Inhaltsverzeichnis
That sob through the wall
which bolts my heart
with its pure distress,
start-stops, and I’m left
in the prickly dark
with my eyes open wide
to a broken-off dream
still alive in my head.
Andrew Motion,
BAD DREAMS, I, DERBY TO PANCRAS,
AUS: LOVE IN A LIFE
1
Als ich in die Küche kam, konnte ich gerade noch dem nassen Geschirrtuch des Küchenchefs ausweichen. Der Maître, der neben der Tür stand, bekam es voll ins Gesicht. Es folgte ein Moment der Stille, in dem nahezu die vollzählige weiße Brigade auf den kopflosen Mann starrte. Niemand rührte sich. Dann hörte man einen ergebenen Seufzer. Der Maître nahm das Tuch von seinem Gesicht, legte es auf einen Tisch, zog die Augenbraue hoch und bedachte den Chef de cuisine mit dem Blick, den Biologen für eine interessante Schneckenart reservieren.
»Du«, schrie der Chef, unbeeindruckt von so viel Phlegma, »verdienst es nicht, zu leben! Wenn du deinen pockennarbigen Scheißkopf heute abend noch ein einziges Mal in der Küche zeigst, hack ich ihn eigenhändig ab.«
»Leo«, sagte ich, während ich in den Raum trat, der die beiden Männer voneinander trennte, »spüre ich da einen leichten Unfrieden?«
Der Koch starrte mich an, als hätte er keine Ahnung, wer ich war. Dann nickte er wild in Richtung des Maître. »Vier Lachs! Versaut! Weil sie die Teller zu lang haben stehenlassen! Amateure! Hinterwäldler!« Er griff nach einem Stieltopf und hob ihn hoch. Dann ging ihm auf, daß ich zwischen ihm und dem Maître de service stand. Er ließ den Topf sinken und schüttelte mutlos den Kopf.
»Meine Herren«, sagte ich. »Ich habe weder Zeit noch Lust für bilaterale Gespräche. Wir haben die Bude voll, und da hauen ein paar Typen australischen Wein weg, als ob es Cola wär.« Ich sah den Maître an. »Ich möchte, daß sie die restlichen Gänge im Eiltempo bekommen. Schneiden, Rasieren, ein Pfefferminz – und ab die Post, Herr Appelmans. Und zwar ein bißchen dalli.«
Der Maître öffnete den Mund ungefähr fünf Millimeter weit und schien etwas sagen zu wollen, schloß ihn aber wieder, als er meinen Blick sah. Er nickte knapp und verschwand durch die Schwingtür. Der Koch drehte sich brüsk um, schnappte sich einen Topf und schlappte nach hinten. Die Küche erwachte wieder zum Leben. Töpfe wurden auf Herde geknallt, Butter begann zu zischen, und irgendwo hackte jemand mit einem Beil auf eine Lende ein.
Ich verließ die Küche und begab mich nach oben, in den zweiten Stock, wo sich ein Gast über die Rezeption beschwert hatte. Ich drückte die schwere braune Tür zum Treppenhaus auf und stieg zum x-tenmal an diesem Tag nach oben.
Hotel-Restaurant De Witte Bergen hat zwölf Zimmer, verteilt auf zwei Etagen. Der oberste Stock, unter dem Dach, beherbergt das Appartement, in dem ich wohne. Meine Aufgabe als Besitzerin und Direktorin von De Witte Bergen scheint manchmal in erster Linie aus Treppensteigen zu bestehen. Die Zimmermädchen müssen kontrolliert, Zimmer überprüft werden. Es gibt Gäste, die persönliche Betreuung brauchen, und wenn jemand auscheckt, überprüfe ich selbst, ob in dem betreffenden Zimmer neue Glühbirnen nötig sind, die Tapete beschädigt ist oder ob es sonst etwas gibt, worum ich mich kümmern muß. Und dann gibt es noch mein eigenes Appartement, in dem ich wohne, schlafe und esse. Wir haben einen ausgezeichneten Koch, und ich sitze gern an seinem Tisch, bestehe aber darauf, mich an vier Tagen pro Woche selbst zu versorgen. Und so gehe ich täglich unzählige Male von oben nach unten und von unten nach oben.
