Buchinfo:
Wer bin ich – und was kann ich bewirken?
Teresa von Avila bezeichnet es als „Lockruf“, Dorothee Sölle als „Hunger“ – beide Begriffe beschreiben die Sehnsucht, die Menschen vorwärtstreibt, eine innere Stimme, der man folgt. Doch wie kommt es, dass sich Menschen überhaupt auf die Suche machen, sich nicht mehr zufrieden geben wollen mit der bestehenden Situation? Alois Prinz spürt in seinem neuen Buch diese „Bruchstellen“ auf, versucht zu ergründen, warum das Leben der Porträtierten eine derart radikale Wende nahm. Wie wird aus dem Skeptiker Augustinus einer der großen Lehrer der Christenheit? Aus dem Kriegshelden Franziskus ein Ordensgründer? Was muss passieren, dass sich eine überzeugte Atheistin wie Edith Stein taufen lässt? Wie begründet die Theologin Dorothee Sölle ihr politisches Engagement?
Entstanden sind berührende Lebensgeschichten von Menschen, die an ihre Grenzen kamen – aus ganz unterschiedlichen Gründen. Aber auch von Menschen, die alle auf ihre Weise erlebt haben, dass etwas gänzlich Neues ins Spiel kam. „Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht“, so fasst es Edith Stein zusammen.
Autorenvita:
© Christina Häusler
Alois Prinz, geboren 1958, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie. Mit seiner Familie lebt er in der Nähe von München. Er veröffentlichte bereits zahlreiche preisgekrönte Biografien über Georg Forster, Hannah Arendt, Hermann Hesse, Ulrike Meinhof, Franz Kafka und zuletzt über den Apostel Paulus (alle Beltz & Gelberg).
„Mehr als du denkst“ ist sein erstes Buch bei Gabriel.
Sein Geburtstag wurde als die Geburtsstunde eines göttlichen Kindes und als »Evangelium« (griech.: gute Nachricht) gefeiert, er wurde als »Sohn Gottes« verehrt, als »Retter« und als Bringer einer »Goldenen Weltzeit«. »Er macht ein Ende der eisernen Zeit; eine goldene Menschheit wird die Erde erfüllen«, so pries der römische Dichter Vergil diesen Friedensstifter.5
Die Rede ist hier nicht von Jesus von Nazaret, sondern von Kaiser Caesar Octavius Augustus in Rom. Und für die religiöse Verehrung, die ihm zuteilwurde, schien es allen Grund zu geben. Dieser Kaiser Octavian, der sich den Namen »Augustus«, der Erhabene, zulegte, hatte den römischen Bürgerkrieg beendet und seinen Rivalen Antonius ausgeschaltet. Mit seiner Alleinherrschaft begann 27 v. Chr. eine lange Friedenszeit, die »Pax Romana«. Straßen wurden gebaut zu den entlegensten Städten und Provinzen, die Meere wurden von Piraten befreit. Jeder konnte nun ungehindert und relativ sicher reisen. Die Verwaltung der eroberten Gebiete wurde verbessert, der Handel wurde angeregt und die Wirtschaft blühte auf. Unter der Herrschaft des göttlichen Kaisers wurden so viele neue Gebiete erobert wie nie zuvor. Praktisch die ganze damals bekannte Welt gehörte zum römischen Imperium. Die römischen Legionäre waren im Norden bis Britannien, im Süden bis Äthiopien, im Westen bis Spanien und im Osten bis Mesopotamien vorgedrungen.
Dabei erwies sich Augustus als ein »Meister der moralischen Eroberung«. Der Philosoph Nikolaos von Damaskus beschrieb Augustus als einen Mann, der den Gipfel von Macht und Weisheit erlangt und sogar die »Herzen der Menschen« gewonnen habe, zunächst mit und dann ohne Waffen.6
Wie aber sahen diese »moralischen Eroberungen« aus? Augustus war so klug, die unterworfenen Völker nicht mit brutaler Härte und der Überheblichkeit des Siegers zu regieren. Natürlich wurden die eroberten Gebiete ausgebeutet und die Bevölkerung musste Steuern nach Rom zahlen. Andererseits wurde den unterworfenen Völkern eine gewisse Selbstständigkeit zugestanden und man nahm Rücksicht auf ihre Sitten und Gebräuche. Darüber hinaus schenkte Augustus ihnen die Segnungen der römischen Kultur: Straßen, Aquädukte, Theater und Thermen. Auch die Verehrung des göttlichen Kaisers wurde in die unterworfenen Gebiete exportiert und dort auch meist angenommen. Ein Gott, der nicht nur aus Stein oder Holz war oder irgendwo weit weg im Himmel thronte, sondern der auf der Erde lebte und sichtbar war, kam den Bedürfnissen der Menschen entgegen. Abgesehen davon hatte der Kaiserkult auch eine politische Bedeutung. Wer den Kaiser verehrte und ihm opferte, der bewies seine Loyalität gegenüber Rom. Und genau das wollte Augustus erreichen. Was er erwartete, war die Dankbarkeit der eroberten Völker. Sie sollten sich freiwillig dem Imperium unterwerfen und die Überlegenheit der militärischen Macht und römischen Kultur anerkennen.
