Cover

Wolfgang Schmidbauer

Der Mensch Sigmund Freud

Ein seelisch verwundeter Arzt?


Edel eBooks

1. Die Bedeutung Sigmund Freuds

Sigmund Freud gehört neben Karl Marx und Charles Darwin zu den einflussreichen Denkern, die den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert prägten. Ihnen gemeinsam ist auch, dass sie bis heute umstritten sind. Immer wieder gibt es leidenschaftliche Polemik gegen jeden dieser drei. Sie werden idealisiert und für unverzichtbar gehalten, oder aber für Mängel einer Moderne verantwortlich gemacht, die angeblich ohne Evolutionstheorie, Kapitalismuskritik und Psychoanalyse besser dran wäre.

Die Energie, mit der Freud die psychoanalytische Bewegung aufbaute und zusammenhielt, seine Neigung, mit Abweichlern so unnachgiebig zu sein wie mit seinen Gegnern, erinnern an Marx; sein mehr wissenschaftlich als sozialrevolutionär ausgerichteter Ehrgeiz und seine geniale Fähigkeit, Erfahrungen zu sammeln und in einer kühnen Theorie zusammenzufassen, an Darwin.

Sigmund Freuds Biographie ist beispielhaft für den neuen Beruf des Psychotherapeuten, für seinen geistigen und kulturellen Hintergrund. Viele Faktoren wirkten zusammen, um aus diesem Mann einen Vermittler und Wegbereiter zu machen. Freud erschloss der modernen Gesellschaft den Weg zu einem vertieften Wissen über jene seelischen Störungen, die mit ihrem Fortschritt verbunden sind.

In Freuds Persönlichkeit sind viele Widersprüche und Brücken angelegt, die ihn auf diese Rolle vorbereitet haben. Er war Jude, hatte sich aber von den eigenen religiösen Traditionen entfernt und erforschte die Religion mit demselben kritischen Auge wie die neurotischen Symptome. Er war ein Aufsteiger in die akademische Welt, der viele soziale Schritte als erster seiner Familie zu bewältigen hatte. Er war Kind in einer Familie, die große Spannungen überbrücken musste: Erstgeborener der zweiten Ehe seines Vaters, Sohn einer sehr jungen Mutter, ein nachgeborener Bruder starb früh, die Familie zog mehrmals um.

Das bis heute anhaltende Interesse an Freuds Lebensgeschichte hat verschiedene Ursachen. Er ist nicht nur ein kritischer, selbstreflexiver Weiterdenker der Aufklärung, sondern auch der Gründer und damit in gewisser Weise auch das Symbol einer neuen Profession. Ihn besser zu verstehen, heißt die Geschichte dieses Berufs besser zu verstehen und damit auch die Identität einer neuen Gruppe von Helfern, die man als »Beziehungshelfer«5 den traditionellen, normativen Helfern vom Typus Priester, Lehrer, Arzt gegenüberstellen kann.

Wenn wir nach dem Unterschied zwischen dem Psychotherapeuten und dem Arzt fragen, kommen wir auf die Nähe zum Schamanen. Wir begegnen den Verlusten, die durch den Kulturfortschritt entstehen, dem – wie es Freud unnachahmlich formuliert – »Unbehagen in der Kultur«. Der Arzt handelt »objektiv«, er versachlicht den Patienten und vollstreckt an ihm die (Natur-)Gesetze der Heilung. Der Psychotherapeut hingegen orientiert sich subjektiv; er wirkt umso mehr, je persönlicher, individueller und kreativer er die emotionale Beziehung zum Kranken gestalten kann.

Folgerichtig erlernen Ärzte ihr Handwerk technisch, in Sezierkursen, chemischen Experimenten und praktischer Übung am Krankenbett; Schamanen und Psychoanalytiker in der Heilung einer eigenen Krankheit, in der Identifizierung mit einem Heiler, der ihr Vorbild ist, der seine Krankheit vor ihnen bewältigt hat und nun ihnen zeigen kann, welchen Weg sie einschlagen müssen, um ihre Krankheit zu bewältigen.

Freud tat seine ersten Schritte in die Psychoanalyse im Alter von 40 Jahren. Dieses Modell ist in der Psychotherapie in gewisser Weise erhalten geblieben. Sie wird auch heute noch nicht als erster Beruf erlernt, sondern in einem Aufbaustudium, das gegenwärtig meist auf Ausbildungen in Medizin oder klinischer Psychologie basiert, in Ausnahmen (etwa die österreichische Regelung) aber auch alle Personen weiterführt, die einen sozialen Beruf ausüben. Bis heute hat sich in der Psychotherapie die Zwitterrolle der abgeleiteten Profession zwischen Medizin und Sozial- bzw. Geisteswissenschaften erhalten. Sie trägt die Spuren der Persönlichkeit Freuds und seiner vielfaltigen Interessen, die in Kulturwissenschaft und Kulturkritik einmündeten.

In den letzten fünfzig Jahren hat sich das Interesse an der Psychoanalyse gewandelt. Sie gilt nicht mehr als neu, sondern als alt. Thomas Mann hat sie mit Respekt behandelt; viele Schriftsteller der nächsten Generation ironisieren sie. In den fünfziger und sechziger Jahren wurden Psychoanalytiker in der Massenpresse als Experten geachtet; heute laufen ihnen in den meisten Illustrierten Verhaltenstherapeuten den Rang ab, in deren Äußerungen Freud nur als blue box dient, um einen guten Hintergrund für die eigenen Gedanken zu bieten.

So wird die Psychoanalyse Opfer eines Prozesses, den sie selbst in den Zeiten der Blüte ihres gesellschaftlichen Ansehens nicht viel anders handhabte. Jede geistige Eroberung verhält sich wie der Vampir der Sage. Sie saugt ihren Vorgängerinnen das Gute aus, eignet es sich an und lässt den geschwächten Rest liegen.