Nachdem ich kurz bei dem Gast vorbeigeschaut hatte, der sich nicht beschweren, sondern nur wissen wollte, ob er auf seinem Fernseher BBC empfangen könne, ging ich weiter in meine Wohnung, in der die untergehende Sonne eine sanfte orangefarbene Glut auf die Wände legte. Ich machte die Balkontüren weit auf, und eine sanfte Brise wehte den klaren, salzigen Geruch nach Strand und Meerwasser herein.
Ich machte mich im Badezimmer frisch. Obwohl noch früh in der Saison, war es ein warmer Tag gewesen, sogar außerordentlich warm, und wenn mir etwas zuwider ist, dann die Klebrigkeit, die man am Ende eines langen Arbeitstags an sich spürt. Ich wusch mir das Gesicht, puderte die Wangen, fuhr noch einmal mit der Mascarabürste über meine Wimpern und zog mir die Lippen nach. Als ich mir Handgelenke und Hals parfümierte, sah ich mich plötzlich im Spiegel.
»Wirst du es schaffen heute, Liebste?«
»Natürlich. Ich schaff es immer. Weißt du doch.«
»Es ist ein harter Tag, warm, lang und hektisch …«
»Es ist ein hartes Leben, warm und …«
Ich eilte wieder nach unten. Im ersten Stock sah ich den Gast, den ich »den Oberst« nannte, aus dem Zimmer eines anderen Gastes kommen, einer Frau, der ich noch keinen Namen gegeben hatte, wohl aber eine Rolle. Etwas aus einem Tschechow-Stück, eine kränkelnde russische Antiheldin. Vielleicht »Mascha«. Ich ging weiter die Treppe hinunter. Als ich gerade die Schwingtür zum Restaurant aufdrücken wollte, sah ich in der Treppenbiegung einen ungefähr achtjährigen Jungen. Er saß auf dem Boden, Beine gekreuzt, Rücken an der Wand, und ordnete etwas, das wie ein Kartenspiel aussah.
»Tag, junger Mann. Gehörst du nicht zu der Hochzeit?«
Seine rechte Hand wanderte durch den Stapel und brachte ein paar Karten in die richtige Reihenfolge.
»Wie heißt du?«
»Florian.«
Wenn sie nicht Florian heißen, dann Ziv. Oder Maribel. Vor ein paar Wochen hörte ich am Strand eine Mutter ihr Kind rufen: »Bruce! Hol ma Demi un kumm her!«
Ich zeigte mit dem Kinn auf die Karten und fragte, was er da habe.
Der Junge hielt den Packen hoch. »Pokémon«, sagte er. Er fing mit einer langen Geschichte an von den Eigenschaften der Tiere, die auf den Karten abgebildet waren, und wie diese sich eventuell weiterentwickeln konnten.
»Weiterentwickeln …«
Er nickte und wollte gerade damit loslegen, mir die Finessen der Pokémon-Biologie zu erklären, als ich ihm die Hand auf die Schulter legte.
»Hör zu«, sagte ich. »Ich würde das gern wissen, aber ich arbeite hier und kann nicht zu lange fortbleiben, und dich vermissen sie auch bei Tisch.«
»Ich find das Essen eklig«, sagte er.
»Ach …« Wir standen auf und gingen die paar letzten Stufen hinunter. Er legte wie von selbst seine rechte Hand in meine linke. »Was hattest du denn?«
Er zuckte mit den Schultern. Wir traten in den Saal und sahen auf die vielen Leute.
»Was magst du denn?«
Er warf mir einen leicht argwöhnischen Blick zu. Dann bewegte er wieder seine Schultern.
»Hör zu«, sagte ich. »Das ist mein Restaurant. Wenn ich sage, du kriegst etwas, dann kriegst du es auch.«
Sein Mund öffnete sich ein wenig. Er holte tief Luft und sagte: »Pommes?«
»Pommes«, sagte ich mit Nachdruck.
