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Buch

Ist faire Partnerschaft mehr als eine Vision? »Homo homini lupus« – nach dem berühmten Satz von Thomas Hobbes ist der Mensch gegenüber seinem Mitmenschen ein Wolf, nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Im Tierreich scheint Aggression und Futterneid, Gier und Grausamkeit die Regel. Und doch lassen sich Wölfe auch von Gemeinsinn leiten. Schimpansen retten fremde Artgenossen. Buckelwale helfen Robben in Not. Selbst im Pflanzenreich gibt es seit jeher Symbiose-Deals, wovon beide Seiten profitieren. Die aktuelle Forschung enthüllt Kooperation als eine wesentliche Triebfeder der Natur. Doch wie verträgt sich das mit Darwins unerbittlichem »Kampf ums Dasein«?

Autor

Volker Arzt, geboren 1941, ist Diplomphysiker, erfolgreicher Wissenschaftsjournalist und Autor. Er moderierte u. a. die ZDF-Reihe »Querschnitte« (mit Hoimar von Ditfurth), wurde als Buchautor mit den Bestsellern »Haben Tiere ein Bewusstsein?« (zusammen mit Immanuel Birmelin), »Als Deutschland am Äquator lag« und »Kluge Pflanzen« bekannt. Er erhielt zahlreiche nationale wie internationale Auszeichnungen, u. a. den Europäischen Umweltpreis, den Japan-Preis, der als international wichtigste Auszeichnung des Bildungsfernsehens gilt, und den Green-Screen-Preis für den besten Wissenschaftsfilm.

VOLKER ARZT

KUMPEL

& KOMPLIZEN

Warum die Natur auf Partnerschaft setzt

C. Bertelsmann

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© 2019 C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag- und Einbandgestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Einbandabbildung: WWF/Martin Harvey

Bildredaktion: Annette Baur

Herstellung: Inka Hagen

Satz und Innengestaltung: Greiner & Reichel, Köln
Bildbearbeitung: Helio Repro, München

ISBN 987-3-641-22352-6

www.cbertelsmann.de

INHALT

I. KAPITEL: Die zwei Gesichter der Natur

Der wesentliche Inhalt des Lebens überhaupt

Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!

Selbstlose Schimpansen

Hilfsbereite Nager

II. KAPITEL: Was treibt die Evolution?

Charles Darwin und die Taubenzucht

Laufende Fische und fliegende Dinosaurier

Drucksachen aus der Urzeit

Das Sparbuch aus Bethlehem

Die Intelligenz der Schmetterlinge

Automatische Updates

Finger weg vom Chef!

Wer warnt wen?

III. KAPITEL: Die Nächstenliebe der Insekten

Ameisen – gemeinsam geht alles!

Großbaustelle im Baum

Not- und Rettungsdienst

Der Aufstand der Hummeln

IV. KAPITEL: Sich schlagen oder vertragen?

Geselligkeit statt Kampf – ein Gegenmodell

Leben wie Tiere?

Bunte Flechten – und Peter, der Hase

Nachts wie Tiere – tags wie Pflanzen

Einstein und der Oktopus

Zum Wohle der Art?

V. KAPITEL: Die lieben Verwandten

Der Stoff der Vererbung

Der Clan der Elefanten

Einsatz für das Saurierküken

Wanzenmutter mit Kinderschar

Gelöst: das Rätsel der Insektenstaaten

Keine Güte für fremde Gene!

VI. KAPITEL: Von Natur aus egoistisch?

Zwergmungos: Alles frisst – einer wacht

Kooperative Krähen

Blut ist dicker als Wasser

Fehlleistungen der Natur?

Verwandtschaft ist nicht alles

VII. KAPITEL: Wie du mir, so ich dir

Hilfsbereite Vampire

Pfadfinder zum Bienennest

Drama unter der Erde

Jagdpartie mit Muräne

Das Prinzip der Gegenseitigkeit

Putzen und Pflegen

Ein Gespür fürs Geschäft

Vorsicht! Hacker!

VIII. KAPITEL: Die süße Verführung

Wer herrscht in der Unterwelt?

Mykorrhiza – ein globales Handelsgeflecht

Warum nicht betrügen?

Nachrichten über Kabel

Die Leibgarde der Akazien

Sex auf Bestellung

Erfolgsrezept: Werbung und Service

Neue Wege im Marketing

Den Vollmond auf die Erde holen

Verlogene Versprechen

Gotteslästerliche Lebensweise

Hilfreiche Diebe

Horror im Sumpfwald?

