Ein Irland-Krimi
Mara Laue, Die Tote vom Dublin Port.
Ein Irland-Krimi. Dryas Verlag 2020
1. Auflage
E-Book 978-3-948483-12-8
Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.
ISBN 978-3-948483-09-8
Alle im Roman genannten Orte sind authentisch. Wo reale Hausnummern genannt werden, sind diese jedoch aus rechtlichen Gründen fiktiv, sofern es sich nicht um öffentliche Gebäude handelt. Alle Personen sind frei erfunden und nicht an real existierende Menschen angelehnt.
Ein Glossar der gälischen Namen und Ausdrücke
und ihrer Aussprache befindet sich am Ende des Buches.
Herstellung: Dryas Verlag, Hamburg
Lektorat: Katharina Breu, Hamburg
Korrektorat: Lisa Seidelt, Mainz
Umschlaggestaltung: © Guter Punkt, München (www.guter-punkt.de)
Umschlagmotiv: © Michael Kellner/gettyimages
Grafik: Dublin city one line drawing © czibo/Adobe Stock
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© Dryas Verlag, Hamburg 2020
(1. Auflage 2020, Dryas Verlag, Hamburg)
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EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
WISSENSWERTES
Glossar der gälischen Namen und Begriffe
Über die Autorin
Dienstag, 19. März 2019
Russel wartete, bis der Applaus im Pub The Temple Bar sich gelegt hatte, ehe er ans Mikrofon trat. »Ladies und Gentlemen, nach dem rasanten Galopp von The Molly Maguires hören Sie als letzten Song vor der Pause ein ruhiges Liebeslied, das Sie alle kennen, eine Hommage an die schönste Frau Irlands: Star of the County Down. Im Song heißt sie Rosie McCann, aber geben Sie ihr in Gedanken ruhig den Namen Ihrer Liebsten. Das tue ich nämlich auch.«
Er zwinkerte Aislyn zu, die an einem Tisch in seiner Nähe saß und ihn strahlend anlächelte. Für ihn ging eine Sonne auf; ein Eindruck, der nicht nur Aislyns wunderschönem roten Haar geschuldet war. Er nickte seinen drei Bandmitgliedern zu, schlug den ersten Akkord auf der Gitarre an, und der Song begann. Während Russel sang, ließ er kein Auge von Aislyn und sie nicht von ihm. Sicherlich war das der Grund, warum er den Refrain mit besonderer Hingabe sang:
»From Bantry Bay down to Derry Quay
From Galway to Dublin town
No maid I’ve seen like the fair cailín
That I met in the County Down.«
Das Publikum ging mit, und Russel fühlte sich in seinem Element. Er liebte Musik und besonders die alten irischen Balladen. Im Gegensatz zu Aislyn hatte sein Talent zwar nicht zum Studium an der Royal Acadamy of Music gereicht, aber sie war dennoch seine große Leidenschaft – nach Aislyn. Vielleicht hatte sein Versagen bei der Aufnahmeprüfung nicht einmal so sehr an mangelndem Talent gelegen, sondern daran, dass er sich damals nicht hatte entscheiden können, ob er Musiker werden oder zur Polizei gehen sollte. Doch die Polizei hatte ihn auch nicht gewollt.
Weil aber für ihn keine anderen Berufe vorstellbar waren, hatte er sie miteinander verbunden. Tagsüber arbeitete er als Privatdetektiv und abends spielte er mit der Band in Pubs. Die restliche Zeit über gab er Gitarrenunterricht und betätigte sich als Straßenmusiker. Ein lohnendes Geschäft, denn besonders die Touristen waren sehr freigiebig und ließen sich manchmal auch etwas kosten, ein Erinnerungsfoto mit einem echten irischen Musiker zu schießen. Alles in allem ein wunderbares Leben, das er gegen kein anderes eintauschen wollte.
Und Aislyn O’Malley war die Krönung seines Glücks. Für ihn war sie wie das Mädchen im Song der wunderschöne Stern seines Lebens. Sie kannten sich seit zwei Jahren, und die Hochzeit war nur noch eine Frage der Zeit. Wäre es nach Russel gegangen, hätten sie gleich morgen geheiratet. Er konnte Aislyn genug für ein sorgenfreies Leben bieten. Von seinen Großeltern hatte er ein kleines Häuschen am Oaklands Drive in Rathgar geerbt, in dem zwei Personen bequem leben konnten. Einschließlich der zwei oder drei Kinder, die er fest in seine Zukunft eingeplant hatte.
