Wolfgang Schreyer
Mit Kräuterschnaps und Gottvertrauen
Roman
ISBN 978-3-86394-082-9 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1953 im Verlag Das Neue Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2013 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Godern
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Meinen Ebenstedter Freunden und Kollegen versichere ich, dass nur die edlen, sauberen und artständigen Charaktere dieses Romans hier und da dem Leben nachgezeichnet wurden. Dagegen habe ich sämtliche bösen und unsympathischen Figuren völlig frei erfunden. Sollte sich trotzdem jemand getroffen fühlen ('Teufel. Teufel!'), so erkläre ich feierlich: Das ist reiner Zufall.
An einem feuchtkalten Februarabend rollte ein mit Buchenholz betriebener Lastwagen südwärts auf der Straße 189 in Richtung Magdeburg. Der Fahrer des hellblau lackierten, zumeist stinkenden Qualm verbreitenden Wagens, Günter Herbst, fror. Seine breiten, öligen Hände lagen auf dem heftig zitternden Lenkrad. Er fror empfindlich, weil er sich nicht bewegen konnte. Von irgendwoher, so fand er, zog es immer; am meisten von unten. Überall klafften Ritzen und Löcher, durch die eisiger Fahrtwind drang. Zwar gab es verschiedene Methoden, dem abzuhelfen. Man stopfte Zeitungspapier oder Lappen hinein, legte den Wagenboden mit Pappe und Teppichresten aus, wickelte sich in Wolldecken. Aber viel half das nicht. Das rhythmische Zittern des Motors und die Schlaglöcher der Landstraße jagten einen Schauer von leichten und heftigen Stößen durch den Wagen. Nichts hielt diesem unablässigen Schütteln stand, kein Öllappen und kein Teppichstück; alles veränderte seine Lage, alte Ritzen taten sich auf, neue kamen mit jeder Fahrt dazu. Da war nichts zu machen.
Günter Herbst zog die Schulter hoch, fischte eine Zigarette aus der Joppentasche und versuchte, sie in Brand zu setzen. Natürlich, dachte er, es ist ein bisschen leichtsinnig, gerade hier sich ein Stäbchen anzustecken. Denn es ist stockfinster und du bist immer noch nicht aus dem verdammten Kaff raus. Aber was soll man machen, wenn man Appetit hat? Sein Kopf stieß vor, verfehlte die Streichholzflamme. Irgendein Luftstrom blies sie aus. Zwei Sekunden dauerte das nur, aber währenddessen rollte der schwere Lastwagen zwanzig Meter weiter, geradeaus - hoffentlich.
Kein Mensch war mehr auf der Straße; mit den Hühnern gingen sie hier schlafen. Jetzt wurden die Hausabstände größer. Das verdammte Kaff, eine Kleinstadt nahe der Zonengrenze, war anscheinend bald zu Ende.
Auch der zweite Versuch scheiterte; höhnisch tanzte die Flamme in der zitternden Hand auf und ab. Nervös wie 'n Tattergreis, dachte er; vollkommen übermüdet. Seit dem Morgengrauen war er unterwegs, ohne Beifahrer. Was zu viel ist, ist zu viel. Als Angestellten führten sie ihn, und in solchen Augenblicken war er geneigt, dies für einen hinterlistigen Trick zu halten, der es der Firma ermöglichte, seine Überstunden nicht zu bezahlen. Und er beschloss ernstlich, einmal mit dem Prokuristen zu reden. Das hatte er schon des Öfteren beschlossen.
Günter schob die Zigarette verdrossen hinters Ohr und sah auf die Leuchtziffern der Armbanduhr: Schon neun durch. Mindestens eine Stunde Fahrt lag noch vor ihm. Seine Stimmung war denkbar schlecht. Wie würde es wohl verlaufen, wenn er um Gehaltserhöhung nachsuchte? Er malte sich gern derartige Szenen vorher aus, recht umständlich und in allen Einzelheiten. Man konnte sich damit eine Weile beschäftigen, und schließlich gab es einem das Gefühl, für alles gewappnet zu sein.
Nun, vielleicht ging es so: Man klopfte am Prokuristenbüro, trat ein und sagte: 'Guten Morgen, Herr Bruchmann.' Ein bleiches Gesicht hebt sich von Geschäftsbüchern, die randlose Brille, leichter Lavendelduft. 'Morgen, Morgen, Morgen - naaa, mein lieber Herr Herbst, was bringen Sie uns Schönes?' – 'Ja also, Herr Bruchmann, ich bin gestern wieder dreizehn Stunden auf Achse gewesen ...' – 'Soo, soo, soo ...' Und nun musste man natürlich zum Kern der Sache kommen. 'Zu diesen großen Touren muss ich mir immer für den ganzen Tag Kaltverpflegung mitnehmen, Herr Bruchmann, Wurstbrote das läuft mächtig ins Geld!' So ganz stimmte das zwar nicht, unterwegs aß er nie viel, und seine Wirtin hob ihm meist etwas Warmes auf. Aber er erkannte wohl, dass dies ein brauchbares Argument sei und beschloss, es sich zu merken. Was konnte Bruchmann schon groß darauf antworten? Nun, wahrscheinlich würde er es andersherum machen. 'Also, mein lieber Herr Herbst, ich legte Ihnen ja gern fünfzig Mark zu, das können Sie mir glauben! Aber dem Chef ist der Fuhrbetrieb jetzt schon zu teuer, denken Sie mal an die Reifen neulich, und die dauernden Reparaturen. Wenn das so weiter geht, sagte der Chef, dann kommen wir mit Bahnversand billiger davon.' Wenn er dir so kommt, dann bist du erledigt, sann Günter schwermütig. Von Bruchmann hing das ja auch nicht ab. Der Chef entschied. Und wenn der nicht will, dann will er nicht. Da kannst du nichts machen.
Günter Herbst schreckte auf. Die Scheinwerfer erfassten ein gelbes Schild; es zeigte den Ortsausgang an. "Magdeburg 42 km" las er mechanisch. In diesem Augenblick erspähte er eine weibliche Gestalt. Sie stand halb auf der Fahrbahn und winkte mit einem Tuch. Er trat auf die Bremse.
Der Wagen stand. Er drückte die Tür auf, schaute zurück, einen leisen Druck in der Kehle, wütend über sich selbst. Er hatte keineswegs halten wollen. Zu nächtlicher Stunde auch noch Fahrgäste mitzunehmen, das war nicht seine Sache. Es verhielt sich einfach so, dass seine Nerven auf das Winken automatisch reagiert hatten; das Auge sah die winkende Hand, der Fuß trat in das Bremspedal. Soweit ist es schon gekommen! Die Erkenntnis dieses Versagens verschärfte den Druck in seinem Hals. Seine Stimmung hatte nun ihren Tiefpunkt erreicht. Er begriff, dass die Anwesenheit eines Fahrgastes ihm sogar die Möglichkeit nehmen würde, seinem Ärger durch herzhafte Flüche Luft zu machen. Aber was sollte man denn tun? Da kam sie ja schon!
