Nina Blazon
Das Herz
der Phönixtochter
Mit Illustrationen von
Gerda Raidt
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1. Auflage 2017
© 2017 cbt Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typologie
Umschlagmotive: Shutterstock
(xenia_ok, tea maeklong, Apostrophe)
Innenillustrationen: Gerda Raidt
MI • Herstellung: eS
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-19700-1
V002
www.cbt-buecher.de
1
Diesmal war es nicht ihr üblicher Albtraum, nein, in dieser Nacht wurde Fee von Gespenstern heimgesucht. Sie beugten sich über ihr Bett und gaben ein lang gezogenes Klagen von sich. Etwas Kaltes strich über Fees Stirn, zauste ihr Haar und zupfte an ihrer Decke. Sie fuhr aus dem Schlaf hoch. Nach Luft schnappend saß sie im Bett und lauschte, die Finger in die Decke gekrallt. Nur ein Traum, beruhigte sie sich. Niemand ist hier! Aber komischerweise hörte sie immer noch diesen klagenden Ton. Und als sie zum Fenster spähte – ein mondwolkenfahles Rechteck in der Nacht – erahnte sie hinter Regenschlieren ein weißes Gesicht, das ins Zimmer blickte. Fee warf sich im Bett herum, schlug nach dem Lichtschalter an der Wand – und griff ins Leere. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel kopfüber aus dem Bett. Schmerzhaft hart landete sie auf dem Boden. Irgendwo in ihrem Hinterkopf nahm sie trotz ihrer Verwirrung wahr, dass sie nicht auf dem Teppich, sondern auf Holzdielen lag. Das ist nicht mein Zimmer, schoss es ihr durch den Kopf. Wo bin ich? Ein Donnerschlag ließ ihr Herz stolpern. Heulen und Fauchen fegte durch das Zimmer. Und als ein Blitz den Raum erhellte, sah Fee das Gespenst mit schrecklicher Deutlichkeit: flatternde Arme, die sich nach ihr ausstreckten. Fee schrie auf und ergriff die Flucht. Einige Augenblicke wusste sie nicht mehr, wo oben und unten war, sie spürte nur Holz an Händen und Knien. Beim nächsten Donnerschlag fand sie sich zu einer Kugel zusammengerollt in einer Art Höhle wieder. Ich liege auf dem Boden, dachte sie. Aber wo genau bin ich jetzt? Unter ihr bebten plötzlich die Dielen von Schritten. Es klapperte, dann war das Heulen und Fauchen wie abgeschnitten. Nur das Klagen der Gespenster hallte noch leise nach. Deckenlicht flutete die Dielen. Nun wäre Fee vor Scham am liebsten in den Boden versunken. Jetzt war klar, wohin sie in ihrer Panik geflüchtet war. Sie starrte direkt auf einen von vier metallenen Löwenfüßen, die das Bett trugen. Und nun entdeckte sie vor sich auch den mit Spitzen verzierten Saum eines Nachtkleides und zwei bloße Füße.
»Anna-Fee?« Fee schluckte. Wenn ihre Mutter sie mit ihrem ganzen Namen ansprach, war sie wirklich besorgt. »Wo bist du?«
»Ähm, hier unten!« Fee versuchte möglichst würdevoll unter dem Bett hervorzukriechen, schlug sich dabei aber auch noch den Kopf am Bettrahmen an. Na toll, dachte sie. Das war das Peinliche an ihrer Schreckhaftigkeit: Andere Leute machten vielleicht einen Satz zur Seite oder schrien einmal kurz auf. Und auch bei Gefahr gab es bei ihnen ziemlich viele Möglichkeiten zwischen »Kurz mal zusammenzucken« und »Kopflos hinter die nächste Hecke hechten«. Bei Fee dagegen gab es nur hundert oder null. Und hundert passierte einfach so, als würde jemand das Licht in ihrem Kopf ausknipsen, um sie dann innerhalb von Sekunden in Sicherheit zu bringen. Meistens an reichlich schräge Orte.
Ihre Mutter kniete sich hin und spähte unter das Bett. »Was machst du denn da unten, Liebes?« Fee wurde rot bis über die Ohren. Verlegen stand sie auf und suchte fieberhaft nach einer Erklärung. Aber sollte sie jetzt im Ernst behaupten, dass sie mitten in der Nacht irgendetwas unter ihrem Bett verloren hatte?
»Du hast geschrien«, fuhr ihre Mutter mit diesem viel zu sanften, besorgten Singsang fort, der Fee wieder mal vor Augen führte, was für ein Freak sie war. Beim Blick zum Fenster kam sie sich noch viel alberner vor. Natürlich war da kein Gesicht gewesen, höchstens ein Muster aus Regentropfen. Das Heulen war einfach nur der Wind. Draußen tobte nämlich ein Sommergewitter. Eine Bö hatte das Fenster aufgedrückt, das Gespenst bestand aus weißen Vorhängen, die der Sturmwind zum Flattern gebracht hatte. Und natürlich lag Fee nicht in ihrem alten Zimmer. Das hier war ihr neues Zuhause, in das sie mit ihren Eltern erst vor einer Woche eingezogen war. Ihr neues Bett, das ihre Mutter in einem Antiquitätengeschäft aufgestöbert hatte, stand hier nicht an der Wand, sondern ragte ins Zimmer. Deshalb gab es hier auch keinen Lichtschalter direkt am Bett an der Wand. Hier stand in Greifweite nur eine Nachttischlampe, die auf einer Umzugskiste thronte.
Das Einzige, was immer noch an den Albtraum erinnerte, war das verhallende Klagen. Aber auch dafür gab es eine logische Erklärung: Fees Gitarre war umgefallen. Einer der wehenden Vorhänge hatte das Instrument samt Gitarrenständer umgerissen. Die Saiten schwangen immer noch nach, als würde die Gitarre nach diesem Sturz wehleidig vor sich hinseufzen. Auf dem Holz glänzten ein paar Regentropfen. »Oh nein!« Fee hechtete zum Fenster. Wie immer, wenn sie ihr Instrument in den Händen hielt, fühlte sie sich sofort besser. Doch während sie die Tropfen abwischte, merkte sie, dass ihre Hände immer noch zitterten.
