Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert
Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.
Internet: http://www.keltermedia.de
E-mail: info@kelter.de
Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74091-341-0
Helena von Meer warf ihrer Freundin Lara von Ellhoven einen verstohlenen Blick zu, aber Laras Gesicht verriet nichts von ihren Gedanken angesichts des sanierungsbedürftigen Gebäudes, vor dessen Haupteingang Helena jetzt den Wagen zum Stehen brachte. »Da wären wir«, sagte sie, als sie den Motor ausstellte. »Das ist Schloss Falckenstein, Lara.«
Sie machte Anstalten auszusteigen, zögerte jedoch, als sie sah, dass ihre Freundin sich nicht rührte. »Was ist denn?«
Langsam, wie in Zeitlupe, wandte Lara sich ihr zu. »Das soll ein Scherz sein, oder?«, fragte sie. »Du willst mir doch nicht im Ernst erzählen, dass du diese Ruine kaufen willst, Lena!«
»Das will ich tatsächlich nicht, weil ich es nämlich schon getan habe«, erklärte Helena und stieg entschlossen aus.
Also auch Lara, dachte sie. Die wenigen Verwandten und Freunde, denen sie das Schloss bisher gezeigt hatte, waren alle mehr oder weniger entsetzt von ihrer Absicht gewesen, es zu kaufen und hatten ihr dringend abgeraten. »Auch wenn du Architektin bist, Kind«, hatte ihr Vater gesagt, »hiermit übernimmst du dich. Das ist ein Fass ohne Boden, du wirst deines Lebens nicht mehr froh werden. Hör auf mich und lass die Finger davon.«
So oder so ähnlich hatten sich auch die anderen geäußert. Lara, ihre beste Freundin, war ein paar Wochen unterwegs gewesen, deshalb sah sie das Schloss erst jetzt zum ersten Mal. Helena hatte so sehr gehofft, wenigstens Lara würde auf ihrer Seite sein, doch danach sah es nicht aus.
Sie stieg aus und trat ein paar Schritte zurück, um Schloss Falckenstein, das seit einigen Tagen ihr gehörte, noch einmal in Augenschein zu nehmen. Dabei versuchte sie, es mit den Augen der anderen zu sehen, nicht mit ihren eigenen, denn sie war ja vom ersten Moment an verliebt in das Gebäude gewesen und sah es deshalb, das war ihr durchaus bewusst, durch die berühmte rosarote Brille. Es war ein kleines Schloss, das schmal und hoch aufgereckt auf seiner Anhöhe stand. Vier Türme hatte es, einer davon war praktisch vollständig eingefallen, die anderen hatten lediglich ihre spitzen Dächer verloren. Auch das Dach des Hauptgebäudes war in einem sehr schlechten Zustand, sie würde es neu decken lassen müssen. Das Gebälk jedoch war noch bestens in Ordnung, das hatte sie selbst untersucht.
Natürlich mussten sämtliche Fenster ausgetauscht werden, auch über eine Zentralheizung verfügte Schloss Falckenstein nicht. Aber es gab mehrere Kamine, von denen zumindest einer noch funktionierte, bei den anderen mussten erst die Abzugsschächte freigeräumt werden. Auch die Fußböden waren schadhaft, sie würde sie fast überall erneuern müssen, doch die Grundsubstanz des Gebäudes war gut: Das Mauerwerk dick, solide und trocken. Nach der Sanierung würde Schloss Falckenstein ein Schmuckstück sein.
Sie ließ den Blick über das verwilderte Grundstück schweifen, und vor ihrem inneren Auge erschien ein Park, wie sie ihn aus Sternberg kannte: angelegt wie ein englischer Landschaftsgarten, mit verschlungenen Wegen, Wasserläufen, kleinen Inseln. Sie sah wandhohe Rhododendronbüsche, hier und da ein üppiges Blumenbeet, vielleicht eine kleine Allee, und schließlich würde der neue Park in einen lichten Mischwald übergehen. Die Leute würden in Scharen kommen, um das neue Schloss Falckenstein zu bewundern …
Sie hörte eine Wagentür zuschlagen, im nächsten Augenblick sagte Lara: »Willst du dich die nächsten zehn Jahre hier vergraben, um diese Bruchbude bewohnbar zu machen? Willst du Familie und Freunde vernachlässigen, nur um zu beweisen, dass du es schaffst, das hier wieder aufzubauen? Ich glaube dir, dass du es schaffen kannst, auch ohne dass du den Beweis antrittst.«
Helena drehte sich zu ihrer Freundin um. »Ich dachte, wenigstens du würdest mich verstehen«, sagte sie traurig.