Aber Aislyn wollte noch warten, bis sie ihr Studium in zwei Jahren beendet und eine Anstellung gefunden hatte. Idealerweise beim Dublin Philharmonic Orchestra. So gut, wie sie war, hatte sie durchaus Chancen. Und Russel konnte ihren Wunsch verstehen, sich erst beruflich zu etablieren, ehe sie mit ihm eine Familie gründete.
Er sang den letzten Refrain, und das Lied endete. Applaus brandete auf, aber für ihn zählte nur Aislyns wunderbares Lächeln.
»Danke schön!«, fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, dem Publikum zu sagen. Er stellte die Gitarre auf den Ständer und ging zu Aislyn.
Sein Freund, Detective Sergeant Declan Walsh, der mit ihr am Tisch saß, schob ihm ein Glas Guinness hin. »Ich beneide dich – euch beide – immer wieder um euer musikalisches Können. Diese Kunst entzieht sich mir leider vollkommen.«
Russel winkte ab. »Dafür kannst du fantastisch kochen. Ich schaffe gerade mal das Aufwärmen von Tiefkühlkost.« Er trank einen Schluck Guinness und blickte Aislyn an. »Aber für dich, meine Wunderbare, werde ich es lernen, wenn es sein muss. Ich weiß ja, bei wem ich in die Lehre gehen kann.« Er zwinkerte Declan zu.
Aislyn lächelte und schüttelte den Kopf. Sie beugte sich zu ihm herüber und gab ihm einen Kuss, den Russel innig erwiderte.
Declan stieß ihn an. »Hey, hebt euch noch was für zu Hause auf.«
Russel löste sich widerstrebend von Aislyn und grinste. »Bitte nur keinen Neid!«
»Was heißt hier Neid?« Declan grinste ebenfalls. »Ich bin glücklich verheiratet. Apropos verheiratet.« Er sah auf die Uhr. »Ich muss los. Jimmy kommt in einer Stunde von der Schicht nach Hause, und ich will meinen Mann heute mal mit einem tollen Essen verwöhnen.«
Russel blickte ihn skeptisch an. »Und du glaubst, dass du das in einer Stunde schaffst? Abzüglich der Zeit, die du bis nach Hause brauchst.«
Declan zwinkerte ihm zu. »Ich habe gestern schon vorgekocht und muss es heute nur noch aufwärmen.« Er stand auf. »Wir sehen uns.«
»Bis dann, Dec«, sagte Aislyn, während Russel nur grüßend die Hand hob.
Er nahm Aislyns Hände. »Gehen wir nachher noch zu mir oder zu dir?«
Sie schüttelte den Kopf. Das Leuchten in ihren Augen verschwand. »Ich muss noch zu Tom und Jenny. Wir wollen noch mal das Stück üben, das wir am Montag vorspielen müssen.«
»Jetzt noch?« Russel sah auf die Uhr. Es war Viertel vor acht.
Aislyn nickte. »Tom konnte nicht früher. Er hat noch einen Nebenjob. Und Jenny kann morgen nicht, also muss es heute sein.« Sie seufzte.
»Was ist los, my fair cailín?« Normalerweise machte jede Übungsstunde Aislyn glücklich. Doch sie erweckte den Eindruck, als wäre sie am liebsten der Verabredung ferngeblieben.
Sie zwang sich sichtbar zu einem Lächeln. »Nichts.« Sie drückte seine Hände. »Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe?«
Er nickte. »Ich habe da so eine Ahnung.«
Sollte er sie noch mal fragen, was los war? Denn irgendetwas bedrückte sie. Oder würde sie das als aufdringlich empfinden? Frauen waren manchmal allzu eigen in ihren Reaktionen. Wahrscheinlich würde Russel sie auch in hundert Jahren nicht verstehen. Aislyn legte den Kopf auf seine Schulter und die Arme um ihn und schmiegte sich an ihn. Er erwiderte die Umarmung und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel.