Freud hatte sich vor seiner Kritik an Hypnose und Suggestion deren therapeutische und wissenschaftliche Qualitäten längst angeeignet; so ließ sich der armselige Rest leicht erledigen. In seiner Religionskritik büßen Glaubenstraditionen alle wissenschaftlichen und künstlerischen Qualitäten ein; um die kümmerlichen Überbleibsel ist es nicht schade. Ganz ähnlich haben die systemischen, die Gestalt- und Verhaltenstherapeuten des 21. Jahrhunderts die Psychoanalyse geplündert und konnten dann so manchen skurrilen Rest getrost als unbrauchbar verwerfen.

Einst war die Psychoanalyse revolutionär, die originellste und modernste Art, seelische Störungen zu behandeln. Heute wird manchmal behauptet, sie sei langweilig, langwierig, altmodisch; es gäbe viel schnellere, viel wirksamere Methoden. Wer solche Argumente bringt, spricht aus politischen oder ökonomischen Motiven; eine wissenschaftliche Legitimation haben solche Äußerungen nicht. Denn nicht die Psychoanalyse ist langwierig, sondern die Behandlung schwerer seelischer Störungen. Wer das leugnet, um eine Blitztherapie zu vermarkten, ist als Kritiker der Psychoanalyse nicht glaubwürdig.

2. Freuds Kindheit

Am 6. Mai 1856, im Todesjahr von Heinrich Heine, wurde Sigmund Freud in Freiberg (heute Pribor) geboren, einem kleinen Städtchen in den Ausläufern der Karpaten, 200 km nordöstlich von Wien.6 Bis 1859 lebte die Familie in einem kleinen Zimmer im ersten Stock des Hauses Schlossergasse 17. Sie erweiterte sich um einen zweiten Sohn, der wenige Monate nach der Geburt starb, und eine Tochter.

Der Vater Jacob Freud war bei Freuds Geburt 40 Jahre alt. Er hatte zwei erwachsene Söhne aus einer früheren Ehe; der ältere, Emanuel, war 1832 geboren und damit vier Jahre älter als Freuds Stiefmutter Amalie. Jacob Freuds jüdische Vorfahren sollen am Rhein (in Köln) gelebt haben. Nach Pogromen im 14. oder 15. Jahrhundert flohen sie in den Osten und wanderten im 19. Jahrhundert von Litauen aus über Galizien nach Deutschösterreich zurück.

Auch Amalie Freud kam aus Galizien, wo in Brody ein Grabstein ihres Vorfahren Samuel Charmaz als eines Fürsten und rabbinischen Gelehrten gedenken lässt.7 Kurz nach der Beschneidung seines Sohnes trug Jacob Freud in die Familienbibel ein:

»Mein Sohn Schlomo Sigismund, er soll leben, wurde geboren am Dienstag, dem 1. Tag des Monats Ijar (5)616 ... wurde beschnitten am ... 13. Mai (1)856. Der Beschneider war Reb Schimschon Frankel aus Mährisch Ostrau, Paten waren Reb Lippa und seine Schwester Mirel Hurwitz, Kinder des Rabbi aus Czernowitz.«8

Schlomo hiess Jacob Freuds Vater, der kurz vor der Geburt dieses Enkels verstorben war. Freud hat den Namen Sigismund während seiner Studienzeit in Sigmund abgekürzt und den Namen Schlomo (Salomon) abgelegt. Als Vierjähriger kam Freud mit der Familie nach Wien. Sein Vater Jacob war Wollhändler und verdiente gerade genug, um seiner Familie eine kleinbürgerliche Existenz zu erhalten.

Freud wuchs in sehr beengten Verhältnissen auf. Er beschreibt sich als Liebling der Mutter und glorifiziert seine Rolle als Erstgeborener ganz ähnlich, wie er sich auch während seiner Gymnasialzeit als unangefochtener Primus seiner Klasse schildert. Nirgends in seinen Schilderungen fällt ein Schatten der Kritik auf seine Mutter, aber die Beziehung war im Erwachsenenleben eher distanziert. Zur Beerdigung seiner Mutter im Jahr 1930 ging Freud nicht selbst, sondern ließ sich durch seine Tochter Anna vertreten.

Wir können nur vermuten, wie sich eine 19jährige fühlt, die mit einem 40jährigen Witwer verheiratet wird, einen Einzimmerhaushalt führen muss und zwei Jahre nach der Geburt des ersten Sohnes den Zweitgeborenen verliert. Die kleine Familie zog drei Jahre später nach Leipzig und ein Jahr später nach Wien. Sie blieb arm; in rascher Folge wurden noch vier Mädchen geboren, denen schließlich der Jüngste, Freuds einziger Bruder und späterer Reisegefährte Alexander folgte. 1865, Freud war neun Jahre alt, traf die Familie ein Schlag, von dem sich Freuds Vater nur mühsam erholt hat: Der Bruder Jacob Freuds, Joseph Freud, wurde wegen Handels mit gefälschten Rubel-Scheinen angeklagt und zu einer Gefängnishaft verurteilt. Über diesen Onkel erfahren wir aus der »Traumdeutung«. Freud träumt dort:

»Freund R. ist mein Onkel. Ich empfinde große Zärtlichkeit für ihn. Ich sehe sein Gesicht etwas verändert vor mir. Es ist wie in die Länge gezogen, ein gelber Bart, der es umrahmt, ist besonders deutlich zu sehen.«9

Zum Zeitpunkt des Traumes hatte Freud gerade erfahren, dass man ihn (im Frühjahr 1897) beim zuständigen Minister zur Ernennung zum Professor vorgeschlagen hatte, nicht wegen seiner psychologischen Arbeit, die damals eben erst begann, sondern wegen seiner Forschungen über die Anatomie des Nervensystems.

