Wenn wir an einem Schulhaus vorbeigehen, auf die Uhr schauen oder einem Polizisten begegnen, finden wir das völlig selbstverständlich. Doch wie sind diese Dinge eigentlich in die Welt gekommen? Sie waren einmal philosophische Ideen.
Martin Burckhardt erzählt uns ihre Geschichten und beweist, dass die Philosophie nicht nur graue Theorie und unverständliches Gedankenexperiment ist, sondern ihre besten Ideen uns auf Schritt und Tritt begegnen. So erfährt man, dass die Vorläufer des Münzgelds Fleischspieße waren, das Kreuz ursprünglich ein Spottsymbol war und was die Demokratie mit dem Alphabet zu tun hat. Verständlich und amüsant zeigt der Autor wie die Philosophie unseren Alltag bestimmt.
 
 
Martin Burckhardt, geboren 1957, ist Kulturtheoretiker und Medienautor. Er studierte Germanistik, Theaterwissenschaften und Geschichte in Köln. Seit 1985 lebt er als freier Autor und Audiokünstler in Berlin. Neben seiner künstlerischen Arbeit lehrt er an der Hochschule der Künste, der Humboldt-Universität Berlin und an der FU Berlin. 2003 hatte er eine Gastprofessur an der Kunstakademie Nürnberg inne. Martin Burckhardt veröffentlichte zahlreiche Hörspiele, Essays, Vorträge und Bücher.

Martin Burckhardt

Wie die Philosophie
unsere Welt erfand

Mit Illustrationen
von Jörg Hülsmann

 

Einleitung

Ein Duft, ein Pullover, ein Handbuch der Verführung oder ein Navigationssystem – ja, das sind Dinge, die einem wirklich was nützen. Aber Philosophie! Muss man denn wirklich wissen, was tote Denker, an deren Namen sich kaum jemand erinnert, mal gedacht haben? Um Gottes willen, nein! Denn es ist zweifellos so, dass man, wenn man eine Bibliothek betritt, zuallererst einen Haufen Staub aufwirbelt; ganz zu schweigen einmal von all den Gedankensplittern, die längst von der Erdoberfläche verschwunden sind und die man eigens ausgraben müsste, eine Schädelstätte des Geistes, wie ein großer Denker dies einmal treffend charakterisiert hat.

Nein, wenn wir etwas wollen, wollen wir es jetzt. Denn nicht um irgendeine Nach- oder Hinterwelt, sondern um den Augenblick geht es uns: jetzt und hier. Andererseits: Stellen wir uns vor, dass sich unsere Träume einlösen, dass sich das Scheinwerferlicht ganz auf uns, nein, ganz auf mich, mich allein einstellen wird – was dann? Was wäre der große Gedanke, mit dem ich aufwarten könnte? Bei dieser Frage fällt mir eine Geschichte von Obelix ein, der nun wirklich nur Dinge kennt, die ihre Nützlichkeit unter Beweis gestellt haben (Hinkelsteine, Römer und gutes Essen). Obelix soll bei einer Theateraufführung auftreten. Und weil es sich um ein modernes Theaterstück handelt, bei dem es vor allem darauf ankommt, das Publikum zu erschrecken, sagt der Regisseur: »Es ist ganz egal, was du sagst. Sag einfach, was du willst!« Aber diese Aufforderung ist so fürchterlich beunruhigend, dass der Arme sich tagelang darüber den Kopf zerbricht (»die Botschaft, was ist mit der Botschaft?«), und als er dann auf der Bühne steht, wird ihm ganz grün, ganz rot, ganz gelb und ganz schlecht – und er sagt das Einzige, was ihm in diesem Augenblick einfällt: »Die spinnen, die Römer!« Das ist auch schon die ganze Obelix-Philosophie, in einem Satz zusammengefasst.