»Ich liebe dich auch, meine wunderbare Rosie McCann. – Ihr übt doch bestimmt nicht bis in die Nacht. Hast du Lust, hinterher noch zu mir zu kommen? Ich bin hier um elf fertig.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss morgen früh raus. Aber morgen Abend mach ich es wieder gut.«
Sie legte eine Hand an seine Wange und sah ihn lange an. Schimmerten da Tränen in ihren Augen? Er zog sie enger an sich und streichelte ihren Rücken. »Was ist los, Aislyn? Dich bedrückt doch was. Und du weißt, dass du über alles mit mir reden kannst.«
Ein trauriges Lächeln. »Ich weiß. Aber es ist wirklich nichts. Ich habe heute nur keine Lust, den Abend übend mit Tom und Jenny zu verbringen. Ich würde ihn viel lieber mit dir verbringen. Aber ich darf das Vorspielen nicht vergeigen. Buchstäblich. Das verstehst du doch?«
»Natürlich.«
»Singst du dein Lieblingslied für mich?«
»Was immer du willst.«
Sie gab ihm einen Kuss, so innig, als wäre es der letzte für alle Zeit. Anschließend befreite sie sich aus seiner Umarmung, gab ihm einen leichten Stups und nickte zur Musikecke hin, wo der Rest der Band Aufstellung nahm. Er trank noch einen großen Schluck Guinness und gesellte sich zu ihnen. Sprach sich kurz mit ihnen ab und stimmte Erin Go Bragh – A Row in the Town an, das er nicht nur wegen der mitreißenden Melodie mochte, sondern auch wegen des recht patriotischen Inhalts. Russel liebte sein Land, er liebte Dublin, die Musik, und er liebte Aislyn über alles.
Während er sang und spielte, stand sie auf, zog ihre Jacke an und ging zum Ausgang. Ihr rotes Haar wogte wie eine Kaskade aus Strahlen der untergehenden Sonne um ihre Schultern. Vor der Tür drehte sie sich um, lächelte und winkte ihm zu. Russel nickte und lächelte zurück. Die Tür schloss sich hinter ihr, und er hatte das Gefühl, im Raum sei es merklich dunkler geworden.
Er gab sich der Musik hin und zählte die Stunden bis zum morgigen Wiedersehen mit Aislyn.
Ryan Lynch radelte am Ufer der Liffey entlang zu den Docks. Seine Schicht begann in einer halben Stunde. Er fröstelte und wäre lieber im warmen Bus gefahren. Aber um diese frühe Stunde – mitten in der Nacht traf es besser – fuhr keiner, und ein Auto konnte er sich nicht leisten. Dabei liebte er Autos, besonders die schnittigen Sportwagen. In denen zu fahren machte so richtig was her. Nicht, dass Ryan schon jemals in einem solchen Wagen gesessen hatte. Er konnte sich nicht mal eine Probefahrt leisten. Aber träumen durfte man ja. Deshalb ließ er keinen einschlägigen Actionfilm aus, in dem solche Wagen eine Rolle spielten. Für ihn waren die Autos die wahren Helden dieser Filme und die Handlung nebensächlich.
Ein Wagen überholte ihn und scherte vor ihm auf die Fahrbahn ein. Ryan riss die Augen auf. Träumte er? Ein Aston Martin DBS – hier bei den Docks? Bestimmt hatte der sich verfahren. So ein Wagen wollte doch bestimmt zur Fähre, obwohl der Fährbetrieb erst in ein paar Stunden aufgenommen wurde.
Der Aston Martin schlingerte und geriet ein Stück auf den Gehweg. Ryan zuckte in Erwartung des Krachens zusammen, das folgen würde, wenn der schöne Wagen gegen den Baum prallte, der in seinem Weg stand. Doch der Aston kam mit quietschenden Reifen kurz davor zum Stehen. Ryan atmete auf.
Skyfall-Silber. Zumindest sah die Farbe so aus wie die des Aston Martins, den James Bond in Skyfall gefahren hatte und die deshalb nach diesem Film benannt worden war. Himmel, er hatte ein echtes James-Bond-Auto vor sich! Ryan trat kräftiger in die Pedalen, um das Schmuckstück einzuholen und von Nahem zu sehen, bevor es weiterfuhr. Leicht enttäuscht erkannte er, dass der Farbton doch nicht Skyfall-Silber war, sondern etwas dunkler. Vermutlich Xenongrau. Ryan kannte sich aus, denn der Aston war sein heimliches Traumauto. Deshalb kannte er alle Marken und alle lieferbaren Farben. Er würde sich einen in Diavolorot kaufen – sollte er jemals beim Hunderennen oder in der Lotterie genug gewinnen, um schlappe zweihunderttausend Euro oder mehr hinblättern zu können.