In einem Meer aus Stickstoff

Das Knöllchen-Wunder

Gekaufte Mobilität

IX. KAPITEL: Bakterien willkommen!

Der schlechte Ruf

Stinken wie ein Wiedehopf

Das Geheimrezept der Bienenwölfe

Lebendes Licht

Oasen der Tiefseewüste

Eine stinkende Energiequelle

Supermuschel im Atlantik

Wie viele Mikroben bin ich?

Der Einbrecher – dein Kumpel

X. KAPITEL: Kooperation und Intelligenz

Die Wüstenraben im Arava-Tal

Der Geier soll es machen!

Ziehen am gleichen Strang

Elefanten im Seiltest

Keas – die Physiker unter den Vögeln

Wo Technik nicht weiterhilft

Delfine und Orcas – sozial und innovativ

Erkenne dich selbst!

Der Wal im Taschenspiegel

Wollaffe mit Brille

Berechnende Schimpansen

XI. KAPITEL: Der Kitt unserer Gesellschaft

Kooperation ist überall

Prestigegewinn bei Mungos

Das Auge des Gewissens

Klimawandel und Kooperation

Eigennutz contra Klimaschutz – ein Test

XII. KAPITEL: Mitgefühl und Freundschaft

Der dankbare Löwe

Pottwale im Netz

Ein Freund, ein guter Freund …

Mitgefühl unter Fremden

Der Buckelwal, dein Freund und Helfer

Rettung der anderen Art

Mit Instinkt, Gefühl und Verstand

Schimpansen und Bonobos

Make love, not war

Das unerbittliche Gesetz der Natur?

Dank

Literatur

Register

ERSTES   KAPITEL

DIE ZWEI GESICHTER DER NATUR

Der wesentliche Inhalt des Lebens überhaupt

Nichts geht mehr. Vollsperrung des Hamburger Flughafens. Kein Start, keine Landung. Stattdessen Alarm und Suchtrupps. Ein albanischer Asylbewerber ist aus dem Abschiebegewahrsam ausgebrochen; ist über einen 2,50 Meter hohen, mit Stacheldraht gesicherten Zaun geklettert. Und so auf das Flughafengelände gelangt. Die Suche bleibt ergebnislos. Eine Stunde später wird der Flugbetrieb wieder aufgenommen.

Na und? So etwas passiert überall und immer wieder. Es ist wahrlich keine weltbewegende Geschichte, die ich da im Hamburger Abendblatt lese. Dass sie mich trotzdem fesselt und schließlich empört, liegt an ihrer Vorgeschichte. Der Albaner hatte offensichtlich Unterstützung von einem Kumpel. Gemeinsam planten sie die Flucht. Sie warteten die Dunkelheit ab und schlichen zum Zaun. Er war das Haupthindernis, das sie nur zu zweit überwinden konnten: Der eine formte also die Hände zu einem Steigbügel, damit sich der andere hochschwingen und auf seine Schultern stellen konnte. Über diese »Räuberleiter« schaffte es der Albaner nach oben. Der nächste Schritt wäre gewesen, seinen Kumpel hochzuziehen, damit sie ihre Flucht fortsetzten. So war es geplant. Doch warum jetzt noch Zeit verschwenden? Und Mühe aufwenden? Der Albaner ließ seinen Kumpel zurück und setzte sich alleine ab. So ein Miststück!, rege ich mich beim Lesen auf. Und dann muss der Zurückgelassene womöglich noch mit einem Verfahren wegen »Gefangenenbefreiung« rechnen.

Ich bin selbst etwas überrascht über meine Empörung. Egoisten gibt es schließlich zuhauf. Und ist es nicht verständlich, ja sogar legitim, die eigene Haut zu retten, bevor man an andere denkt? Vielleicht. Doch was mir bei diesem Fall so aufstößt, ist die Verletzung jeglicher Fairness-Regel. Da nimmt einer die Hilfe seines Partners in Anspruch, nur um ihn dann gleichgültig »in die Pfanne zu hauen«. Es ist diese verweigerte Gegenleistung, die sich so niederträchtig und empörend anfühlt. Zusammenarbeit – wenn sie aus freien Stücken erfolgt – gründet sich auf die Erwartung, dass jeder etwas davon hat; dass keiner den anderen übervorteilt. So das Grundverständnis in allen Gesellschaften. Bei den steinzeitlichen Jäger- und Sammler-Kulturen wie in modernen Demokratien.