"Guten Abend! Vielen Dank, dass Sie gehalten haben. Fahren Sie nach Magdeburg?"
Günter bejahte und ließ sie zusteigen. Viel konnte er nicht von ihr sehen. Der Stimme nach - ein junges Mädchen. Ihr Regenmantel raschelte an seiner Seite. Aber das war ja alles recht gleichgültig. Wenn du nur erst zu Hause wärst.
"Ich habe den Zug verpasst", sagte sie, noch immer ein wenig außer Atem.
"Dann hat's ja noch mal geklappt", bemerkte er unfreundlich. Er ließ den Motor aufheulen und zog unter kreischendem Knarren den ersten Gang herein; alles missriet ihm heute.
"Und da dachte ich, du stellst dich an die Straße, vielleicht hast du Glück."
Ihn kümmerte wenig, was sie dachte; und mit einer gewissen Genugtuung unternahm er es, ihrer allzu guten Laune Abbruch zu tun: "Wir müssen vorher noch einen kleinen Abstecher machen. Ein Kunde bekommt noch Ware ausgeliefert. Wird uns 'ne halbe Stunde aufhalten." Er schaltete herauf; der Wagen gewann rasch an Fahrt.
"Ach, das macht doch nichts. Ich bin ja so froh, dass ich heute noch nach Magdeburg komme!"
So, sie war froh. Schön, sollte sie; wie es aussah, ließ sich dagegen nichts machen. Er hoffte nur, ihre frohe Stimmung möchte nicht Redseligkeit zur Folge haben. Zu Hause in Ebenstedt gab es einen Friseur, der diesem Laster in erschreckendem Maße verfallen war. Solange er einem nur Klatschgeschichten oder aufgewärmte Witze erzählte, ging es noch an; zwang er einen jedoch durch Zwischenfragen, zu seinem Geschwätz Stellung zu nehmen, dann wurde es lästig. Wenn das Mitteilungsbedürfnis des Fahrgastes sich wenigstens auf die erste Form beschränkte, dann würde er schon zufrieden sein ...
Allein sie war verstummt, als ahnte sie seine Gedanken. Vielleicht auch hielt sie nur das laute Motorgeräusch von weiteren Äußerungen ab. So nahm er denn den Faden wieder auf.
Also, angenommen, Bruchmann sagte, der Fuhrbetrieb stelle sich jetzt schon zu teuer, so ließe sich doch dazu einiges bemerken. Denn schließlich war das hier ja ein Holzgaser. Man musste es dem Mann einmal vorrechnen: Dreieinhalb Sack Tankholz brauchte er auf hundert Kilometer, den Sack zu vier Mark; das ergibt vierzehn Mark! Welches Benzinfahrzeug kann da konkurrieren? Ein solches verbraucht bei gleicher Fracht dreißig bis fünfunddreißig Liter; der Liter zu siebzig Pfennig, sofern es sich um Zuteilungssprit handelte, und was dann, wenn der zu Ende ist? - Über des Prokuristen bleiches Gesicht würde nun vermutlich jenes nervöse Zucken laufen, das sich besonders dann einstellte, wenn jemand ihn hart bedrängte. 'Ja, ja, ja, das ist gewiss richtig, aber vergessen Sie nicht, lieber Herr Herbst, vergessen Sie nicht die Reparaturen, wie zum Beispiel die Reifen neulich, das will alles berücksichtigt sein. Trotzdem, wenn Sie es wünschen, rede ich gern dieserhalb mit dem Chef, selbstverständlich, das tue ich.' - Und damit wäre die Angelegenheit aufs tote Gleis geschoben. Denn der Chef war zumeist nicht da. Und kam er wieder, dann hatte Bruchmann längst anderes im Kopf; es gab immer tausend Dinge, die er ihm vortragen musste. So wurde es nichts, das war sicher.
So machst du es auch ganz falsch, sagte er sich. Du gehst am besten direkt zum Chef und legst folgendermaßen los: 'Herr Hechtenberg, ich soll da bei der Firma Sowieso als Fahrer anfangen. Ich bliebe ja lieber hier, aber die zahlen mir fünfzig Mark mehr. Was soll ich da nun machen? Vielleicht könnten Sie mir was zulegen, dann ...’ Aber der Chef würde ihn kaum ganz anhören, er hatte es immer so eilig. Auch war er nicht der Mann, dem man solcherart die Pistole auf die Brust setzen durfte. Seine Antwort würde etwa so ausfallen: 'Was denn, was denn, Günter, wo brennt's denn? Moneten reichen nicht hin, he? Hast dir 'ne anspruchsvolle Freundin zugelegt, was? Na, komm her, so, ein Zwanziger ...' – 'Vielen Dank, Herr Hechtenberg!' – 'Schon gut, mein Junge, tja, sprich doch mal mit Bruchmann, hörst du? Also, muss jetzt weiter ...'
Schon möglich, dass es so verlief. Der Alte war schon ganz in Ordnung, nur hatte er immer so wenig Zeit, er musste sich eben um zu vieles kümmern. Und aus Bruchmann wurde niemand schlau. Du tust wohl gut, ihm diese Geschichte nicht aufzutischen. Er war ein feiner und sehr korrekter Mann, der indes die Fähigkeit besaß, jeden Schwindel sofort zu durchschauen. Sein taktvolles Bestreben, einen das nicht merken zu lassen, machte das Ganze dann nur noch peinlicher. Mit dem war also schwerlich etwas anzufangen. Letzten Endes hing es ja auch nicht von ihm ab. Der Chef entschied. Und der war nicht da. Ja, da kannst du nichts machen ...
Im Scheinwerferlicht wurden jetzt die Häuser einer größeren Ortschaft sichtbar. Günter blendete ab und hob die rechte Fußspitze ein wenig, Hausmauern, Straßenlaternen und Vorgartenzäune glitten auf ihn zu. Ein dünner Regen hatte eingesetzt; er perlte auf der Windschutzscheibe. Das Kleinstadtpflaster blinkte matt.
Erst jetzt fiel ihm ein, dass er bei der Erwägung, wie er seine Lohnforderung am besten durchsetzen könne, den gebräuchlichen Weg ganz außer Acht gelassen hatte. Immerhin führte der übliche Weg über die BGL, der man seine Wünsche vortrug und die, sofern sie berechtigt erschienen, verpflichtet war, sich dafür einzusetzen. Die BGL, mein Gott, na ja! Gewiss, es bestand eine solche, und Heinrich Schmidt war ihr Vorsitzender; das schien im Augenblick das Einzige, was er von ihr wusste. Sicherlich lag das an ihm selbst; als Kraftfahrer hatte er eben wenig Gelegenheit, am Betriebsgeschehen unmittelbar teilzunehmen. Trotzdem, wenn er an Heinrich Schmidt dachte - dann machte er es schon lieber allein. Viel Aussicht auf Erfolg bestand ja ohnehin nicht. Denn angenommen, du gehst zu Bruchmann, und sagst, ja also, ich bin da gestern wieder dreizehn Stunden auf Achse gewesen, da muss ich immer für den ganzen Tag Kaltverpflegung ..., Wurstbrote ...