Die Beifahrertür wurde geöffnet. Eine rothaarige Frau fiel fast heraus. Von der Fahrerseite ertönte ein Fluch. Die Frau wurde zurückgerissen. Der Fahrer stieg aus, ging hastig um den Wagen herum und legte der Frau den Sicherheitsgurt an, den sie wohl vergessen hatte zu schließen.
Ryan hielt neben ihm. »Brauchen Sie Hilfe, Sir?«, bot er an. Allerdings weniger, um tatsächlich Hilfe anzubieten, sondern um den Wagen noch eine Weile bewundern zu können.
Der Mann sah ihn erschrocken an. Er passte zu dem Wagen, trug einen dunklen Anzug und eine dicke Uhr am Handgelenk, die teuer aussah. »Ah, danke, nein, geht schon«, wehrte er Ryans Angebot ab. »Meiner Frau ist nur schlecht. Sie hat etwas zu viel getrunken.«
›Etwas‹ zu viel schien Ryan untertrieben, denn die Frau konnte sich kaum aus eigener Kraft im Sitz halten. Ihre Augen waren halb offen, und ihre Lippen bewegten sich, aber kein Laut kam aus ihrem Mund. Nach Ryans Einschätzung war sie sturzbesoffen. Ihr Mann hielt sie im Sitz und zog den Gurt fest.
»Sie wollen wohl zur Fähre?«, fragte Ryan, um noch eine Weile bleiben zu können. »Da fahren Sie aber in die falsche Richtung. Zur Fähre geht es da lang.« Er deutete in die entgegengesetzte Fahrtrichtung.
Der Mann richtete sich auf. »Oh? Eh, ja. Da – habe ich mich wohl verfahren. Danke.«
Er schlug die Beifahrertür zu und hastete auf die andere Seite. Seine Frau hob die Hand und tastete nach der Gurthalterung. Doch sie erreichte sie nicht. Die Hand fiel kraftlos in ihren Schoß. Sie drehte den Kopf und sah Ryan an. Bewegte die Lippen. Ob sie etwas sagen wollte oder nur nach Luft schnappte, weil ihr kotzübel war – bleich genug sah sie schließlich aus –, war nicht zu erkennen. Ihr rotes Haar passte zu dem metallischen Xenongrau des Wagens und der Sitze. Der Fahrer musste ein glücklicher Mann sein mit einer so schönen Frau und einem so tollen Auto.
Der Wagen fuhr weiter. Ryan sah ihm neidisch nach und lauschte dem unvergleichlichen Motorgeräusch, das ihm wie Sirenengesang vorkam, bis der Aston Martin ein gutes Stück weiter in eine Nebenstraße einbog und seinen Blicken entschwand. Erst da fiel ihm auf, dass der Fahrer nicht gewendet hatte, um zum Fährhafen zu fahren. Vielleicht wollte er doch lieber seine Frau nach Hause bringen, damit sie ihren Rausch ausschlief und nicht die Fähre oder noch schlimmer den schönen Wagen vollkotzte.
Nun, das ging ihn nichts an. Er musste zur Arbeit. Die ihm heute garantiert leichter von der Hand gehen würde, weil er dieses göttliche Auto aus der Nähe hatte bewundern dürfen. Ach, würde doch jeder Tag mit einem solchen Highlight beginnen!
Mittwoch, 20. März
Russel erwachte vom Zwitschern der Vögel vor dem Schlafzimmerfenster. Wohlig reckte er sich, drehte sich auf die andere Seite und fühlte sich großartig. Er hatte von Aislyn geträumt, wie er mit ihr barfuß am Strand der Strand Road im Sand lief, sie an der Hand hielt und die Sonne sie beide wärmte. Das Meer der Dublin Bay umspülte ihre Füße, und Aislyns strahlendes Lächeln erhellte den Tag mehr als die Sonne. »Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe, Russel?«
Er wusste das und spürte es in diesem Moment so deutlich, als hielte er Aislyn im Arm. Wohltuend, denn gerade heute brauchte er ihre Liebe und den Halt, den sie ihm gab, mehr als sonst. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es Viertel nach sieben war und er sich noch knappe zwölf Stunden gedulden musste, bis er Aislyn heute Abend in The Temple Bar traf, wo er wieder mit der Band für die Musik sorgte. Ihr Engagement dort dauerte noch bis Ende des Monats. Danach gab es ein paar Einzelauftritte, und ab Mai begann die Touristensaison mit Straßenmusik. Vorher wollten sie noch eine neue CD aufnehmen, um sie bei diesen Gelegenheiten zu verkaufen. Das war immer ein gutes Geschäft. Touristen liebten CDs, auf deren Covern die Band ihre Autogramme geschrieben hatte.