Wie alle totalitären Machthaber wollte Augustus auch die Herzen seiner Untertanen gewinnen. Das geschah allerdings auf der Grundlage eines hoch entwickelten Militärapparates. Wenn die Toleranz des Kaisers nicht die erwünschte Ergebenheit bewirkte, dann war es mit der Geduld schnell zu Ende und die Gewalt kam zum Einsatz. Pax Romana war ein Gewaltfrieden. Der Gottmensch Augustus konnte sich seine tolerante Haltung nur leisten, weil er jederzeit seine Legionäre losschicken und für klare Verhältnisse sorgen konnte. Und klare Verhältnisse, das hieß: Rom gab den Ton an und die anderen hatten zu gehorchen.
Am östlichen Rand des römischen Weltreichs lag ein kleines, unbedeutendes Land, Palästina, das den Römern mehr Schwierigkeiten machte, als ihnen lieb war. Die Strategie der Pax Romana ging hier nicht auf, und schon gar nicht konnte der göttliche Augustus die Herzen der Bewohner erobern, obwohl er sie mit Wohlwollen behandelte. Das lag in erster Linie an der besonderen, einzigartigen Religion dieses Volkes. Es betrachtete sich als ein auserwähltes Volk, auserwählt von einem Gott namens Jahwe, der so heilig war, dass man seinen Namen nicht nennen und auch nicht schreiben durfte. Dieser Gott hatte die Juden, so ihr Glaube, erwählt aus allen Völkern. Er hatte mit ihnen einen Bund geschlossen und sie aus der Gefangenschaft in Ägypten befreit. Dieses Bewusstsein, ein auserwähltes Volk zu sein, machte die Juden zu einem Außenseiter unter den Völkern, verschaffte ihnen aber gleichzeitig einen besonderen Zusammenhalt und ein einzigartiges Selbstbewusstsein. Daran änderte sich auch nichts, als das Land Palästina immer wieder unter fremder Herrschaft stand.
Im Jahre 63 v. Chr. hatte der römische Feldherr Pompeius Jerusalem belagert und nach dem Fall der Stadt ein furchtbares Blutbad angerichtet. Noch schlimmer als die Grausamkeit der Römer war es für die gesetzestreuen Juden gewesen, dass Pompeius das Allerheiligste des Tempels betreten hatte, was allein dem Hohepriester vorbehalten war. Palästina wurde ein Teil der römischen Provinz Syrien. Die Römer waren für die Juden nicht nur ungeliebte Besatzer, sondern verachtete Heiden. Einen Menschen als Gott anzubeten, war für sie undenkbar. Und dass die Römer neben ihrem Kaiser noch andere Götter verehrten, machte sie in ihren Augen zu gottlosen Götzendienern.
Den Römern wurde schnell bewusst, dass sie es mit einem sehr aufsässigen Volk zu tun hatten und es nur Probleme geben würde, wenn sie es zu stark unterdrückten. Also gewährten sie den Juden gewisse Freiheiten, und sie besetzten wichtige Ämter nicht mit eigenen Leuten, sondern suchten nach einheimischen Handlangern, die die Interessen Roms vertraten. Ihre Wahl fiel auf einen gewissen Antipater aus Idumäa, einer Landschaft zwischen Palästina und Ägypten, den sie zum Prokurator ernannten. Seine romfreundliche Haltung wurde ihm aber zum Verhängnis. Bei einem Festessen wurde er 43 v. Chr. von den Anhängern einer romfeindlichen jüdischen Familie vergiftet.
Antipater hatte einen Sohn namens Herodes, der seinen ermordeten Vater rächen wollte. Dieser Herodes bewunderte die Römer, und wie entschlossen und skrupellos er sein konnte, davon hatten die Juden bereits einen Eindruck erhalten. Ohne sich um bestehende Gesetze zu kümmern, hatte er im Alter von sechsundzwanzig Jahren eine Gruppe von Rebellen bekämpft und den Anführer mitsamt seinen Mitstreitern hinrichten lassen.7 Diese Entschlossenheit und Romtreue gefiel den Römern und sie ernannten Herodes im Jahre 40 v. Chr. zum König von Judäa. Er war allerdings ein König ohne Land, denn aus seiner Heimat hatte er nach dem Tode seines Vaters fliehen müssen und Jerusalem war zu dieser Zeit in der Hand seiner Feinde. Mit seinen eigenen Anhängern und einem mächtigen römischen Heer kehrte Herodes in seine Heimat zurück und zog eine Blutspur durch Palästina. Fünf Monate lang belagerte er Jerusalem, ehe die Stadt fiel und er die große Abrechnung durchführen konnte. Seine Freunde belohnte er, seine Feinde, darunter auch die Mörder seines Vaters, ließ er töten.
Mit sechsunddreißig Jahren war Herodes nun König von Judäa und zugleich der verlängerte Arm Roms. Beides wollte er miteinander vereinen, aber das gelang ihm nicht. Er sicherte sich das Wohlwollen jener Männer, die in Rom an der Macht waren. Augustus nannte er seinen Freund und gab einer neu errichteten Stadt den Namen des göttlichen Kaisers. Seine eigenwilligen Untertanen regierte er mit eiserner Faust und duldete keinen jüdischen Patriotismus und keine Unabhängigkeitsbestrebungen.