Das Verhältnis, das die meisten Menschen zur Philosophie unterhalten, entspricht exakt dem, das Obelix zur Botschaft unterhält. Wenn wir vor dem Spiegel stehen oder uns ein Butterbrot schmieren, da stört sie nicht weiter, die Philosophie, sie kommt erst ins Spiel, wenn die Leute unversehens im Scheinwerferlicht stehen und etwas Bedeutsames sagen sollen. Da wird sie zur Frage, die uns den Schweiß auf die Stirn treibt, den Mund austrocknen lässt. Tatsächlich aber ist die Annahme, dass die Botschaft auf eine höhere Bedeutung hinausläuft, der größte Irrtum. Denn die wirklich großen Gedanken der Philosophie sind von vornherein in unser Leben eingebaut – auf eine Art und Weise, die uns häufig gar nicht bewusst ist. Wer zum Beispiel hetzt die Kinder in die Schule und zwingt sie, lauter unnützes Zeug zu lernen? Ist es ein Naturgesetz, dass ein zwölfjähriges Kind, mit einem riesenhaften Scout-Ranzen ausgerüstet, in eine eisige Schule eilt, um dort die a-Deklination herunterzubeten? Nein, auch die Schule ist nichts anderes als ein angewandter Gedanke, die Einbildung nämlich, dass es auf die Bildung eines jeden Menschen ankommt (und aus rätselhaften Gründen hat sich hier die Einschätzung durchgesetzt, dass die a-Deklination ein probates Mittel ist, um brauchbare Juristen heranzubilden). Schaut man genau hin, so sieht man, dass vieles von dem, was wir für selbstverständlich halten, nur durch unsere Einbildung existiert – oder genauer, dass es deswegen existiert, weil wir alle daran glauben.

Nehmen wir einfachheitshalber diesen Schein, mit dem mein Verleger mir vor meiner Nase herumgewedelt hat. Gewiss, das ist Geld (und verführerisch viel noch dazu), dennoch unterscheidet es sich von dieser Buchseite nur dadurch, dass wir allesamt daran glauben, dass es etwas anderes ist als bedrucktes Papier. Schwankt dieser Glaube, wird sich der Geldschein in das zurückverwandeln, was er materiell ist: ein Fetzen bedrucktes Papier und nichts weiter. Nun kennen wir durchaus Zeiten, die den Glauben an den Schein verloren haben: Das Deutschland der Hyperinflation (1923) beispielsweise, eine Zeit, als man Schubkarren brauchte, um die Haufen wertlosen Papiers zu transportieren. In solchen Augenblicken begreift man, dass es doch wichtig ist, sich mit der Philosophie zu beschäftigen. Denn nur weil wir uns allesamt etwas einbilden, existiert es wirklich – und zwar genau so lange, bis jemand kommt und sagt, dass der Kaiser aber doch nackt ist.

Aber wann, außer im Märchen, haben wir schon einen nackten Kaiser gesehen? Genau das ist die Kunst der Philosophie. Zu einem nicht geringen Teil besteht sie darin, dass man etwas unsichtbar macht. Im Gegensatz zum Kaiser, der sich allüberall zeigt, haben die Gedanken eine Gedankentarnkappe auf. Nicht nur, dass die Gedanken als solche unsichtbar sind, man weiß oftmals gar nicht, dass man sie denkt – und gerade darin besteht ihre Macht. Von dieser Macht will dieses kleine Büchlein erzählen: nämlich dass vieles von dem, was wir automatisch denken, doch keineswegs von Natur aus so ist, sondern dass es einen Anfang gehabt hat.

Aber auch hier ließe sich wieder fragen: Warum muss ich wissen, woher etwas kommt? Muss ich, wenn ich einen Reißverschluss zuziehe, wissen, wer ihn erfunden hat? Nein, das muss ich keineswegs. Denn ein Reißverschluss ist wirklich leicht zu verstehen – und eine verborgene Macht ist ihm meines Wissens noch nicht nachgesagt worden. Genau darin besteht der kleine Unterschied: Denn die Gedanken üben, im Gegensatz zu solch handfesten Dingen wie einem Reißverschluss, gerade deswegen Macht auf uns aus, weil sie nur in unserer Einbildung stattfinden. Tatsächlich gibt es gar keine größere Macht als unsere Einbildung. So ist es durchaus töricht zu sagen: »Das ist nur Einbildung«, als ob es sich dabei um etwas Geringfügiges handelt, das mit einem Fingerschnipsen verschwindet oder dadurch, dass man sich einmal schnell in den Arm kneift. Nein, es wäre viel klüger, man nähme die Einbildungen ernst.