Günter Herbst riss sich zusammen. Er bemerkte wohl, dass er sich mit seinen Überlegungen im Kreise drehte; einem fehlerhaften Kreise offenbar. Da grübelst du verbissen an einer Sache herum, sagte er sich, kannst an nichts anderes mehr denken, weil du total übermüdet bist. Übermüdet bist du, weil du zu viel Überstunden machst. Und weil diese Überstunden unbezahlt sind, grübelst du. Irgendetwas stimmt da nicht. Bei dir selbst wahrscheinlich. Du hast schon nicht mehr alle Tassen im Schrank. Pass lieber auf die Straße auf - hier geht's links rein. Und da vorn musst du halten.
Der Lastwagen stoppte vor einem schmalbrüstigen Fachwerkhaus. Das Motorgeräusch erstarb; plötzliche Stille, nur vom leisen Prickeln des Regens erfüllt, breitete sich aus. Er wickelte sich aus seiner Decke. "Das geht rasch", erklärte er dem Mädchen, und sprang auf die Straße. Am Torweg, über der Klingel, verrieten Emaillebuchstaben, dass hier die Firma 'Biermann & Sohn, Warenhandlung' ihren Sitz habe. Welch ein Unsinn, ärgerte sich Günter; womit anders als mit Waren kann man denn handeln? Allein weiter unten, in kleinerer Schrift, fand er die Erläuterung 'Futtermittel en gros und en détail'.
Ein junger Mann öffnete, gewiss war das der '& Sohn'. Sein Gesicht wurde, als er im Hintergrund den Lastwagen erblickte, merklich länger. Das roch nach Arbeit. Er wandte sich um und lief, eine Melodie entstellt pfeifend, ins Haus zurück. Es schien der Schlager 'Du hast mir grade noch zu meinem Glück gefehlt' zu sein.
Statt seiner schlurfte Biermann senior herbei, ein mageres Männchen, das entsetzt die Hände zusammenschlug und mit hoher Greisenstimme schrie: "Was ist denn das? Firma 'Mawu', he? Ihr kommt ja jedes Mal später! Wir schlafen schon, wisst ihr?"
"Ich habe Panne gehabt, Herr Biermann", beschwichtigte Günter.
"Was kann ich dafür?", kreischte der Alte, zornig hin und her trippelnd, "was kann ich für eure Pannen? Kommen Sie mit hinter, junger Mann, und holen Sie sich einen Plattenwagen heraus. Damit können Sie Ihren Kram in den Schuppen bringen."
Günter folgte ihm, innerlich fluchend. Aber er musste still sein. Formell war der Grossist überhaupt nicht zur Annahme der Ware verpflichtet, wenn sie ihm außerhalb der Geschäftszeit angeliefert wurde. Zudem handelte es sich hier um einen prompt zahlenden und dabei sehr empfindlichen Kunden, bei dem größte Höflichkeit angebracht war.
Biermanns Wagen ähnelte jenen Fahrzeugen, die man, bepackt mit Koffern, häufig auf Bahnhöfen sieht. Seine Räder hatten knapp den Durchmesser einer Untertasse; sie versprachen angesichts der kopfsteingepflasterten Einfahrt keinen glatten Transport. Günter öffnete den großen Torflügel, klappte die Rückwand seines Lastwagens herunter und begann, die Kartons, die die 'Mawu'-Pakete enthielten und von denen ein jeder dreißig Kilo wog, auf des Grossisten Gefährt zu stapeln. Feiner Regen rieselte ihm in den Nacken.
Biermann hielt sich unter dem Torweg, von wo aus er erbittert dem langsamen Fortschreiten der Arbeit folgte.
"Haben Sie denn keinen Beifahrer, Mann, der da mit zupackt?", schrie er hinüber.
"Nein, der ist krank."
"Das ist ja fürchterlich!", kreischte der Alte, wobei es unklar blieb, ob er die Erkrankung des Beifahrers oder einfach dessen Ausfall als Arbeitskraft meinte.
"Wie viel Pakete bringt ihr denn?", verlangte er zu wissen.
"Neunhundert, Herr Biermann, das sind dreißig Kartons."
"Das Doppelte hatte ich bestellt ..."
Jetzt stemmte Günter sich mit der Schulter gegen das hoch bepackte Wägelchen; es rollte einige Meter und blieb mit plötzlichem Ruck stehen. Dabei rutschten die oberen Kartons ab und stürzten krachend zu Boden.
"Ha!", krähte der Grossist höhnisch. "Schlecht gestapelt! Schlecht gestapelt!"
Günter bückte sich erschöpft. Er spürte den Regen schon stärker im Nacken. Allmählich weichte seine Joppe durch. Es gab einen Punkt, an dem auch ihn der Zorn packte; und der schien nicht mehr fern. Wütend stemmte er sich von Neuem gegen das überlastete Fahrzeug, aber es rührte sich kaum von der Stelle.
"Es will wohl nicht, he?", erkundigte sich Biermann schrill. "Na, mal in die Hände gespuckt, Sie sind doch noch jung!"
Mein Gott, dieser Idiot, dachte Günter; wie schwer das geht, und noch fünfmal dieselbe Tour! Jetzt war er nahe daran, die durchweichten Kartons auf das verdammte Pflaster dieser verdammten Einfahrt zu werfen, wiewohl dies etwas durchaus Unzulässiges war; denn Hechtenberg & Co. lieferten stets frei Haus, was gegebenenfalls auch hieß: Frei Schuppen oder frei Keller. Schwitzend und frierend stieß er die Last zollweise vor sich her.
Plötzlich spürte er, dass jemand half. Er blickte zur Seite und sah zwei schmale Hände, die aus einem Regenmantel kamen; sie drückten kräftig gegen die hölzerne Rückwand des Wagens.
"Sie werden hier bloß nass", keuchte er, "ich schaffe das schon allein."
Sie schüttelte nur den Kopf. Eine dunkle Locke quoll unter ihrer Kapuze hervor. Sie ist verdammt hübsch, dachte er, und ihr junges Gesicht erschien ihm auf einmal vertraut.
Es bereitete Biermann wohl Unbehagen, eine Frau zu später Nachtstunde arbeiten zu sehen, während er selbst beiseite stand; und so packte auch er mit an, als der Wagen den Torweg erreicht hatte. Auf dem Hof aber ließ er, um nicht nass zu werden, die beiden wieder allein. Im Schuppen luden sie ab.