Andererseits wollte er der geliebte König seines Volkes sein. Er ließ gewaltige Bauwerke errichten, darunter die Stadt Cäsarea mit einem künstlichen Hafen, die Felsenfestung Masada, einen märchenhaften Palast nahe Jericho und vor allem den gewaltigen Tempel von Jerusalem. Tausende von Juden fanden so Arbeit und konnten ihre Familien ernähren. Herodes, den der Geschichtsschreiber Flavius Josephus »Herodes der Große« nennt, senkte sogar die Steuern und half in Zeiten von Missernten. Indes – alle diese Wohltaten nutzten ihm nichts. Er blieb ein ungeliebter, von vielen gehasster König.
Das machte ihn mit den Jahren zu einem verbitterten, misstrauischen und hemmungslosen Tyrannen. Überallhin sandte er seine Spitzel aus, um zu erfahren, was über ihn geredet wurde oder ob gegen ihn eine Verschwörung im Gange war. Der geringste Verdacht genügte, um jemand foltern oder hinrichten zu lassen. Keiner war sicher davor, verleumdet zu werden. Und wer bei Herodes in der Gunst stand, konnte im nächsten Moment zum Verräter erklärt werden. Für jede üble Nachrede, für jedes Gerücht hatte er ein offenes Ohr. Und bald wurde er schier verrückt vor lauter Verdacht und Argwohn.
Vor allem das Königshaus selber glich einem Tollhaus. Zehn Mal hatte Herodes geheiratet und seine Frauen und seine zahlreichen Kinder heckten dauernd Intrigen aus, um sich gegenseitig auszustechen. Schließlich kam es so weit, dass Herodes seine Ex-Frau Mariamne, an der er besonders hing, und zwei seiner Söhne umbringen ließ. Doch auch diese Morde konnten sein krankhaftes Misstrauen nicht beruhigen. »Von jetzt an«, so heißt es bei Flavius Josephus, »war er vor Angst wie außer sich. Der leiseste Verdacht regte ihn auf; er ließ viele Unschuldige zur Folter schleppen, um nur ja keinen Schuldigen zu übergehen.«8
Als junger Mann war Herodes ein bewunderter Reiter, ein unbesiegbarer Ringkämpfer und ein meisterhafter Bogenschütze gewesen. Als alter, fast siebzigjähriger Mann war er ein körperliches und seelisches Wrack, überall witterte er Feinde und seine Willkür und Grausamkeit kannten keine Grenzen. Er ließ dreihundert Soldaten hinrichten, die Sympathie mit seinen getöteten Söhnen zeigten. Sechstausend Schriftgelehrte, Angehörige der Schule der Pharisäer, bezahlten es mit ihrem Leben, dass sie sich weigerten, einen Treueeid gegenüber dem König abzulegen, den Herodes von seinem ganzen Volk verlangte.
Diese Pharisäer hatten behauptet, die Zukunft voraussehen zu können, und hatten geweissagt, Herodes werde nach göttlichem Ratschluss seine Herrschaft verlieren und ein anderer König werde an seine Stelle treten. Solche Prophezeiungen machten Herodes rasend, und er drohte jedem mit dem Tode, der den Reden der Pharisäer Glauben schenken sollte.9 Der Wunsch nach einem neuen König, einem Messias, der das Land von den gottlosen Besatzern befreiten würde, war im ganzen Volk verbreitet und wurde nur noch stärker, je brutaler Herodes ihn auslöschen wollte.
Herodes war ein schwer kranker Mann. Sein Körper war mit Geschwüren bedeckt, ein unerträglicher Juckreiz quälte ihn, er hatte andauerndes Fieber und Atembeschwerden machten ihm das Liegen unmöglich. Er hatte Angst vor dem Tod, aber noch mehr ängstigte ihn der Gedanke, dass sein Volk sich über seinen Tod freuen würde. Er befahl daher, Tausende der vornehmsten Juden im Stadion von Jericho einzuschließen und von Bogenschützen bewachen zu lassen. Wenn dann sein eigenes Ende komme, sollten alle Eingeschlossenen mit Pfeilen getötet werden, damit bei seinem Tod im ganzen Land Trauerstimmung herrsche.10
Dieser Befehl wurde nicht ausgeführt. Als Herodes im Jahre 4 v. Chr. starb, wurden die gefangen gehaltenen Juden freigelassen. Nun brachen überall im Land Unruhen aus, die getragen waren von der lange unterdrückten Sehnsucht nach einem einheimischen Befreier.
Ein ehemaliger Sklave des Herodes namens Simon scharte einen Haufen verwegener Gestalten um sich, die ihn als König verehrten und plündernd von Ort zu Ort zogen. Noch schlimmer trieb es der Schafhirte Athronges, der sich ebenfalls als neuer König feiern ließ und mit seiner Meute römische Soldaten angriff. Ein gewisser Judas ging sogar so weit, dass er mit Waffen gegen alle kämpfte, die eine weltliche Herrschaft anstrebten, wobei er selber vermutlich nur eine Herrschaft Gottes hinnehmen wollte. Alle diese Abenteurer wurden schließlich von den Römern gefasst und hingerichtet.11 Und die Herrschaft über Palästina wurde unter den Söhnen des Herodes aufgeteilt. Rom hatte wieder die Oberhand gewonnen, was aber blieb, war der Hass der Juden gegen ihre Besatzer und die Sehnsucht nach einem Messias, nach einem Befreier.