Doch faire Kooperation ist bekanntlich nicht die Norm. Das Hamburger Ausbruchsszenario steht als kurioser Einzelfall in einer Reihe fieser Rücksichtslosigkeiten und Betrügereien, die tagtäglich die Medien füllen. Bis hin zu einseitigen Handelsverträgen, ausbeuterischen Tarifabkommen oder betrügerischer Abgasreinigung. Ist faire, gleichberechtigte Zusammenarbeit nur eine Vision, die ständig von der Wirklichkeit unterlaufen wird? Der englische Philosoph Thomas Hobbes prägte schon im 17. Jahrhundert das berühmte Begriffsbild vom »homo homini lupus« – der Mensch sei dem Menschen ein Wolf. Von Natur aus suche er seinen Vorteil; trachte nach Macht und Besitz. Rücksichtslos, auf Kosten seiner Mitmenschen.

Hobbes’ Sichtweise tut nicht nur den Wölfen unrecht – ihr Leben im Rudel ist durchaus von Regeln und Rücksichtnahme geprägt. Sie verkennt auch die unbestreitbare Neigung der Menschen zu spontaner Hilfe. Wer hätte nicht schon die Gastfreundschaft von Fremden genossen? Die Hilfsbereitschaft bei Autopannen? Oft sind es kleine Gesten – wie neulich, als mir ein Afrikaner auf dem Bahnsteig nachrief: »Ist das deins?!«. Er hielt mir mein Handy entgegen, das ich im Zug vergessen hatte. Kleine und große »Heldentaten« werfen ein anderes Licht auf unser menschliches Miteinander. Da ist ein Kind auf die U-Bahn-Gleise gestürzt und wird in letzter Sekunde von einem Fremden gerettet. Da wütet ein brutaler Messerstecher, bevor er von Jugendlichen gestellt und entwaffnet wird. Was haben sie davon? Warum bringen sie sich selbst in Gefahr?

Schon diese wenigen Fälle aus der Rubrik »Vermischtes« zeigen, dass die uralte Frage, ob der Mensch von Natur aus gut oder böse sei, in eine Zwickmühle führt. Zu jedem Beispiel drängt sich sofort ein Gegenbeispiel auf. In unserer Natur ist offenbar beides angelegt. Wir sind sowohl Einzelwesen wie Gruppenwesen, und oft genug kommen sich unsere beiden Naturen ins Gehege: Sollen wir an uns selbst, an den eigenen Vorteil denken oder an die anderen, mit denen wir zusammenleben? An unser Eigeninteresse? Oder an das Gemeinwohl, also an das, was die Gesellschaft braucht, um zu funktionieren? Wobei dieses Entweder-oder erst dadurch zum Dilemma wird, dass wir natürlich Mitglieder dieser Gesellschaft sind und ohne sie schwerlich leben könnten.

Je nach Umständen und Gefühlslage handeln wir egoistisch oder übernehmen, wie es so schön heißt, Verantwortung für das größere Ganze. Wir sind hybride Mischwesen, die beide Antriebsarten in sich tragen, und die Entscheidung für die eine oder andere ist oft erst das Ergebnis innerer Kämpfe. Sollen wir am Montag krankfeiern – die Kollegen werden schon einspringen? Sollen wir ein umweltfreundliches Auto kaufen – wo doch ein SUV mehr hermacht? Soll ich mein Geld korrekt versteuern oder auf die Bahamas transferieren? Der Alltag ist gespickt mit solchen Entscheidungen – oft sind sie fast läppisch unbedeutend, manchmal folgenschwer. Der Widerstreit zwischen Eigennutz und Gemeinsinn ist nicht wegzudenken aus unserem Leben. Der Kampf zwischen Egoismus und Selbstlosigkeit. Zwischen Konkurrenz und Kooperation.

»Dieser Kampf ist der wesentliche Inhalt des Lebens überhaupt«, schreibt Sigmund Freud 1930 in seiner Abhandlung über Das Unbehagen in der Kultur. Zwischen unserem egoistischen Streben nach Glück und unserem Streben nach Gemeinschaft bestehe ein, womöglich unversöhnlicher, Konflikt. Es sei – so Freud – ein Schicksalsproblem der Menschheit, zwischen diesen gegeneinander arbeitenden Antrieben immer wieder einen Ausgleich zu finden.* Nicht von ungefähr sind auch alle Religionen bemüht, dieses innere Spannungsfeld zu bestellen – mit Vorschriften und Forderungen, wie man mit seinen Mitmenschen umzugehen habe. Bis hin zu so unerfüllbaren Geboten wie »Liebe deine Feinde!«. Offenbar sind wir nicht so, wie wir sein sollten. Und an Ermahnungen fehlt es nicht.

Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!