Russel stand auf, duschte, frühstückte, las die Irish Times und machte sich anschließend auf den Weg zum Glasnevin Friedhof beim Botanischen Garten. Wie jedes Jahr am zwanzigsten März. Und das seit achtzehn Jahren. Unzählige Leute hatten ihm versichert, dass der Gang dorthin mit jedem Jahr leichter werde. Doch das war eine Lüge, denn der Schmerz über den unerklärlichen Verlust kehrte mit jedem Besuch ungebremst zurück. Weshalb Russel vermied, zu anderen Zeiten als an ihrem Todestag das Grab seiner Mutter zu besuchen. Dass sie ihn, seine Schwester und seinen Vater sang- und klanglos verlassen hatte, nahm er ihr immer noch übel.
Was sicherlich daran lag, dass sie keinen Abschiedsbrief hinterlassen hatte. Eben noch war alles gewesen wie immer. Seine Mutter hatte ihn und Caitlin wie jeden Morgen auf den Schulweg geschickt, ihnen einen schönen Tag gewünscht, den obligatorischen Kuss gegeben und ihnen lächelnd nachgewinkt. Stunden später hatte ein Polizist, ein Kollege seines Vaters, ihn und Cait von der Schule abgeholt, weil »etwas mit der Mutter passiert« sei. Sein Vater hatte ihre Leiche gefunden, als er am Vormittag von einem Nachteinsatz nach Hause gekommen war. Da war sie schon seit ein paar Stunden tot gewesen: gestorben an einem elektrischen Schlag, als sie ein Bad hatte nehmen wollen und ihr versehentlich das eingeschaltete Radio ins Wasser gefallen war, während sie in der Wanne saß. Vermutlich hatte sie es lauter oder leise stellen wollen, war abgerutscht und …
Russel war sich nicht sicher, ob seine Mutter diese Todesart mit der bewussten Absicht gewählt hatte, dass alles wie ein Unfall aussah, oder ob sie nur die für sie am einfachsten durchzuführende Methode genommen hatte. Dass es kein Unfall war, war ihm, seinem Vater und Cait sonnenklar. Seine Mutter hat nie – niemals in ihrem ganzen Leben – morgens ein Bad genommen und niemals beim Baden Radio gehört. Erst recht nicht an einem Tag und zu einer Zeit, als sie in der Clontarf School of Music hätte unterrichten müssen, wo sie sich weder krankgemeldet noch Urlaub genommen hatte.
Ein Rätsel blieb der Grund für ihre Tat. Russel und Cait hatten sich die Schuld gegeben. Zwar war zumindest Russel nicht bewusst, dass er irgendetwas so Böses getan haben könnte, um seine Mutter in den Selbstmord zu treiben, aber er war wie alle Kinder kein Engel, wild und ungehorsam und manchmal patzig. Cait gab sich die Schuld, weil sie, mit fünfzehn mitten in der Pubertät, allzu oft die Rebellin herauskehrte. Noch am Vorabend hatte sie heftig mit ihrer Mutter wegen einer Nichtigkeit gestritten und sich nicht wieder mit ihr versöhnt.
Sein Vater versicherte ihnen beiden, dass die Mutter sie innig geliebt und ihnen alles verziehen habe, was sie wann auch immer angestellt haben mochten. Und dass ihr Entschluss zu sterben ganz gewiss nie im Leben mit ihnen zu tun habe. Stattdessen gab er sich selbst die Schuld. Wegen zu großer Schweigsamkeit, wegen zu häufiger Abwesenheit aufgrund von Spät- und Nachtschichten, wegen der Gefahr, in der er in seinem Beruf ständig schwebte und weil er nicht das Geringste davon mitbekommen hatte, dass seine Frau an seiner Seite am Leben so verzweifelt war, dass sie nur noch den Tod als einzigen Ausweg sah.