Der Professorentitel bedeutete nicht nur eine öffentliche Ehre, sondern konnte auch die Einnahmen eines frei praktizierenden Arztes beträchtlich steigern, auf die Freud damals angewiesen war. Noch am Vorabend des Traums hatte Freund R., wie Freud zum Professor vorgeschlagen, den Minister besucht und sich nach den Aussichten erkundigt. Weniger zurückhaltend als Freud, war es ihm gelungen, den hohen Herrn in die Enge zu treiben und eine Antwort zu erhalten, in der kaum verhüllt gesagt wurde, gegenwärtig seien die Aussichten für Juden gering, ernannt zu werden.

»Als mir der Traum im Laufe des Vormittages einfiel, lachte ich und sagte, der Traum ist Unsinn. Er ließ aber nicht nach und ging mir den ganzen Tag nach, bis ich mir endlich am Abend Vorwürfe machte. Wenn einer deiner Patienten zur Traumdeutung nichts zu sagen wüßte als, das ist Unsinn, so würdest du es ihm verweisen und vermuten, daß sich hinter dem Traum eine unangenehme Geschichte versteckt, welche zur Kenntnis zu nehmen er sich ersparen will. Verfahr mit dir selbst ebenso; deine Meinung, der Traum sei ein Unsinn, bedeutet nur einen inneren Widerstand gegen die Traumdeutung. Laß dich nicht abhalten! Kaum ist dieser Widerstand überwunden, kommt der erste Einfall: Ich habe doch nur einen Onkel gehabt, den Onkel Joseph. Mit dem war es eine traurige Sache. Er ist mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und wurde schwer bestraft. Mein Vater pflegte zu sagen, ein schlechter Mensch sei der Onkel ja nicht, aber ein Schwachkopf. Wenn aber jetzt mein Freund R. im Traum mein Onkel ist, dann will der Traum sagen: Er ist ein Schwachkopf. Auch der blonde Bart paßt dazu: Onkel Joseph hatte einen solchen Bart.«

Zu dem Trauminhalt fällt Freud noch etwas ein: Wenige Tage vorher hat er mit einem zweiten Kollegen, der ebenfalls Professor werden soll, gesprochen; dieser zweifelte an der Ernennung, weil er einmal von einer Erpresserin angezeigt worden war. Vielleicht würde man das damals eingestellte Verfahren wieder ausgraben, um ihm einen Strick daraus zu drehen. Damit, bemerkt Freud, hat er den Schwachkopf wie den Verbrecher, deren Rolle Onkel Joseph stellvertretend übernommen hat: Mit beiden wenig schmeichelhaften Etiketten belegt der Traum die beiden ebenfalls auf den Professorentitel wartenden Bekannten.

Der Grund dafür ist unschwer zu finden: Wenn es die jüdische Konfession ist, die die Ernennung verhindert, dann muss auch Freud seine Hoffnungen begraben. Sind es aber andere Gründe, ist der eine Kollege ein Schwachkopf, der andere ein Verbrecher, dann kann er weiter hoffen. Freud würde gegen jedermann bestreiten, sein Freund R. sei ein Schwachkopf, sein Kollege ein Verbrecher. Doch sein Unbewusstes wünscht, dass es so sei. Auch die zärtlichen Gefühle im Traum kann Freud deuten: Sie sind eine Maske, welche die tatsächliche Intention des Unbewussten verschleiern soll.

Aber die Rekonstruktion in der »Traumdeutung« ist auf charakteristische Weise auch unvollständig. Sie unterschlägt die traumatische Bedeutung der Ereignisse um Onkel Joseph und die damit verbundenen Verdächtigungen (War Freuds Vater Mitwisser in der Geldfälscher-Affäre?). Nach diesem »Unglück« ergraute Freuds Vater in wenigen Tagen, und seine Rede von der »Dummheit« des kriminellen Bruders sticht merkwürdig ab gegenüber Freuds kritischem Blick.

In dem Traum vom Onkel Joseph erfassen wir einen Zipfel von der Tragik des armen Juden, der ein wenig von der Sicherheit und dem Reichtum einer Umgebung erhaschen will, die ihm mit der einen Hand die Bürgerrechte anbietet, mit der anderen aber die Gleichheit der Chancen verweigert.

Freud war tief in diesen Konflikt verstrickt. Er hinderte ihn auch, sich tragend und stabil mit seinem Vater zu identifizieren, dessen Gefügigkeit und ängstliche Anpassung er ebenso verachtete wie seine Anhänglichkeit an die »Illusion« des Gottesglaubens. »Die Zukunft einer Illusion« ist in gewisser Weise ein Pamphlet gegen Jacob Freud.

»Ein Mann, der der unbestrittene Liebling seiner Mutter war, behält sein Leben lang das Gefühl eines Eroberers, jenes Vertrauen auf Erfolg, das oft den wirklichen Erfolg herbeiführt«, hat Freud gesagt.10

In einem Brief aus dem Jahr 1895 an Wilhelm Fließ phantasiert Freud, halb im Scherz, ob nicht über seinem Tisch in einem Restaurant, wo er zuerst das Wesen eines seiner Träume durchschaut hatte, einmal eine Tafel angebracht werden würde: »Hier wurde Dr. Sigmund Freud am 24. Juli 1895 das Geheimnis der Träume enthüllt.«

Solche Tagträume kompensierten die tiefen Zweifel an der Kraft und Autorität seines Vaters, der – obwohl selbst thorakundig und des Hebräischen mächtig – seinen Sohn »in voller Unwissenheit über alles, was das Judentum betrifft, aufwachsen liess.«11 Dieser erzählte dem kleinen Sigmund einmal, wie ihm auf der Straße ein Passant mit den Worten »Jude, herunter vom Trottoir!« die Pelzhaube vom Kopf schlug. »Was tatest du?« fragte Freud empört. »Ich bückte mich über den Randstein und hob meinen Hut auf« erwiderte der Vater.