Der moralische Aufruf, mit dem Goethe sein Gedicht Das Göttliche beginnt, wirkt heute fast rührend antiquiert – in einer Zeit, wo Selbstoptimierung, nationaler Egoismus und Gewinnmaximierung im Mittelpunkt stehen. Gleichzeitig wird kaum jemand bezweifeln, dass wir ein Mehr an Kooperation und Gemeinsinn brauchen, wenn wir unsere großen globalen Probleme meistern wollen: die Klimaerwärmung, die zunehmende Überbevölkerung oder die Erschöpfung der Ressourcen – um nur einige zu nennen. Keine Frage, Goethes Aufruf hat in unseren Tagen mehr Berechtigung denn je.

Doch das – mittlerweile geflügelte – Wort des Dichters gilt nicht drohenden Katastrophen, sondern will die Großartigkeit und Einmaligkeit des Menschen herausstreichen. Nur er sei in der Lage zu solchen Tugenden wie Edelmut, Güte und Hilfsbereitschaft. Schon in den nächsten Zeilen hebt Goethe auf diesen vermeintlichen Unterschied zu allen anderen Lebewesen ab:

Edel sei der Mensch,

hilfreich und gut;

denn das allein

unterscheidet ihn

von allen Wesen,

die wir kennen.

Das heutige Bild von allen Wesen, die wir kennen, sieht deutlich anders aus, als man es vor 240 Jahren zu wissen meinte. Auch Tiere, ja sogar Pflanzen sind zu fairer Zusammenarbeit und gegenseitiger Hilfe fähig. Aber der Weg zu dieser Erkenntnis war kurvenreich und mühsam, und die Forschung ist noch keineswegs abgeschlossen. Auf den ersten Blick scheint in der Welt der Tiere und Pflanzen kein Raum für edle Gesinnung zu sein, für Rücksichtnahme oder Güte. Keine Rose schränkt ihr Wurzelwachstum ein, um auch der Nachbarrose einen gerechten Nährstoff-Anteil zu überlassen. Im Gegenteil. Im unterirdischen Kampf um Mineralien und Wasser kämpfen die Wurzeln um jedes Fleckchen Erde. Langsam und lautlos, aber unbarmherzig. Nicht auszudenken, wenn dieses Ringen um Raum und Ressourcen unter Kampfgetöse ausgefochten würde … Der Lärmpegel unter unseren Füßen wäre der unüberhörbare Beweis für die aggressive, egoistische Natur der Pflanzen.

Oder die Apfelbäume auf der Obstwiese. Sie gehen aktiv gegen ihre Artgenossen vor – noch bevor sie das Licht der Welt erblicken: Sie verstreuen in ihrem Wurzelbereich ein Keimungsgift, um andere Bäume erst gar nicht hochkommen zu lassen. Nicht einmal die eigenen Nachkommen dulden sie in ihrer Nähe. Territorialverhalten also auch bei Pflanzen!

Selbst im Innern von Baumleichen tobt der Kampf um Ressourcen. Baumpilze zersetzen das Holz; jeder auf seinen Vorteil bedacht, durchdringen sie es mit ihren feinen Fäden. Es kommt zu regelrechten Revierkämpfen, und am Ende ist der Baumstamm aufgeteilt in Hoheitsgebiete mit unüberschreitbaren Ländergrenzen. Jeder Pilz erobert sich vom Holz so viel, wie er nur kann – bis ihm ein Konkurrent mit chemischen Giftstoffen Einhalt gebietet. Was sich im Stammquerschnitt als hübsche Landkarte ausnimmt, spiegelt in Wahrheit die Machtverhältnisse gieriger Pilze wider. Keine Frage, auch in der Pilz- und Pflanzenwelt, die uns meist so sanft und friedfertig vorkommt, herrscht Eigennutz pur. Von Edelmut keine Spur! Zumindest nicht auf den ersten Blick.

Landkarte der Pilze: Im Totholz eines Baumstamms kämpfen mehrere Pilzarten um die Vorherrschaft. Bis die Nachbarn ihnen eine Grenze setzen.

Baumann, Karlheinz

Und dann erst das Reich der Tiere. Da konfrontieren uns Naturdokumentationen und YouTube-Szenen mit verstörenden Bildern. Schwer zu ertragen, wenn ein Rehkitz von scharfen Fuchszähnen aufgerissen wird. Wenn Orcas ein Walbaby unter Wasser drücken, bis es ertrunken ist. Oder wenn flauschige Vogelküken vom Habicht gepackt und totgehackt werden. Immerhin müssen wir achselzuckend zugestehen, dass es für Raubtiere widersinnig wäre, beim Beutefang Nachsicht oder Verzicht zu üben. Es käme einer Selbstaufgabe gleich. Raubtiere leben vom Drang zum Töten, und man sollte die Jagd nach Nahrung nicht auf eine Stufe stellen mit Rücksichtslosigkeit oder Aggression gegenüber Artgenossen.

