Fred Christmann

Keine Angst vor Ängsten


Verhaltenstherapeutische Techniken lernen und anleiten

Mit 6 Abbildungen und 7 Tabellen

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Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer

Stiftung Psyche

Johannesstraße 75 70176 Stuttgart-West

f.christmann@stiftung-psyche.de

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Lektorat und Projektleitung: Dr. Nadja Urbani

Umschlagabbildung: © Eric Isselée – Fotolia.com

ISBN 978-3-7945-9008-7

Vorwort

Medienberichten zufolge gibt es immer mehr Menschen, die unter Ängsten leiden. Wie kann das sein in einer Zeit, in der es viele anerkannte Therapieverfahren und immer mehr Psychotherapeuten gibt? Diese Frage war Ausgangspunkt für das vorliegende Buch.

Die heutigen Möglichkeiten werden leider nur selten ausgeschöpft. Mit diesem Buch sollen deshalb Therapeuten angeregt werden, die Behandlung von Ängsten effektiver zu gestalten. Betroffene sollen erfahren, was sie selbst dazu beitragen können, um ihren Ängsten wirkungsvoll zu begegnen oder zumindest besser damit zu leben. Und nicht zuletzt sollen Angehörige sowie alle anderen, die in Erziehung oder im Beruf Verantwortung für ängstliche Personen tragen, verstehen, wie sie möglicherweise unabsichtlich deren Ängste fördern und welchen Beitrag sie stattdessen zur Überwindung von Ängsten und zur Unterstützung von Angstbehandlungen leisten können.

Es sind sowohl vielfältige persönliche Erfahrungen mit der Grundemotion Angst und mit Angstpatienten als auch meine große Erfahrung in der Anleitung junger Therapeuten, die diesem Buch zugrunde liegen. Diese Erfahrungen und Erfolge stimmen mich optimistisch, mit diesem Buch einen Beitrag zur Verbesserung der Situation von Menschen mit Ängsten leisten zu können. Allen Gesprächspartnern, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sowie Eltern, Lehrern und Partnern von Angstbetroffenen, danke ich an dieser Stelle herzlich für ihre Offenheit und ihr Vertrauen. Bedanken möchte ich mich auch für Anregungen durch Kollegen. Besonders danke ich meinem ehemaligen Mitarbeiter Frank Frey sowie Frau Dr. Urbani, Lektorin im Schattauer Verlag, die wesentlich zur Verbesserung der Verständlichkeit des Textes beigetragen haben.

Zur besseren Lesbarkeit habe ich mich für die männliche Sprachform entschieden – die vielen Frauen als Therapeutinnen und Patientinnen sind selbstverständlich inbegriffen.

Die in diesem Buch beschriebenen psychologischen Experimente werden in einer Ausstellung der Stiftung Psyche in Stuttgart gezeigt, wo ergänzend auch Gruppentherapien und Workshops zur Selbsterfahrung und Vertiefung psychologischer Kompetenzen durchgeführt werden.

Es gibt heute somit viele Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem Thema Angst. Man muss kein Hegel und kein Goethe sein, die selbst mit diesem Thema konfrontiert waren, um Ängste zu verstehen und damit besser im Leben zurechtzukommen.