Freuds Vater dachte, das Beste für seinen Sohn zu tun, indem er ihn aufforderte, sich zu assimilieren. Er tat das wohl eher aus Mangel an Durchsetzungsvermögen und eigener moralischer Haltung denn aus wirklicher Überzeugung. Freud glaubte die meiste Zeit seines Lebens daran, es sei möglich, eine neue, aufgeklärte Kultur zu schaffen, in der ungläubige Juden und ungläubige Christen sich gemeinsam von aller frommen Verdummung abwenden. Diese verglich er später mit dem Brauch afrikanischer Völker, den Schädel der Neugeborenen zu deformieren.

Freud wollte den ehrgeizigen Wünschen seiner Mutter gerecht werden, ohne sich auf das Vorbild eines starken, durchsetzungsfähigen Vaters stützen zu können. So klagt er in einem seiner Briefe an Martha Bernays, seine spätere Frau:

»Jedesmal, wenn ich mit wem zusammenkomme, merke ich, daß der Neue von einem Antrieb, den er gar nicht zu analysieren braucht, zunächst veranlaßt wird, mich zu unterschätzen.«12

Hier liegt eine Wurzel für Freuds charakteristischen Zug, sich »Väter« zu suchen, an die er sich anschließen kann – solange er selbst nicht Vater einer eigenen Lehre ist. Verbunden damit kündigt sich auch eine sehr enge, leidenschaftliche, nicht distanzierte Beziehung zu diesen Vätern an, die sich später in der Beziehung zu seinem geistigen Geschöpf fortsetzt. Freud kann die Psychoanalyse nicht loslassen, wie das anderen Schöpfern großer Theorien gelingt. Er hält identifikatorisch an ihr fest.

Das spiegelt sich im Umgang mit seiner Familie und seinen Freunden. Freud schrieb fast jeden Tag nach Hause, wenn er verreist war. Er war ein leidenschaftlicher Liebhaber, der seine Frau kontrollieren wollte, und ein ebensolcher Freund. Er suchte Menschen an sich und seine Sache zu binden.

Bis in die Gegenwart streiten Psychoanalytiker um den Nutzen der hochfrequenten Analyse, wie sie Freud begründet hat. Wer einen Patienten (fast) jeden Werktag sieht, wie es lange Zeit Freuds Praxis war, kann den analytischen Prozess am besten kontrollieren. Er muss aber auch nicht die Gelassenheit einüben, die schon Freuds »abtrünnige« Schüler Alfred Adler und Carl Gustav Jung einführten. Sie begnügten sich damit, ihre Patienten ein- oder zweimal pro Woche zu sehen, und hatten auch damit ihre Erfolge. Einen Vergleich der Wirkung beider Verfahren, der wissenschaftlich stichhaltig ist und eindeutige Schlussfolgerungen erlaubt, habe ich noch nicht gefunden. Aber was wir an Studien besitzen, spricht eher dafür, dass die Häufigkeit des Kontakts zwischen Therapeut und Patient weniger wichtig ist als z.B. die persönliche Beziehung, – und dass beide Methoden wirksam sind.

Immer noch wird von den orthodoxen und den nicht so orthodoxen Analytikern prinzipiell gestritten, welches Verfahren »echte« Analyse sei. Obwohl ich persönlich beiden Methoden verpflichtet bin, sie auf der Couch selbst erlebt und ausgeübt habe, spricht allein meine Offenheit für diese Debatte in den Augen aller Orthodoxen gegen mich. Allerdings gibt es heute kaum mehr Analysen mit mehr als vier Wochenstunden; insofern sind inzwischen alle Analytiker weniger darauf bedacht, den Prozess zu überwachen, als es Freud nach meiner Vermutung war.

Zurück zu Freuds idealisierten Ersatzvätern. Den ersten findet der junge Forscher in dem Physiologen Ernst Brücke, in dessen Laboratorium er arbeitet, den zweiten in dem französischen Neurologen Jean Charcot, bei dem er als Stipendiat in Paris gastiert, den dritten in dem Wiener Arzt Joseph Breuer, dem er noch 1909 das Verdienst zubilligte, die Psychoanalyse entdeckt zu haben.

Brücke und Charcot waren berühmte Wissenschaftler. Breuer, schon näher an Freud und weniger Vaterfigur, war ein angesehener und erfolgreicher Arzt, der freilich in der Behandlung neurotischer Patientinnen scheiterte. Bei diesen drei Männern rechtfertigten reale Qualitäten die Rolle, in die Freud sie setzte. Demgegenüber sind die Charakteristika des bedeutenden Wissenschaftlers, die Freud Wilhelm Fließ zuschrieb, dem vierten und letzten dieser engen Freunde, vorwiegend fiktiv. Freud hat ihn mit allen eigenen Vorzügen ausgerüstet und sich sozusagen mit einem Spiegelbild unterhalten; in der Narzissmuslehre spricht man von einer »Spiegelübertragung«.

Später hat sich Freud der Zeugnisse dieser Freundschaft sichtlich geschämt und Fließ gegenüber gemeinsamen Bekannten entwertet. Er hat die Briefe, die Fließ an ihn gerichtet hatte, vermutlich verbrannt. Nur Freuds Schreiben an Fließ sind erhalten. Als Marie Bonaparte diese Briefe einem Händler abkaufen konnte, wollte Freud sie vernichten und konnte nur mit Mühe davon abgehalten werden. Sie sind heute unsere wichtigste Quelle über die Entstehung der Psychoanalyse.