»War es wieder dieser Albtraum?« Ihre Mutter sank auf den Rand des altmodischen Betts. Und natürlich streifte ihr Blick nun über Fees vernarbte rechte Hand. Fee stellte die Gitarre hastig ab, verschränkte die Arme und verbarg die Fäuste in den Achselhöhlen.
»Nein!«, erwiderte sie mit fester Stimme. Das war ja eindeutig nicht gelogen. Schließlich war es nicht dieser Albtraum gewesen.
»Warum hast du dann geschrien?«, bohrte ihre Mutter weiter. »Du hast dich doch noch nie vor Gewitter gefürchtet.«
»Ich … ähm … bin im Schlaf aus dem Bett gefallen.«
Logisch. Dabei brüllt ja bekanntlich jeder los wie ein geschubstes Schaf. Tolle Ausrede, Fee.
Prompt runzelte ihre Mutter zweifelnd die Stirn. Mit einem Mal hatte Fee genug von diesem schrecklichen alten Haus, genug von ihrem neuen Zimmer und dreimal genug von diesen ewigen besorgten Blicken.
»Ist das hier ein Verhör?«, schnappte sie. »Mann, der Sturz aus diesem blöden Monsterbett hat richtig wehgetan!«
Sofort tat ihr der Ausdruck blödes Monsterbett leid. Denn ihre Mutter wirkte nun ehrlich bestürzt. »Ich dachte, du hast dich darüber gefreut? Die Löwenfüße und die Rosenschnitzereien fandest du doch schön?«
Fee seufzte. Ja, das Bett war schon etwas Besonderes – und außerdem war es Mamas Geschenk gewesen, das ihr den viel zu schnellen Umzug verschönern sollte. Ihre Freundin Nelly würde morgen bestimmt vor Begeisterung ausflippen. Mit den geschnitzten Rosenranken am Kopfteil war es ein perfektes Prinzessinnenbett. Nur dass Fee alles andere als eine Prinzessin war und sich auch sonst in der altertümlichen Wohnung fehl am Platz fühlte – so, als hätte sie sich auf einer unfreiwilligen Zeitreise in ein früheres Jahrhundert verirrt. Ihre Mutter aber schien genau das vorzuhaben. Ihr langes hellbraunes Haar fiel ihr offen auf das mit Spitzen besetzte Nachtkleid. Auch dieses Kleid hatte sie auf einem Antiquitätenmarkt erstanden. Vor hundert Jahren mochte es einer feinen Bürgerfrau gehört haben. Fees Mutter sah darin aus wie die Königin aus einem Märchenfilm. Oder wie ein Gespenst, dachte Fee. Die weiße Frau, die im alten Herrenhaus herumgeistert.
»Doch, klar mag ich das Bett«, murmelte Fee. »Es ist nur … alles noch so ungewohnt hier.« Das war eine sehr höfliche Umschreibung für: Wir wohnen jetzt in einem alten staubigen Spukschloss und du läufst neuerdings als Gräfin verkleidet herum. Diese »neue« Mutter, die plötzlich antike Nachthemden trug, wie wild alte Möbel kaufte und sich nur noch für dieses Haus interessierte, erschien ihr auch heute wieder fremd.
Draußen schwoll das Heulen des Windes zu einem orkanartigen Brüllen an. Die alten Fenster waren so undicht, dass ein Luftzug durch die Ritzen gepresst wurde. Ein kalter Hauch wie eine Mahnung, dass da draußen doch etwas war, was fauchen und atmen konnte. Und Fee bildete sich ein, dass die Fensterscheiben sich leicht nach innen wölbten, als wären sie nur eine seifenblasendünne Haut zwischen den Menschen im Haus und dem tobenden Himmel. Man konnte sogar durch die geschlossenen Fenster die Bäume im Park auf der Rückseite des Hauses ächzen und rauschen hören.
»Willst du heute Nacht lieber bei uns schlafen?«, fragte Fees Mutter.
Fee schoss das Blut in die Wangen. »Natürlich nicht!«, brach es heftiger als beabsichtigt aus ihr heraus. »Das ist doch nur ein Gewitter. Und außerdem: Ich bin fast dreizehn Jahre alt, nicht fünf.«
»Schon gut, schon gut!« Ihre Mutter lächelte und stand auf. »So habe ich es doch nicht gemeint, meine Große. Dann schlaf gut und lass dich nicht von den Wanzen beißen.«
Wenn es nur Wanzen wären. Fee seufzte. »Gute Nacht«, sagte sie freundlicher.
Sie wollte wieder ins Bett kriechen, aber ihre Mutter zog sie ohne Vorwarnung blitzschnell in eine Umarmung. »Erwischt!«, rief sie mit einem verschmitzten Lachen. »Mama-Attacke aus dem Hinterhalt. Dafür ist man nie zu alt!« Sie drückte Fee einen Kuss auf die Stirn. »Und dafür auch nicht!« Damit gab sie Fee auch noch einen Kuss auf die Nase.
Nun musste Fee doch lachen. Das war wieder ganz ihre Mutter, die sie kannte, nicht die verkleidete Gräfin. Und für einige Momente schmiegte sie sich fest in ihre Arme. Natürlich hätte sie es niemals zugegeben, aber insgeheim hätte sie nichts lieber getan, als in dieser Umarmung zu bleiben – am liebsten so lange, bis die Morgensonne durchs Fenster schien.
Aber sie kroch tapfer wieder in das große Bett zurück. Es knarrte unwillig, als sei es ein hölzernes Wesen, dessen Schlaf Fee störte, indem sie mitten in der Nacht auf seinem breiten Rücken herumturnte. Fee lauschte dem Knarren von Mamas Schritten, die sich auf dem Flur entfernten. Und als es in der Wohnung still war, brachte sie es nicht fertig, aufzustehen und das Deckenlicht auszumachen. Stell dich nicht so an, du hysterisches Huhn!, schalt sie sich. Aber es war, als würde die Angst nur darauf warten, dass es dunkel wurde, um Fee aus dem Schatten heraus anzuspringen.