"Was ist das eigentlich, was wir da fahren?", erkundigte sie sich.
"Mawu-Pulver", bemerkte er kurz, als sei damit alles gesagt. Für ihn freilich war das ein feststehender Begriff; ebenso wie Zündkerze, Bremsbelag, Tankholz oder Glysantin.
"Mawu?" Sie zog die Augenbrauen hoch. "Das klingt ein bisschen nach Afrika."
"Mawu", erklärte er pedantisch, "ist die Abkürzung von 'Mast-Wunder'. Das ist ein Pulver zur Förderung der Schweinemast. Die Schweine kriegen es übers Futter gestreut, sie fressen daran besser und werden schneller fett, verstehen Sie?"
"Ja ..." Irgendwie erschien ihr das Ganze ein wenig lächerlich. Ein Pulver, von dem die Schweine dick wurden ..., das war schon etwas Besonderes und hatte leicht komischen Anstrich. Dazu im Gegensatz stand der ernste und belehrende Ton, in dem der Kraftfahrer seine Erklärung abgab. Er hätte, so fand sie, ruhig einen kleinen Scherz machen dürfen. - Jetzt stapelte er schweigend die Kartons. Vielleicht war er ein grober, humorloser Klotz; er konnte aber auch einfach zu müde sein, um Spaß an einer Unterhaltung zu haben.
Sie zogen das leere Wägelchen über den Hof zurück. Der war klein, von Mauern und Hauswänden umgeben, an denen hölzerne, oftmals gestützte Galerien entlangliefen. Sie erinnerten fast an die Wehrgänge in Rothenburg ob der Tauber. Gebäude, Ställe, Schuppen klebten aneinander, und ein den Hof teilender Zaun schied die Besitzrechte zweier Eigentümer. Das ist die Kleinstadt, dachte das Mädchen. Unten haben sie ihre Läden, im ersten Stock wohnt der Inhaber, darüber die Gehilfen und die Hausangestellten. Der Mann interessiert sich für seine Geschäfte, die Ehefrau für das, was die Nachbarn tun. So war es schon vor hundert Jahren, als diese Ordnung gewiss noch Sinn hatte. Einmal würde sie sich ändern müssen, doch erschien ihr eine Änderung hier schwieriger als anderswo. Sie hatte selbst längere Zeit in einer Kleinstadt verbracht und kannte die Eigenarten der alteingesessenen Bürger.
"Das kommt mir doch so vor", nörgelte Biermann ihnen entgegen, "als wenn Sie die Torstange verbogen haben, junger Mann?" - "Bestimmt nicht, Herr Biermann."
"Doch, ganz krumm ist sie, Sie müssen vorhin meine Torstange verbogen haben, was?"
Günter hatte genug. Dies war lächerlich. Er war gewiss kein Schwächling; aber um die Stange zu verbiegen, hätte er die Kräfte August des Starken besitzen müssen, der, wie der Chef einmal erzählt hatte, vierhundert Kinder zeugte und mühelos Hufeisen zerbrach. Mensch, Zeiten müssen das damals gewesen sein ...
Die nächsten Kartons brachte er nicht mehr in den Schuppen, sondern stapelte sie im Torweg auf. Der Grossist protestierte nur schwach. Den Lieferschein bereits in der Hand, wurde er zum Schluss noch einmal lebendig.
"Haben Sie denn den Rabatt vergessen, junger Mann? Bei euch klappt wohl heute gar nichts, he?"
Günter sah im Laderaum nach, aber da fand sich nichts mehr. An diesem Naturalrabatt, der nie auf den Rechnungen erschien, war es vielen Kunden besonders gelegen. Ein kleiner, aber unversteuerter Zusatzgewinn lockte hier. Zu dumm, ein Karton war vergessen worden, und ausgerechnet Biermann kam - als letzter Kunde - um seine Vergünstigung. Um langwierigen Erörterungen aus dem Wege zu gehen, gab Günter seiner Begleiterin ein Zeichen, kletterte selbst rasch in den Sitz und trat den Starter.
Biermann lief in den Regen hinaus. "Der Rabatt ...", zischte er heischend. Der Starter schnarrte.
"... Wird nachgeliefert!"
"Bestimmt? He?"
"Ganz bestimmt!" Der Wagen rollte an.
"Haben Sie alles solche komischen Kunden?", fragte das Mädchen.
"Teils, teils", sagte er abwesend, "manche sind ganz vernünftig. Aber die Nettesten, das sind auch die schlechtesten Zahler meistens." - Er war nicht ganz bei der Sache; er hätte sich gern bei ihr bedankt, wusste aber nicht, wie er das anstellen sollte. Schließlich kannte er noch nicht einmal ihren Namen. Du hast viel zu wenig mit ihr gesprochen, sagte er sich, und diese Erkenntnis trug nicht dazu bei, ihm seine Verlegenheit zu nehmen.
"Das ist hier ein Generatorfahrzeug?", versuchte sie die ersterbende Unterhaltung zu retten.
Generatorfahrzeug, mein Gott, wie vornehm. Immerhin erstaunlich, dass sie den Unterschied kennt. "Hm - ein Holzkocher", gab er zu und überlegte: Das Beste wird sein, ich erzähle ihr mal so ein kleines Erlebnis. Die meisten haben keine Ahnung, wie gefährlich unser Beruf ist. Ein bisschen Reklame kann gar nicht schaden.
"Sie fahren gern Auto?"
"Ja, aber lieber mit einem kleineren, wo es nicht so zieht."
"Oh, da hätte ich dran denken sollen - kommen Sie, nehmen Sie die Decke hier!"
"Danke. So ist's besser. Also mir macht das Spaß; für Sie wird es eher langweilig sein. Sie fahren ja jeden Tag."
"Langweilig ist das nie. Ich bin immer froh, wenn alles glattgeht. Vor drei Jahren, im Winter neunundvierzig, da hatte ich mal 'nen Zusammenstoß."
"Und wer war schuld?"
"Natürlich der andere. Wenn Sie 'nen Fahrer danach fragen; Fräulein, werden Sie niemals was anderes zu hören bekommen."
"Aber wer hatte denn nun wirklich schuld?"
"Der andere. Tatsächlich. Es spielte sich folgendermaßen ab. Also der Chef und ich, wir brausen in unserem 'Adler' in Richtung Gardelegen. Es hatte stark geschneit, und zu beiden Seiten der Straße lagen Schneewehen. Plötzlich, in einer Rechtskurve, rast uns so ein Idiot entgegen. Natürlich schneidet er die Kurve, kommt genau auf uns zu, sieht uns nicht ..."
"Er sieht Sie nicht?"
"Weil er besoffen war, der Kerl. Er kommt also genau auf uns zu, hört und sieht nichts."