Stuttgart, im Juni 2015
Fred Christmann

Inhalt

1 Einführung

2 Die natürliche Angstreaktion und das Vermächtnis der Evolution

3 Erscheinungsformen der Angst

4 Neurobiologische Erkenntnisse

4.1 Sind Ängste schädlich?

4.2 Weshalb dominiert die Angst?

5 Psychologische Erkenntnisse durch Experimente

5.1 Erlernen von Angst: Konditionierung

5.2 Löschen von Angst: Gegenkonditionierung

5.3 Bereitschaft zum Lernerwerb

5.4 Ängstlich durch Beobachtung

5.5 Verstärken der Angst: Operante Konditionierung

5.6 Interpretation von Gefühlen

5.7 Erlernte Hilflosigkeit

6 Zum Umgang mit ängstlichen Personen

6.1 Hilfe durch eine Bezugsperson

7 Was bringt die Aufarbeitung der Kindheit?

8 Ursachen absurder Ängste und Voraussetzungen für Veränderung

8.1 Verhaltensanalyse einer Panikattacke

8.2 Entscheidung zur Veränderung

9 Therapeutische Interventionen

9.1 Beobachtung und Analyse der Angst

9.2 Veränderungsskala und Angsthierarchie

9.3 Probehandeln

9.4 Konfrontation mit der Angst

9.5 Veränderung des Denkens

9.6 Emotionale Distanzierung

9.7 Entspannung und Achtsamkeit

9.8 Imagination und Mentales Training

9.8.1 Innere Bilder

9.8.2 Innere Helfer

9.8.3 Therapeutische Geschichten

9.9 Üben und Überlernen

10 Die eigene Angst bewältigen

10.1 Zehn Strategien gegen die Angst

10.1.1 Erleichterung verschaffen durch Gespräche, Entspannungsübungen und Klärung von Konflikten

10.1.2 Angstauslösende Situationen ändern

10.1.3 Vermeidung verhindern und Habituation ermöglichen

10.1.4 Förderliche Nähe oder nötige Distanz herstellen

10.1.5 Das Denken verändern durch Entkatastrophisieren und rationale Problemlösung

10.1.6 Zu sich selbst und den eigenen Absichten stehen

10.1.7 Sich an Menschen orientieren, die Widrigkeiten überwunden haben

10.1.8 Schrittweise vorgehen und Erfahrung ermöglichen

10.1.9 Kompetenzen erlernen und Sicherheit erwerben

10.1.10 Hilfreiche Verhaltensweisen zur Gewohnheit werden lassen

10.2 Ein Plan gegen Ihre Angst

10.2.1 Klärung

10.2.2 Zielsetzung

10.2.3 Auswertung

10.3 Rahmenbedingungen

11 Der globalen Verunsicherung trotzen

12 Anhang

12.1 Literatur

12.2 Materialien für Kinder und Jugendliche

12.2.1 Belohnungen in der Kindertherapie

12.2.2 Psychotherapie mit Jugendlichen

12.2.3 Beurteilung der Lebensqualität

12.2.4 Traumatische Erlebnisse

12.2.5 Verhaltenskategorien für Spielsituationen

12.2.6 Geschichte gegen Angst vor Alleinsein und Dunkelheit

12.2.7 Entspannungsübungen für Kinder und Jugendliche

12.2.8 Autogenes Training

12.3 Sachverzeichnis

1 Einführung

Unsere Lebensbedingungen in Europa sind heute weitgehend von Frieden, Sicherheit und Wohlstand geprägt. Es wäre zu erwarten, dass Angst in unserem Leben keine nennenswerte Rolle mehr spielt und nur im evolutionär vorgesehenen Kontext auftritt. Angst beschränkt sich heute jedoch keineswegs nur auf tatsächliche Bedrohungssituationen.

Der Angstforscher Borwin Bandelow (Bandelow 2004) geht von 17 Millionen Menschen aus, die in den deutschsprachigen Ländern von einer Angsterkrankung betroffen sind. Demnach leiden 25 Prozent aller Menschen wenigstens einmal in ihrem Leben an einer Angststörung. In psychotherapeutischen oder psychiatrischen Einrichtungen gehören übermäßige Ängste zu den häufigsten Beschwerden der Patienten. Doch weisen auch viele somatische Erkrankungen eine Angststörung als Ursache auf. Noch bis vor wenigen Jahren wurden die auslösenden Ängste von Hausärzten zumeist nicht erkannt. Heute dagegen vermuten viele Allgemeinärzte bei unklaren chronischen Beschwerden zumindest eine psychische Komponente und überweisen ihre Patienten dann zu einem Psychiater oder Psychotherapeuten. Eine solche Überweisung wird von Patienten inzwischen auch viel positiver aufgenommen als noch vor wenigen Jahren.

