Richard Wagner

Die Wibelungen

Weltgeschichte aus der Sage

 

 

 

Richard Wagner: Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Giovanni Battista Tiepolo, Barbarossas Braut Beatrix, 18. Jahrhundert

 

ISBN 978-3-8430-1723-7

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-4817-0 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-4819-4 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Entstanden im Sommer 1848 in Dresden. Erstdruck Leipzig, Verlag von Otto Wigand, 1850. Hier nach: Richard Wagner: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Band 2, Leipzig: Breitkopf und Härtel, o.J. [1911]. Die Eigentümlichkeit der Orthographie wurde bei der vorliegenden Ausgabe beibehalten.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Auch mich beschäftigte in der anregungsvollen letzten Vergangenheit die von so Vielen ersehnte Wiedererweckung Friedrich des Rothbarts, und drängte mich mit verstärktem Eifer zur Befriedigung eines bereits früher von mir gehegten Wunsches, den kaiserlichen Helden durch meinen schwachen dichterischen Athem von Neuem für unsre Schaubühne zu beleben. Das Ergebniß der Studien, durch die ich mich meines Stoffes mächtig zu machen suchte, legte ich in der vorliegenden Arbeit nieder: enthält diese nun in ihren Einzelnheiten für den Forscher, wie für den mit dem Zweige der hierher gehörigen Litteratur vertrauten Leser, nichts Neues, so dünkte die Zusammenfügung und Verwendung dieser Einzelnheiten einigen meiner Freunde doch interessant genug, um die Veröffentlichung der kleinen Schrift zu rechtfertigen. Hierzu entschließe ich mich nun um so eher, als diese Vorarbeit die einzige Ausbeute meiner Bemühungen um den betreffenden Stoff bleiben wird, da durch sie selbst ich zum Aufgeben meines dramatischen Planes vermocht worden bin, und zwar aus Gründen, die dem aufmerksamen Leser nicht entgehen werden.

 

Das Urkönigthum

Ihre Herkunft aus Osten ist den europäischen Völkern bis in die fernsten Zeiten im Gedächtniß geblieben: in der Sage, wenn auch noch so entstellt, bewahrte sich dieses Andenken. Die bei den verschiedenen Völkern bestehende königliche Gewalt, das Verbleiben derselben bei einem bestimmten Geschlechte, die Treue, mit der selbst bei tiefster Entartung dieses Geschlechtes die königliche Gewalt doch einzig nur ihm zuerkannt wurde, – mußten im Bewußtsein der Völker eine tiefe Begründung haben: sie beruhte auf der Erinnerung an die asiatische Urheimath, an die Entstehung der Völkerstämme aus der Familie, und an die Macht des Hauptes der Familie, des »von den Göttern entsprossenen« Stammvaters.

Um hiervon zu einer sinnlichen Vorstellung zu gelangen, haben wir uns dieß Urvölkerverhältniß ungefähr folgendermaßen zu denken. –

Zu der Zeit, welche die meisten Sagen unter der Sint- oder großen Fluth begreifen, als die nördliche Halbkugel unsrer Erde ungefähr so mit Wasser bedeckt war, wie es ietzt die südliche ist1, mochte die größte Insel dieses nördlichen Weltmeeres durch das höchste Gebirge Asiens, den sogenannten indischen Kaukasus, gebildet werden: auf dieser Insel, d.h. auf diesem Gebirge, haben wir die Urheimath der jetzigen Völker Asiens und aller der Völker zu suchen, welche in Europa einwanderten. Hier ist der Ursitz aller Religionen, aller Sprachen, alles Königthumes dieser Völker.

Das Urkönigthum ist aber das Patriarchat: der Vater war der Erzieher und Lehrer seiner Kinder; seine Zucht, seine Lehre dünkte den Kindern die Gewalt und die Weisheit eines höheren Wesens, und je zahlreicher die Familie anwuchs, in je mannichfaltigere Nebenzweige sie auslief, desto besonderer und göttlicherer Art mußte ihr das Stammeshaupt erscheinen, dem ihre Leiber nicht nur sämmtlich entsprossen waren, sondern dem sie auch ihr geistiges Leben in der Sitte verdankten. Übte dieses Haupt nun Zucht und Lehre zugleich, so vereinigte sich in ihm von selbst die königliche und die priesterliche Gewalt, und sein Ansehen mußte in dem Verhältnisse wachsen, als die Familie zum Stamme sich ausdehnte, und namentlich auch in dem Grade, als die Macht des ursprünglichen Familienhauptes an seine unmittelbaren Leibessprossen, als Erbe überging: gewöhnte sich der Stamm in diesen seine Oberhäupter zu erkennen, so mußte endlich der längst dahin geschiedene Stammvater, von dem dieses unbestrittene Ansehen ausging, als ein Gott selbst erscheinen, mindestens als die irdische Wiedergeburt eines idealen Gottes, und diese je älter desto heiliger werdende Vorstellung konnte wiederum nur dazu dienen, das Ansehen jenes Urgeschlechtes, dessen nächste Sprossen die jedesmaligen Oberhäupter abgaben, auf das Nachhaltigste zu vermehren.