"Und was haben Sie da gemacht?"
"Was konnte ich schon groß machen. Gebremst natürlich, ausgewichen bin ich so weit wie möglich. Dann war er da. 'Festhalten' konnte ich dem Chef noch zurufen, da hat's schon geknallt. Beide Wagen waren natürlich im Eimer. Und dann wurde der andere noch frech. Na, dem habe ich was gehustet. Stellen Sie sich vor, ich laufe zu ihm hin, blute wie ein Schwein, da haucht er mir eine Schnapswolke entgegen und behauptet, ich wäre verkehrt gefahren. Langes Debattieren hat da keinen Zweck, müssen Sie wissen. Also ich habe ihm eine 'reingehauen, so ganz kurz. Er hat keinen Ton mehr gesagt. Übrigens kam dann die Polizei und hat die Bremswege nachgemessen. Der Fall lag klar. Er musste für den ganzen Schaden aufkommen; ich bekam fünfzig Mark Schmerzensgeld für ein paar Kratzer. Dafür mache ich's übrigens gern noch mal."
"Und Ihr Chef?"
"Der hat gar nichts abgekriegt, bloß so 'ne Art Nervenschock. Stellen Sie sich das vor, so 'n großer kräftiger Mann, über zwei Zentner hat der, und da steht er im Chausseegraben im Schnee, betastet sich immer wieder von oben bis unten, ob auch nichts kaputt gegangen ist, und die Tränen kullern ihm nur so 'runter. Er hat geheult wie ein kleines Kind ..."
Günter unterbrach sich und starrte angestrengt hinaus. Pausenloser Regen und der schmierende Wischer hatten die Windscheibe getrübt; seltsam verzerrt erschienen die Dinge, die draußen lautlos heranglitten. Es war ein kleines Heidedorf, dessen niedere Häuser sich unter dem Regen duckten und gleichsam enger zusammengerückt waren.
"Ich glaube, hier ging es links ab", murmelte er, das Lenkrad kräftig einschlagend, "bin allerdings die Strecke schon lange nicht mehr gefahren ..."
Das Mädchen war verstummt. Große Müdigkeit überkam es. Wenn man doch nur erst am Ziel wäre! Was für ein sonderbares Fahrzeug; alles an ihm schien zu zittern: Das Steuerrad mit den öligen Händen darauf, die Tropfen auf der Windscheibe und draußen die Nacht. Sekundenlang zauberte ihre Vorstellung das Bild eines großen stattlichen Mannes auf die Scheibe, er stand in einem verschneiten Straßengraben, und Tränen liefen über sein Gesicht. Diese unwichtige Einzelheit der zuvor vernommenen Geschichte beschäftigte sie lange. Sie hatte noch nie einen Mann weinen sehen.
"Komische Straße hier", knurrte Günter, "verdammt komisch - zum Kotzen ist das!" Er versuchte, einem großen, wassergefüllten Schlagloch auszuweichen. Der Zustand der Straßendecke war trostlos; und dies ließ einiges befürchten.
"Haben Sie sich vielleicht verfahren?"
Eine bange Pause verstrich. Draußen spritzten Dreck und Pfützenwasser zischend beiseite,
"Die allgemeine Richtung stimmt, dafür hab' ich 'ne Nase. Kann natürlich sein, dass wir zu früh abgebogen sind. Aber -", fügte er belehrend hinzu, "jede gepflasterte Straße verbindet zwei Ortschaften miteinander. Irgendwo müssen wir also 'rauskommen."
Sie lächelte ein wenig. Das ist beinahe die gleiche Art, in der er vorhin sagte: ,Mawu ist die Abkürzung von Mast-Wunder. Das ist ein Pulver zur Förderung der Schweinemast.' Er scheint also, dachte sie, ein Freund von grundsätzlichen Erklärungen zu sein.
"Allerdings", ergänzte er seine Betrachtung, "in der Nähe irgendwo befindet sich ein russischer Truppenübungsplatz. Wir sind ja noch in der Letzlinger Heide."
Ein Truppenübungsplatz - das waren ja nette Aussichten. Vielleicht hat er das Sperrschild übersehen. Sie wünschte, sie brauchte jetzt nur an einem Knopf zu drehen, um sofort zu Hause im Federbett zu liegen; eine kindliche Vorstellung, ihr aus jener Zeit geblieben, da sie mit glühenden Wangen Märchen aus Tausendundeiner Nacht gelesen hatte.
Die Straße verschlechterte sich weiter. Schiefe, kahle Bäume säumten sie. Das Scheinwerferlicht geisterte gelblich über dürres Geäst, glitzerte auf regennasser Rinde; es schuf harte, kreisende Schatten und verwandelte die Dinge in tote Requisiten einer schnell rotierenden, falsch beleuchteten Drehbühne. Kein Fahrzeug begegnete ihnen. Es war eine fremde, verlassene Landschaft.
"Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos", zitierte Günter ein geflügeltes Wort der letzten Kriegsjahre.
"Versuchen Sie nicht, mir Angst zu machen. Das schaffen Sie doch nicht", lachte sie.
Plötzlich endete die Straße. Der Scheinwerferkegel wippte über zerwühlten Sandboden. "Panzerspuren", erläuterte er.
Er riss die Tür auf und starrte hinaus. Links und rechts der Graben, vorn Sand. Wie zum Teufel sollte man hier den Wagen wenden? Am Horizont blinkte ein Licht; fernes Hundegebell erscholl. Wind blies von der Seite, er trieb den Regen vor sich her, der unablässig auf Plane, Fahrerhaus und Motorhaube prasselte.
Günter nickte seiner Begleiterin entmutigt zu.
"Wo sind wir denn?", fragte sie.
"Am Arsch der Welt", versetzte er trübe und zündete vorerst einmal die Zigarette an, die er schon vor einer Stunde rauchen wollte.
"Wo der Lastwagen heute bloß bleibt ..." Gertrud Hechtenberg war zum Fenster getreten und fingerte an dem bananenfarbenen Rollo. "Direkt Angst kann man kriegen bei solchem Wetter!" Sie schüttelte nervös den Kopf.
"Nicht doch, nicht doch", beruhigte ein träger Bass von der Ofenecke her. Erich Hechtenberg hatte es sich, wie meist nach dem Essen, auf der daunengepolsterten Couch bequem gemacht. Im Großen und Ganzen erfüllte ihn jetzt nur noch der Wunsch, nicht mehr gestört zu werden. Er war erst vor einer Stunde aus Berlin zurückgekehrt, hatte ausgiebig gebadet, gut gegessen und wollte jetzt seine Ruhe haben. Gleichwohl ahnte er, dass daraus nichts werden würde. Wie stets nach mehrtägiger Abwesenheit, mochte sie auch noch so gut begründet sein, fand er sich zu Hause in einer gespannten Atmosphäre. All die sorgfältig aufgezählten geschäftlichen Anlässe machten auf Gerti keinen Eindruck, die nahezu lückenlose Schilderung seiner Reiseerlebnisse überzeugte sie nicht, und geradezu verdächtig machte er sich, wenn er außer dem üblichen Bohnenkaffee und den anderen Kleinigkeiten, die auf dem Zettel gestanden hatten, noch zusätzlich ein Präsent mitbrachte. Sobald die Wiedersehensfreude - zugleich auch Freude über die mitgebrachten Dinge - vorüber war, wurde es meist etwas ungemütlich. Nun ja. Doch schließlich ging auch das vorüber.
