Im
Tempel
Als Mendek und Pepi aus dem Palast kamen, fuhr sogleich der Diener mit dem Wagen vor. Während
Mendek gearbeitet hatte, hatte er die Pferde ausgespannt, im Stall des Palastes untergestellt und
zusammen mit den Dienern der anderen Schreiber gewartet.
»Zum Tempel!«, rief Mendek ihm zu.
Schon knallte er mit der Peitsche und los ging es. Der Wind ließ Pepis weißes Gewand flattern.
Viel zu schnell waren sie vor den gewaltigen Mauern und Säulen des Tempels angekommen.
Als sie durch das hohe Portal geschritten waren, fielen Pepi zuerst die vielen Bettler im Hof des
Tempels auf. Überall hatten Straßenhändler ihre Stände und verkauften den weiß gekleideten Leuten
aus Memphis Weihrauchkerzen und Opfergaben. Lämmer meckerten, Vögel krächzten und flatterten in
ihren Käfigen. Es roch nach Staub, Tieren und den geweihten Salben, die nur hier zu kaufen waren.
Mit all dem mischte sich der süßliche Geruch der großen Liliensträuße, die angeboten
wurden.
Mendek nahm geweihtes Brot aus einer Schale, die ihm ein alter Mann hinhielt, und teilte es mit
Pepi. Dann zeigte er ihm einen Priester, der durch einen langen Säulengang aus dem Innern des
Tempels kam und an seinem glatt geschorenen Kopf zu erkennen war. Über seinem strahlend weißen
Leinengewand trug er ein Leopardenfell. Pepi beobachtete ihn, als er auf einem Tablett die
Opfergaben sammelte, die vor einer riesigen Säule abgelegt worden waren.
»Für den Sonnengott Re!«, flüsterte Mendek und Pepi erstarrte fast vor Ehrfurcht. »Er ist der
Vater der Katzengöttin Bastet.«
Pepi fiel ein, was Ta-is von ihrer Katze erzählt hatte. »Kann ich sie sehen?«, fragte er ganz
aufgeregt.
Mendek schüttelte den Kopf. »Die Geister der Götter sind im Inneren des Tempels«, sagte er. »Dort
stehen auch die Götterstatuen. Dort, wo kein Licht hinfällt. Außer dem Hohepriester und dem
Pharao darf niemand hineingehen. Die Priester müssen sehr reinlich leben. Deshalb müssen sie
viermal am Tag baden und sich alle Haare abrasieren. Dafür dürfen sie die Götterstatuen waschen,
kostbar ankleiden und schminken.«
»Es gibt viele Götter! Sehr viele!«, sagte Mendek. »Jede Stadt hat ihre besonderen Götter. Die
Götter von Memphis sind Ptah und Sachmet. Ptah wird von den Künstlern besonders verehrt. Er hat
die Welt durch seinen Gedanken geschaffen. Und Sachmet ist eine von Res Töchtern und Ptahs Frau.
Sie sieht wie eine Löwin aus.«
»Eine Göttin wie eine Katze, die andere wie ein Löwe …«, sagte Pepi nachdenklich.
»Die Götter haben viele Gestalten!«
Mendek nickte. »Einige sehen wie Menschen aus, andere sind halb Mensch und halb Tier. Deshalb
werden auch die Tiere so verehrt! Wollen wir einem Gott ein Opfer bringen?«
»O ja, der Katzengöttin!«, rief Pepi begeistert und half dem Schreiber ein paar besonders schöne
Lilien für sie auszusuchen.
»Wenn du den Göttern Opfer bringst, kannst du sie auch um etwas bitten«, sagte Mendek, als er mit
dem Jungen die Lilien niederlegte.
»Auch die Katzengöttin?«
Mendek nickte.
»Und werden die Bitten erfüllt?«
»Manchmal«, antwortete Mendek.
Da schloss Pepi ganz fest seine Augen, kniete nieder und sagte so leise, dass ihn niemand hören
konnte: »Wenn du einmal den Fluss hinaufkommst, schau doch nach meinen Eltern, nach meinen
Brüdern und Schwestern und nach unserm Hund. Hilf ihnen, dass es ihnen gut geht!«
Er stand auf und ging hinter Mendek her.
Macht Platz für den großen
Pharao
Sie waren bereits ein ganzes Stück gegangen, als plötzlich laute Rufe hinter ihnen ertönten.