Draußen irrlichterte das Gewitter. Ein fahler Fetzenmond leuchtete durch schwarzgraue Wolken. Und natürlich bildete Fee sich ein, darin die Fratzen von Gespenstern zu erkennen. Über ihr setzte ein unregelmäßiges Klopfen und Poltern ein, das sich zum Fenster bewegte. Es hörte abrupt auf, und Fee glaubte draußen etwas am Fenster vorbeifallen zu sehen. Hatte sich ein Stückchen Dachziegel gelöst?
Wenn ich mutig wäre, würde ich zum Fenster gehen, dachte sie. Ich würde nachschauen, ob auf der Straße ein zertrümmerter Ziegel liegt. Ihre Freundin Nelly wäre auch im Stockfinstern längst aus dem Bett gesprungen. Fee biss sich auf die Unterlippe. Warum war es für sie nur so schwierig, so wie Nelly und alle anderen zu sein? Für Fee lauerte in jedem Winkel eine Gefahr, jedes Geräusch ließ sie zusammenzucken. Sie fürchtete sich vor Lagerfeuern, vor Dunkelheit, vor fremden Menschen und Orten, vor einsamen Kellern und – na ja – eigentlich vor allem, was sie nicht auf Anhieb genau einschätzen konnte. Ihre Eltern nannten sie »sensibel« und »vorsichtig«. Ihre gar nicht so nette Oma Hillu aus Berlin fand dafür ganz andere Worte. »Jetzt ist sie schon so groß und immer noch so ’n feiges Hasenherz«, hatte sie beim letzten Besuch gesagt. »Also von meiner Seite der Familie hat se das nich!«
»Von deiner Seite der Familie hat ja auch niemand einen solchen schrecklichen Unfall überlebt«, hatte sich Fees Mutter sofort erbost. »Es ist ganz normal, dass sie vorsichtig ist!«
Oma Hillu hatte nur abfällig geschnaubt. »Von dem Sturz weiß sie doch gar nichts mehr, sie war noch ein Baby! Also vergesst das Ganze doch endlich.«
Fee wurde jetzt noch wütend, wenn sie an dieses Gespräch dachte. Oma Hillu hatte leicht reden! Sie hatte ja keine Ahnung, wie es war, immer wieder davon zu träumen, endlos zu fallen, umgeben von Flammen und Rauch.
Vielleicht war es nun der Ärger, der ihr den Mut verlieh, aufzustehen. In der Scheibe gespiegelt sah sie sich selbst auf das Fenster zugehen, ein hochgewachsenes blondes Mädchen in einem schwarzen Shirt, auf dem das mürrische Katzengesicht von Grumpy Cat prangte. Nelly besaß das gleiche Shirt – nur trug sie es auch in der Schule, Fee dagegen ihres nur zum Schlafen. Der runde Ausschnitt gab nämlich zu viel preis. In der Spiegelung der Fensterscheibe konnte Fee die Brandnarbe erkennen, die sich vom Schlüsselbein bis zum Kinnbogen hochzog. Eine zweite Narbe prangte auf ihrem rechten Handrücken. Auch dort wirkte die Haut wie mit Echsenschuppen überzogen, was ihr in der Schule den Spitznamen »Gecko« eingebracht hatte.
Sommerwind verwirbelte ihr Haar, als sie aus dem Fenster spähte. Es roch nach Regen und nassem Asphalt. Das Gewitter zog bereits davon. Irgendwo im Süden der Stadt heulte eine Feuerwehrsirene, eine Kirchturmuhr schlug drei Uhr morgens. Fee atmete auf. Die vertrauten Geräusche brachten die Normalität zurück.
Ihr Fenster war das einzige in der Wohnung, das vorne zur Straße hinausging. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erhob sich ein Bürogebäude mit verspiegelten Fenstern, aber Fee konnte sich selbst nicht darin sehen: Die Straßenbeleuchtung war schon vor Stunden erloschen. Nur in der Hochhaussiedlung am anderen Ende der Stadt blinkte eine Reklameschrift in grünem Schein vor sich hin. Sie hatte einen Wackelkontakt und mindestens die Hälfte der Buchstaben war kaputt. »Opt…ro…l & Co«, las Fee. Sie spähte nach unten, aber die Straßenschlucht war stockfinster. Also huschte sie zu einer Umzugskiste und kramte ihre große Taschenlampe hervor. Dann knipste sie die Deckenleuchte aus und folgte dem Lichtkegel der Taschenlampe zurück zum Fenster. Unten auf dem Bürgersteig entdeckte sie tatsächlich Ziegelscherben. Eine verbeulte, leere Plastikflasche tanzte, vom Wind getrieben, über die Bruchstücke hinweg. Fee stützte sich auf dem Fensterbrett ab und verrenkte sich den Hals, um den Dachrand über sich nach fehlenden Ziegeln abzusuchen. Sie schwenkte die Taschenlampe – und hielt erschrocken inne. Der Lichtkegel erhellte ein unbeschädigtes welliges Band von Ziegelrändern, aber hatte sich rechts beim nächsten Fenstererker nicht etwas bewegt? Bestimmt nur eine Taube, beruhigte sie sich. Sie richtete die Taschenlampe noch zum Erker der Nachbarwohnung. Die Bewegung war nur der Lichtreflex ihrer Taschenlampe in der Scheibe gewesen. Am Erker saß natürlich keine Taube. Metalldornen, die am Fensterbrett aufragten und Vögel daran hindern sollten, Nester zu bauen, glänzten im Licht der Taschenlampe wie Zähne. Knirschende Zähne, schoss es Fee durch den Kopf. Denn nun hörte sie ein Scharren, als würde Stein auf Stein reiben. Vielleicht war es die Überraschung, die Fees Panikreaktion verhinderte. So stand sie nur da und blinzelte ungläubig.
Im Lichtkegel erschien eine Hand und schloss sich um eine der Metalldornen.