Da Angst eine natürliche Reaktion des Körpers ist, fällt die Abgrenzung zur Erkrankung oft nicht leicht. Von einer Angststörung ist auszugehen, wenn die Angst unangemessen (Unfähigkeit zum Urinieren in öffentlichen Toiletten) oder stark übertrieben ist (Denkblockade in Prüfung). Sie kann unspezifisch auftreten, d. h. ohne konkreten Auslöser, oder durch ein bestimmtes Objekt (Spinne) oder eine Situation (enger Raum) entstehen. Wichtig ist das Kriterium der Belastung, also wie sehr ein Mensch unter der Angst leidet. Die körperlichen Reaktionen (Herzklopfen, Schwindel, Schweißausbruch, Mundtrockenheit, Übelkeit usw.) selbst sind dabei weniger entscheidend als vielmehr deren Intensität, Dauer und Häufigkeit. Sie geben deutlicher Aufschluss darüber, wie sehr das Leben des Betroffenen beeinträchtigt ist.

Obwohl Angsterkrankungen (ebenso wie andere psychische Störungen) im letzten Jahrzehnt häufiger diagnostiziert wurden, glauben Experten nicht an eine Zunahme der Störungen. Sie vermuten eher, dass der veränderte Umgang der Betroffenen mit ihrem Leiden, die größere Informiertheit und Sensibilität bezüglich psychischer Belastungen die Behandlungszahlen explodieren lassen.

Die Öffnung der westlichen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg und der wissenschaftliche Fortschritt führten zu einer fortschreitenden Enttabuisierung psychischer Erkrankungen. Hinzu kommen die Veränderungen des modernen Lebens mit seiner Reizüberflutung und dem Verlust an Kontinuität, deren Bedeutung für das veränderte Zusammenleben der Menschen gar nicht hoch genug einzuschätzen ist. Sie fordern bei Betroffenen, Angehörigen und den Verantwortlichen im Gesundheitswesen ein Umdenken in der Bewertung psychischer Krisen: Die psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungsangebote werden stark ausgeweitet und professionalisiert. Es ist nicht mehr notwendig, körperliche Schmerzen anzuführen, um Hilfe erwarten zu können. Jeder, der ein seelisches Leiden vorbringt, findet auch Gehör.

Diese insgesamt erfreuliche Versorgungsentwicklung ist jedoch keinesfalls abgeschlossen. Noch immer bestehen subtile Vorbehalte gegenüber psychisch Erkrankten und Psychotherapie. Sie zeigen sich z. B. darin, dass die Diagnose Burnout von Betroffenen und Angehörigen wesentlich besser angenommen wird als die inhaltlich entsprechende Diagnose Depression. Psychische Erkrankungen werden mitunter eher als Charaktermangel denn als Krankheit angesehen, der Betroffene sei quasi selbst schuld. Und die Wirksamkeit von Psychotherapie wird trotz guter Belege anders als die Körpermedizin auch immer wieder in Frage gestellt.

In meiner langjährigen Tätigkeit als Psychotherapeut, Supervisor und Leiter eines Ausbildungsinstituts für Psychotherapie habe ich die unterschiedlichsten Ängste von Kindern und Erwachsenen kennengelernt. Ich habe viel Leid bei den Betroffenen und ihren Angehörigen erlebt, aber auch beeindruckende Veränderungen beobachtet und therapeutische Erfolge erzielt. Im Folgenden möchte ich exemplarisch einige Beispiele aus der Arbeit mit meinen Patienten kurz schildern:

  • Ein 30-jähriger Mann scheiterte trotz 7-jähriger (analytischer) Psychotherapie immer wieder an seiner Abschlussprüfung an der Universität. Er litt unter Verzweiflungsgefühlen, zu denen sich auch eine körperliche Erkrankung gesellte. Nach einem Vierteljahr (verhaltenstherapeutischer) Behandlung bestand er souverän seine Prüfung. In der Folgezeit verschwanden auch alle somatischen Beschwerden, wie ein seit Jahren behandeltes endogenes Ekzem.
  • Ein 15-jähriger Schüler konnte aufgrund seiner großen sozialen Ängste die elterliche Wohnung nicht mehr verlassen. Eine medikamentöse Behandlung zeigte keine Wirkung. Zwei Jahre lang war er von einem Psychiater krankgeschrieben worden und besuchte keine Schule. Nach vier Monaten therapeutischer Arbeit mit ihm schaffte er den Wiedereintritt in die Schule und erlangte ohne weitere Komplikationen seinen Schulabschluss.
  • Eine 43-jährige Frau war trotz weitgehend erfolgreicher Behandlung ihrer Panikstörung und trotz erweiterten Aktionsradiuses noch nicht in der Lage, selbstständig mit dem Auto zu fahren. Nach nur zwei Sitzungen setzte sie sich wieder hinter das Steuer und fährt seitdem regelmäßig ihren Ehemann zur Arbeit.
  • Ein 9-jähriges Kind litt unter extremen Schlafstörungen, nachdem es auf seinem Fahrrad von einem Auto angefahren worden war. Es zeigte Aggressionen und war unfähig, konzentriert zu lernen. Durch die therapeutische Bewältigung des Traumas gelang seine emotionale Stabilisierung. In der Folge legten sich die Verhaltensstörungen weitgehend.

Zwar sind die geschilderten Erfolge Einzelfälle, doch die Prinzipien der Angstbewältigung ziehen sich als roter Faden durch alle Behandlungen.

Wie konnte diesen Patienten geholfen werden? Welches sind die wichtigsten Vorgehensweisen zur Überwindung von Ängsten? Was unterscheidet die erfolgreiche von der weniger effektiven Behandlung? Welche Fehler gilt es zu vermeiden? Welche Konstanten sollten besser akzeptiert werden, statt eine Veränderung erzwingen zu wollen? Auf all diese Fragen will das Buch eine Antwort geben. Es ist kein Lehrbuch, das die Entwicklung und den neuesten Stand wissenschaftlicher Erkenntnis beschreibt. Es soll vielmehr helfen, Angst in seiner Gänze zu verstehen, um konkrete Hilfestellung zu bieten. Das Buch vermittelt, wie die Entstehung von Ängsten verhindert und bestehende Ängste wirksam bekämpft werden können. Als Begleitbuch hilft es Patienten, die sich in Psychotherapie befinden, noch größeren Nutzen aus ihrer Behandlung zu ziehen. Als Aufklärungsmedium möchte es Partnern, Erziehern und Vorgesetzten von ängstlichen Personen verdeutlichen, inwiefern ihre Interaktion die Ängste von Betroffenen unfreiwillig verstärken und aufrechterhalten kann – und wie im Gegensatz dazu eine Hilfestellung zur Angstverminderung möglich ist. Durch die Förderung des Verständnisses für das Alltagsphänomen Angst trägt es dazu bei, die Rahmenbedingungen unseres Zusammenlebens sowie die Nutzung der gesellschaftlichen Ressourcen zu verbessern. Schließlich wendet es sich an Therapeuten, die noch relativ wenig Erfahrung mit Angstbehandlungen haben. Ihnen soll das Buch die Orientierung hinsichtlich der Vielzahl an Behandlungsmaßnahmen und -techniken erleichtern und die Effektivität ihrer Intervention verbessern.

Im Laufe meiner Arbeit als Therapeut konnte ich den meisten Menschen helfen, die in ihrem Leben eine Veränderung erreichen wollten. Den Psychologen und Pädagogen in Ausbildung, die nach ihrem Studium die Weiterbildung zum Psychotherapeuten in meinem Institut absolvierten, habe ich meine therapeutische Erfahrung in Seminaren vermittelt. In diesem Buch sehe ich die Möglichkeit, meine Kenntnisse, wie sich Angsterkrankungen am besten behandeln lassen, an einen größeren Kreis von Therapeuten, Betroffenen, Bezugspersonen und psychologisch Interessierten weiterzugeben.