Sogleich packte Mendek Pepi am Arm und riss ihn zur Seite. Sie drückten sich zusammen mit vielen
anderen Menschen eng an eine Mauer. Es gelang Mendek sogar noch, den Eingang zum Garten eines
fremden Hauses zu erreichen. Hier konnten sie etwas geschützter stehen und wurden nicht von
anderen um- und mitgerissen. »Der Pharao!«, ertönte ein Ruf. Ein zweiter folgte. Und dann sahen
sie viele Diener mit weißen Lendenschurzen und Stangen in den Händen. »Macht Platz für den großen
Pharao, den König und Gott!«, riefen sie. Die Menschen sanken zur Erde, knieten nieder,
verbeugten sich tief und brachen in laute Hochrufe aus. »Heil dir, großer Pharao! Du sollst ewig
leben und Ägypten wird dich immer verehren!« Dann kamen Diener, die zwischen sich eine Sänfte
trugen und mit eiligen Schritten vorwärtsstrebten. Auf der Sänfte lag der Pharao in seinen
kostbaren Kleidern, mit der weißen Krone auf dem Kopf und goldenen Sandalen an den Füßen. Er war
zu schwach, um sich aufzurichten. Aber er hielt seinen Krummstab und die Geißel als Zeichen
seiner Macht in den Händen. Mendek reckte sich ein wenig, sodass er besser sehen konnte. »Er
trägt auch den Kinnbart!«, flüsterte er Pepi zu. Dann fiel er wieder auf seine Knie.
Neben den Trägern liefen weitere Diener, die dem Pharao mit Fächern an langen Stangen Luft
zufächelten. Träger mit einer zweiten Sänfte folgten. Sie trugen die Frau des Pharaos. Sie saß
aufrecht in der Sänfte, war ebenso kostbar gekleidet und geschminkt und trug eine kunstvolle
Krone auf ihrer schwarzen Perücke. »Der Pharao ist todkrank!«, sagte Mendek leise, als der Zug
vorbei war und sie weitergehen konnten. »Jetzt lässt er sich noch einmal zu seinem Grabmal
tragen. Er will überprüfen, wie weit sie jetzt sind. Ob die Wände schon kunstvoll bemalt sind und
ob die Sachen, die er später im Reich des Todes brauchen wird, bereitstehen.«
»Und wenn er morgen schon stirbt?«, fragte Pepi.
»Dann wird sein Sohn der neue Pharao sein und dafür sorgen müssen. Und es dauert noch lange, bis
er endlich in sein Grab gebracht werden kann. Vorher werden ihn die Priester präparieren. Sie
werden seinen Körper aufschneiden und alles, was verwesen kann, entfernen.«
»Und dann?«, fragte Pepi. Es war so spannend zu hören, was sie mit dem toten Pharao
anstellten.
»Er wird innen mit Natron gefüllt, sodass er ganz austrocknet. Sie wickeln Binden um ihn herum
und kostbare Tücher. So balsamieren sie ihn ein. Und wenn das alles geschehen ist, setzen sie ihm
eine wunderschöne Maske aus Gold auf. Dann ist er eine Mumie geworden und sie legen ihn in einen
goldenen, kunstvoll gemalten Sarg. Um diesen inneren Mumiensarg kommt noch ein zweiter, der
ebenso wertvoll ist.« »Und dann?«, fragte Pepi weiter.
»Dann kommt irgendwann der Vogel
Ba angeflogen, und auf einen Zauberspruch hin kehrt die Seele des Pharaos in seinen Körper
zurück. In die Mumie, die von seinem Körper übrig geblieben ist.«
»Dann wird er endlich in sein Grab gebracht? «, fragte Pepi.
Mendek nickte. »Deshalb will er jetzt schon sicher sein, dass er später all das in seinem Grab
findet, was er braucht und was ihm wichtig ist: seine Schätze, zu essen und zu trinken, seine
Möbel, seine Sänfte, seine Pferde … Und wenn alles in dem Grab ist, wird es zugemauert und darf
nie wieder geöffnet werden.«
»Und es ist mitten in der riesigen Pyramide! «, fügte Pepi hinzu.