1910 beklagte sich Sandor Ferenczi bei Freud, er verberge sein Erleben in Männerfreundschaften. Freud erteilte ihm eine Abfuhr:

»Wahrscheinlich stellen Sie sich ganz andere Geheimnisse vor, als ich mir reserviert habe, oder meinen, es sei ein besonderes Leiden damit verknüpft, während ich mich allem gewachsen fühle und die Überwindung meiner Homosexualität mit dem Ergebnis der größeren Selbständigkeit gutheiße.«

Fließ war Freuds letzte Männerfreundschaft, in der er sich mit dem Freund duzte und ihm auf eine Weise schmeichelte, die ihm den Vorzug vor allen anderen Beziehungen einräumt. Immer wieder betont Freud, dass ihm der »teure Wilhelm« näher steht als jede andere Person, dass er sich mehr auf die gemeinsamen Treffen freut als auf den Urlaub mit der Familie. Hätte Martha Bernays diese Briefe gelesen, sie hätte von Stein sein müssen, um nicht eifersüchtig zu werden.

Ferenczi und C. G. Jung, mit denen Freud sich ebenfalls intensiv austauschte, kamen ihm nicht mehr wirklich nahe. Beide haben das bemerkt und sich auch darüber beklagt; Freud hat an dieser Distanz festgehalten. Sein Bedürfnis nach einer Person, die er idealisieren und mit allen denkbaren Vorzügen ausrüsten konnte, hatte er auf die Psychoanalyse und die Gruppe seiner treuen Schüler verlegt.

Die Fließ-Briefe landeten in einem Banksafe in Wien und sollten zu Freuds Lebzeiten nicht publiziert werden. Die Manuskripte wurden in einer dramatischen Aktion von Maria Bonaparte 1938 vor der Gestapo gerettet und erst 1985 unzensiert veröffentlicht.

3. Jugend, Politik, Beruf

Aber mehr als 35 Jahre lang – während Freud aufwuchs, studierte, heiratete, seine Familie gründete und auf die Psychoanalyse hinarbeitete – war der Liberalismus eine wesentliche, wenn auch mehr und mehr zerfetzte Strähne in der Wiener Politik gewesen.13

In seiner »Selbstdarstellung« von 1925 schreibt Freud:

»Als Kind von vier Jahren kam ich nach Wien, wo ich alle Schulen durchmachte. Auf dem Gymnasium war ich durch sieben Jahre Primus, hatte eine bevorzugte Stellung, wurde kaum je geprüft. Obwohl wir in sehr beengten Verhältnissen lebten, verlangte mein Vater, daß ich in der Berufswahl nur meinen Neigungen folgen sollte. Eine besondere Vorliebe für die Stellung und Tätigkeit des Arztes habe ich in jenen Jugendjahren nicht verspürt, übrigens auch später nicht. Eher bewegte mich eine Art von Wißbegierde, die sich aber mehr auf menschliche Verhältnisse als auf natürliche Objekte bezog und auch den Wert der Beobachtung als eines Hauptmittels zu ihrer Befriedigung nicht erkannt hatte. Indes, die damals aktuelle Lehre Darwins zog mich mächtig an, weil sie eine außerordentliche Förderung des Weltverständnisses versprach, und ich weiß, daß der Vortrag von Goethes schönem Aufsatz ›Die Natur‹ in einer populären Vorlesung kurz vor der Reifeprüfung die Entscheidung gab, daß ich Medizin inskribierte.«14

Wie wohl die meisten begabten Kinder kleinbürgerlicher Väter in der dynamisierten Epoche der Industrialisierung suchte Freud seit der Pubertät nach Vorbildern, an denen er sich orientieren konnte. Seit dem empörenden Beispiel der Feigheit seines Vaters gegenüber dem christlichen Angreifer entwarf sich der junge Freud zunächst militärische Gestalten wie den Feldherrn der Karthager, Hasdrubal, der – anders als Jacob Freud – seinen Sohn Hannibal in einem Heiligtum schwören ließ, Rache an den Römern zu nehmen. Freud beging hier eine Fehlleistung: Hasdrubal war der Bruder Hannibals; den Schwur leistete Hannibal seinem Vater Hamilkar. In der Tat hatte Freud in seinen Halbbrüdern »Väter« im Alter seiner Mutter, die in England erfolgreiche Geschäfte machten und von denen sein Vater später unterstützt wurde.

Ein genialer Feldherr, der übermächtige Feinde in vernichtenden Schlachten besiegt, war einer der imaginären Väter Freuds. Aber die Phantasie, ein von der römischen Kirche »besetztes« Land erobern zu können, lag im Wien nach 1867 in der Luft. Endlich hatten Juden zumindest auf dem Papier die gleichen Möglichkeiten wie Christen.

Freud hat sich immer zu einer liberalen politischen Haltung bekannt; konservativ-nationalistische Strömungen kamen für ihn so wenig in Frage wie Sozialismus. Die Grundlage zu dieser Entwicklung wurde in seiner Kindheit gelegt. Für einen Juden war der Liberalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die große Hoffnung, in einem nationalen, aber nicht klerikalen oder rassistischen Bürgertum eine neue Heimat zu finden, Schutz vor Diskriminierung und Pogrom. Zionismus und Sozialismus entfalteten erst später politischen Einfluss. Sie reagierten auf das geschwächte Projekt des Liberalismus.