Lassen Sie sich anregen von den Möglichkeiten, Ängste in den verschiedensten Lebenslagen gezielt und effektiv zu bekämpfen. Dieses Buch eignet sich für jeden, der sich selbst oder einen Mitmenschen unterstützen möchte. Lehrer (und Erzieher) erhalten eine wertvolle Hilfestellung für die Arbeit mit ihren Schülern; Patienten können mit dem Wissen und der Erfahrung, die in diesem Buch schlummern, ihr eigener Coach werden und ihren Umgang mit der Angst gezielt verbessern. Trotz besserer Versorgung in der Psychotherapie ist jedoch das Income/Outcome-Verhältnis in der Behandlung von Angststörungen heute gegenüber den 1980er-Jahren rückläufig (Hand 2014). Die damals junge Verhaltenstherapie war sehr innovativ und ihre Vertreter mussten sich noch beweisen. Sie verließen das Therapiezimmer und stellten sich direkt der jeweils problematischen Situation, um sich von den eher aufs Gespräch fokussierten Therapeuten zu unterscheiden. Die damit einhergehenden Erfolge und deren Bestätigung durch die Wissenschaft ermöglichten schließlich die Kassenzulassung für die Verhaltenstherapie. Kurz gesagt: Verhaltenstherapie ist wirksam – bereichern Sie also das Leben Ihres Patienten, Ihr eigenes Leben und das Ihrer Lieben. Weniger Angst, mehr vom Leben!

2 Die natürliche Angstreaktion und das Vermächtnis der Evolution

In der Geschichte der Menschheit kommen Veränderungen nur sehr langsam zustande. Die Landwirtschaft entwickelte sich vor etwa 10.000 Jahren, Staatsregierungen entstanden vor rund 5.000 Jahren. Seit 100.000 Jahren erst existiert der moderne Homo sapiens. Noch immer sind die Gene und das Verhalten des Menschen im Wesentlichen von seiner Frühgeschichte geprägt. Zu dieser Geschichte gehören vielerlei Ängste. Sie sind sein evolutionär-biologisches Erbe.

Angst hat also eine lange Tradition. Jeder kennt Angst, sie ist eine natürliche Reaktion des Körpers und gehört als solche zur Gattung Mensch. Angst tritt bei Naturvölkern genauso auf wie in modernen Gesellschaften. Sie beschränkt sich nicht auf eine Bevölkerungsgruppe, sondern kommt in allen sozialen Schichten vor. Obwohl sie allgemeingültige Züge trägt, die auf jeden Menschen gleichermaßen zutreffen, und auch stark kulturell geprägt ist, tritt sie doch als ein individuelles Phänomen in Erscheinung. Sie flammt kurz auf oder lähmt anhaltend, tritt mit großer Heftigkeit auf und löst akute Panikgefühle aus; oder sie wirkt unbemerkt und zeigt sich nur indirekt.

Jared Diamond hat als Anthropologe nicht nur in unterschiedlichen Kulturen der Welt gelebt, sondern auch die letzten isoliert lebenden Gesellschaften in Südamerika, Australien und Neuguinea direkt beobachten können (Diamond 2012). Selbst in diesen kleinen, autonom existierenden Gemeinschaften, in denen sich die Mitglieder untereinander persönlich kennen, erleben die Menschen Ängste. Vor allem besteht eine große Angst vor Fremden. Begegnungen mit Fremden bedeuten für diese abgeschotteten Kulturen zumeist Krieg. Doch die Mitglieder der Gemeinschaft schämen sich ihrer Ängste nicht. Es gibt kein Machotum, keinen übertriebenen Männlichkeitsgestus, der Angst als ehrverletzend empfindet. Angst gehört ganz natürlich zum Leben.

Abgebaut wird sie durch eine gemeinsame Lernerfahrung, an der sich die Gruppe unterstützend beteiligt. Eine solche Lernerfahrung entsteht etwa durch:

  • Vorbereitung (genaues Untersuchen von Tierspuren auf der Jagd)
  • Übung (schon kleine Kinder hantieren mit spitzen Pfeilen und werden frühzeitig auf das Töten von Fremden vorbereitet)
  • Rituale (religiöse Zeremonien, wie etwa Beten, stimmen psychisch auf bevorstehende Auseinandersetzungen ein; sie ermöglichen die symbolische Bändigung des Unkontrollierbaren und helfen so bei der Angstkontrolle).