Nehmen wir noch einmal die Schule und stellen sie uns als eine gebaute Einbildung vor. Auf diese Vorstellung gestützt sieht man, dass das ganze Gebäude im Grunde um einen Gedanken herum gebaut ist, um eine Idee von Bildung, von der niemand so genau sagen kann, worin sie denn eigentlich besteht. Wir sehen die Verkleidung, die äußere Hülle, aber wir sehen nicht mehr, was drinnen steckt. In der Regel sagt man uns dann: »Schon die alten Griechen haben erkannt …« Rückt man aber einmal ganz nah an die Anfänge unserer Bildung heran, so passiert, was ein Schriftsteller einmal folgendermaßen ausgedrückt hat: »Je näher man ein Wort anschaut, desto ferner schaut es zurück.« Das Wort gymnos zum Beispiel, von dem sich unser Gymnasium herleitet, bedeutet ursprünglich »nackt«, woraus man wohl herleiten muss, dass die Antike weniger an der Grammatik als an einer Form des Bodybuildings interessiert war. Aber was ist das wiederum für eine Nacktheit? Und was hat sie mit unserer Bildung zu tun?

Nun müssen wir die Frage nach des Kaisers nackten Kleidern auch auf den Gymnasiasten ausdehnen, ja auf alle erdenklichen Gespenster, denen man im Leben unweigerlich begegnet: auf den Fiskus zum Beispiel oder die Evolution. Gewiss, man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass es sich dabei um Realitäten oder, stärker, um Naturtatsachen handelt, aber dann sollte man hinzufügen, dass wir sie nur deswegen als solche erleben, weil man uns gelehrt hat, daran zu glauben. Ich erinnere mich, wie mein Sohn, als er vier oder fünf Jahre alt war, auf jeden Fall noch nicht in der Schule, mit mir auf dem Fußboden lag und spielte. Ich hatte ihm gerade erklärt, was Darwin sich gedacht hatte, als er sich daran setzte, die Gesetze der Evolution zu beschreiben – und dass der Mensch früher einmal ein Affe gewesen war. Aber als ich das sagte, sah ich nun diesen kleinen Anflug eines Stirnrunzelns auf dem Kindergesicht. »Eins verstehe ich nicht, Papa. Warum gibt es dann noch Affen?«

Wenn man sieht, wie die großen Gedanken entstehen, verwundert man sich – und denkt: Wie hat aus diesem hässlichen Entlein etwas so Mächtiges werden können, wie kann ein Gedankenzwerg eine solch monumentale Größe annehmen? Andererseits ist dieser Blick ja durchaus tröstlich, sagt er uns doch, dass auch Riesen einmal klein angefangen haben, dass es sich also nicht von vorneherein um große, sondern um groß gewordene Gedanken handelt. Wie aber wird ein Gedanke groß? Wie kommt es, dass der Hort der nackten Schüler zu einer grundlegenden Einrichtung unserer Gesellschaft geworden ist, während andere Gedanken spurlos von der Bildfläche verschwunden sind (wie etwa die Überzeugung des Aristoteles, dass der männliche Samen im Gehirn des Mannes gebildet werde)?

Mit dieser Frage kommen wir zu einem heiklen Problem, das freilich schon im Titel des Buches, klammheimlich sozusagen, beantwortet ist. Denn man hätte sich ja ebenso gut hinsetzen und ein kleines Buch der großen Denker schreiben können. Warum ist statt von den Denkern von den großen Gedanken die Rede? Mit dieser Frage sind wir am Ausgangspunkt angelangt – also der Frage, ob man wirklich wissen muss, was tote Denker, an deren Namen sich kaum noch jemand erinnert, mal gedacht haben. Ist hier die Antwort ein unmissverständliches Nein!, so ist es doch andererseits so, dass es viele Gedanken gibt, die, auch wenn sie mehr als zweitausend Jahre alt sind, noch immer in unser Leben eingreifen. Und genau diese Gespenster, diese Wiedergänger, würde ich große Gedanken nennen. Jetzt, so könnte ein ebenso gewitzter wie widerborstiger Leser einwenden, landen wir doch wieder bei der Philosophie! Aber nein, würde ich antworten. Wenn ein Gedanke eine Wirkungsmacht annimmt, so steht er zumeist nicht in den Philosophiebüchern, sondern an der nächsten Ecke, in der Gestalt des Polizisten beispielsweise, der nur deswegen so heißt, weil es einmal eine Polis gegeben hat. Ja, studiert man die Geschichte der großen Gedanken, so ist man damit konfrontiert, dass viele von ihnen eigentlich gar keinen Urheber besitzen, dass wir also genötigt sind, uns mit Dingen ohne Denker zu beschäftigen. Nehmen wir nur die bereits angerissene Frage, was aus einem Stück bedruckten Papiers einen Geldschein macht, wie also eine ganze Gesellschaft auf den Glauben hat verfallen können, dass das aufgedruckte Zeichen wirklich einen Wert darstellt. Ist dies schon eine Revolution, so sind die Folgen dieses Glaubens noch viel mächtiger. Denn der Glaube hat ja wiederum andere Konsequenzen gezeitigt, nämlich die Vorstellung, dass sich der Wert des Geldes mit der Zeit und dem Zins noch vermehren soll. Und wird uns die Philosophie wohl darüber belehren, was die Kinderfrage zu wissen begehrt? Aber nein, ganz das Gegenteil ist der Fall! Kommt die Frage des Geldes aufs Tapet, so bekommt man es vor allem mit Denkern zu tun, die bestrebt sind, dieses Ärgernis aus der Welt heraus zu philosophieren – wie der Philosoph, der den Zins als Todsünde deklariert, mit der Behauptung, ein Zeichen sei schließlich kein Tier und könne deswegen keine Nachfahren bekommen.