Doch selbst wenn man vom blutigen Beute-Machen absieht – die Natur scheut keine Grausamkeit und keine Grobheit. Sogar die sympathisch-friedlichen Graugänse können sich ausgesprochen fies verhalten. Ein Ganter, dessen Partnerin vom Fuchs gefressen wurde, erfährt weder Trost noch Mitgefühl. Im Gegenteil. Er wird gemobbt und geschnitten; fällt in der Gänse-Kolonie auf den niedrigsten Rang zurück. Und dieser »gesellschaftliche Absturz« bleibt nicht folgenlos. Viele Ganter werden nach einem solchen Verlust apathisch und antriebslos; sie verlieren an Gewicht; bekommen dunkle Ringe unter den Augen, als würden sie trauern. Und ihr absackendes Immunsystem macht sie für Krankheiten und Parasiten empfänglich.

Das Zusammenleben der Tiere scheint geprägt von Eigennutz, Aggression und Futterneid. Welche Amsel würde ihrer Nachbarin einen Regenwurm anbieten – und sei diese noch so hungrig? Welche Robbenmutter würde ein fremdes Waisenbaby säugen – da kann es noch so jämmerlich weinen; es wird mitleidslos weggebissen. Selbst unter Menschenaffen wie Gorillas, die zu den intelligentesten Tieren überhaupt gehören, ist blutiger Eigennutz gang und gäbe. Wenn sie einen fremden Harem übernehmen, töten sie als Erstes die Babys und Kinder, um mit den Müttern möglichst rasch eigene Nachkommen zu zeugen. Nicht unbedingt die edle Art.

Tatsächlich könnte sich der Eindruck aufdrängen, in der Welt der Tiere sei kein Raum für gedeihliche Zusammenarbeit, für gegenseitige Hilfe oder Selbstlosigkeit. Im Gegensatz dazu hätten wir Menschen wenigstens die Option, selbstlos und uneigennützig zu handeln. Auch wenn es moralischer Anstrengung oder strenger Gesetze bedarf. Doch das Bild einer ausnahmslos egoistischen, unbarmherzigen Natur kann nicht die ganze Wahrheit sein. Es gibt zu viele Beobachtungen, die etwas anderes erzählen: Was ist zum Beispiel mit den allseits bekannten »sich aufopfernden« Vogeleltern, die bis zur Erschöpfung Käfer und Insekten jagen, um ihre Jungen satt zu kriegen? Sie passen jedes Kotpäckchen ab, noch bevor es im Nest landet. Und häufig täuschen sie eine Verletzung vor, um einen Räuber vom Nest fernzuhalten. Dann tanzen sie ihm mit Hinkebein und hängendem Flügel vor der Nase herum und gaukeln ihm leichte Beute vor. Sie »verleiten« ihn, wie die Fachleute sagen, damit er die Brut im Nest nicht findet. Fast sieht es aus, als wollten sie den großen Goethe Lügen strafen, als wollten sie demonstrieren, dass nicht nur der Mensch sich edelmütig für andere einsetzen kann.

Nun gut, der Einwand liegt nahe, dass für Eltern und Kinder eben besondere Regeln gelten müssten – schließlich geht es um die eigene Fortpflanzung und die unmittelbaren Nachfahren. Dieser Punkt soll noch ausführlich zur Sprache kommen; denn er wurde zur Initialzündung für eine ganz neue Ära der Biologie – die Soziobiologie.

Selbstlose Schimpansen

Die Fürsorge für die Jungen ist aus der Tierwelt nicht wegzudenken. Und den meisten dürfte es wie mir ergehen: Ich finde es hinreißend, wenn eine Katzenmutter »pflichtbewusst« ihre Jungen säubert, wenn Elefanten einem Baby auf die Beine helfen oder wenn Delfine ihr Neugeborenes für den ersten Atemzug nach oben tragen. Doch auch unter Erwachsenen, unter Artgenossen, die einander fremd sind und nicht zur Familie gehören, kommt es immer wieder zu erstaunlichen Hilfs- und Rettungsaktionen.