Wie zeigt sich Angst im Tierreich? In der Fauna finden sich sowohl die typischen Fluchttiere, die bei jedem Anzeichen von Gefahr Reißaus nehmen, als auch die Jäger, die auf Beute aus sind und dabei ihr Leben aufs Spiel setzen.

Während der Regenzeit leben die Gnus in großen Herden in den nahrungsreichen Ebenen der Serengeti in Tansania. Hier wird ihr Leben von den vielen Löwen bedroht, die im selben Revier nach Futter jagen. Mit dem Ende der Regenzeit zieht die Herde weiter Richtung Norden, in das heutige Kenia, wo sie mehr schmackhafte Gräser finden. Auf ihrem Weg dorthin gilt es, den Mara-Fluss zu überqueren, der von zahlreichen hungrigen Krokodilen bevölkert wird. Es kostet die Gnus Überwindung, durch den Fluss zu gehen. Sie scheinen um die Gefahr zu wissen, die darin lauert. Sie zögern, doch es gibt keinen anderen Weg, kein Gnu kommt um die Überquerung herum. Von allen Seiten drängt die Masse der Herde nach.

Das Gnu ist kein kleines Tier. Seine Länge beträgt etwa zwei Meter; es hat eine Schulterhöhe von 1,30 Meter und bringt ein Gewicht von 200 Kilogramm auf die Waage; am Kopf befinden sich kurze, kräftige Hörner. Das Erstaunliche ist nun: Wird ein Gnu von einem Krokodil gepackt, wehrt es sich nicht gegen den Angreifer. Seine ganze Überlebensstrategie besteht darin, sich über Wasser zu halten. Instinktiv hofft es darauf, dass dem Krokodil mit der riesigen Beute im Maul die Kraft ausgeht. Und tatsächlich gelingt es auf diese Weise manch einem Gnu, dem Tod zu entrinnen. Die anderen Herdenmitglieder ziehen unterdessen weiter. Der Todeskampf eines Artgenossen ist nichts, was sie zum Verweilen brächte. Die einzige Möglichkeit, das Überleben der Herde sicherzustellen, ist die Ankunft am ersehnten Futterplatz.

Erst mit dem Neubeginn der Regenzeit kehren die Herden wieder zu den üppig sprießenden Nahrungsvorräten der Serengeti zurück. Abermals durchqueren sie den von Krokodilen bevölkerten Fluss, nur um an ihrem Ziel wiederum von den hungrigen Löwen erwartet zu werden. Doch während zwei Drittel der Löwen in der Zwischenzeit verhungert sind, hat sich die Gnu-Population nahezu verdoppelt. Ihre Strategie, sich nicht um den Verlust eines Einzelnen zu kümmern, sondern den fruchtbaren Ort aufzusuchen und sich zu vermehren, hat sich als erfolgreicher herausgestellt.

Aus unserer Sicht, die wir gern als die zivilisierte betrachten, scheint es erbärmlich, wie die Gnus sich wehrlos ihrem Jäger ergeben – als ob sie sich dem Tod teilnahmslos hingäben. Doch die Angst des einzelnen Gnus wird, im Rahmen des Futtergebots, durch das Kollektiv bewältigt. Zwar empfindet das einzelne Gnu Angst, aber es braucht sich nicht als defizitär zu erleben. Verglichen mit den anderen Gnus ist die Angst des einzelnen nichts Besonderes. Alle Gnus haben gleichermaßen Angst und fliehen vor den Krokodilen und Löwen. Im Angesicht dieser Bedrohung ist Angst gar die einzig angemessene Empfindung. Angst ist etwas ganz Natürliches.

Damit stellt sie weder im Tierreich noch bei den naturnahen Völkern ein Problem dar. Wie aber geht der heutige Mensch mit dieser Naturanlage um?