Wenn das kleine Buch der großen Gedanken auf Fragen antwortet, so sind es nicht die Fragen, die in den Philosophiebüchern stehen, sondern diejenigen, die von einem Kind stammen könnten. Woher kommt das Geld? Was ist das? Und warum ist das so? Wenn diese Fragen sich stellen, so deswegen, weil sie in unser Leben eingebaut sind, weil wir, wo wir auch stehen und gehen, unweigerlich damit zu schaffen haben. Und aus diesem Grund gibt es dieses kleine Buch, das im übertragenen Sinn durchaus so etwas wie ein Navigationssystem sein will. Folglich geht es methodisch zur Sache und nimmt sich die großen, wirklichkeitsverändernden Gedanken in geschichtlicher Abfolge vor. Wenn der geneigte Leser will, kann er sich an diese Reihenfolge halten, die von den alten Griechen bis in unsere Gegenwart reicht; aber ebenso gut kann er sich seine eigene Tour durch die Geschichte der großen Gedanken zurechtstellen und eher genießerisch, mal hier, mal dort, eine Seite aufschlagen. Das ist eine Frage des Temperaments. Schön wäre nur, wenn man am Ende begriffe, dass dieses Büchlein gar nicht in Konkurrenz steht zu den so genannten nützlichen Dingen, sondern genau dasjenige ist, was man sich eigentlich gewünscht hat: ein Duft, ein Navigationssystem, ein Handbuch der Verführung. Und noch schöner wäre es, wenn man am Ende nicht nur den Nutzen des Geistes begriffe, sondern zu der Überzeugung gelangt wäre, dass der Gedanke das eigentliche Luxusobjekt ist: Geist ist geil!

Das ABC

Nach dieser Vorrede ist es nicht mehr verwunderlich, wenn das kleine Buch der großen Gedanken nicht mit einem Denker, sondern mit einem jener Gebilde beginnt, die keinen Urheber haben: dem Alphabet. Das Alphabet ist einer der folgenreichsten Gedanken überhaupt, und doch hat man keine Vorstellung, woher es eigentlich kommt, geschweige denn, wer es sich hat einfallen lassen. Wir haben also weder einen Vater des Gedankens noch eine Adresse, nur eine höchst befremdliche Kopflosigkeit. Das ist, so sonderbar das klingen mag, kein Einzelfall, sondern etwas, was die allergrößten Gedanken überhaupt charakterisiert. Sie sind plötzlich da – und wir wissen einfach nicht, wer sie in die Welt gesetzt hat. So haben die Griechen, denen wir die Erfindung des Alphabets zuschreiben, selbst zugestanden, dass sie es von den Phöniziern übernommen haben. Aber mit dieser Auskunft schwindet alle Gewissheit. Denn nun verliert man sich in einer Zeit, die die Altertumsforscher das dunkle Zeitalter nennen (etwa von 1300 bis 800 v. Chr.). Es war von Völkerwanderungen, Kriegen und Seuchen bestimmt – und ist bis heute mit dem Mythos und dem Namen Troja verbunden.