Noch zu Lebzeiten Herodes’ des Großen, um das Jahr 7 v. Chr., sollen Astrologen aus dem Orient nach Jerusalem gekommen sein. Sie waren einem Stern gefolgt, den sie noch nie am Himmel gesehen hatten und den sie als Zeichen für die Geburt eines Königs deuteten. Ahnungslos fragten sie in Jerusalem, wo denn der neugeborene König zu finden sei. Als Herodes davon hörte, erschrak er gewaltig. Ein König, der ihm seine Herrschaft streitig machte, das war der Albtraum seines Lebens. Erst vor Kurzem hatte er alle Schriftgelehrten umbringen lassen, die die Ankunft eines Messias geweissagt hatten. Er fragte nun die Priester, ob denn in den heiligen Schriften ein Hinweis darauf zu finden sei, wo ein Messias geboren werde, und man wies ihn auf eine Stelle hin, wo es heißt:
Du, Betlehem im Gebiet von Juda,
bist keineswegs die unbedeutendste
unter den führenden Städten von Juda;
denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen,
der Hirt meines Volkes Israel.12
Herodes ließ die Sterndeuter zu sich kommen und erzählte ihnen von der Prophezeiung. Er bat die weisen Männer, nach Betlehem zu gehen und nach dem Kind zu suchen. Wenn sie es gefunden hätten, sollten sie zu ihm zurückkehren und ihm davon berichten. Denn auch er wolle zu dem Kind gehen und ihm huldigen.
Die Astrologen machten sich auf den Weg und fanden tatsächlich in Betlehem das neugeborene Kind. Im Traum wurde ihnen befohlen, nicht nach Jerusalem zurückzukehren, und so reisten sie auf einem anderen Weg in ihr Land zurück. Als Herodes merkte, dass die Sterndeuter ihr Versprechen nicht hielten und ihm entwischt waren, wurde er furchtbar wütend. Und er befahl, in Betlehem und Umgebung alle männlichen Kinder bis zu zwei Jahren zu töten. Und so geschah es.
Das Kind aber, nach dem er suchte, entkam. Seinen Eltern war im Traum ein Engel erschienen, der ihnen auftrug, nach Ägypten zu fliehen. Dort blieben sie so lange, bis die Nachricht von Herodes’ Tod sie erreichte. Daraufhin kehrten sie nach Israel zurück. In Judäa regierte inzwischen ein Sohn des Herodes namens Archelaus, der nicht minder machtversessen und grausam war als sein Vater. Die Eltern des Kindes wollten sich dieser Gefahr nicht aussetzen und zogen nach Galiläa, in den Ort Nazaret, wo sie ein neues Leben anfingen.
So erzählt es ein gewisser Matthäus in seinem Evangelium (Mt 2,1-23). Die meisten Theologen halten diese Geschichte für eine Legende, also für mehr oder weniger erfunden. Es werden darin jedoch Personen und Orte genannt, die es wirklich gab. Und wenn man den Charakter des Herodes und seine Taten bedenkt, dann passen dazu seine Angst vor einem Messias und der Kindermord von Betlehem.
Was hatte es aber mit diesem geheimnisvollen Kind auf sich? Verbanden die Menschen damit die Hoffnung auf einen neuen Propheten? Oder auf einen charismatischen Führer, der das jüdische Volk von den gottlosen Besatzern befreit? Oder erwarteten sie einen von diesen selbst ernannten Königen wie den Sklaven Simon oder den Schafhirten Athronges? Oder sehnte man sich nach einem mächtigen Herrscher vom Schlage eines Augustus, nach einem göttlichen Menschen, der mit starker Hand Frieden schafft, das Leben erleichtert und so die Herzen der Menschen gewinnt?
In der Vorstellung von einem Kind als Retter bündelten sich die Hoffnungen der Menschen. Irgendwo in Palästina wurde eines Tages tatsächlich ein Kind geboren, das einmal als Messias verehrt werden würde. Aber sah man diesem Kind schon seine einstige Berufung an? Zeigte sich schon früh seine Besonderheit?
Es gibt viele Aussagen darüber, was der Mensch eigentlich ist und wodurch er sich von anderen Lebewesen unterscheidet. Eine könnte lauten, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, das zweimal geboren wird. Einmal bei seiner leiblichen Geburt, am Anfang seines Lebens, durch seine Mutter. Und das zweite Mal, wenn er auch hinsichtlich seiner Bestimmung zur Welt kommt. Dieses zweite Ereignis meinen wir, wenn wir etwa sagen, dass jemand zu sich selbst gefunden hat oder sein wahres Ich entdeckt hat.