Da ist zum Beispiel der fast märchenhaft klingende Bericht vom 4. September 2006 aus der Ostafrikanischen Savanne.** Es geht um einen erwachsenen Elefanten, dem – vermutlich durch illegale Jagd – eine tiefe Speerwunde zugefügt worden war. Die Wildhüter befürchten eine Infektion. Sie rufen einen Tierarzt, der die Wundbehandlung – natürlich unter Betäubung – durchführen soll. Doch kaum steckt der Narkosepfeil in der Haut des Patienten, geschieht das Unerwartete: Ein zweiter Elefant kommt herbeigeeilt, fasst den Pfeil mit seiner Rüsselspitze, zieht ihn heraus und wirft ihn auf den Boden. Dann betastet er behutsam die Einstichstelle. Ein beeindruckendes Hilfsmanöver – auch wenn es die Narkosewirkung nicht mehr verhindern kann: Der getroffene Elefant geht wenig später zu Boden – und seine Wunde wird erfolgreich behandelt.

Auch die Rettungsaktion von Washoe kann sich sehen lassen. Wenn es ein Walhalla für Schimpansen gäbe, Washoe hätte einen Ehrenplatz. Sie ist die vielleicht berühmteste Schimpansin – zumindest aus wissenschaftlicher Perspektive: Sie hat in den 1970er Jahren als erstes nicht-menschliches Wesen eine Gebärdensprache erlernt. Sie konnte ausdrücken, ob sie traurig war oder vergnügt, ob sie raus in den Wald wollte oder lieber Verstecken spielen. Und sie machte kein Hehl aus ihrer Vorliebe für Eiscreme, und dass sie gern gekitzelt würde. Oder umgekehrt: dass sie jetzt ihren Ziehvater Roger kitzeln möchte. Washoe brachte es auf Sätze, die sieben bis acht Zeichen miteinander verbanden, und die Gebärdensprache wurde so natürlich für sie, dass sie die Gesten für Selbstgespräche nutzte – z. B. hoch oben im Baum, wenn sie sich allein wähnte. Und selbstverständlich unterhielt sie sich auch mit ihrer geliebten Puppe in der Taubstummensprache. Jahre später war es dann ihr Adoptivsohn Loulis, an den sie ihre Gesten richtete: Sie brachte ihm von Anfang an die wichtigsten Zeichen bei, und er erlernte kinderleicht diese Muttersprache.

Washoes Sprachvermögen ist so detailgenau dokumentiert, weil sie von frühester Kindheit an von dem Wissenschaftler Dr. Roger Fouts großgezogen und begleitet wurde. Er sah – anders als damals üblich – in der Schimpansin weit mehr als ein Studienobjekt. Die beiden hingen aneinander und mochten sich; sie neckten sich; stritten und versöhnten sich. Roger Fouts musste seine wissenschaftliche Karriere riskieren, um Washoe vor dem damals normalen Schimpansenschicksal zu bewahren: nämlich spätestens wenn sie dem Kindesalter entwachsen und nicht mehr »pflegeleicht« wäre, in der Betonzelle eines medizinischen Versuchslabors zu landen.

Washoe im Gespräch: Die Schimpansin ist ganz bei der Sache, wenn Roger Fouts und seine Mitarbeiterin sie unterrichten.

Central Washington University

Washoe darf auf einer kleinen »Affeninsel« auf dem Gelände der Universität Oklahoma leben – zusammen mit anderen jungen Schimpansen. Ein ausbruchsicherer Ort. Denn Schimpansen können sich weder schwimmend noch paddelnd über Wasser halten. Sie sind zu schwer; gehen unter wie ein Stein. Hinzu kommt, dass die Insel eingezäunt und das Ufer mit Elektrozaun gesichert ist.

Tag für Tag rudert Roger mit seinem Boot auf diese »Gefängnisinsel«, um Gebärdensprache zu unterrichten und mit seinen Schülern zu spielen. Und dabei ist es passiert. An einem Sommertag 1974. Die neue Schimpansin Penny, die gerade erst auf der Insel angekommen war, gerät in Panik und überspringt mit einem gewaltigen Satz den Elektrozaun. Roger hört nur den klatschenden Aufprall aufs Wasser; er ahnt das Schlimmste; rennt Richtung Zaun, so schnell er kann. Doch er ist nicht allein. Vor ihm sprintet Washoe. Ohne anzuhalten, setzt sie ebenfalls in einem mächtigen Sprung über den Zaun. »Gott sei Dank«, erinnert sich Roger Fouts, »landete sie auf dem schmalen, schlammigen Uferstreifen, bevor er steil ins Wasser abfällt.« Penny kämpft wild um sich schlagend um ihr Leben, aber sinkt immer wieder unter. Eine Rettung scheint aussichtslos; die Gefahr selbst zu ertrinken zu groß. Kurz entschlossen hält sich Washoe unten an einem Zaunpfahl fest, wagt sich, so weit sie kann, hinaus auf den glitschigen Uferstreifen und versucht mit der anderen Hand einen von Pennys verzweifelt rudernden Armen zu fassen. Schließlich gelingt es, und sie zieht die Unglückliche ans sichere Ufer.