In diesem Sinn ist es durchaus kennzeichnend, dass das Alphabet nicht nach dem Vater des Gedankens benannt ist, sondern nach seinen ersten beiden Buchstaben: Alpha und Beta. Man könnte fast geneigt sein, hier zwei extraterrestrische Wesen zu sehen, zwei außerirdische Intelligenzen, die plötzlich in die Welt geraten sind (wie ein Schriftsteller einmal behauptet hat: »language is a virus from outer space«). Aber genau das ist nicht der Fall – und damit sind wir im Kern des Rätsels angelangt. Denn Alpha und Beta haben, bevor sie Stellvertreter für die gesprochenen Laute A und B wurden, etwas anderes bedeutet. Man kann diese Bedeutung noch sehen, wenn man das A auf den Kopf stellt und es sich als Bild denkt: Dann sieht man ein Haupt mit zwei Hörnern obendrauf – und wird sich nicht mehr wundern, dass das Bildzeichen den Ochsen im Joch bezeichnen soll. Nicht nur der Buchstabe Alpha, alle anderen Buchstaben haben eine solche Bildbedeutung besessen. Das Zeichen Beth etwa heißt nicht nur Bein oder Haus, sondern bezeichnet (was man in der Gestalt des B noch immer sehen kann) auch die weibliche Brust. Im Buchstaben Gamma, der unser C bedeutet, finden wir das, was die Verbindung von Mann und Frau beschreibt: die Gamie (die Hochzeit), ja überhaupt alles, was sich mit dem Aspekt der Verbindung beschäftigt, die Kooperation, Kohabitation, Kopulation. Und wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Alpha-Zeichen nicht nur den Ochsen im Joch bezeichnet, sondern insgesamt für die Fruchtbarkeit steht (das Alpha-Männchen sozusagen), so begreift man leicht, dass unser kleines ABC nichts anderes bedeutet als den Wunschgedanken der Familie, die Erzählung von Papa, Mama und Kind.

Nun hat man es in einer Welt, in der die Zeichen auf Bilder verweisen, immer mit einer Höher- und Niederwertigkeit der Zeichen zu tun (was sich bis heute noch im Chinesischen darin artikuliert, dass das Bildzeichen des verachteten Hundes zu einer Herabwürdigung des Zeichens führt, mit dem es kombiniert wird). Mit den Lautzeichen aber, die nichts bedeuten außer dem Laut (und die in der Logik überhaupt nichts mehr bedeuten), entsteht die Idee, die Zeichen beliebig austauschen zu können. Sie sind einander ebenbürtig. Fortan kann man sich ein X für ein U vormachen oder wie in der Algebra behaupten, dass A = B ist.

Mag die Vorgeschichte des Alphabets dunkel sein, so sind seine Folgen doch umso strahlender. Stellen wir uns vor, wir seien Chinesenkinder und wären genötigt, 60.000 Zeichen auswendig zu lernen. Niemals im Leben würde einer von uns behaupten können, ein Meister der Schrift zu sein. Wie viel einfacher ist es hingegen, wenn man die Welt der Zeichen auf 24 Elemente beschränken kann! Plötzlich kann sich jeder als ein Meister der Schrift fühlen. So besehen ist die Alphabetisierungskampagne der Griechen zugleich so etwas wie eine Demokratisierungskampagne. Denn nun sind es nicht mehr bloß die Priester, die über dieses Wissen verfügen. Bereits im 8. Jahrhundert vor Christus ist das Alphabet so gebräuchlich, dass nicht nur die reichen Griechen, sondern fast alle Volksschichten lesen können.

Nun könnte man fragen: Ist das Alphabet überhaupt ein Gedanke? Zweifellos, würde ich sagen. Nehmen wir nur das griechische Wort stoichos, das Buchstabe bedeutet. Aber darin erschöpft sich seine Bedeutung nicht. Stoichos heißt auch Element, und wie man weiß, beginnt die Philosophie mit der Frage nach den Elementen, aus denen die Natur zusammengesetzt ist. Man nimmt also an, dass die Natur selbst wie ein Alphabet funktioniert, das aus einer begrenzten Zahl von Grund-Elementen besteht. Thales (um 624 bis 546 v. Chr.), der als einer der ersten Philosophen gilt, behauptet, dass alles aus dem Wasser entstanden sei, andere wiederum werden behaupten, dass der Anfang die Erde sei oder die Luft. Und mit der Zeit und dem Fortgang der Debatte werden die Erklärungsversuche immer komplizierter, wird man von der Luft auf eine unbegrenzte Natur schließen – und wird der große Naturphilosoph Demokrit (460 bis 371 v. Chr.) die Lehre der Atome verkünden. Was all diese Gedanken gemein haben, ist, dass sie die Logik des Alphabets auf die Natur übertragen. Am Alphabet lernen die Naturphilosophen, dass die Frage nach den Elementen sinnvoll ist, ja, dass die einzelnen Elemente und Wirkstoffe in der Natur so miteinander verknüpft sind, wie die einzelnen Buchstaben eines Wortes miteinander verknüpft sind. Dabei versteht es sich von selbst, dass man die Natur nicht mehr als den Ort der Geister und Dämonen, der Erdgötter und feuerspeienden Drachen erlebt, sondern als materielle Logik. So wie der Buchstabe Alpha das Bildnis des Stiers abstreift, so streift die nach der Logik des Alphabets begriffene Natur die alten Götter ab.