Solche Vorstellungen setzen voraus, dass ein Mensch noch nicht »fertig« ist, wenn er geboren ist, körperlich nicht, geistig nicht und auch seelisch nicht. Aber während die körperliche und geistige Entwicklung in den meisten Fällen sozusagen von selber abläuft, ist es nicht ausgemacht, ob jemand auch seine Bestimmung findet. Mit anderen Worten: Ob jemand seine zweite Geburt erlebt, ist nicht garantiert, sondern höchst offen. Hier kommt es auf die eigene Initiative an, hier gilt es, Hindernisse zu überwinden, Widerstände zu brechen, sich auf die Suche zu begeben und Sternen zu folgen.
In der Literatur und den Religionen wird dieser Vorgang oft verglichen mit einem Ei, dessen Schale durchbrochen werden muss. Das Küken in seinem Ei ist schon da, aber es ist noch nicht geboren. Es muss sich erst durch die Schale kämpfen, wenn es sich in die Welt befreien will.
Eine in den östlichen Religionen weitergegebene Variation dieses Bildes ist die Geschichte von den Göttervögeln.
Diese Vögel fliegen weit über den höchsten Bergen. Sie bleiben immer in der Luft und berühren nie den Erdboden. Auch ihre Eier legen sie in luftiger Höhe. Das Ei fällt der Erde entgegen, aber solange es fällt, hat das Küken Zeit, sich aus seinem Gefängnis zu befreien – sofern es überhaupt auf die Idee kommt, dass es diese Freiheit gibt.
Gelingt es ihm, dann schüttelt es die Eierschale ab, breitet die Flügel aus und steigt wieder nach oben. Ein neuer Göttervogel ist geboren.
Nur allzu oft ist es leider der Fall, dass einem Küken der Durchbruch nicht gelingt. Es müht sich immer verzweifelter, während die Erde immer näher kommt, und schließlich ist es zu spät und das Ei zerschellt am Boden. Das Küken ist nicht tot. Es ist benommen und nach kurzer Zeit rappelt es sich auf und macht erste Schritte. Es lernt zu gehen, aber eben nur zu gehen. Bei manchen bleibt höchstens eine schwache Erinnerung daran, dass es einmal möglich gewesen wäre zu fliegen.
Die in diesem Buch versammelten Lebensgeschichten erzählen von gelungenen Befreiungen aus dem fallenden Ei. Sie berichten von Menschen, die wir heute als Heilige oder zumindest als vorbildliche christliche Gestalten verehren. Die zweite Geburt ist bei diesen Personen eine religiöse, genauer gesagt eine christliche. Das heißt aber nicht, dass ihr Lebensweg zwangsläufig im Schoß der Kirche enden musste oder dass ihr Bekenntnis zum christlichen Glauben vorhersehbar war. Im Gegenteil. Die ausgewählten Frauen und Männer weisen sehr wechselvolle Schicksale auf, und es war für sie selbst und für ihre Umgebung nicht abzusehen, wohin ihr Weg sie führen wird.
Einige von ihnen, wie Aurelius Augustinus oder Franz von Assisi, standen dem christlichen Glauben lange Zeit fern. Andere, wie Edith Stein oder Simone Weil, verstanden sich sogar als Atheisten. Allen diesen Menschen ist gemeinsam, dass sie sich nicht mit dem Vorhandenen abgefunden und ihre innere Unruhe nicht betäubt haben. Sie wurden von ihren Problemen und Zweifeln vorwärtsgetrieben und hörten nicht auf, nach Lösungen zu suchen. Wir kommen, so meinte einmal Edith Stein, nicht an der Frage vorbei, wer wir sind und was wir wollen. Es war diese Frage, die Edith Stein ebenso wie Martin Luther, Blaise Pascal oder Dorothee Sölle dazu bewegt hat, sich auf die Suche zu machen. Diese Suche führte sie in eine Krise, die aber nicht ein Ende bedeutete, sondern einen neuen Anfang möglich machte. Erst auf solchen Umwegen kamen sie zu Antworten, die nach einem anderen Leben verlangten. Zu dieser Wende gehörte dann auch die Entdeckung, dass die gefundenen Antworten übereinstimmen mit den christlichen Aussagen über Gott und den Menschen. So ist es zu verstehen, wenn Edith Stein meinte: Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht.
Beispielhaft für diese Wahrheitssuche, die gleichzeitig eine Gottessuche ist, steht Jesus von Nazareth. Mit ihm beginnt die Reihe, weil sich bei ihm geradezu musterhaft zeigt, welche Voraussetzung für eine zweite Geburt unverzichtbar ist, dass wir nämlich zwei Welten angehören, einer menschlichen und einer, die darüber hinausgeht. Dementsprechend gehören zu dem »Weg«, den Jesus selbst geht und den er für alle verkörpert, zwei Geburten. Einmal die im Stall von Betlehem und zum anderen die bei der Taufe im Jordan, durch die seine eigentliche Bestimmung offenbar wurde. Mit dieser Taufe zog er sich nicht von dieser Welt zurück, sondern er wurde in einer tieferen Weise in sie hineingeboren, und er zeigte, wie man ganz in dieser Welt leben kann, ohne in ihr aufzugehen.