Erich Hechtenberg legte die Hände unter den Kopf und schlug die Beine übereinander; was ihm schon schwerfiel. Zuweilen liebte er es, in seinen Gebärden Jugend und Elastizität vorzutäuschen. Der in Braun und gelb gehaltene, wohltemperierte Raum verschwamm ihm vor den Augen. Leise Radiomusik, gedämpftes Licht, das die sympathische Stehlampe, eine Komposition aus Messing und Seide, spendete ..., dazu leises Regenprickeln an der Scheibe: Man war zu Hause. Zweifellos auch mal ganz schön ...
"Schatzi, denk doch bitte an deine Hosen", klagte die Stimme vom Fenster her. Gehorsam gab er seine ohnehin recht unbequeme Haltung auf. Er hatte den gereizten Unterton herausgehört, wertete ihn als erstes Sturmzeichen und umgab sich mit einem dreifachen Panzer aus Schläfrigkeit, guter Laune und reinem Gewissen. Denn schließlich war es in der Hauptsache wirklich eine Geschäftsreise gewesen. Wozu denn auch in die Ferne schweifen? Es bestand keine Veranlassung, Westgeld für etwas auszugeben, das man für Ostmark bekommen konnte. Nee, so groß war der Qualitätsunterschied nun nicht. Und das Einlassbillett zu der kleinen Nackttanzbühne in der Nähe des S-Bahnhofs Savignyplatz hatte man glücklicherweise auf der Papiersuche in der Jacketttasche entdeckt - noch in den Klosettschacht des D-Zugs versenken können. Es gab also diesmal kein Beweismittel, und man durfte Gertis misstrauischen Nörgeleien gelassen entgegensehen.
Sie hatte wieder in einem der cremefarbenen Sessel Platz genommen und bediente den unterm Tisch angebrachten Klingelknopf. Doch das Mädchen erschien nicht sogleich.
"Weißt du schon", sagte sie klagend, "dass wir Hansis Zimmer abgeben müssen? Das Wohnungsamt lässt keine Ruhe, zum Ersten sollen wir einen Untermieter aufnehmen."
Diese kleine Nachricht durchstach wie eine spitze Nadel die Hüllen seiner gut gelaunten, schläfrigen Sorglosigkeit. Hechtenbergs stets ein wenig rötliches Gesicht färbte sich dunkel; die kleinen Äuglein wurden starr. Es ging ja nicht um dieses kleine, übrigens durchaus entbehrliche Zimmer. Das hier war mehr. Er sah darin ein Symptom, ein erstes Zeichen des Abbröckelns seiner Machtstellung in Ebenstedt. Die ganzen Jahre hindurch war es ihm gelungen, die Achtzimmerwohnung zu halten, die er schon vor dem Krieg innehatte; wobei er nur in Kauf nehmen musste, dass die Hausmädchen, die früher im Dachgeschoss schliefen, mit hineingenommen wurden; was schließlich nicht ganz unvorteilhaft war. Und jetzt ...
"Darüber wird sich wohl noch reden lassen", brummte er und sah zu ihr hinüber.
Gerti zupfte an ihrem Haar, dessen blonde Fülle sie durch den seinerzeit in Westberlin gekauften Zopf verstärkt und zu einem imposanten Dutt geformt hatte, der indes nicht recht sitzen wollte.
"Ich glaube nicht, Schatzi. Der Herr vom Wohnungsamt sagte: Der Bescheid ist endgültig! Ja, nun wird unser Hansel sein Zimmer los. Es ist schrecklich ungerecht, finde ich, nicht? Dr. Henschkes Kinder haben doch auch ihr eigenes Zimmer, nicht?"
Dieses häufig wiederholte, ihm nur zu gut bekannte 'nicht', bisweilen auch als 'noch' ausgesprochen, war eines von den Dingen, die ihm auf die Nerven fielen. Er gab daher keine Antwort und hing weiter trüben Gedanken nach. Ungerecht war es, hatte sie gesagt. Nun, in dieser Hinsicht gab er sich keinen Illusionen hin. Er teilte durchaus nicht ihre Meinung, dass ihm als angesehenem Bürger, größtem Arbeitgeber und bestem Steuerzahler des Ebenstedter Gemeinwesens das Recht, über eine geräumige Wohnung - noch dazu im eigenen Haus - zu verfügen, ohne Weiteres zustände. Wenn man eine solche bislang behaupten konnte, so war das nur der eigenen klugen Lokalpolitik zuzuschreiben.
Politik, definierte er, ist die Kunst des Möglichen. Als Inhaber einer Likörfabrik war einem manches möglich gewesen. Hatte man etwas zu bieten, durfte man eine angemessene Gegenleistung erwarten. Doch Likör zog neuerdings nicht mehr. Die Leute hatten ihn sich sozusagen übergetrunken, und der Umsatz ging zurück. Zwar stieg gleichzeitig die 'Mawu'-Erzeugung, und das war ganz gewiss erfreulich. Aber schließlich konnte man dem Leiter des örtlichen Wohnungsamts anstelle von Reiterlikör oder Weinbrandverschnitt, den er nicht mehr mochte, schlecht Schweinefresspulver ins Haus senden.
Hechtenberg stieß einen nachdenklichen Grunzlaut aus. Er erkannte, dass die zwei Artikel, sein Mastpulver und seine Spirituosen, wiewohl beide Geld brachten, doch von sehr verschiedenem Kompensationswert waren. Mit dem einen konnte man - bis vor Kurzem jedenfalls noch - unmittelbar operieren, mit dem anderen nicht. Und mit Bargeld war das so eine Sache. Nicht überall ließ es sich so machen wie im Büro der ATG, wo man nur dem richtigen Mann die vereinbarte Summe im geschlossenen Kuvert überreichte, um in ähnlichem Umschlag die entsprechende Anzahl Benzinmarken zu empfangen. Nur Abgebrühte gingen auf so etwas ein. Irgendein neuer Dreh musste jedenfalls gefunden werden, sonst nun, man sah es ja: Das Zimmer war schon fällig. Das beschlagnahmte Kinderzimmer war die erste größere Niederlage, und es fragte sich nur, ob sie einen Rückzug auf der ganzen Linie einleiten würde, oder ob man, sei es durch persönliche Rücksprache, sei es durch Entwicklung neuer Kompensationsmethoden, mit Gottes Hilfe imstande sein würde - wie sagte Kurt immer: die Einbruchsstelle auszubügeln, ja ...