Und nicht nur die Betrachtungsweise der Natur verändert sich, auch die Gesellschaft erfährt durch das Alphabet eine tiefe Veränderung. Erstmals nämlich werden Gesetze in Schriftform gebracht – mit dem Ergebnis, dass nun auch die Gesetzgeber sich der Schrift unterordnen müssen (was der Tyrannei enge Schranken setzt). Darüber hinaus wird mit der Rechtschreibung eine neue Instanz etabliert: die Justiz. Haben frühere Gesellschaften das Recht auf Blutrache gekannt, so vollzieht sich die Bestrafung der Übeltäter nur noch nach dem Buchstaben des Gesetzes.

Bei dieser Wirkungsmacht ist es erstaunlich, dass die Philosophen um diese Grundbedingung ihrer eigenen Disziplin stets einen großen Bogen gemacht oder sogar versucht haben, das Problem der Schrift zu verstecken. Sokrates beispielsweise wird nicht müde, die Buchstabengläubigkeit zu kritisieren. Sein Gegenmittel freilich verrät, wie eminent wichtig ihm die Schrift ist, kuriert er seine Schüler von diesem Übel doch ausgerechnet dadurch, dass er sie zu lebenden Büchern zu machen versucht. Man könnte fast sagen: Das Alphabet ist das verborgene Rätsel der Philosophie, die Leiche, die sie im Keller versteckt hält. Führt man sich allerdings vor Augen, was die Philosophie durch das Alphabet gewinnt, so versteht man durchaus, warum dies so ist. Denn nur das Zeichen, das mit seinem Bild die Sterblichkeit abgestreift hat, vermag die Illusion der Ewigkeit zu erwecken – die Illusion, als ob es immer schon so gewesen wäre. Und genau mit diesem Immer-Schon hängt zusammen, was man das Wunder der Philosophie nennt: die Entdeckung des Seins, das der Philosoph Parmenides Anfang des 5. Jahrhunderts als ein unzerstörbares, unveränderliches, ungeschaffenes Ganzes beschreibt.

 

Ca. 1500 v. Chr. Zu dieser Zeit gibt es die alphabetischen Zeichen schon, aber sie hatten eine ganz andere, nämlich bildliche Bedeutung.

Ca. 800 v. Chr Homer schreibt die Odyssee, die man sich aber nicht als Erfindung eines einzelnen Schriftstellers, sondern als eine kollektive Erzählung denken muss, die mit Homer einen Autor gefunden hat.

621 v. Chr. Drakon macht aus den ungeschriebenen Gesetzen der Athener eine geschriebene Ordnung (die freilich, auch bei kleinsten Vergehen, nur eine Strafe kennt: den Tod). Das, was wir Rechtsstaat nennen, ist ursprünglich geschriebenes Recht, Rechtschreibung.

Um 480 v. Chr. Parmenides schreibt Über die Natur, in dem er das Sein als unveränderbar, ungeschaffen und unzerstörbar beschreibt (was nichts anderes ist als eine Theorie der Ewigkeit).

Ab 400 v. Chr. Leukipp und Demokrit entwickeln den Atomismus, demzufolge das Universum aus kleinsten Teilchen zusammengesetzt ist. Diese Teilchen entsprechen dem Parmenideischen Sein: Sie werden als unendlich hart, unveränderlich und ewig gedacht.