Lara drehte sich um und nahm das Schloss, das diesen Namen im Augenblick wahrhaftig nicht verdiente, noch einmal in Augenschein. Einige Sekunden lang schwiegen sie beide, bis Lara sich wieder ihrer Freundin zuwandte. »Nein«, erwiderte sie. »Ich verstehe es nicht, Lena. Oder sagen wir so: Ich kann verstehen, dass es dich als Architektin reizen würde, dieses Schloss für einen Kunden bewohnbar zu machen. Das wäre ein großer Auftrag, der dich ein paar Jahre lang gut beschäftigen würde, und am Ende käme bestimmt etwas Schönes dabei heraus. Aber dass du selbst diese Ruine kaufst und beabsichtigst, hierherzuziehen und praktisch deine Freizeit diesem Gemäuer zu widmen, das verstehe ich überhaupt nicht. Wie soll denn dein Leben in den nächsten Jahren aussehen? Willst du dich hier vergraben oder was hast du vor?«
»Ich wohne doch nur ein paar Kilometer außerhalb der Stadt«, erwiderte Helena. »Und du weißt, dass ich gern selbst Hand anlege. Wenn ich hier wohne, bin ich doch nicht aus der Welt! Wir werden weiterhin essen gehen oder ins Restaurant oder ins Theater. Und wenn ich einen Auftrag bekomme, werde ich ja auch weiterhin in der Stadt arbeiten.«
»Aber du wirst zunächst einmal deine ganze Kraft in dieses Gemäuer stecken«, erwiderte Lara. »Dabei hast du vor deinem Abschluss gesagt, du würdest versuchen, in der Stadt eine feste Anstellung zu finden.«
»Das habe ich auch immer noch vor, nur werde ich mir jetzt mehr Zeit lassen. Ich muss nicht unbedingt sofort Geld verdienen.«
»Was sagen eigentlich deine Eltern zu dieser Geschichte?«
Helena trat rasch auf ihre Freundin zu und umarmte sie. »Sie sagen genau das Gleiche wie du und alle anderen, Lara. Und jetzt mach nicht länger so ein Gesicht, komm mit, ich zeige dir, wie es innen aussieht.«
Lara folgte ihr mit skeptischem Blick. Sie ließ sich im ganzen Schloss herumführen, gab bereitwillig zu, dass die Wandmalerei in einem Raum, der Mosaikfußboden im nächsten wunderschön waren, aber mehr als Helena nahm sie wahr, was der Zahn der Zeit in dem Gebäude bereits angerichtet hatte. Doch da sie wusste, dass es zu spät war, um ihre Freundin noch von dem Kauf abzubringen, behielt sie ihre Erkenntnisse für sich. Was Helena jetzt brauchte, waren nicht weitere mahnende Stimmen, sondern Unterstützung, das war ihr in den letzten Minuten klar geworden.
»Ich helfe dir«, sagte sie, als sie schließlich auf den abbröckelnden Stufen saßen, die zum Eingang hinaufführten. »Ich bin handwerklich nicht so begabt wie du, aber ich kann dir zuarbeiten, wenigstens gelegentlich an den Wochenenden. Während der Woche habe ich keine Zeit, das weißt du ja.«
Laras Familie war weniger begütert als die ihrer Freundin. Lara hatte nach ihrer Ausbildung eine Anstellung bei einer Bank gefunden und war mit ihrer Arbeit dort sehr zufrieden, während Helena von einer ihrer Großmütter ein beachtliches Vermögen geerbt hatte, das ihr auf Jahre hinaus ein Leben ohne Arbeit hätte garantieren können. Doch Helena konnte dem süßen Nichtstun auf Dauer nichts abgewinnen. Sie wollte als Architektin arbeiten und mit dem Geld ihrer Großmutter etwas ganz Besonderes anfangen. Nun hatte sie von einem Teil ihres Vermögens ein sanierungsbedürftiges Schloss gekauft.
Gerührt gab sie Lara einen Kuss auf die Wange. »Ich danke dir. Du bist die Erste, die mich zwar für verrückt hält, mir aber trotzdem helfen will.«
»Findest du dich nicht auch ein bisschen verrückt?«, fragte Lara. »Ich meine, das ist ein Fass ohne Boden hier, Lena. Das kann irgendwann ganz toll werden, das bezweifele ich nicht, aber bis dahin wirst du es nicht sehr angenehm haben.«
»Ach, du kennst mich doch, ich liebe Abenteuer, und ich mag es auch, wenn nicht alles hundertprozentig berechenbar ist«, erklärte Helena unbekümmert und versuchte zu überspielen, dass Lara durchaus einen wunden Punkt getroffen hatte. Natürlich waren ihr solche Gedanken auch schon gekommen, erst gestern Abend hatte sie wieder gedacht: Was habe ich bloß getan? Aber solche Gedanken verschwanden auch schnell wieder, und bisher war ihr noch bei jedem Besuch auf Falckenstein das Herz aufgegangen.