3 Erscheinungsformen der Angst

Das Leben im westlichen Kulturkreis ist von Individualisierung und Verstädterung gekennzeichnet. Ständig umgeben uns Menschen, die uns fremd sind und mit denen wir eigentlich nichts zu tun haben wollen. Zwar sorgt die staatliche Organisation mit ihrem polizeilichen Gewaltmonopol dafür, dass wir uns relativ sicher fühlen und uns kaum zu fürchten brauchen. Dennoch ist unser Gehirn evolutionär betrachtet für eine ganz andere Umgebung, nämlich überschaubare Gebiete mit bekannten Personen, ausgelegt. Das macht uns empfänglich für die verbreiteten Phänomene Agoraphobie und Panikstörung.

Der moderne Mensch kennt keine absoluten Gewissheiten. Es existiert keine eindeutige Richtlinie für unser Handeln mehr. In dieser hoch individualistischen Gesellschaft, in der die persönlichen Bindungen sehr fragil sind, obliegt dem Individuum selbst die Verantwortung für sein Leben. Bei diesem Wettbewerb um das persönliche Glück kommt es zu einer großen Vereinsamung des Einzelnen und zum ständigen Vergleich mit erfolgreichen Anderen, die der sozialen Phobie Vorschub leisten.

Doch Angst braucht nicht notwendig nur ein quälendes Gefühl zu sein, das Macht über uns hat. Sie kann auch mit Lust verbunden sein. Gruselfilme, Vergnügungsparks und viele Sportarten jagen uns wohlige Schauer über den Rücken. Besonders verbotene Aktivitäten, wie illegale Autorennen, können eine als lustvoll empfundene Angst auslösen.

Neben der Stimulation unseres Lustempfindens warnt uns Angst auch vor Gefahren. Diese Warnfunktion muss nicht auf eine bestimmte Situation oder ein konkretes Objekt bezogen sein. Gerade in unserer Auslieferung an die gesellschaftlichen Umstände benötigen wir eine unspezifische Angst, die uns hilft, uns mit uns selbst und der umgebenden Welt auseinanderzusetzen. Damit können wir Angst auch als nützlichen Antrieb zum Erkenntnisgewinn verstehen. Sie stiftet uns an, über uns selbst nachzudenken.

Bei dieser Instrumentalisierung der Angst als Erkenntnisantrieb kommt es auf das rechte Maß an. Wer zu viel in sich hineinhört, wer alles hinterfragt, wird erst recht verunsichert, sieht überall Probleme und scheut Entscheidungen wie auch neue Aufgaben. Unspezifische Angst kann allerdings auch die unermüdliche Arbeitswut des Workaholics speisen. Unter großer Anstrengung versucht er, einen Leerlauf zu vermeiden, der ihn zwingen würde, sich mit dem eigenen Leben zu beschäftigen. So aber binden die Fesseln der Arbeit seine mentalen Kräfte und verhindern, dass er auf sich selbst zurückgeworfen wird und sich die Unsicherheit und Angst in ihm zeigen.

Auch hinter folgenden Phänomenen kann sich Angst verbergen:

  • Vermeidungsverhalten
  • Aktionismus
  • Rivalisieren
  • psychosomatische Beschwerden
  • (starres) Festhalten an Gewohnheiten.

Der Unterschied zwischen einer angemessenen Form der Angst, die uns nützt, und einer übertriebenen Angst ist fließend. Das, was wir als rechtes Maß von Angst verstehen, ist abhängig von unserer Bewertung.

Viele Ängste sind weit verbreitet und sozial akzeptiert. Dazu gehört etwa bei Kleinkindern die Angst vor Fremden, bei Frauen die Angst vor Dunkelheit. Dagegen sind andere Ängste höchst skurril und schwer nachvollziehbar, wie z. B. die Angst einer Frau vor Schwangerschaft, die gar keinen Kontakt zu Männern hat. Die Angst vor Raubtieren erscheint sehr vernünftig, die Angst vor harmlosen Spinnen aber höchst irrational. Wieder andere Ängste sind dem Betroffenen peinlich und lösen Scham aus. Dazu gehört etwa die Angst vor dem Erröten.

Wenige Ängste sind tatsächlich geschlechtsspezifisch. Zu den spezifisch männlichen Ängsten gehört die Angst vor sexuellem Versagen oder die panikartige Angst vor dem plötzlichen Verschwinden des Penis bei männlichen Angehörigen von Naturvölkern.