Vielleicht hatte sich Amalie Freud mehr von ihrem Mann erwartet, als dieser leisten konnte. Mir sind keine Zeugnisse bekannt, wie sich die bei der Eheschließung 19-Jährige an der Seite ihres geschäftlich wenig begabten, so viel älteren Mannes fühlte, mit dem sie in bedrückender Enge leben musste. Deutlich ist aber, dass sich ihr Ehrgeiz bald auf ihren »goldenen Sigi« richtete. Damit entstand eine Verbindung, die Freud in seinen persönlichen Äußerungen immer idealisiert hat. Gegen alle analytische Einsicht beschrieb er später das Mutter-Sohn-Verhältnis als »reine« Liebesbeziehung.15

Nicht alle Menschen, die später Herausragendes leisten, sind Klassenprimus. Warum Freud? Drei Faktoren wirkten zusammen: Seine intellektuelle Hochbegabung, seine Suche nach neuen Vorbildern und – seine Angst. Der von seiner Mutter idealisierte Sohn fühlt sich dazu aufgefordert, sie in ihrem Selbstgefühl zu festigen. Daher erlebt er ihre Zuwendung nicht verlässlich. Sie gilt nicht seiner Autonomie, sondern der gemeinsamen Illusion von Erfolg, Sicherheit, Geltung. Hier wurzelt jene Charaktereigenschaft, die man beim Erwachsenen Ehrgeiz nennt. Sie enthält meist eine Überkompensation von Ängsten, in Bedeutungslosigkeit und innerer Leere zu versinken, wenn nicht in rastloser Aktivität Höchstes erreicht wird.

Symbiotisch-idealisierend an die Mutter gebundene Söhne entwickeln besondere Strategien, um dieses sozusagen gemeinsame Selbstgefühl zu festigen und die Angst zu vermeiden, die in jenem unklaren seelischen Bereich beginnt, wo das Nicht-Erreichen des Leistungsideals und der Verlust der Mutter verschmolzen sind. Ein Hochbegabter, der entspannt seinen Interessen folgt, schwimmt in der Schule locker mit; er toleriert die ein oder andere harmlose Leistungsschwäche. Wer über sieben Jahre Primus ist, kann sich solche Nachlässigkeit seelisch nicht leisten.

Freuds Disposition zu Angstanfällen ist durch Ernest Jones und Max Schur dokumentiert. Interessant sind seine Verhaltensweisen, die Verlust- und Trennungsängste kompensieren. Sie prägen seine Biographie, angefangen von harmlosen Zügen (etwa der Eigenart, aus Angst, den Zug zu verpassen, stets zu früh am Bahnhof zu sein), bis hin zu zentralen Befriedigungen (seiner Sammelleidenschaft für antike Kleinplastiken) und seiner ganzen Lebensgestaltung.

Als Reaktionsbildung gegen die Enge und ständige Beunruhigung während seiner frühen Kindheit hat Freud in seinem Privatleben als Erwachsener feste Strukturen aufgebaut und unerschütterlich daran festgehalten. Er beschränkte sein sexuelles Leben auf eine einzige Frau, wohnte die meiste Zeit seines Lebens in einer Wohnung und begegnete Neuerungen (wie dem Telefon und dem Automobil) mit Skepsis, die sich auch in seiner Abscheu gegen die USA ausdrückte, das Land der Neuerungen schlechthin.

Freud beschreibt in den Fließ-Briefen detailliert seine hypochondrischen Zustände, seine Eisenbahn-Angst, und seine Hoffnungen auf »die Lösung der eigenen Hysterie«. (3. Oktober 1897, a.a.O. S. 289). Wegen einer heftigen Herzneurose, wir würden heute von Panikattacken sprechen, verzichtet er – einem Rat von Fließ folgend – auf die geliebten Zigarren, verspricht dem Freund sogar, nie wieder zu rauchen, fühlt sich dann aber so elend, daß er seinen Schwur bricht.

Er spekuliert häufig über Zeitpunkt und Ursache seines Todes –

»daß ich noch 4–5–8 Jahre an wechselnden Beschwerden mit guten und schlechten Zeiten leiden und dann zwischen 40 und 50 an einer Herzruptur schön plötzlich verenden werde; wenn es nicht zu nahe an 40 ist, ist es gar nicht so schlecht.« (Fließ-Brief)

Solche Äußerungen verraten, wie wenig Freud sich vorstellen konnte, alt zu werden. Wie als Gegenleistung wendet er sich immer wieder liebevoll-besorgt den Kopfschmerzen von Fließ zu; in den nicht erhaltenen Briefen des Freundes müssen hypochondrische Phantasien ebenfalls eine große Rolle gespielt haben. Die abstruse Theorie über die universellen »Perioden« von Mann und Frau, die Freud als grandiose Entdeckung seines Freundes feiert und durch Beispiele aus seiner Familie zu untermauern sucht, läßt sich gut als Rationalisierung hypochondrischer Ängste verstehen.

Freuds Jugend in Wien ist von einer Epoche bestimmt, in der mehr als überall sonst die Utopie einer friedlichen, von Wissenschaft und Bildung getragenen, liberalen und multikulturellen Gesellschaft zum Greifen nahe schien. Seit 1848 hatte sich die Lage der Juden in der Donaumonarchie stetig verbessert, um 1867 waren alle Reste rechtlicher Diskriminierung aufgrund der Religionszugehörigkeit beseitigt worden. Bis dahin waren beispielsweise jüdische Hebammen in nichtjüdischen Haushalten verboten. Nun waren Juden wählbar, sie stellten Bürgermeister der liberalen Partei, »jeder fleißige Judenknabe (trug) also das Ministerportefeuille in seiner Schultasche.«16

Während der Gymnasialzeit Freuds (1865–1873) stieg die Zahl der jüdischen Schüler dort von 44 auf 73 Prozent, in den 80er Jahren war mindestens die Hälfte der Ärzte, der Journalisten und Anwälte in Wien jüdisch. Es herrschte eine Aufbruchsstimmung ohnegleichen; niemand konnte voraussehen, dass bald die Verfolgung der »Ungläubigen« in weit bösartigerer Gestalt zurückkehren würde. Was Freud immer als seine »Weltanschauung« verteidigt und zur Grundlage der psychoanalytischen Haltung gemacht hat, wurzelt in dieser politischen Situation.