»Und wenn das schiefgeht?«, fragte Lara zögernd. »Ich weiß, dass du ziemlich viel Geld hast, aber irgendwann wird es ausgegeben sein. Es wäre doch möglich, dass dein Geld nicht für die Sanierung reicht. Was machst du dann?«
»Ich werde nur das, was ich auf keinen Fall selbst machen kann, von anderen machen lassen. Das Dach zum Beispiel und den Einbau der neuen Heizung. Für das Einsetzen der neuen Fenster suche ich mir einen guten Handwerker, der das mit mir zusammen machen kann. Ich habe das Schloss auch gekauft, weil ich noch einiges lernen will, Lara. Als Architektin kann ich gar nicht genug über die verschiedenen Handwerke wissen. Ich bin noch jung, und erst einmal habe ich Zeit. Was soll also schon passieren?«
»Und wann willst du hierherziehen?«
Es war einen Moment lang still, bevor Helena mit leiser Stimme sagte: »Der Umzug ist am nächsten Wochenende. Es hat keinen Sinn, damit noch zu warten. Wenn ich vor Ort bin, erkenne ich besser, was gemacht werden muss.«
Es gelang Lara nicht, ihr Entsetzen zu verbergen. »Nächstes Wochenende? Du hast nicht einmal eine funktionierende Toilette hier, keinen Strom, kein fließendes Wasser! Das Dach ist undicht, es …«
»Weiß ich doch alles. Die Dachdecker fangen schon morgen an, keine Sorge. Zeitgleich werden die Türme saniert und der lose Putz wird abgeklopft. Außerdem kommen die Installateure wegen des Wassers und der Heizung.«
»Du wirst in Lärm und Dreck leben, auf Monate hinaus.«
Helena nickte. »Aber zugleich sehe ich, wie aus diesem baufälligen Schloss ein Schmuckstück wird. Ich bin sozusagen dabei, wie ein Rohdiamant seinen Schliff erhält. Wenn du es genau wissen willst, Lara: Ich kann es kaum erwarten.«
»Und was wirst du tun, während diese Arbeiten gemacht werden?«
»Zuerst die Fenster«, erklärte Helena. »Bis jetzt ist das nämlich ein ziemlich zugiger Ort, mein Schloss, aber es ist ja zum Glück noch ziemlich warm. Und dann fange ich an, die Tapeten abzureißen und die Fußböden abzuschleifen, so weit sie aus Holz sind.«
»Wahnsinn«, sagte Lara. Ihre Stimme klang anders als zuvor. »Ein bisschen beneide ich dich um deinen Mut, muss ich gestehen. Sich ein solches Projekt vorzunehmen, von dem man nicht genau weiß, ob es einem am Ende nicht über den Kopf wächst, dazugehört schon was.«
Sie blieben noch eine ganze Weile auf den Stufen sitzen, denn es war ein schöner Spätsommertag. Helenas goldblonder Kopf neigte sich dem dunklen ihrer Freundin zu, sie entwarf ihr mit so begeisterter Stimme die Zukunft ihres neuen Zuhauses, dass Lara sich dem nicht länger entziehen konnte: Auch sie begann ein strahlend renoviertes Schloss mit einem wunderschön angelegten Park vor sich zu sehen, auch sie vergaß, dass nicht einmal die Stufen, auf denen sie beide saßen, intakt waren.
Erst als sie einige Zeit später wieder in Helenas Wagen stiegen und Lara einen letzten Blick auf das alte Gemäuer warf, erinnerte sie sich wieder an ihren ersten Eindruck und erschrak noch einmal. Selbst im milden Licht der allmählich untergehenden Sonne sah man deutlich, dass Schloss Falckenstein mehr oder weniger eine Ruine war.
*
»Es gibt ein Problem, Herr von Ermaning«, sagte Victor von Poordt, als sein Auftraggeber an diesem Montag anrief, um sich nach den Fortschritten zu erkundigen, die Victor erzielt hatte.
»Was für ein Problem?« Wolfgang von Ermanings Stimme klang unwirsch. »Sagen Sie mir jetzt nicht, Sie haben plötzlich doch keine Zeit, die Statue für mich zu suchen.«
»Zeit habe ich, aber die junge Frau, von der ich Ihnen erzählt habe, hat das Schloss gekauft, das heißt, ich kann mich dort nicht mehr ungehindert bewegen.«