»Ich rannte, was ich konnte, um das Boot zu holen, und ruderte aus Leibeskräften zu der Stelle außerhalb des Zauns, wo die beiden Mädels eng aneinander gekauert warteten. Penny total unter Schock und starr vor Angst. Ich brachte die beiden zurück auf die Insel, wo Washoe und ich uns lange zu Penny setzten, sie beruhigten und ihr das Fell kraulten.« Dann erst wird Roger bewusst, welch ungeheuerlichen Akt von Altruismus er da gerade erlebt hat. »Washoe hat ihr eigenes Leben riskiert, um eine andere Schimpansin zu retten – eine, die sie gerade mal ein paar Stunden kannte.«***

Hilfsbereite Nager

Das Problem bei solchen Beobachtungen ist ihr »anekdotischer Charakter«, d. h. dass sie zufällig und unerwartet geschehen. Vielleicht handelt es sich um einen Ausnahmefall? Oder es herrschen besondere Bedingungen? Oder die Akteure sind in einer ungewöhnlichen Stimmungslage? Den Beobachtern könnte Vieles entgangen sein. Umso spannender sind wissenschaftliche Tests, die ein Team um Peggy Mason in jüngster Zeit an der Universität von Chicago durchgeführt hat – mit Ratten. Ausgerechnet mit Ratten, die in der breiten Öffentlichkeit ja nicht gerade als Sympathieträger gelten und denen man nicht unbedingt »edle Motive« unterstellen würde. Aber tatsächlich entpuppten sich die Nager von Chicago als unerwartet besorgt, mitfühlend und hilfsbereit – so sehr, dass viele Forscherkollegen erst mal ablehnend reagierten und den Ratten ganz andere Motive unterstellten.

Befreiung aus dem Gefängnis: Unter den Augen von Peggy Mason (rechts) und Inbal Ben-Ami Bartal befreit eine Ratte ihre Artgenossin aus dem »Gefängnis«.

Jiang, Kevin

Die Tests selbst waren denkbar einfach: Als Kandidaten wurden zwei Ratten ausgewählt, die sich seit 14 Tagen einen Käfig teilten und in dieser Zeit aneinander gewöhnen konnten. Käfigkumpel, wenn man so will. Dann die eigentliche Testsituation: Eine der Ratten steckt in einer misslichen Lage. Sie ist in einer engen Röhre aus Plexiglas eingeschlossen. Immerhin hat sie genügend Raum, um sich zu drehen und zu wenden, und die Wände sind mit Löchern und Schlitzen versehen. Die Gefangene ist nicht in Panik. Aber natürlich möchte sie da raus. Die andere Ratte könnte sie tatsächlich befreien. Das Gefängnis hat eine Tür, die nur von außen zu öffnen ist – allerdings muss man dazu viel Geduld und Mühe aufbringen. Der Verriegelungsmechanismus ist kompliziert; um ihn zu lösen, braucht es Kopfstöße und den Einsatz der Pfoten. »Es ist wirklich schwer, die Tür zu öffnen«, sagt Inbal Ben-Ami Bartal, die Kollegin von Peggy Mason. »Wir zeigen ihnen nicht, wie es geht; sie haben keinerlei Vorerfahrung. Aber sie probieren es wieder und wieder. Irgendein innerer Antrieb motiviert sie.«

Auf den Videoaufnahmen**** der Wissenschaftlerinnen sieht es tatsächlich so aus, als sei die freie Ratte höchst beunruhigt. Sie sucht – über die Schlitze und Löcher – schnuppernd den Kontakt mit ihrer eingeschlossenen Kollegin. Sie umkreist das Plexi-Gefängnis; versucht sich immer wieder an der verriegelten Tür. Vergeblich. Das Schloss ist nicht zu knacken. Nach einer Stunde wird der Versuch abgebrochen. Das geht ein paar Tage so. Dann zahlt sich das hartnäckige Fummeln und Probieren doch noch aus. Die Ratte erwischt – wohl per Zufall – den richtigen Dreh: Die Tür springt auf. Die Gefangene verlässt ihre Plexi-Zelle; begrüßt die Retterin. Befreiungsaktion gelungen! Am nächsten Morgen das gleiche Spiel. Doch jetzt geht alles schneller. Die Retterin weiß schon ungefähr, wo sie ansetzen muss, um die Tür aufzuhebeln. Und in den Tagen darauf wird sie zur routinierten Befreierin. Sie kommt, sieht und hilft.