Die zweite Geburt folgt keinem festen Schema. Sie ist so unterschiedlich wie die Menschen, die sie erleben. Es kann sein, dass, wie bei Jesus von Nazareth oder Martin Luther, ein einziges Erlebnis das ganze bisherige Leben auf einen Schlag verändert. Es kann aber auch sein, dass eine Lebenswende durch viele kleine Erschütterungen herbeigeführt wird. Der Schnitt, der die Vergangenheit von der Zukunft trennt, kann radikal sein. Oder es kann, wie bei Teresa von Avila, sehr lange dauern, bis ein endgültiger Durchbruch gelingt. Manchmal müssen sich, wie bei Elisabeth von Thüringen, erst die Lebensumstände ändern, bis eine geistige Bekehrung sich auch in Taten und Handlungen voll entfalten kann. Denn auch das gehört zur zweiten Geburt – dass sie nicht nur ein inneres Erlebnis ist, sondern auch das Bedürfnis hervortreibt, die Welt zu ändern.
Was bei einer zweiten Geburt eigentlich stattfindet, das lässt sich nicht vollständig erklären. Es bleibt ein Rest Geheimnis. Andererseits geht ihr aber auch eine Entwicklung voraus, die man durchaus nachvollziehen kann. Es ist eine Entwicklung, in der sich Konflikte aufbauen, die sich dann irgendwann einmal in einer Explosion entladen. Welche Konflikte das sind, das hängt natürlich von der jeweiligen Zeit ab, von den Einflüssen, die jemanden prägen, in der Familie, in der Schule, in der Gesellschaft.
So unterschiedlich die einzelnen Lebensgeschichten und Bekehrungserlebnisse sind, so weisen sie doch auch gewisse Ähnlichkeiten auf. Immer ist es so, dass eine scheinbar fest gefügte Welt aufgebrochen wird und ein viel weiterer Horizont sich auftut. Diese Erweiterung führt jedoch nicht weg von der alltäglichen Welt, sondern diese erscheint nur in einem anderen Licht. Bildlich gesprochen: Wenn der Vogel die Schale durchbrochen hat und sich aufschwingt, ist er immer noch in der gleichen Welt, aber er sieht sie von oben, mit den Augen eines Göttervogels. Für die Theologin Dorothee Sölle bedeutet die zweite Geburt, dass unsere Vorstellungen von der Welt und von uns selbst zerstört werden. Unser altes Ich wird überwunden, ein neues Ich tritt an seine Stelle. Diese Erfahrung kann, so glaubt sie, jeder Mensch machen. Wir sind, schreibt sie, nicht nur die, die wir kennen, die wir zu sein glauben. Wir sind alle fähig, anders zu sein, wir können uns selber verlassen, wir sind der Versenkung und der Transzendenz fähig.
Für Christen ist Jesus von Nazareth das Vorbild für alle Menschen. Ihm sollen sie nachfolgen, das heißt, sie sollen so leben wie er. Ein solches Vorbild kann Jesus nur sein, weil er nicht nur Gottes Sohn war, sondern auch ein Mensch. Und wir Menschen sind im christlichen Verständnis nicht nur »Erdenwürmer«, sondern nach dem Bild Gottes geschaffene Wesen. Oder um es mit einem Bild des Apostels Paulus zu sagen – wir sind sehr zerbrechliche Gefäße, die einen ungeheuren Schatz in sich tragen.
Diese Spannung ist die Voraussetzung für eine Entwicklung. Auch Jesus von Nazareth hat sich im Laufe seines Lebens verändert und entwickelt. Auch er musste erst zu sich selber finden. Dreißig Jahre lang lebte er im Verborgenen in seinem Heimatdorf in Galiläa, bis er begann, herumzuziehen und seine Botschaft zu verbreiten. Aber auch schon in den Jahren davor gab es Hinweise, dass dieser Jesus mehr ist als ein Zimmermannssohn aus Nazareth. Der junge Jesus hat demnach in dem Bewusstsein gelebt, dass er etwas Besonderes ist und irgendwann der Durchbruch zu seinem eigentlichen Leben kommen wird. Aber wie lebte er mit diesem Wissen? War er ein Wunderkind oder ein ganz normaler Junge aus Galiläa?
Über das Kind und den Jugendlichen Jesus, der in seiner Sprache, dem Hebräischen, Joshua hieß, weiß man so gut wie nichts. Im gesamten Neuen Testament gibt es nur eine einzige Episode aus seiner Kindheit. Darin erzählt der Evangelist Lukas, wie Joseph und Maria eines Tages mit ihrem ältesten Sohn Joshua zum Passahfest nach Jerusalem reisten. Joshua war damals zwölf Jahre alt und stand kurz vor seiner »Bar Mizwa«, seiner religiösen Volljährigkeit.
Nach dem Fest brachen Maria und Joseph wieder zur Heimreise auf. Sie waren mit anderen Leuten aus ihrer Heimat nach Jerusalem gekommen, und wie schon bei der Hinreise liefen die Kinder voraus und schlossen sich während der langen Wanderung Freunden und Verwandten an. Darum machte sich Maria auch keine Gedanken, als Joshua beim Aufbruch nicht bei seinen Eltern war und sie ihn auch die folgende Zeit nicht zu Gesicht bekam. Erst als die Gruppe schon den ganzen Tag gewandert war und die Männer sich nach einem geeigneten Platz für das Nachtlager umschauten, begann Maria nach ihrem Sohn zu suchen. Doch der war nirgends zu finden. Keiner hatte Joshua gesehen.