Sie war kräftig und wolkenhell. Ein Fuß hangelte neben dem Erker nach einem Mauervorsprung, dann zog sich tatsächlich eine Gestalt am Erker hoch. Es war kein Einbrecher, der an der Fassade hochkletterte, sondern eine Frau – in einem weißen Abendkleid? Auch die Frau selbst war völlig weiß. Geschickt wie ein Freeclimber erklomm sie nun das Dach des Erkers. Als sie sich aufrichtete, sah man, dass es kein richtiges Kleid war, vielmehr war die Frau in ein langes Tuch gehüllt wie eine griechische Göttin. Nur dass diese Göttin sich ihr Tuch am Gürtel hochgebunden hatte, um die Beine zum Klettern frei zu haben. Die Fremde bemerkte offenbar gar nicht, dass sie von einer Taschenlampe angestrahlt wurde. Sie wandte das Gesicht dem Himmel zu. Die Wolken trieben nun wie ein Mahlstrom kreisförmig um den Vollmond herum, als wäre er das ruhige Auge eines Wirbelsturms. Einige der Wolken erinnerten an die Umrisse von Vögeln mit riesigen Schwingen, vielleicht Adler? Doch Fee konnte nicht genauer hinsehen, sie starrte wie gebannt auf das klar geschnittene Profil der Frau. Die gerade Nase, die hohe Stirn, die hochgesteckte Lockenfrisur … sie kannte diese Frau! Aber erst als die Fremde die Arme hob und ein paar lose Locken in ihrem Nacken wieder in ihre Frisur nestelte, traf Fee die Erkenntnis wie ein Blitz. Auf dem Erker stand eine der Marmorstatuen, die normalerweise den Balkon im ersten Stock stützten.
Jetzt wäre zur Abwechslung genau der richtige Augenblick gewesen, um aus gutem Grund zu schreien – und zwar so laut, dass ihre Eltern aus dem Bett fallen und die ganze Straße aufwachen würde. Aber diesmal kam aus Fees Kehle nur ein trockenes Keuchen. Die Marmorfrau drehte sich zu Fee um. Und Fee wurde klar, dass sie den Lichtkegel gar nicht sehen konnte. Blinde, weiße Marmoraugen starrten ins Leere. Dennoch sah die Frau sie nun – auf irgendeine andere Art. Fee hörte ein wütendes Zischen. Die Steinfrau riss die rechte Hand hoch. Die Wolken stoben so schnell auseinander, als hätte jemand in ein Nest schwarzer Federn geblasen. Ein scharfer Wind brauste heran. Und bevor Fee begriff, was geschah, klappte der hölzerne Fensterflügel ein und raste auf sie zu. Ein Schlag explodierte an ihrer Stirn. Und der Mond wurde ausgeknipst wie eine Nachttischlampe.
2
»Sie schläft immer noch wie ein Stein«, hörte Fee ihren Vater wie aus weiter Ferne sagen. Ein Lachen schwang in seinen Worten mit. Es war komisch, dass er lachte. Schließlich fand man seine Tochter nicht jeden Morgen bewusstlos auf dem Boden liegend. Das war zumindest das Letzte, woran Fee sich erinnern konnte: der Fensterrahmen, der sie an der Stirn getroffen hatte. Sie war umgekippt, danach gab es nur noch Schwärze. Fee versuchte die Augen zu öffnen, aber ihr Schädel begann schon bei dieser winzigen Anstrengung zu dröhnen, als hauste in ihrem Kopf ein Hummelschwarm. Sie wollte ihre Stirn befühlen – und stellte fest, dass sie gar nicht mehr auf dem Boden lag. Unter ihren Fingern ertastete sie ein Bettlaken. Bin ich im Krankenhaus?, dachte sie benommen. Klar, das ergab einen Sinn: Ihre Eltern hatten sie noch in der Nacht gefunden und nun lag sie mit einem dicken Kopfverband in einem Krankenzimmer. Irgendetwas sagte ihr zwar, dass es dann noch komischer war, dass ihr Vater so fröhlich war. Doch wie sollte sie sonst in ein Bett gekommen sein? Aber warum gurgelte dann im Hintergrund eine Kaffeemaschine?
»Lass sie doch ausschlafen, Kai«, hörte sie ihre Mutter sagen. »Nelly kommt erst gegen Mittag zu Besuch. Und außerdem war es für uns alle eine ziemlich unruhige Nacht.«
»Ziemlich unruhig?« Fees Vater lachte leise. »Das ist ja eine wirklich nette Umschreibung für den Sturm des Jahrhunderts, Silke!« Die Tür schloss sich mit einem kaum hörbaren Schnappen. Fee riss die Augen auf. Sie lag tatsächlich in ihrem eigenen Bett! Und das Fenster war fest verschlossen. Aber an ihrer Stirn prangte eine fiese Beule. Ihr wurde ein wenig schwindelig, als sie aus dem Bett schlüpfte und zum Fenster huschte. Der Riegel war so fest zugeschnappt, dass sie rütteln musste, um die Metallnase frei zu bekommen. Mit einem flauen Gefühl beugte sie sich über das Fensterbrett und schaute verwirrt zum Bürogebäude gegenüber. Jetzt, im frühen Morgenlicht, sah man in den Fensterfronten die leicht verzerrte Spiegelung von Fees neuem Zuhause. Auf der anderen Straßenseite schwebte ihr blasses Gesicht im wuchtigen Rahmen ihres Fensters im dritten Stock. Mit ihrem langen hellen Haar, das im Wind wehte, wirkte sie wie ein verlorenes Tagesgespenst. Es kostete sie allen Mut, den Blick nach unten rechts wandern zu lassen. Ihr Herz machte einen schmerzhaften Satz, als sie das Spiegelbild fand, das sie suchte: die Steinfiguren im ersten Stock, zwei griechisch anmutende Marmorfrauen. Die Arme hatten sie über den Kopf erhoben und stützten mit ihren Händen und dem Nacken den verschnörkelten Balkon ab. Fee wusste nicht, ob sie erleichtert oder jetzt erst recht verstört sein sollte. Suchend schaute sie sich um, doch auch die Taschenlampe lag hier nirgendwo auf dem Boden. »Aber es war doch kein Traum!«, sagte sie laut.
»Guten Morgen, Siebenschläfer!«, rief ihre Mutter, als Fee barfuß in die Küche tappte.
»Morgen«, murmelte Fee. Ihre Eltern saßen am Frühstückstisch, die Kaffeetassen in den Händen. Fees Mutter trug heute eine Arbeitshose und ein farbfleckiges T-Shirt. Das Haar hatte sie zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden. Auf Zeitungspapier lagen in der Küche die Pinsel und Farbrollen bereit, denn heute sollte als Abschluss der Wohnungsrenovierung noch Mamas Arbeitszimmer einen neuen Anstrich bekommen. Fees Vater schien es damit nicht eilig zu haben, er trug noch seinen Pyjama. Wie immer wirkte er zu groß für den Tisch, ein freundlicher Riese mit glattem blondem Haar, der sich in eine Menschenwohnung verirrt hatte.