Im vorliberalen Österreich musste sich der Jude, dem die rechtlichen Einschränkungen lästig waren, taufen lassen. Eine solche Demütigung wäre den Juden in der liberalen Zukunft, in der engstirnige Tradition dem wissenschaftlichen Fortschritt weichen muss, erspart geblieben. Es gab eine gemeinsame Welt für sie und für alle anderen, die sich der Welt geistig bemächtigen wollten. In dieser spielten Glaube, Hautfarbe, Herkunft und Geschlecht keine Rolle mehr.

Es waren freiere Zeiten als heute, denn Auschwitz kann aus der Welt nicht mehr hinausgedacht werden. Für Freud bedeutete der Satz: »Auch ich bin Jude geblieben«, dass er es für verfehlt gehalten hätte, eine durch Geburt erworbene Religionszugehörigkeit gegen eine zufällig praktischere zu tauschen, sich also – wie Heinrich Heine – aus Karrieregründen taufen zu lassen. Das war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für eine Karriere in Verwaltung oder Militär noch unabdingbar.

Mit der liberalen Regierung in der Donaumonarchie schien die Möglichkeit greifbar nahe, solche Einschränkungen zu überwinden. Freud hat auf seine Weise für eine solche Zukunft gekämpft. Aus diesem Grund war für ihn auch der Bruch mit C. G. Jung so schmerzhaft. Er hatte die stürmische Hingabe des Schweizers an die gemeinsame Sache als Zeichen genommen, dass die Psychoanalyse genau jene Bindungen schaffen könnte, von denen er als junger Wissenschaftler träumte.

Seine Söhne hat Freud nicht beschneiden lassen; er war hier einsichtiger als andere beschnittene Väter, die immer noch glauben, dieser verstümmelnde Brauch schade nicht. In Wahrheit lassen sich in vielen Fällen traumatische Folgen auch der angeblich »harmlosen« Frühbeschneidung nachweisen.17

Die Ent-Idealisierung des Vaters führte Freud fort vom »Geschäft« in die »Bildung«. Er dachte als Gymnasiast daran, Jura zu studieren und Politiker zu werden. Während des Krieges von 1870 zwischen Frankreich und Deutschland hatte der 14jährige Freud eine Karte des Kampfgebietes auf seinem Schreibtisch befestigt und die Schlachten mit bunten Fähnchen markiert. Er war auf der Seite der Deutschen.18

Was bewog Freud, diese erste Berufswahl aufzugeben und sich für die Rolle des Naturforschers und Heilers zu entscheiden? Nach seiner eigenen Aussage war es ein Vortrag von Goethes Hymnus »Die Natur« im Jahr 1873. In diesem Werk preist der Goethe ein mütterliches Wesen, grandios und unbestimmt, was er Natur nennt, es könnte geradeso gut Gott, Schicksal, Vorsehung oder Es heißen:

»Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie da, was war, kommt nicht wieder: Alles ist neu und doch immer das Alte.

Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verräth uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie....

Sie spielt ein Schauspiel; ob sie es selbst sieht, wissen wir nicht, und doch spielt sie ’s für uns, die wir in der Ecke stehen.

Die Menschen sind alle in ihr, und sie in allen. Mit allen treibt sie ein freundliches Spiel und freut sich, je mehr man ihr abgewinnt. Sie treibts mit vielen so im Verborgenen, daß sie ’s zu Ende spielt, ehe sie ’s merken...Sie hat mich hineingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten; sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr; nein, was wahr ist und was falsch ist, Alles hat sie gesprochen, Alles ist ihre Schuld, Alles ist ihr Verdienst.«19

Dieser Text wurde wohl nicht von Goethe verfasst. Er hat ihn adoptiert, wie ein Maler, der im Alter ein Bild signiert, das von ihm sein könnte, obwohl er sich nicht daran erinnert, es gemalt zu haben. In einem späteren Zusatz schreibt Goethe: »Daß ich diese Betrachtungen verfaßt, kann ich mich faktisch nicht erinnern, allein sie stimmen mit den Vorstellungen wohl überein, zu denen sich mein Geist damals ausgebildet hatte.« Zudem war der Text »von einer wohlbekannten Hand geschrieben, deren ich mich in den achtziger Jahren in meinen Geschäften zu bedienen pflegte.«20

Es ist schwer vorstellbar, dass dieses Prosagedicht allein Freuds Berufsziele vom Juristen und »Minister« zum Naturforscher und Arzt wandelte. Ich vermute, dass es sich um eine Deckerinnerung handelt, die einen aufwühlenden Prozess verborgen hält. Dafür spricht auch, dass Freud in seinen späten Darstellungen die eigenen Helfer-Motive herunterspielt. In »Zur Frage der Laienanalyse« sagt er:

»Nach 41jähriger ärztlicher Tätigkeit sagt mir meine Selbsterkenntnis, ich sei eigentlich kein richtiger Arzt gewesen. Ich bin Arzt geworden durch eine mir aufgedrängte Ablenkung meiner ursprünglichen Absicht und mein Lebenstriumph liegt darin, daß ich nach großem Umweg die anfängliche Richtung wieder gefunden habe. Aus frühen Jahren ist mir nichts von einem Bedürfnis, leidenden Menschen zu helfen, bekannt, meine sadistische Veranlagung war nicht sehr groß, so brauchte sich dieser ihrer Abkömmlinge nicht zu entwickeln ... Ich meine aber, mein Mangel an der richtigen ärztlichen Disposition hat meinen Patienten nicht sehr geschadet. Denn der Kranke hat nicht viel davon, wenn das therapeutische Interesse beim Arzt affektiv überbetont ist. Für ihn ist es am besten, wenn der Arzt kühl und möglichst korrekt arbeitet.«21

Solche Äußerungen haben Freuds Bild als strenger, kühler Forscher bestimmt, dem jeder Heiler-Ehrgeiz fremd sei. Aber dieses Bild ist ein Wunschbild, durch das Freud seine eigene Geschichte ihrer Vieldeutigkeit beraubt. Wenn er sagt, dass ihm nichts von einem Bedürfnis bekannt ist, leidenden Menschen helfen zu wollen, dann dementiert er Äußerungen seiner Jugendbriefe wie diese:

»Voriges Jahr hätte ich auf die Frage, was mein höchster Wunsch sei, geantwortet: Ein Laboratorium und freie Zeit oder ein Schiff auf dem Ozean mit allen Instrumenten, die der Forscher braucht; jetzt schwanke ich, ob ich nicht lieber sagen sollte: ein großes Spital und reichlich Geld, um einige von den Übeln, die unseren Körper heimsuchen, einzuschränken oder aus der Welt zu schaffen...«22

Sobald Freud in die therapeutische Arbeit eingestiegen war, engagierte er sich mit einem Interesse, das er später verleugnete. Wie nur je ein Helfer hat er gespürt, dass die Hinwendung zu Menschen, die ihn brauchen, eine antidepressive und seelisch stabilisierende Wirkung ausübte. In einem der »Brautbriefe« schreibt er an Martha:

»Mein teures Mädchen, ich kam heute ganz ratlos zu meinem Patienten, woher ich die nötige Teilnahme und Aufmerksamkeit für ihn nehmen würde; ich war so matt und apathisch. Aber das schwand, als er zu klagen begann und ich zu merken, daß ich hier ein Geschäft und eine Bedeutung habe....«23

So war für Freud die intensive Beziehung zu seinen Patienten ein Stimulans, das ihn auch an trüben Tagen belebte. Wahrscheinlich wäre ohne dieses Bedürfnis die Psychoanalyse nicht entwickelt worden. Zu ihrer Entstehung gehört ja auch, dass der Helfer bereit ist, die »hysterischen« Patientinnen nicht wie die meisten seiner Zeitgenossen distanziert zu behandeln und als »Degenerierte« abzuwehren, sondern sich teilweise auf ihr Bedürfnis nach einer intensiven emotionalen Beziehung einzulassen.

Wenn Freud – im Gegensatz zu Breuer, der in seiner Flucht vor »Anna O.’s« Übertragungsliebe auch die Flucht vor der Psychotherapie antrat – das gewonnene Gebiet nicht mehr preisgab, dann trug sowohl die frühe Identifizierung mit dem karthagischen Feldherrn ihre Früchte, wie sein intensives Kontaktbedürfnis, das sich mit seinem Bild des Naturforschers verband.

4. Freud und die Hypnose

Als Freud sich 1885 zum Dozenten für Neuropathologie habilitiert hatte, versteht er – so stellt er 1926 fest – von Neurosen nichts. Seine Interessen liegen auf dem Gebiet der Nervenanatomie und der Pathologie des Gehirns, über die er eine Reihe wichtiger Arbeiten veröffentlicht hat (über Sprachstörungen, Kinderlähmung, die Sinnesnerven und das Kleinhirn). Was ihn bewog, den Antrag auf ein Reisestipendium nach Paris zu stellen, um Charcot zu hören, war auch nicht sein psychologisches Interesse, sondern das Ungenügen an der damaligen Therapie von Neurotikern, die sich in einem pseudo-naturwissenschaftlichen Elektrisieren der Kranken erschöpfte.

Jean Martin Charcot war ursprünglich Neurologe und seit 1862 Chefarzt der Salpêtrière in Paris. Der Name leitet sich von einem alten Pulvermagazin ab, das später in ein Hospital umgewandelt worden war und damals 5000 Patienten beherbergte. Charcot hielt die Hysterie für eine organische Krankheit, eine Schwäche des Nervensystems, die mit erhöhter Erregbarkeit der Muskulatur verbunden sei. Er beschrieb als erster hysterische Symptome von Männern und wies nach, dass man neurotische Lähmungen in Hypnose willkürlich hervorrufen und manchmal auch bestehende, seelisch bedingte Lähmungen auf diesem Weg heilen kann.

An Charcot lässt sich zeigen, wie der »wissenschaftlich« vorgehende Arzt und die »nervöse« Patientin in der Gestaltung von Krankheiten und Krankheitssymptomen in einer Weise zusammenwirken, die wir heute vielleicht mit der Interaktion von Regisseur und Schauspielerin vergleichen würden.24

Charcots Ansehen in Paris beruhte auf soliden neurologischen Diagnosen, wurde von ihm aber mit großem Sinn für Prestige und Machtausübung erweitert. Charcot wies zum Beispiel nach, dass die charakteristischen Schäden der Kniegelenke bei Spätsyphilis mit Rückenmarksbefall nicht durch die Grundkrankheit, sondern durch sekundäre Traumen entstehen. Weil die Kranken Tiefensensibilität und Vibrationsempfindung in den Beinen eingebüßt haben, treten sie so ungeschickt auf, dass ihre Gelenke zerstört werden.

Die »große Hysterie«, die Charcot entwarf und bis zu seinem Tod im Bewusstsein der europäischen Medizin verankerte, war ein Kunstprodukt, erzeugt durch suggestive Ansteckung der zusammengepferchten Patientinnen und aufrecht erhalten durch die »hypnotischen« Bemühungen der Assistenten, Beweise für die Theorie des Meisters zu finden.

Jules-Joseph Dejerine, der zwei Jahre nach Charcots Tod dessen Lehrstuhl übernahm, betreute ebenfalls einen ganzen Saal armer hysterischer Frauen. Aber wo unter Charcot gezuckt und geschrien wurde, ging es jetzt ruhig zu, weil der Chef keine Anfälle mochte. »In den acht Jahren, die ich nun an der Salpêtrière bin«, fasst Dejerine zusammen, »haben die Symptome der sogenannten großen Hysterie, wo sie sich in meiner Abteilung zeigten, in keinem einzigen Fall länger als eine Woche angehalten.« 25

Freud nennt Charcot einen »der größten Ärzte, einen genial nüchternen Menschen«.26