Langsam wurde es zur Gewissheit, dass Joshua nicht in der Gruppe war und in Jerusalem zurückgeblieben sein musste. Maria und Joseph kehrten sofort um und kamen wahrscheinlich erst spät in der Nacht in Jerusalem an. Am nächsten Morgen begannen sie, nach Joshua zu suchen. Sie durchforschten die engen Gassen der Stadt und fragten in Gasthöfen und bei Straßenhändlern nach, ob jemand einen allein herumirrenden Jungen gesehen hatte. Doch niemandem war etwas aufgefallen. Enttäuscht und voller Sorge kehrten Maria und Joseph am Abend zu ihrem Schlafplatz zurück.
Auch der nächste Tag endete ergebnislos. Joshua war nicht zu finden. Am dritten Tag gingen seine Eltern zum Tempel. Hier waren sie mit Joshua während des Passahfestes gewesen. Joseph hatte mit Tempelgeld eine Taube gekauft und sie zum Altar vor dem Allerheiligsten gebracht, wo das Tier von Priestern dem Gott Jahwe geopfert worden war.
In den Seitenräumen des Tempels wurden zwölf- oder dreizehnjährige Jungen von Schriftgelehrten unterrichtet. Gruppen von jungen Leuten saßen da beieinander, vor ihnen ein Rabbi, der aus einer Schriftrolle vorlas und die Stellen erklärte. Als Maria und Joseph einen Blick in einen dieser Räume warfen, sahen sie, dass dort viele ehrwürdige Rabbis versammelt waren. Und inmitten dieser gelehrten Gesellschaft saß ihr Sohn Joshua und redete mit den Schriftgelehrten wie ein Erwachsener.
Maria und Joseph wussten erst nicht, was sie tun sollten, so verblüfft waren sie. Schließlich war es Maria, die ihre Fassung zurückgewann. Bei aller Erleichterung und Freude darüber, dass sie Joshua gefunden hatten, war sie auch verärgert über ihn. Während sie tagelang besorgt und verzweifelt nach ihm gesucht hatten, saß er seelenruhig im Tempel, diskutierte mit den Rabbis und schien seine Eltern vergessen zu haben. Ohne auf die hohen Herren zu achten, ging Maria zu ihrem Sohn und nahm ihn streng an der Hand. »Kind«, sagte sie zu ihm, »wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich überall gesucht und wären fast gestorben vor Angst.« Joshua aber schaute seine Mutter nur verwundert an und meinte: »Warum habt ihr mich gesucht? Ihr hättet doch wissen können, dass ich da bin, wo mein Vater ist.«
Weder Maria noch Joseph verstanden, was er damit meinte. Sein Vater war doch nicht im Tempel gewesen, sondern auf dem Heimweg nach Nazareth, ihrer Heimat? Aber Joshua hatte schon oft Dinge gesagt, die sich sehr rätselhaft anhörten. Und in seinem Leben waren auch schon einige Sachen passiert, die sonderbar waren. Seine Eltern mussten nur zurückdenken an seine Geburt, damals in dem Stall bei Betlehem, und an die abenteuerliche Reise nach Ägypten und von dort zurück nach Nazareth. Und deshalb zerbrachen sich Maria und Joseph nicht lange den Kopf über Joshuas seltsame Entschuldigung für sein Verhalten. Sie waren froh, ihn wiederzuhaben, und machten sich auf den Weg nach Hause, nach Nazareth in Galiläa.
Die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel ist, wie gesagt, die einzige Stelle in der Bibel, wo wir etwas aus der Kindheit des Mannes aus Nazareth erfahren. Alle weiteren Berichte über ihn setzen erst ein, als er begann, herumzuwandern, Jünger um sich zu sammeln, Wunder zu wirken und seine Botschaft zu verbreiten – und da war er schon um die dreißig Jahre alt. Von alledem, was er als Kind, als Jugendlicher und junger Erwachsener getan und erlebt hat, wird nichts berichtet. Trotzdem kann man sich ungefähr vorstellen, wie das Leben des jungen Jesus ausgesehen haben muss.
Galiläa, das Land, in dem Joshua aufwuchs, war, anders als die Gegend um Jerusalem, sehr fruchtbar. Die Wiesen waren grün und im Frühjahr übersät von Blumen. In den Bächen gab es Fische und Schildkröten, und auf den Bäumen bauten Störche ihre großen Nester. Galiläa, das hieß wörtlich übersetzt »Land der Völker«, weil dort Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen lebten: Phönizier, Araber, Syrer und Griechen. In den großen Städten galten die Leute aus Galiläa als zurückgebliebene Bauern. »Dumm wie ein Galiläer«, sagte man, wenn man sich über einen beschränkten Hinterwäldler lustig machte.