Obwohl Ängste grundsätzlich in jedem Lebensalter auftreten können, gibt es einige, die in bestimmten Altersspannen deutlich häufiger vorkommen. Dazu gehört die Agoraphobie, die meist unvermittelt im jungen Erwachsenenalter ausbricht. Sie überrascht besonders leistungsorientierte Menschen, die bis dahin nicht als ängstlich galten. Die Ausformung der Angst zur Erkrankung zeigt sich bei den meisten Ängsten nicht schon im Kindesalter, sondern erst mit dem Erwachsenwerden.

Ängstliche Menschen haben keineswegs in jeder Situation mehr Angst als andere. Bei Katastrophen hat sich immer wieder gezeigt, dass ängstliche Personen angesichts der realen Gefahr weniger Angst zeigen als bei eigentlich harmlosen Begebenheiten, in denen die Angsterkrankung zum Vorschein kommt. Bei einem Autounfall können sie sich z. B. sehr zupackend um andere Beteiligte kümmern, während manch eine vermeintlich wenig ängstliche Person vor Schreck wie gelähmt wirkt.

Zukunftsangst meint ein Sich-Sorgen um die zukünftigen Lebensverhältnisse. In repräsentativen Umfragen (Quelle: R+V Infocenter 2014) dominieren Ängste mit Bezug zu wirtschaftlich/politischen Themen: 61 % der Deutschen befürchten steigende Lebenshaltungskosten, 50 % eine sich verschlechternde Wirtschaftslage. Diese und ähnliche Sorgen, z. B. dass die Rente im Alter nicht ausreicht, haben seit 2001 stetig zugenommen. Krankheitsängste haben dagegen deutlich abgenommen von damals 66 % auf 40 % im Jahr 2013. Angst vor Straftaten ist mit 24 % heute nur noch halb so ausgeprägt wie die Angst vor Terrorismus (43 %).

Zukunftsängste werden stark von Medienberichten in Verbindung mit Einzelwahrnehmungen beeinflusst. Eine Zunahme an bettelnden Personen im Stadtbild scheint Berichte über eine Gefährdung des Wohlstands zu bestätigen; der noch ungewohnte Anblick von gänzlich schwarz verschleierten Frauen kann in Verbindung mit Terrorismusmeldungen ein Gefühl von Kontrollverlust verstärken so wie auch Unrat und Wandschmierereien im Zusammenhang mit Nachrichten über Politikversagen.

Nicht wenige Ängste hängen mit falscher unbewusster Einschätzung des Risikos zusammen. So fürchten sich angesichts der realen Gefährdung viel zu wenige Menschen vor dem Straßenverkehr im Vergleich zum Flugzeug. Auch bei Umwelt- und Krankheitsängsten fürchten viele die falschen Risiken. Krebserkrankungen z. B. haben sehr viel häufiger ihre Ursache in ungesunder Ernährung, die deutlich mehr gefürchteten Pestizidrückstände stellen dagegen fast keine Gefahr hinsichtlich einer Krebserkrankung dar. Eine bessere Balance zwischen Risiko und Angst lässt sich durch Information erreichen. Die heutige Informationsflut beeinflusst jedoch manchmal in die falsche Richtung. So fürchten wir, was viel thematisiert wird, seien es die Gefahren des Fliegens, seien es Morde, die Globalisierung oder der Kursverfall bei Aktien.

Im Oktober 2014 gab es in allen relevanten Medien wieder einmal Horrormeldungen über das Abkühlen der Wirtschaft: der schlimmste Rückgang seit 2009 … Angesichts der Flaute in den südeuropäischen Ländern und der Russland-Ukraine-Krise war die Situation in Deutschland recht stabil, die Arbeitslosenzahl sank sogar. Das Wirtschaftswachstum kletterte in Deutschland gegenüber dem Vorjahr von 0,4 % auf 1,3 % – eine Steigerung, die es viele Jahre nicht mehr gegeben hatte. Aber weil die Experten eine noch höhere Steigerung auf 2,0