Als nun die Erde durch Zurücktreten der Gewässer von der nördlichen und durch neue Überschwemmung der südlichen Halbkugel ihr jetziges Äußere annahm, drang die überreiche Bevölkerung jener Gebirgsinsel in die neuen Thäler und allmählich getrockneten Ebenen hinab. Welche Verhältnisse dahin wirkten, in den weiten Fruchtebenen Asiens unter den sie bevölkernden Stämmen das Patriarchat in der Weise fortzubilden, daß es sich zum monarchischen Despotismus verhärtete, ist genugsam dargethan: die, in weiter Wanderung nach Westen, endlich nach Europa gelangenden Stämme gingen einer bewegteren und freieren Entwickelung entgegen. Steter Kampf und Entbehrung in rauheren Gegenden und Klimaten brachten zeitig bei den Stammesgenossen das Gefühl und das Bewußtsein der Selbstständigkeit des Einzelnen hervor, und als nächster Erfolg in dieser Richtung erweist sich die Gestaltung der Gemeinde. Jedes Familienhaupt äußerte seine Macht über seine nächsten Angehörigen in ähnlicher Weise, als das Stammeshaupt uraltem Herkommen gemäß sie über den ganzen Stamm ansprach: in der Gemeinde sämmtlicher Familienhäupter fand also der König seinen Gegensatz und endlich seine Beschränkung. Das Wichtigste aber war, daß dem Könige das priesterliche Amt, d.h. zunächst die Deutung des Gottesausspruches – die Gottesschau – verloren ging, indem dieses mit derselben Befugniß, wie vom Urvater für seine Familie, nun von jedem einzelnen Familienhaupte für seine nächste Sippe ausgeübt ward. Dem Könige verblieb somit hauptsächlich die Anwendung und Ausführung des von den Gliedern der Gemeinde erkannten Gottesausspruches im gleich betheiligten Interesse Aller und im Sinne der Stammessitte. Je mehr sich nun die Aussprüche der Gemeinde auf weltliche Rechtsbegriffe, nämlich auf den Besitz, und das Recht des Einzelnen auf den Genuß desselben, zu beziehen hatten, desto mehr mochte jene Gottesschau, die ursprünglich als eine wesentlich höhere Machtbefähigung des Stammvaters gegolten hatte, in ein persönliches Dafürhalten in weltlichen Streitfällen übergehen, das religiöse Element des Patriarchates somit sich immer mehr verflüchtigen. Nur in der Person des Königs und in seiner unmittelbaren Sippe mußte es für die Gemeinde des Stammes haften: er war der sichtbare Vereinigungspunkt für alle Glieder derselben; in ihm ersah man den Nachfolger des Urvaters der weit verzweigten Genossenschaft, und in jedem Gliede seiner Familie erkannte man am reinsten das Blut, dem das ganze Volk entsprossen. Mochte nun auch diese Vorstellung mit der Zeit sich immer mehr verwischen, so blieb in dem Herzen des Volkes doch um so tiefer die Scheu und Ehrfurcht vor dem königlichen Stamme, je unfaßlicher ihm der ursprüngliche Grund der Auszeichnung dieses Geschlechtes werden mochte, von dem eben nur als altes unverändertes Herkommen galt, daß aus keinem andern, als aus diesem die Stammkönige zu wählen seien. Finden wir dieß Verhältniß bei fast allen nach Europa gewanderten Stämmen wieder, und erkennen wir es namentlich auch deutlich in Bezug auf die Stammkönige der griechischen Vorgeschichte, so erweist es sich uns am allerersichtlichsten unter den deutschen Stämmen, und hier vor allem in dem alten Königsgeschlechte der Franken, in welchem sich unter dem Namen der »Wibelingen« oder »Gibelinen« ein uralter Königsanspruch bis zum Anspruch der Weltherrschaft steigerte.