in meinem Mund. Er schmeckt nicht nach Shrimps, aber im Dunkeln sind meine Ansprüche bescheiden. Kauend schlurfe ich zu dem Ledersofa im Wohnzimmer und sinke in die Horizontale, damit mich die Nacht auffressen kann.

»Was ist mit der Beerdigung?«, hatte ich meinem Vater geschrieben. »Willst du nicht doch hinfliegen?«

Ich weiß nicht, ob es an Dorians Worten lag oder meinem Gefühl, dass diese Familiensache meinem Vater näher ging als gedacht. Seit Tagen war er sehr zerstreut, ständig schrieb er mit Onkel Sơn hin und her.

»Ich muss nächste Woche einen Kongress leiten«, hatte er entgegnet. »Aber ich habe Geld geschickt.«

»Verstehe.«

»Die Beerdigung wird ziemlich groß, außer mir werden alle Geschwister kommen. Ich habe Sơn gebeten, alles zu filmen und mir zu schicken. Sie finden es sehr schade, dass wir nicht dabei sein können.«

Wieso wir?, hatte ich gedacht.

»Und wenn du mit Mama nächsten Sommer nach Kalifornien fährst?«, hatte ich ihm dann vorgeschlagen. »Ihr könnt dort doch Urlaub machen!«

»Ich glaube nicht, dass sie das will.«

Er hatte etwas gezögert und dann eine weitere Nachricht hinterhergeschickt. Sie bestand aus einer Frage, die ich nicht hören wollte, nicht von ihm jedenfalls.

»Willst du nicht mitkommen?«

»Ich? Was soll ich denn da?«

»Wenn du mitkommst, muss ich deine Mutter nicht groß überreden. Du weißt doch, wie sie ist. Wir können die Verwandten gemeinsam besuchen, sie haben schon nach dir gefragt.«

Ich wusste, dass er recht hatte; wenn ich mitfahre, fährt sie auch mit. Und wenn sie mitfährt, ist der Verwandtenbesuch auch für ihn nicht so schlimm. Trotzdem hatte ich mit der Antwort gezögert. Einen Chatwechsel lang wollte ich glauben, dass es sich bei uns um eine Familie wie jede andere handelt; eine Familie, in der jeder seine Angelegenheiten selbst regelt und Kinder im Alter von dreißig Jahren Erwachsene sind.

Bing. Auf dem Handy geht eine neue Nachricht von meinem Vater ein. Offenbar kann er auch nicht schlafen.

»Es würde den Verwandten viel bedeuten, wenn du mitkommst. Es ist gerade keine leichte Zeit für sie. Vielleicht kannst du ja Lan und Tuấn überreden.«

Seit wir die Ära der Strafen und Drohungen hinter uns gelassen haben, versucht es mein Vater auffällig oft mit Appellen an meinen Familiensinn. Zu meinem eigenen Ärger bin ich empfänglich dafür. Ich bin das älteste Kind.

»Ich würde mich wirklich freuen, Kiều! :-) :-) :-)«

Fremd und fordernd starrt mich seine Nachricht in der Dunkelheit an. Smileys hat mein Vater noch nie benutzt.

Die Geschichte meines Vaters

TEIL I