Hechtenberg unterhielt zu Gott höchst merkwürdige Beziehungen, über die er zuweilen nachdachte. So auch jetzt. Tat er das, so geschah es stets mit dem Gefühl, sich auch nach dieser Seite hin ausreichend gesichert zu haben. Zwar war die Frage, ob es wirklich einen Schöpfer gab, gänzlich unentschieden. Studierte Leute stritten darüber, und Erich Hechtenberg begriff, dass er selbst (obwohl sonst gewiss intelligent genug) doch nicht dahinter kommen könne. Trotzdem empfahl es sich, mit dieser Möglichkeit zu rechnen, schon um nicht später einmal, wenn man krank wurde und starb, eine böse Überraschung zu erleben. Bedachte man nämlich die Dauer des irdischen Daseins und verglich sie mit jener endlosen Zeitspanne, die danach kam, so erschien es durchaus ratsam, sich mit dem Herrgott gutzustellen. Dies konnte freilich mit Hilfe von ‚Mawu' oder Kräuterlikör nicht geschehen; wenigstens nicht direkt. Man musste andere Wege beschreiten ...
Da gab es nun welche, die versuchten's mit religiöser Heuchelei. Hechtenberg fand das albern und dumm. Denn ihm war klar, dass Gott (falls es ihn gab) ein verdammt gescheiter Bursche sein musste. Schließlich hatte er die Welt nicht übel eingerichtet, hatte Wunderwerke der Natur geschaffen, gewaltige Berge, seltsame Tiere und das verwickelte System der modernen Wirtschaft - er würde sich also von ein paar alten Heulsusen kaum übers Ohr hauen lassen. Er schaute im Gegenteil, wenn man dem Pastor glauben durfte, dem Menschen ins Herz. Daher fand es Hechtenberg weit klüger, auf Vorspiegelung falscher Tatsachen von vornherein zu verzichten und sich ihm gegenüber vollkommen loyal zu verhalten: Er zahlte die recht erheblichen Kirchensteuern pünktlich und ohne Wimpernzucken. Darüber hinaus aber spendete er nicht selten nennenswerte Zusatzbeträge, und hatte dabei mit dem Schöpfer folgende stille Abmachung getroffen: Die normale Steuer gilt fürs Jenseits, während die außerordentlichen Spenden für besondere Notfälle im Diesseits, die das Eingreifen einer höheren Macht wünschenswert erscheinen lassen, gedacht sind. Hilfe auf Abruf sicherte man sich so. Das war eine klare Übereinkunft, an der es nichts zu rütteln gab.
Natürlich konnte es sein, dass der Partner vertragsbrüchig wurde, dass er seine Firma längst (etwa nach den Vorkommnissen im Paradies, wo Obst veruntreut worden war), der ganzen Sache überdrüssig, liquidiert hatte; oder dass er gar ein Schwindelunternehmen betrieb, wie jener Kerl, der einem neulich original-französische Liköressenzen gegen Vorauskasse andrehen wollte (mir nicht, mein Lieber, mir nicht!) - und man solcherart sein Geld zum Fenster hinauswarf. Aber schließlich ging man dabei kein größeres Risiko ein als bei manchem anderen Handelsabschluss heutzutage, und hier war's bestimmt gerechtfertigt, in einer so wichtigen Angelegenheit ...
Der Eintritt des Stubenmädchens, das sich anschickte, den Tisch abzuräumen, unterbrach ihn. Er beobachtete sie dabei, und seine Augen belebten sich ein wenig. Herta trug, wie er voll Behagen feststellte, wieder ihren eng anliegenden roten Pullover. Der Name Herta bedeutete, wie er wusste, 'die Starke'. Nun, so stark war sie gar nicht. Gerti übertraf sie da bei Weitem. Und ihre schönen weißen Zähne hatten ihm schon immer gefallen. Freilich war sie eine dumme Gans, wie die meisten Dienstboten, aber was machte das schon? Hechtenberg beschloss, auf diesen Fall zurückzukommen, sobald Gerti ihre Eltern in Leipzig besuchte. "Frau Chefin", sagte Herta, das Tablett mit den geleerten Schüsseln und vier sauber abgenagten Taubenskeletten hinausbalancierend, "der Hansi gibt keine Ruhe, er will seinen Papi noch mal sehen."
Noch ehe hier eine Entscheidung gefällt werden konnte, schnarrte die Flurklingel. Das Mädchen lief zur Tür und kehrte mit der Nachricht zurück, Herr Nagatis sei da. Gerti eilte unverzüglich hinaus. Hechtenberg vernahm, sich langsam erhebend, mit geteilten Gefühlen ihr lebhaftes Empfangsgezwitscher.
Kurt Nagatis trat ein: knapp mittelgroß, schlank, mit gebräuntem, rassigem Windhundgesicht. Gertrud Hechtenberg musterte ihn bewundernd von der Seite; er trug einen sportlich geschnittenen, wie angegossen sitzenden Pepitaanzug, dazu - und dies erschien ihr ein wenig unseriös - ein groß kariertes weiches Hemd ohne Krawatte, das anstelle des trivialen Knopfes eine kleine Schnalle schloss. Nachdem er des Hausherrn große weiche Hand geschüttelt, setzte er sich, ein schokoladenbraunes Kissen verächtlich beiseiteschiebend, zu ihm auf die Couch.
Gerti stellte Zigaretten, Keks und Konfekt auf den Tisch und forderte zum Zulangen auf. Nagatis schenkte dem keine Beachtung. "Hör zu, Erich", sagte er kurzhin, "ich wollte rasch mal was mit dir besprechen. Mein Wagen steht unten, in einer halben Stunde bin ich in Magdeburg verabredet. Ihr seid mich also bald wieder los."
"Das heißt, wenn wir dich weglassen, Kurt!" Gerti versuchte einen koketten Augenaufschlag, der indes von ihm nicht bemerkt wurde.
"Einen Likör darf ich dir wohl nicht anbieten", brummte Hechtenberg, "aus Likör macht sich anscheinend jetzt niemand mehr was." Schwermütig wiegte er sein Haupt. Die ganze Misere kam schließlich daher, nur daher. Übrigens durfte sich Kurt getrost einmal die Manier abgewöhnen, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Dies war nicht die Art, die Geschäftsleute schätzten. Etwas Schliff fehlte dem Jungen eben noch - wie alt war er eigentlich? - doch wohl mit Gerti in einem Alter, also vierunddreißig. Dann muss er ja damals schon mit ... Moment mal, ja, mit sechsundzwanzig Jahren Major geworden sein! Allerhand. Ohne Zweifel, allerhand ...