»Guten Morgen, Motte!« Er streckte sich gähnend. »Haben dich die Sirenen geweckt?«
Jetzt erst fiel Fee auf, dass draußen wieder Feuerwehrsirenen heulten. »Ähm, nö«, murmelte sie.
Ihre Mutter grinste. »Wer es schafft, einen Orkan zu verschlafen, für den sind ein paar Sirenen doch nur leise Flötenmusik, Kai.«
»Orkan?«, fragte Fee zaghaft.
»Du hast gar nichts mitbekommen?« Mama schüttelte fassungslos den Kopf. »Kaum eine Viertelstunde, nachdem ich heute Nacht dein Zimmer verlassen hatte, ging das Gewitter draußen erst so richtig los. Ich habe noch einmal nach dir geschaut, aber du hast tief und fest geschlafen.«
Fee schluckte. Sie hatte das Bett also gar nicht verlassen? Verwirrt setzte sie sich an den Tisch und strich sich die Haare aus der Stirn hinter die Ohren.
»Anna-Fee!«, rief ihre Mutter aus. »Was hast du da?« Sie umfasste Fees Gesicht mit den Händen und drehte es zum Licht. »Du meine Güte, was für eine Beule! Die habe ich heute Nacht gar nicht gesehen.«
Papa stellte seine Kaffeetasse so hart auf den Tisch, dass der Kaffee herausschwappte. »Wie ist das passiert?«
Och, keine große Sache, Papa. Eine Steinfigur hat nur dem Wind befohlen, mir den Fensterflügel an den Kopf zu knallen.
»Sie ist im Schlaf aus dem Bett gerollt«, antwortete ihre Mutter. »Und muss mit der Stirn genau auf dem Löwenfuß des Bettes aufgekommen sein.«
»Nicht bewegen!«, befahl Fees Vater und kramte hektisch eine kleine LED-Leuchte aus der Küchenschublade. Fee seufzte insgeheim. Typisch! Ihr Vater war von Beruf Krankenpfleger. Sobald jemand sich auch nur den kleinen Zeh am Mülleimer anstieß, vermutete er Hals- und Beinbruch.
»Schau genau in die Lampe!«, mahnte er. Fee versuchte nicht zu blinzeln. Ihr Vater atmete auf. »Glück gehabt. Die Pupillen reagieren völlig normal. Und dir ist auch nicht übel oder schwindelig?«
»Nein.« Was immerhin zur Hälfte stimmte. Flau im Magen war ihr nämlich schon, sobald sie an die Marmorfrau dachte. Aber hier, im Tageslicht, klang die Erklärung vom Aufprall auf dem Löwenfuß bestechend logisch. Sie dachte daran, was ihre Mutter ihr über das Haus erzählt hatte. Dass es über zweihundert Jahre alt war. So lange haben sich die Steinfiguren keinen Millimeter bewegt. Warum sollte eine von ihnen nachts plötzlich an der Fassade herumklettern?
Sie betrachtete den uralten Dielenboden, über den früher Männer mit Reitstiefeln und Frauen in langen Reifröcken gegangen waren. Ihre Beule an der Stirn pochte dumpf, und Fee wusste nicht mehr, was sie glauben sollte. Boden!, schoss es ihr durch den Kopf. Wenn die Taschenlampe nicht dort liegt, dann …
»He, langsam!«, rief Papa. »Wo willst du hin?«
»Nur etwas nachschauen. Bin gleich wieder da!«
Die Umzugskiste, aus der sie heute Nacht die Taschenlampe gekramt hatte, stand scheinbar unberührt an der Wand. Wäre alles nur ein Traum gewesen, dann müsste die Taschenlampe noch in der Kiste liegen. Aber sie war fort. Denk nach, ermahnte Fee sich. Du bist gefallen und hast die Taschenlampe dabei losgelassen. Sie streckte sich auf dem Boden aus und suchte aus dieser Froschperspektive noch einmal das ganze Zimmer ab. Beim Blick unter das Bett hätte sie fast einen Schrei ausgestoßen. Dort lag die Taschenlampe. Im Schwung des Aufpralls war sie vom Fenster schnurstracks unter das Bett gerollt und hatte dabei auch noch ihre Batterien verloren. An der Wand hatte sie sich so fest zwischen den Krallen einer metallenen Löwentatze verfangen, als hätte das Bett mit der Lampe gespielt wie eine Katze mit einer Maus.
3
Nelly hob so schnell ab, dass Fee sich verdutzt fragte, ob ihre Freundin mit dem Telefon in der Hand auf den Anruf gewartet hatte.
»Ich wollte dich eben anrufen«, rief Nelly statt einer Begrüßung. »Schaut ihr es auch gerade?«
»Nein, was denn?«
»Den Bericht im Fernsehen! Euer Haus ist in den Nachrichten!«
Fee stürzte sofort zum Fenster. Doch auf der Straße entdeckte sie nichts Ungewöhnliches. Nur ein Fußgänger stand auf der anderen Straßenseite und machte mit einer Kamera Fotos vom Haus. Er war schwarzhaarig, hatte ein schmales Gesicht und eine dunkel gebräunte, fast bronzefarbene Haut. Fee schätzte ihn auf neunzehn oder zwanzig. Seine feindselige Miene ließ nichts Gutes vermuten. Und auch seine Kleidung war seltsam. Er trug ein abgewetztes, sandfarbenes Jackett mit dunklen Lederflecken an den Ellenbogen. Das Jackett war ihm zu groß und sah aus, als würde es seinem Opa gehören. Nun, das war ganz bestimmt kein Reporter.
»Vor dem Haus ist kein Fernsehteam, Nelly.«
»Doch nicht vor dem Haus. Dahinter! In der Barackensiedlung brennt es immer noch und in eurem Park ist einer der Riesenbäume nach einem Blitzschlag völlig verkohlt.«
Fee legte die Hand über den Hörer und brüllte: »Mama! Es brennt in der Siedlung und im Park. Kommt gerade in den Nachrichten!«
»Was?«, rief ihre Mutter entsetzt.