»Mit Apfelmus?«
»Natürlich mit Apfelmus. Was denkst du denn? Daß wir hier bei McDonald’s sind?«
»Und eine Krokette!«
»Pommes, Apfelmus und eine Krokette. Komm mit.« Wir gingen nach rechts durch die Schwingtür in die Küche und steuerten auf Leo zu. Der Koch hatte gerade den jungen Mann bei den Kaltspeisen an die Schulter geknufft und wollte ihm nun zeigen, wie Menschen, die im Besitz von mehr als einer Gehirnzelle sind, Ahornsirup über Eis gießen.
»Chef«, sagte ich. »Das ist Florian.«
Leo blickte wütend nach unten.
»Er beißt keine Kinder«, sagte ich zu dem kleinen Jungen. »Nur Erwachsene.«
Leo rang sich ein Lächeln ab.
»Dieser Gast sitzt an Tisch drei und muß Sachen essen, die er nicht mag. Eklige Sachen.«
»Eklige Sachen!« brüllte Leo.
»Ruhig, Chef.« Das Kind rückte näher an mich heran, und ich legte ihm die rechte Hand auf die Schulter. »Wir haben es hier mit einem Pocahontas-Kenner zu tun.«
»Pokémon«, ertönte es leise.
»Meine Kinder sammeln diesen Mist auch«, sagte Leo mild. Er seufzte. »Was soll’s sein, Frau Tinhuizen?«
»Pommes natürlich«, sagte ich. »Und … Was war’s gleich noch mal?«
»Apfelmus«, kam es leise.
»Apfelmus und …«
»Und eine Krokette«, prophezeite Leo. »Wir sind hier verdammt noch mal nicht …«
»… bei McDonald’s. Ja, das hab ich Florian auch schon gesagt.«
Der Koch seufzte. »Fünf Minuten«, sagte er. »Vielleicht zehn.«
Wir drehten uns um und gingen zur Schwingtür. Dort, während ich schon halb im Saal stand, sah sich der Junge um und sagte laut und deutlich: »Vielen Dank, Chef.« Leo, der in seinem weißen Kochkittel hinter den dampfenden Töpfen und Pfannen eine täuschende Ähnlichkeit mit einem südamerikanischen Diktator hatte, mußte plötzlich heftig schlucken.
Der Junge ging zu dem Tisch zurück, an dem der Hochzeitsgesellschaft gerade das Hauptgericht serviert wurde, als mein Blick auf den Maître fiel, der hoheitsvoll auf mich zuschritt.
»Tisch fünf möchte mit dem Dessert warten und hat noch mehr Wein bestellt.«
»Moment … Und was haben Sie gemacht?«
»Der Gast …«
Noch bis hier war es zu hören: das brüllende Gelächter holländischer Geschäftsleute, die tolle Typen sind und das auch jedermann kundtun wollen.
»Sagen Sie mir, Herr Appelmans: Was nützt mir ein Maître, wenn ich so etwas selbst lösen muß?«
Er blieb mir die Antwort schuldig.
Ich ging kopfschüttelnd zu besagtem Tisch.
Keiner von ihnen war viel älter als dreißig. Ich war doppelt so alt und hätte ihre Mutter sein können, aber das war ein Faktum, das sie nicht beeindrucken würde, diese neuen Herrscher, die Generation, die in den neunziger Jahren auf der Bildfläche erschienen war und die Errungenschaften unserer Sozialdemokratie für so selbstverständlich hielt, daß sie keine Probleme damit hatte, das Ganze kaputtzumachen. Ich sah sie schon, Jux und Fun und zuviel Geld. Sie trugen die Anzüge, die zu ihrem Job gehörten, und die Krawatten, denen sich diese Generation so widerstandslos gebeugt hat.
»Frau Tinhuizen!« ertönte es, als ich am Tisch stand. »Wenn Sie an die Börse gehen, kaufen wir alle Aktien.«
Und wieder dröhnendes Gelächter.