Natürlich könnte alles Zufall sein. Ist es aber nicht. Die Wissenschaftler testeten viele Rattenpaare, die sich einen Käfig teilen, und es zeigte sich immer dasselbe Muster: Die freie Ratte müht sich ab, ihrer gefangenen Genossin zu helfen. Doch genau hier setzten die Zweifel der Kritiker an: Geht es der Ratte wirklich um Hilfe? Will sie wirklich das Los ihrer Kollegin erleichtern? Oder ist sie vielleicht nur an der Abwechslung interessiert – an dem Plexi-Container mit seiner geheimnisvollen Tür?

Da man Ratten nicht einfach befragen kann, muss man ihnen die Antwort auf andere Weise entlocken: Die Wissenschaftler boten dasselbe Plexi-Gefängnis an, jedoch leer, ohne Insassen. Und siehe da, es war so gut wie uninteressant; keine der Ratten mühte sich mit der Türverriegelung ab. Wozu auch? Selbst wenn eine ziemlich echt aussehende Stofftier-Ratte eingesperrt war – niemand machte Anstalten, die Plüsch-Kollegin da raus zu holen. Es scheint also doch um den lebenden Käfigkumpel und seine Befreiung zu gehen.

Aber wie stark ist diese Motivation zur Hilfe? Die Wissenschaftler entwickelten eine wahrhaft süße Idee, wie sie auch hier eine Antwort bekommen könnten. Sie stellten neben das Gefängnis mit Ratte ein zweites Gefängnis mit Schokolade – mit fünf deutlich sichtbaren Schoko-Chips. Eine schwere Wahl, denn nichts geht den Nagern über diese Süßigkeit. Wie würde die Entscheidung jetzt ausfallen? Schoko schnappen – oder Kollegin befreien? An sich selber denken – oder Hilfe leisten?

Das Ergebnis überraschte alle. Die Hälfte der Test-Ratten lässt die Chips links liegen und befreit als Erstes die gefangene Kollegin. Dann erst kommt das Schoko-Gefängnis an die Reihe. Und dort zeigte sich die nächste Überraschung: Die eben befreite Gefangene bekommt einen großzügigen Anteil ab – nicht die Hälfte, aber im Durchschnitt immerhin ein Drittel. Eine wirklich ungewöhnliche Geste unter den futterneidischen Nagern.

Noch ist völlig unklar, welche Beweggründe hinter dieser »Spendieraktion« stecken könnten. Eine Art Trost für die harte Gefängniszeit? Eine Bekräftigung der Verbundenheit? Ein Ausdruck gönnerhafter Überlegenheit? Die Wissenschaftler enthalten sich jeder Spekulation. Aber wer weiß, vielleicht finden sie auch hier noch einen Weg, ihre Ratten zu befragen.

Ratten als selbstlose Retter – in einer Reihe mit Primaten und Elefanten. Die Versuche aus Chicago sind überzeugend. Aber sie lassen offen, woran es letztlich liegt, dass die Tiere sich so füreinander einsetzen. Liegt es an der gemeinsamen Unterbringung, die eine Art persönlicher Freundschaft hat entstehen lassen? Oder spielt der Verwandtschaftsgrad eine Rolle? Würden auch Ratten aus unterschiedlichen Stämmen füreinander einstehen – also Ratten, die verschieden aussehen und verschieden riechen? Die Antworten liegen seit Kurzem vor. Und sie sorgten abermals für Aufsehen und ungläubiges Staunen. Davon später.

Fest steht: Neben all den Rivalitäten unter Artgenossen, ihren Kämpfen um Raum und Nahrung und Dominanz können Tiere auch selbstlos, freundschaftlich und hilfsbereit sein. Auch sie scheinen diese widersprüchlichen Antriebe, die wir von uns selbst kennen, in sich zu tragen. Na und?, möchte man fragen. Wo ist das Problem? Wir teilen den Egoismus mit ihnen, warum nicht auch den Altruismus – das Gegenstück, bei dem nicht das eigene Ich im Mittelpunkt steht, sondern der andere? Was spricht gegen Edelmut, Hilfsbereitschaft und Güte auch im Reich der Tiere?


* Gesammelte Werke 1925–1931, Frankfurt am Main 1948, S. 481 und S. 456.

** L. A. Bates et al.: Do Elephants Show Empathy? In: Journal of Consciousness Studies, 10 (2008), S. 204–225.

*** Roger Fouts, Stephen Tukel Mills: Unsere nächsten Verwandten. Von Schimpansen lernen, was es heißt, ein Mensch zu sein. München 1998.

**** YouTube – Rats with empathy?