Das Münzgeld

Neben dem Alphabet ist die zweite große Neuerung, die das alte Griechenland in die Welt entlassen hat, das Münzgeld: also das Geldstück, dem ein Nennwert aufgedruckt ist. Gewiss, Tauschmittel hat es in der Menschheitsgeschichte lange zuvor schon gegeben, mag es sich nun um Edelmetall oder um Kaurimuscheln gehandelt haben. Das Neue am Münzgeld aber ist, dass der Wert des Geldes nicht mehr von seinem Metallgehalt oder seiner Stofflichkeit abhängt, sondern sich nach seinem Aufdruck richtet. Wenn man diese Neuerung dem Alphabet an die Seite stellt, sieht man, dass sich hier ein gleichartiger Prozess vollzieht: Wie sich das Lautzeichen vom Bild löst, so löst sich der Nennwert des Geldes von der Substanz der Münze. Und so wie das Alphabet eine Umwälzung der Gesellschaft mit sich brachte, bewirkte auch die Verbreitung derartiger Münzen eine Revolution der Denkart, einen Riss, der auch den Griechen keineswegs unbemerkt geblieben ist. Nicht umsonst nennen sie die Zeit vor der Entdeckung der Maße die mythische Epoche, die Zeit danach die historische Epoche. Angeblich hat der sagenhafte König Pheidon von Argos diesen Wandel bewirkt (um 747), denn er soll das Geld und die Maße in die Welt entlassen haben. Die Datierung scheint insoweit richtig, als man bei der kurz zuvor niedergeschriebenen Odyssee noch keinen Verweis auf das Münzgeld findet.

Woher aber kommt nun das Geld? Fragt man zeitgenössische Ökonomen, so würden sie, ohne weitere Kenntnis der Geschichte, mutmaßen, dass man es aus praktischen Erwägungen erfunden habe. Sonderbarerweise ist dies nicht der Fall. Der Ort, an dem sich das Münzgeld herausbildet, ist der griechische Tempel, oder genauer: der Tempel, in dem die Griechen einer Staatsgottheit huldigten. Weil bei den Griechen grundsätzlich das Rind der Wertmesser war (man sprach etwa von einem 4-rindrigen, 12-rindrigen Wert etc.), verwundert es nicht, dass das vornehmste Opfer das Rind ist. Je nachdem, was der Opfernde von den Göttern verlangt, gilt es, einen anderen Opfertarif zu entrichten. Bei Staatsfesten werden Hunderte von Rindern geschlachtet, bei der Behebung kleinerer Sorgen nehmen die Götter auch kleinere Opfergaben entgegen (die Zunge, den Schwanz). Vor allem wird auf diese Weise die Bezahlung der Priester und anderer Personen geregelt, die für das Opferfest wichtig sind (die Sänger und Flötenbläser, die Wachmannschaften, die Schmiede und Töpfer, die die nötigen Gerätschaften anliefern). Bekommt die Gottheit den Schinken, bekommt der Priester den Schenkel, die anderen Helfer wiederum den ihnen zugedachten Teil. Bleibt etwas übrig, verteilt man es an die Bürger. Auf diese Weise verwandeln sich die Körperstücke des Tiers sozusagen zu einer Bio-Währung.

Als im Laufe der Zeit die Priester mehr Fleisch erhalten, als sie verspeisen können, nehmen sie ersatzweise die oboloi an, also die Bratspieße, an denen das Fleisch aufgespießt ist. Tatsächlich ist der obolos die älteste Münzeinheit, und in Argos, der Heimat des sagenhaften Königs Pheidon, wurden lange Zeit Bratspieße als Münzen genutzt (daher auch die Münzeinheit Drachme, die eine Handvoll Spieße bedeutet). So wird nachvollziehbar, dass in dem Maße, in dem der Obolus nicht mehr dazu genutzt wird, die dazugehörige Fleischportion einzufordern, sondern gegen etwas anderes eingetauscht wird, die Form eine andere werden muss. Irgendwann hat die Münze nicht mehr die Gestalt eines Bratspießes, sondern nimmt praktischerweise die Münzform an, die uns geläufig ist. Freilich halten viele Münzen, indem sie Tierformen nachbilden, noch lange Zeit die Fiktion aufrecht, es handele sich um Opfergaben. So sollen auch die ältesten Münzen, die in Athen kursierten, einen Opferstier gezeigt haben.

Sehr bald schon dringt die Münze, deren Funktion vor allem im Opferkult und in der Besoldung der dafür bestellten Staatspriester bestand, in das Alltagsleben ein. Schon das siebte Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung kennt Söldner – und im 6.