»Habt ihr wirklich nichts mitbekommen?«, fragte Nelly fassungslos.
»Ähm … nein, eigentlich haben wir nur ein paar Sirenen gehört.«
»Wie ist denn das möglich?«
»Naja, das Haus ist ziemlich weit entfernt von der Siedlung und unsere Wohnung liegt im vordersten Teil …«
»Haus?« Nelly lachte. »Du meinst wohl Riesenschloss! Ganz schön was los in deinem neuen Turm, Rapunzel.«
Allerdings, dachte Fee. Sofort wurde ihr wieder ganz mulmig zumute. Wieso habe ich nicht wenigstens den Blitzeinschlag gehört?
»Hallo?«, fragte Nelly. »Bist du noch dran?«
»Klar«, brachte Fee etwas zu kieksig heraus.
»Was ist los? Du klingst ganz komisch – oh, habe ich dich mit der Nachricht erschreckt?«
Fee atmete tief durch. »Nelly«, flüsterte sie. »Mir ist heute Nacht etwas Komisches passiert. Also … etwas … wirklich Komisches.«
»Was denn?«
Fee biss sich auf die Unterlippe. Klar, ihre beste Freundin war die Einzige, der sie die Geschichte erzählen konnte, schließlich waren sie schon seit der Grundschule ein Herz und eine Seele. Allerdings war es eine Sache, die schreckhafte Anna-Fee zu sein, die ab und zu Albträume hatte, aber eine ganz andere, Nelly zu erzählen, dass diese Albträume nun leibhaftig auf dem Dach herumkletterten.
»Fee?«, kam es ungeduldig aus dem Hörer. »Hat Grumpy Cat deine Zunge gemopst?«
Fee schluckte, aber sie begann zu erzählen, flüsternd, den Blick auf die halb offene Tür geheftet, damit ihre Eltern nichts mitbekamen. Was unwahrscheinlich war, denn draußen dröhnte nun der Fernseher, eine Nachrichtensprecherin erzählte etwas über »Straßensperrung« und »Einsturzgefahr«.
»… und die Taschenlampe unter dem Bett zeigt doch, dass es kein Traum war«, schloss Fee wispernd. »Aber mein Fenster war heute Morgen verschlossen.«
In der Leitung hörte man nicht einmal mehr einen Atemzug. Ihre Freundin war wohl sprachlos – und das wollte bei ihr wirklich etwas heißen.
»Nelly?«, fragte Fee zaghaft. Sie fürchtete, dass Nelly gleich: »Du spinnst doch!« rufen oder loslachen würde, aber ihre Freundin flüsterte nur ehrlich erschrocken: »Krass! Ich wäre vor Angst gestorben.« Fee rutschte ein tonnenschwerer Stein vom Herzen. Und dann schämte sie sich, auch nur eine Sekunde an Nelly gezweifelt zu haben. »Verriegle das Fenster und rühr dich nicht von der Stelle«, befahl Nelly. »Ich bin in zwanzig Minuten bei dir.«
Sie schaffte es mit dem Fahrrad quer durch die Stadt in zehn Minuten.
Fees Eltern zogen sich gerade die Schuhe an, als es an der Tür Sturm läutete. »So klingelt nur ein einziges Mädchen, das ich kenne«, bemerkte Fees Mutter und drückte auf den Türöffner. »Guten Morgen, Helene«, rief sie in die Gegensprechanlage. »Einen Aufzug haben wir leider nicht. Du musst die große Treppe in der Eingangshalle hochgehen. Sie gabelt sich vor dem ersten Stock, dort nimmst du die Treppe, die nach rechts führt. So kommst du in den Südflügel des Gebäudes. Unsere Wohnung liegt im dritten Stock, die allerletzte Tür im hintersten Gang ganz rechts.« Sie ließ den Knopf los, ohne Nellys Antwort abzuwarten. »Sollen wir warten, bis Nelly hier ist?«, fragte sie dann zu Fee gewandt.
Fee schüttelte den Kopf. »Nein, geht ruhig nach unten.«
Ihre Mutter lächelte. »Du weißt, dass du dir keine Sorgen machen musst, ja?«
Wenn du wüsstest, dachte Fee.
»Klar weiß sie das«, sagte ihr Vater leichthin. »Unser Haus ist ja gar nicht betroffen. Der kleine Kabelbrand in den Baracken ist längst gelöscht und alle Bewohner kamen mit dem Schrecken davon. Aber wir lassen uns die Chance nicht entgehen, endlich einmal einen Blick in den verbotenen Park zu werfen.« Er zwinkerte Fee zu und zog Mama einfach mit nach draußen.
Fee ging ins Wohnzimmer zurück, wo immer noch die Nachrichten liefen. Im Fernsehen erkannte sie die Straße vor der »Barackensiedlung« – eine Ansammlung von grauen Klotzhäusern, die sich hinter dem prächtigen Herrenhaus zusammendrängten wie eine Meute von Boxtrollen mit heimtückisch eng stehenden, trüben Fensteraugen. Alle Klötze hatten teerschwarze Flachdächer und ziemlich schäbige graue Fassaden, von denen einige mit Graffiti verschmiert waren. Am vordersten Haus prangten schwarze Flecken und Streifen. Brandspuren, dachte Fee mit einem Frösteln. Das war nicht nur ein ›kleiner Kabelbrand‹ gewesen, wie ihr Vater sagte.
Ein Sonnenstrahl ließ über dem Fernseher Buchrücken mit verschnörkelter Goldschrift aufleuchten. Ihre Mutter hatte ihre ganze Märchenbuchsammlung auf den Regalen aufgereiht, eine Bibliothek aus einem längst vergangenen Jahrhundert. Umso krasser wirkten daneben die modernen Fernsehbilder der Zerstörung: Zwei Fenster im obersten Stockwerk des Hauses waren verrußt. Aus einem quoll immer noch Rauch hervor, als wäre ein Drache aus einem der Märchenbücher ausgebüxt und hätte sich draußen in der Siedlung in einem Zimmer verschanzt.