Kurt Nagatis strich mit fahriger, Ungeduld verratender Gebärde sein langes, pechschwarzes Haar zurück. "Es dreht sich nämlich um Folgendes. Du bekommst morgen per Bahn einen Waggon Jenaer Flaschen, Zahnbürsten und sonstigen Bürstenkram angeliefert. Auch ein paar tausend Fieberthermometer sind dabei."
"Wieso ich? Ich meine: wieso das?"
"Erkläre ich dir gleich. Sag mal, du hast doch Großhandelslizenz für kosmetische und pharmazeutische Artikel?"
"Mein lieber Kurt, ich als Hersteller ..."
"Hast du die Lizenz?"
"Mein Gott, ja doch! Selbstverständlich habe ich als Hersteller ..."
"Ausgezeichnet. Dann ist alles klar." Ein karges Lächeln huschte über seine Züge; er zündete sich eine Zigarette an.
Hechtenberg vergaß für einige Sekunden, den Mund zu schließen. Ihm jedenfalls war durchaus nichts klar. "Entschuldige", bemerkte er, "ich begreife nichts. Vielleicht besitzt du doch die Güte, dich etwas näher zu ..."
"Vati! Onkel Kurt, Vati!", erscholl es von der Tür her, und ein sommersprossiger Knabe im Schlafanzug stürmte auf die Couch los. Zugleich drang ein junger Dackelhund trappelnd ein, der, ohne auch nur einmal zu bellen, unverzüglich an Hechtenbergs Schnürsenkeln zu nagen begann, wobei er seltsame Quietschlaute ausstieß und mit dem Schweif taktmäßig auf den Teppich klopfte. Dies mochte seine besondere Art der Begrüßung sein.
Gertis Brauen zuckten nervös; hier lag unzweifelhaft ein Regiefehler vor, der selbstverständlich auf Hertas Konto ging. Der Hund allein wäre nicht so schlimm gewesen; er ordnete sich dank seines zurückhaltenden Benehmens und übrigens auch durch seine warme gelbbraune Farbe zwanglos in den gepflegten Rahmen dieses Zimmers ein. Nach einer Weile würde er sich beruhigen und dann konnte man ihn leicht für eins der zahlreichen Sofakissen halten. Nicht so der Junge. Schon das stechende Grün seines Pyjamas bedeutete einen Stilbruch. Und sein lautes Wesen musste ja den Männern lästig sein, wenngleich er ein reizender, süßer und auch kluger Kerl war.
"Hansel, Schätzchen", lockte sie, "nun komm her zu deiner Mami, komm!"
"Nein, ich will hier bei Papi sitzen und bei Onkel Kurt."
"Nein, Hanselchen ist schön brav und kommt jetzt zu seiner Mami!"
"Ich will aber hier sitzen."
"Papi, gib dem ungezogenen Bubi mal einen Klaps."
Hierzu konnte sich Hechtenberg zwar nicht entschließen. Immerhin reichte er den Jungen seiner Frau zu. Er wünschte dringend, das Gespräch mit Nagatis fortzusetzen; hinter geschäftlichen Belangen mussten familiäre und väterliche Gefühle nun mal zurückstehen, das war klar.
"Es ist so", erklärte Nagatis. "Du weißt ja, ich darf hier in der Ostzone ein gewisses Quantum einschlägiger Artikel für den Export nach Westdeutschland aufkaufen. Das ist im Interzonenhandelsabkommen verankert."
Hechtenberg wusste. Der ehemalige Luftwaffenmajor und spätere ... Schwarzhändler hatte sich gleich nach der Währungsreform im Zeichen der unbeschränkten Gewerbefreiheit als Großhändler in Hannover niedergelassen, wo er ohne jedes Personal, nur mithilfe seiner jungen Frau, zwei Firmen zugleich betrieb. Die erste befasste sich mit Feinseifen, die andere mit Bürstenwaren. In der einen war er der Chef, seine Frau die Buchhalterin, und bei der anderen verhielt es sich umgekehrt. Soweit schön und gut, warum denn nicht, wenn steuerliche Gründe dafür sprachen. Auch Gerti wurde ja als Betriebsleiterin geführt und bezog Gehalt. Dazu bot Nagatis' Verfahren für den Fall einer - tatsächlichen oder fingierten - Zahlungsunfähigkeit großen Vorteil. Er hatte das selbst einmal erläutert, indem er den Grundriss eines Panzerdeckungswinkels skizzierte: Wurde der linke Teil des Grabenwinkels überrollt, zog man sich eben in den rechten zurück, und umgekehrt. Niemals konnte es seinen Gläubigern gelingen, ihre Forderungen einzutreiben, wenn Nagatis nicht wollte. Er brauchte nur mit einer der beiden Firmen in Konkurs zu gehen und den Offenbarungseid zu leisten; das war alles. Für den eine Kleinigkeit. Der hatte schon ganz andere Dinger gedreht ...
"Wir können ja offen reden", fuhr der Gast fort, "nur zehn Prozent der Warenmenge, die ich tatsächlich kaufe, darf ich laut Vertrag importieren. Der Rest geht schwarz 'rüber, zusammen mit dem genehmigten Kram. Die Begleitpapiere sind also immer in Ordnung, nur stimmt die Menge nicht. Aber das ist noch nie kontrolliert worden, und ..."
"Mami, guck mal, was Mollie macht!", schrie Hansel aufgeregt dazwischen. Frau Hechtenberg fuhr herum und erbleichte. Der Dackel hatte offenbar beschlossen, noch ein wenig zu spielen, bevor er endgültig zum Sofakissen wurde; mit einer Zimmerpflanze im Maul lief er umher, den Topf nachschleifend und feuchte Erde über den sahnefarbenen Teppich verstreuend. Gerti sprang auf, versetzte dem Tier einen Fußtritt und rief nach Herta; der Hund bellte, Hansel schrie auf ihn ein und Hechtenberg verwünschte die dauernden Störungen.
Nagatis nahm von diesen Vorgängen keine Notiz; in diesem Hause ging es selten ruhig zu. Durch äußeren Lärm durfte man sich nicht beeinflussen lassen. Damals brüllten immer schon die Flugmotoren, während der Kommodore die letzten Weisungen gab, von denen häufig alles abhing. Damals ... und bald wieder! Allein vorerst musste man sich noch mit riskanten Geschäften abgeben, und jetzt brauchte man die dicke Qualle Hechtenberg, sonst ging die Waggonladung glatt verschütt ...
"Da machst du ja einen schönen Reibach", brummte der Hausherr anerkennend, "bei dem Kursgefälle, Kurt! Denn die Großhandelspreise sind doch in Westmark dieselben, und du zahlst doch Ostgeld, was?"
"Das offizielle Kontingent muss in West bezahlt werden; das Übrige allerdings ..."