Nazareth, wo Joseph mit seiner Familie lebte, war ein kleines Nest. Immerhin gab es eine Quelle, wo Karawanen Rast machten und mit deren Wasser die Tiere getränkt und die Felder bewässert werden konnten. Der Ort lag auf einem Hügel. An einigen Stellen waren Höhlen in die Abhänge gegraben, die als Vorratskammern für Lebensmittel und teilweise auch als Wohnung dienten. Die normalen Häuser sahen alle gleich aus. Es waren Hütten aus Steinen und Lehmziegeln mit nur einem Raum, der spärlich eingerichtet war. In einer Ecke war die Herdstelle, wo gekocht wurde, und als Betten dienten Matten, die auf dem Boden ausgebreitet waren. Das flache Dach gehörte sozusagen noch zum Wohnraum: Auf einer Leiter oder über eine Treppe konnten die Bewohner hinaufsteigen, um dort in den heißen Sommernächten zu schlafen. Das war nicht ganz ungefährlich. Wenn jemand einen unruhigen Schlaf hatte und sich herumwälzte, konnte es passieren, dass er vom Dach fiel und sich den Hals brach.
In den sogenannten apokryphen Schriften, also jenen Berichten und Legenden, die nicht ins Neue Testament aufgenommen wurden, gibt es noch weitere Geschichten über den jungen Jesus, die allerdings wenig glaubwürdig sind. Da wird etwa erzählt, wie das Kind Jesus mit seinen Freunden auf dem Hausdach spielte, bis einer der Jungen namens Zenon nicht aufpasste und herunterstürzte. Er blieb tot liegen. Vor Schreck liefen alle Kinder davon, nur Jesus blieb zurück. Als die Eltern des verunglückten Jungen kamen, beschuldigten sie Jesus, er sei schuld am Tod ihres Sohnes, er habe ihn gestoßen. Da sprang Jesus vom Dach und befahl Zenon, er solle wieder aufstehen. Der Junge erhob sich tatsächlich und sprach Jesus von jeder Schuld frei. Zenons Eltern warfen sich daraufhin vor Jesus nieder.
Diese Geschichte aus den apokryphen Schriften stammt von einem gewissen Thomas und ist lange nach dem Tod Jesu entstanden, als es schon viele christliche Gemeinden gab. Zu dieser Zeit, etwa 200 n. Chr., wuchs das Bedürfnis, mehr über das Leben des Jesus von Nazareth zu erfahren. Vor allem über seine Kindheit, über die man so gut wie gar nichts wusste. Also dachte sich jener Thomas Geschichten über Jesus aus, wie er ihn sich vorstellte. Er glaubte daran, dass Jesus von Nazareth der Erlöser, der Sohn Gottes war. Demnach müsse er auch schon in seiner Kindheit etwas Besonderes gewesen sein. Bei Thomas ist Jesus kein normales Kind, sondern ein Wunderknabe, der übermenschliche Fähigkeiten hat. In einer dieser Geschichten formt er aus Lehm Vögel, die lebendig werden und davonfliegen. Ein andermal stört ihn ein Kind beim Spielen und zur Strafe dafür lässt er den Jungen verdorren wie einen alten Baum.
Kein Wunder, dass die Eltern, Joseph und Maria, in den Thomas-Geschichten mit ihrem Kind viel Ärger haben. Dauernd beschweren sich die Leute im Dorf bei Joseph über seinen Sohn, weil er Leute, die ihm zuwider sind, in Böcke verwandelt oder blind werden lässt. Joseph zieht Jesus kräftig am Ohr und fordert ihn auf, mit diesem Unsinn aufzuhören, weil er sonst noch das ganze Dorf gegen die Familie aufbringt. Mehr fällt ihm auch nicht ein. Immerhin kann Jesus, laut Thomas, mit seinen Zauberkräften auch Gutes tun. Seinen Bruder Jakobus etwa macht er wieder gesund, nachdem der von einer Schlange gebissen wurde.
Auch Joseph selbst hat Vorteile von seinem wundersamen Sohn. Er ist nämlich in den Kindheitsgeschichten des Thomas ein ziemlich schlechter Zimmermann, dem oft etwas schiefgeht. Einmal soll er für einen reichen Auftraggeber ein Bett machen. Die seitlichen Bretter, die er dazu schreinert, sind aber unterschiedlich lang und Joseph ist ratlos. Zum Glück kommt ihm Jesus zu Hilfe, der das zu kurze Brett anfasst und wie mit Zauberhand auf die richtige Länge streckt.
Natürlich ist Jesus in diesem sogenannten Kindheitsevangelium allen anderen an Wissen und Weisheit überlegen. Darum können ihm auch Lehrer nichts mehr beibringen. Der Erste, der das versucht, ist ein Lehrer namens Zachäus. Er will Jesus das Alphabet lehren. Stattdessen erklärt ihm Jesus den tieferen Sinn der Buchstaben. Zachäus ist schließlich völlig verzweifelt darüber, dass ein Kind ihm so haushoch überlegen ist.
Der zweite Lehrer, zu dem Joseph seinen Sohn schickt, reagiert rabiater auf den Schüler, der klüger ist als er. Er schlägt zu, woraufhin Jesus ihn ohnmächtig zusammenbrechen lässt. Erst der dritte Lehrer erweist sich als ein guter Lehrer, weil er die Überlegenheit seines Schülers anerkennt und ihn demütig zu seinen Eltern zurückbringt.