»Äste wurden von den Bäumen im Park abgerissen und von dem Sturm über die Mauer geschleudert«, schnarrte ein Reporter in die Kamera. »Dort schlugen sie in das gegenüberliegende Haus ein und beschädigten eine Stromleitung, was den Brand verursachte. Experten gehen inzwischen davon aus, dass ein Tornado für die Verwüstung zuständig war …« Verwackelte Filmaufnahmen wurden eingeblendet, Untertitel: Privat-Video. Man erahnte einen wirbelnden Windtrichter, dessen Spitze genau in den Park reichte. »Ey, pass auf, Alder!«, brüllte jemand gegen das Heulen des Windes an. Äste und Zweige flogen dem Filmenden entgegen. »Scheiße, Mann, weg hier!« Das Bild trudelte, dann riss die Aufnahme ab, als hätte der Sturmwind dem Filmenden das Smartphone aus der Hand gerissen.
»Das ist das erste Mal, dass eine solche Windhose in dieser Gegend beobachtet wurde«, berichtete der Reporter weiter. »Es grenzt an ein Wunder, dass sie nur in einem kleinen Teil des historischen Parks wütete. Dort hatte zuvor offenbar ein Blitzschlag einen Baum in Brand gesteckt …« Er deutete hinter sich zur hohen Steinmauer, die den Park umfasste. Zwischen vom Sturm zerrauften Baumkronen ragte der verkohlte Rest eines Baumes in den Himmel. Vom Herrenhaus selbst sah man über die Mauer hinweg nur ein Stück des Nordflügels.
»… wurden alle Bewohner der angrenzenden Siedlung für die Dauer der Löscharbeiten evakuiert.« Die Kamera schwenkte zur Straße. Es war das erste Mal, dass Fee die Bewohner der Barackensiedlung zu Gesicht bekam. Es sah aus, als wäre auf der Straße ein Multikulti-Jahrmarkt eröffnet worden. Ein paar afrikanisch gekleidete Frauen mit Kinderwagen drängten sich auf dem Bürgersteig, Gruppen von Männern diskutierten miteinander. Rentner in Jogginganzügen hatten ihre Bierflaschen mit nach draußen genommen. Fee entdeckte aber auch Damen mit Lockenwicklern in den Haaren und eine alte Frau, die einen schwarzen Hund an sich drückte. Sogar von hier konnte man erkennen, dass ihr weißes Haar einen fliederfarbenen Farbstich hatte. An der Absperrung der Feuerwehr standen die älteren Jugendlichen herum, die Fees Vater nur »Die Gangsta« nannte. Fee schaltete den Fernseher aus, rutschte am Türrahmen nach unten und zog die Knie an den Körper. Hat die Marmorfrau etwas mit dem Tornado zu tun?, überlegte sie. Der Wolkenwirbel vor dem Mond gestern Nacht, den hat sie doch gerufen?
In der Stille schrillte das Telefonklingeln besonders laut. Im Display leuchtete eine Handynummer, die sie nicht kannte.
»Ich bin immer noch unten am Eingang«, japste Nelly. »Hier ist Chaos, ein Fernsehteam von einem Privatsender will durch euer Haus in den Park, aber an der Tür steht ein durchgeknallter Bodyguard in einem schwarzen Anzug und lässt niemanden rein. Du musst mich abholen, er glaubt mir nicht, dass ich dich kenne.«
Fee biss sich auf die Unterlippe. Der unfreundliche Hausmeister! Das fehlte jetzt gerade noch. »Warte draußen vor dem Haus bei den Löwen«, sagte sie. »Ich bin gleich unten.«
4
Im Treppenhaus war sie ganz allein unterwegs. Nachbarn gab es noch keine, bisher bewohnten Fee und ihre Eltern als einzige Mieter den Südflügel. Von draußen drangen Rufe und das Schnarren von Motorsägen ins Haus. Zugluft strich durch die Marmorsäulen des Treppengeländers wie Windfinger über eine steinerne Harfe. Je näher Fee dem Erdgeschoss kam, desto deutlicher wurde der Geruch von verbranntem Holz. Mit den Marmorsäulen und dem prächtigen Mosaik, das auf dem Boden schwarz-weiße Rosen erblühen ließ, hätte die Eingangshalle im Erdgeschoss als Tanzsaal durchgehen können. Fees Fahrrad und die Briefkästen wirkten darin fehl am Platz und winzig wie Spielzeug. Mitten im Raum wuchs die Treppe des Südflügels mit einer zweiten zusammen, die aus dem Nordflügel des Gebäudes herunterführte. Die beiden vereinten sich in einem gebogenen Schwung zu einer einzigen breiten Empfangstreppe. Von vorne gesehen bildete das ganze Konstrukt ein elegant geschwungenes Y. Diese Eingangshalle war das einzige Verbindungsstück zwischen dem bewohnten Trakt des Anwesens und dem leer stehenden Nordflügel. Die Treppe zum Nordteil endete jedoch schon im ersten Stock an einer verschlossenen Flügeltür.
Fee blieb atemlos stehen und spähte durch das Treppengeländer. Zum ersten Mal, seit sie im Haus wohnte, stand die Tür an der Rückseite der Halle offen. Normalerweise war sie mit drei Schlössern gesichert. Und für den, der diese Botschaft nicht verstand, prangte auch noch das Schild »Durchgang verboten!« über der Tür. Aber nun konnte Fee einen Blick in den Park hinter dem Haus erhaschen. Blaulicht blinkte überall, Feuerwehrleute liefen hektisch zwischen den Bäumen herum. Ein Mann rief: »Abstand halten!« in ein Megaphon. Ein Windstoß fuhr durch die Tür und wirbelte Ascheflocken bis hinauf zur Treppe. Wie schwarzer Schnee hefteten sie sich an Fees Haar. Dann fiel die Tür zum Park donnernd ins Schloss und Fee hörte andere Stimmen, diesmal innerhalb des Hauses: Durch den vorderen Eingang drängte sich gerade das Fernsehteam in die Halle. Eine Moderatorin fuchtelte mit einem Mikrofon und redete auf einen alten, aber kräftigen Mann in einem schwarzen Anzug ein. Doch der stellte sich den Leuten vom Fernsehen mit quer gehaltenem Besen entgegen. »Raus hier!«, bellte er. Fee zog den Kopf ein. Schon an normalen Tagen sah der Hausmeister aus, als würde er einen am liebsten fressen. Aber heute wirkte er völlig irr. Sein schlohweißer Haarkranz war zerzaust und die ebenso hellen, buschigen Augenbrauen finster zusammengezogen. Mit seiner Hakennase erinnerte er an einen mies gelaunten Geier.