Dann blieb er abrupt stehen. »Das verstehe ich nicht!«, meinte er zögernd. »Die Pferde sterben
doch, wenn das Grab zugemauert wird …«
»Sie werden vorher getötet, damit sie im Totenreich wieder leben können!«
»Und die Diener? Mendek, er braucht doch seine Diener, die alles für ihn tun müssen, die die
Pferde anschirren, ihm das Essen zubereiten, die Sänfte tragen … Er kommt doch im Totenreich
nicht ohne seine Diener aus!«
»Sie müssen auch vorher sterben!«, antwortete der Schreiber leise. »Sie werden wieder mit ihm
leben und ihm dienen, wenn er einst im Reich des Todes regieren wird.«
Schweigend gingen sie nebeneinander her. »Morgen komme ich in die Schule!«, sagte Pepi zu Lara,
die ihn mit dem Äffchen auf dem Arm begrüßte. Sofort sprang der kleine Affe auf seine Schulter
und keckerte zufrieden. »Wir haben den Pharao gesehen! «, sagte Pepi.
Als Lara aber mehr von ihm wissen wollte, schüttelte er nur den Kopf und ging in sein Zimmer. »Es
gibt bald Mittagessen!«, rief sie ihm nach.
Ein neuer
Lebensabschnitt
Die Tage waren für Pepi so ausgefüllt, dass er sich wunderte, wie schnell das erste Jahr
herumgegangen war. Mit den Jungen seiner Gruppe hatte er sich schnell angefreundet. Täglich
lernte er im Unterricht dazu. Am schönsten aber war es, wenn sie malen durften. Da lobte ihn
Inufru ganz besonders und gab ihm immer schwerere Aufgaben. Besonders Tiere hatten es Pepi
angetan. Deshalb erlaubte ihm sein Lehrer öfter als den anderen, in den großen Park des Pharaos
zu gehen, der von allen betreten werden durfte. Dort gab es auch einen kleinen Tiergarten, in dem
Pepi viele Tiere beobachten konnte. Zusammen mit Ani machte er sich dann auf den Weg und kam mit
Skizzen zurück, die er in der Schule später ins Reine zeichnete und ausmalte.
Einmal kam ein Priester aus dem Tempel in die Gruppe. Inufru stellte ihn den Schülern vor:
»Meresankh«, sagte er. »Er beaufsichtigt die Arbeit im Grabmal des Pharaos!« Der Priester
betrachtete die Säulen, die die Schüler bemalt hatten, und beschäftigte sich mit den Bildern, die
in der letzten Zeit entstanden waren. Pepis Bilder gefielen ihm besonders gut und Pepi erlaubte
es ihm gern, sich eines seiner Bilder auszusuchen und mitzunehmen.
Pepi und Ani waren die Einzigen, die noch zu Hause wohnten. »Es wird Zeit, dass ihr jetzt auch
ganz in der Schule lebt«, mahnte der Lehrer. »Sprecht mit euren Eltern darüber!«
So musste sich Pepi noch einmal von Menschen trennen, die er lieb hatte.
»Du kommst immer in den Ferien nach Hause!«, tröstete ihn Ta-is. »Und jeden Tag, an dem ihr
schulfrei habt!«, bestätigte Mendek.
Lara packte seine Sachen zusammen. Es waren inzwischen so viele geworden, dass eine Kiste nicht
ausreichte. Dann brachten Mendek und Ta-is den Jungen mit zwei Dienern zur Schule.
Pepi drehte sich noch mehrmals um, um allen zuzuwinken, die mit ihm bis zum Tor gekommen waren,
Lara und einige Dienerinnen und Diener … und das Äffchen auf Laras Schulter. Der Abschied von dem
Äffchen fiel Pepi besonders schwer.
Als sie durch die Straßen kamen, die sonst vor Lärm und Geschäftigkeit überquollen, war es
deutlich zu spüren, dass irgendetwas anders war. Die Leute liefen genauso schnell durcheinander
wie sonst. Aber sie waren viel stiller und blieben immer wieder stehen, um mit anderen zu
sprechen. Pepi bemerkte auch die vielen Soldaten, die sonst kaum zu sehen waren. Die Rufe ihrer
Anführer zerschnitten die Luft.
»Beeilen wir uns, dass wir zur Schule kommen!«, sagte Mendek leise und ging mit großen Schritten
voran.
Inufru begrüßte sie mit ernstem Gesicht. »Der Pharao ist tot!«, sagte er tonlos.