»Aber Sie müssen uns durchlassen«, beharrte die Moderatorin. »Wir kommen auf anderem Weg nicht in den Park. Jemand hat den Zugang an der Straße abgesperrt …«
»Scharf beobachtet«, schnitt der Hausmeister ihr das Wort ab. »Dieser Jemand war ich. Der Park ist nämlich Firmengelände. Niemand außer der Feuerwehr betritt es. Und hier haben Sie keine Drehgenehmigung.«
Der Kameramann stolperte zurück, als der Hausmeister mit dem Besen nach seiner Kamera schlug. Ein Sturm der Entrüstung brach los, jemand rief: »Das ist Sachbeschädigung!«
Fee sprang von der Treppe, drückte sich an der Wand entlang und schlüpfte unbemerkt nach draußen. Nelly wartete neben einem der Steinlöwen, die den Treppenaufgang bewachten. Seltsamerweise trug sie im warmen Sonnenschein eine Wollmütze, unter der ihr dunkles, lockiges Haar völlig verborgen war. »Na endlich!«, rief sie Fee entgegen. »Ich dachte schon, dieser komische Totengräber lässt auch keinen mehr aus dem Haus.«
»Im Gegenteil, er ist gerade dabei, den Kameramann mit dem Besen auf die Straße zu jagen. Komm, nichts wie weg.«
Nelly schnappte sich ihr Fahrrad. Kaum hatten sie sich von der Tür entfernt, stürzte schon das Fernsehteam aus dem Haus. »Sie sind ja völlig wahnsinnig!«, hörte Fee die Moderatorin schimpfen.
Die Antwort des Hausmeisters ging in Sirenengeheul unter. Ein Polizeiauto raste am Haus vorbei und brauste um die Ecke.
»Los, hinterher!«, rief die Moderatorin.
Nach weniger als einer Minute war der ganze Spuk vorbei und die Straße leer.
»He, keine Panik«, sagte Nelly sanft.
Erst jetzt merkte Fee, dass sie zitterte und dass Nelly ihre Hand umfasst hielt. Verlegen ließ sie los. »Ich habe keine Panik«, murmelte sie mit hochrotem Kopf. »Seit wann besitzt du eigentlich ein Smartphone?«
»Das gehört Izzy.« Nelly grinste Fee verschmitzt an, lehnte ihr Fahrrad an eine Straßenlaterne und schloss es ab.
Fee wunderte sich. Izzy – eigentlich Isabelle – war Nellys siebzehnjährige Cousine. Sie ohne ihr Smartphone anzutreffen war ungefähr so wahrscheinlich, wie einen Delfin beim Sonnenbaden in der Wüste zu erwischen.
»Aber es ist nur ihr altes Handy«, klärte Nelly sie auf. »Sie braucht es nicht mehr. Oh Mann! Dich hat es ja böse erwischt.«
Vorsichtig strich sie eine Haarsträhne aus Fees Stirn und begutachtete die Beule. Die sachte Berührung von Nellys Händen war tröstlich und tat unendlich gut. Es war seltsam, aber an Nellys Seite war die Welt irgendwie sofort ein sicherer Ort. Naja, jedenfalls so sicher, wie er gerade sein kann.
»Das ist nicht so schlimm«, sagte Fee.
Nelly verzog den Mund. »Klar«, sagte sie ironisch. »Könnte schlimmer sein. Die Steintussi hätte dich auch wie King Kong aufs Dach schleppen können.« Sie schnaubte und ging voraus zu den beiden Steinlöwen. Sie saßen rechts und links von der Eingangstür und fletschten die Zähne, als würden sie nur darauf warten, jedem Eindringling an die Kehle zu springen. Und damit passen sie ja gut zum Hausmeister, dachte Fee. Könnten seine Schoßtiere sein. Nelly legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Balkon. »Welche von den Statuen war es?« Fee rieb sich unbehaglich die Arme. »Ich … weiß nicht. Die beiden Figuren sind völlig gleich.«
»Irgendeinen Unterschied muss es aber geben. Hm, am Balkon wächst Moos und Efeu. Wenn eine Figur sich bewegt hätte, müsste man doch abgekratztes Moos oder abgerissene Ranken sehen?«
Fee sank der Mut. Bestechend logisch, Sherlock Nelly. Aber sogar an den Händen der Figuren waren Moos und Efeu völlig unversehrt. Und das hieß, keine der Steinfrauen hatte sich von der Stelle gerührt.
»Vielleicht finden wir ja im Internet alte Fotos vom Haus«, überlegte Nelly. »Dann könnten wir vergleichen, ob die Ladys sich im Lauf der Zeit irgendwie verändert haben.«
»Dafür müssen wir gar nicht im Internet suchen«, murmelte Fee. »Meine Mutter sammelt alles über das Herrenhaus – auch alte Fotos und Postkarten.«
»Super! Dann fragen wir sie, ob sie uns die Fotos zeigt. Und ich wette, wir finden einen Beweis.« Nelly legte die Hände um den Mund und rief zu den Figuren hoch: »Hey, ihr Moosköpfe! Uns könnt ihr mit eurem Pokerface nicht täuschen!«
Trotz allem musste Fee nun lächeln. Nelly war wirklich fest entschlossen zu beweisen, dass Fee nicht verrückt war, obwohl das hier nur noch gewöhnliche Statuen waren. Ihre Steinaugen waren seelenlos und leer. Aber warum fühlte sich Fee dann immer noch so beobachtet? Plötzlich fiel ihr der Jugendliche mit der Kamera wieder ein. Verstohlen linste sie über die Schulter zum Bürogebäude. Dort sah sie nur sich selbst und Nelly im Spiegel der Fassade. Doch im Schatten eines Eingangs glaubte sie eine Bewegung wahrzunehmen, gerade so, als hätte sich jemand dort hastig an die Wand gedrückt, um nicht entdeckt zu werden.