Sie standen eine Zeit lang herum, ohne sprechen zu können. Als Ani mit seinen Eltern und den
Dienern eintraf, stand auf ihren Gesichtern zu lesen, dass sie es ebenfalls schon wussten.
»Jetzt muss der Sohn des Pharaos ganz schnell den Thron übernehmen!«, sagte Anis Vater. »So lange
Ägypten keinen Pharao hat, ist es schwach und angreifbar!« »Vielleicht wird an den Grenzen zu
unserem Land bereits aufgerüstet! Wie schnell können die Hethiter uns jetzt plötzlich den Krieg
erklären!«, ergänzte Mendek.
»Ich habe viele Soldaten mit Lanze und Schild gesehen«, meinte Pepi.
Ani stimmte sogleich zu. In der ganzen Stadt schienen bereits Soldaten zu sein. Nicht nur die
Soldaten, die sowieso in der Kaserne lebten, sondern auch solche, die aus den umliegenden Dörfern
eingezogen worden waren. »Sie rasen mit ihren Streitwagen durch die Straßen. Und die
Bogenschützen sind auch dabei.«
»Dann hat unser neuer Pharao bereits die ersten Befehle gegeben!«, sagte Inufru.
»Das ist gut so!«
»Und gut für Ägypten!«, fügte Mendek hinzu.
»Kommt mit!«, rief Inufru dann den beiden Jungen zu. »Ich führe euch in euren Schlafraum. Ihr
könnt auch eure Sachen gleich einräumen. Wenn ihr fertig seid, kommt ihr zum Unterricht!« Er
führte sie zu dem Haus, in dem die Schüler schliefen, und wies sie in den Raum ein, in dem sie
nun künftig wohnen sollten. Vier Betten standen dort, einige Kisten und ein kleiner Tisch mit
vier Hockern. »Ihr werdet hier mit Setoi und Merisu zusammen wohnen«, sagte er und merkte an
ihrem zustimmenden Nicken, dass sie sich darüber freuten. »Nebenan schlafen die anderen vier!«,
verabschiedete er sich von den Familien der beiden Jungen und machte sich auf den Weg zu seinem
Gruppenraum. Bevor sich dann später die Erwachsenen verabschiedeten, zeigten die beiden Jungen
ihnen, was sonst noch zu ihrer Schule gehörte, auch den großen Speiseraum, in dem zu Abend
gegessen wurde. Abends gab es immer ein warmes Essen. »Das Essen soll sehr gut sein«, meinte Ani,
»jedenfalls hat Sa-Hathor das gesagt!«
»Und nach dem Essen bleibt gewiss immer noch Zeit zum Spielen!«, ergänzte Pepi.
Dann gingen sie mit ihren Eltern durch den Säulengang bis zum Ausgang. Dort standen sie, bis ihre
Leute nicht mehr zu sehen waren. Pepi reichte seinem Freund die Hand und sie gingen zusammen zu
ihrer Gruppe.
Maler werden
gebraucht
Eines Tages war der Priester wieder da.
»Die Malarbeiten in den Grabkammern kommen nicht schnell genug voran«, sagte er und blickte sich
um. »Die Besten aus der Schule dürfen mit zum Grabmal kommen und dort beim Malen helfen!«
Sogleich brach lauter Jubel los. Jeder wollte mit! In den Grabkammern des Pharaos zu malen war
eine ganz besondere Ehre. Doch die Lehrer suchten wirklich nur die Schüler aus, die am besten
malen konnten. Es waren zum Schluss sieben Schüler und Pepi und Ani waren dabei.
Ein Lehrer würde auch mitkommen. Pepi freute sich, als Inufru ausgewählt wurde. Am nächsten Tag
schon brachen sie auf. Mit einem Boot wurden sie über den Nil gebracht und landeten am Westufer.
Dort, wo der Weg zu der Totenstadt begann. Der Priester Meresankh erwartete sie bereits. Der Weg
war weit. Mehrere Stunden lang mussten sie gehen und die Zunge klebte ihnen vor Durst am
Gaumen.
Dann stand Pepi zum ersten Mal vor den gewaltigen Grabmälern der früheren Pharaonen, die schon
aus weiter Ferne zu sehen waren. Hier wurde auch am Grabmal für den Pharao gearbeitet.