Ein Fehler, den er bei seinen Kindern vermeiden wollte, weswegen er sie nun ständig mit Fragen nach ihrem Befinden löcherte. Was sowohl Cait wie auch Russel aus dem Haus getrieben hatte, kaum dass sie achtzehn waren. Cait kehrte nach ihrer Ausbildung bei der Polizei ins Elternhaus zurück, denn kostenfreies Wohnen war für diesen Schritt ein nicht zu unterschätzendes Argument. Und ihr Vater zeigte bis heute kein Interesse an irgendeiner anderen Frau, was Cait zum Auszug hätte zwingen können. Russel blieb lieber für sich und zog später ins Haus seiner Großeltern.
Irgendwann fand sich ein Tagebuch der Mutter, versteckt im hintersten Winkel ihres Kleiderschrankes in einem alten Schuhkarton. Aber die Hoffnung, darin endlich die Antwort zu finden, warum sie sich umgebracht hatte, erfüllte sich nicht. Die letzte Eintragung war auf drei Tage vor ihrem Tod datiert und lautete lapidar: »Ich kann nicht mehr. Ende.« Was sie »nicht mehr konnte«, hatte sie nirgends notiert. Bis auf diese letzten Worte hatte sie drei Jahre zuvor aufgehört, das Tagebuch zu führen, obwohl gemäß dem damaligen Eintrag und auch den früheren Aufzeichnungen nichts, aber auch gar nichts darauf hindeutete, dass es etwas in ihrem Leben gab, das ihr Kummer bereitete. »Wir werden unsere Haustür rot anmalen«, hatte sie als Vorletztes notiert. »Ein leuchtender Farbtupfer in der Nachbarschaft. Das wird bestimmt lustig.« Danach hatte sie nur noch ihren Entschluss fürs finale Ende geschrieben.
Was die quälende Frage nach dem Warum immer noch unbeantwortet ließ. Und dieses Rätsel würde vermutlich nie gelöst werden.
Russel parkte seinen Wagen auf dem relativ leeren Parkplatz vor dem Friedhof. Um diese frühe Stunde war noch wenig los. Die Besucher des Botanischen Gartens würden erst später kommen. Caits Ford stand zwei Parkbuchten weiter. Demnach war ihr Vater auch schon da. Russel nahm die weiße Rose vom Beifahrersitz, die er gestern in einem Blumenladen gekauft hatte, und ging zu dem Grab seiner Mutter. Sie war hier beerdigt worden, weil sie in Glasnevin aufgewachsen war, obwohl die O’Learys in Rathfarnham wohnten.
Sein Vater und Cait standen bereits vor dem Grab und blickten auf den Grabstein aus grünem Connemara-Marmor, in den mit Goldlettern eingeprägt war: Niamh Ní Bhriain O’Leary, geliebte Ehefrau und Mutter, schmerzlichst vermisst. Dazu ihr Geburts- und Todestag. Eine rote und eine gelbe Rose lagen bereits auf der Steinplatte, mit der das Grab bedeckt war. Die rote stammte von Russels Vater, die gelbe von Cait.
Russel legte seine weiße dazu und stellte sich neben seinen Vater. Der nickte ihm stumm zu. Wieder einmal hatte Russel das Gefühl, in einen Spiegel zu sehen, der ihm zeigte, wie er selbst in dreißig Jahren aussehen würde. Und ein Blick in Caits Züge offenbarte, wie er aussehen würde, wäre er ebenfalls ein Mädchen geworden. Sie waren zwar keine Zwillinge, sahen einander aber so ähnlich, dass jeder sie auf Anhieb als Geschwister erkannte. Cait lächelte zur Begrüßung und zwinkerte Russel zu.
Sein Vater legte den Arm um seine Schultern und zog ihn an sich. Den anderen Arm hatte er um Caits Schultern gelegt. Russel legte seinen um seines Vaters Taille, wo schon Caits Arm lag. Ihre Hand tastete nach seiner. Er ergriff sie und drückte sie fest. Eine lange Zeit standen sie schweigend vor den in der Erde vergrabenen Überresten der Frau, die ihnen alles bedeutet hatte. Die Vögel zwitscherten, die Sonne schien und alles wirkte wunderbar, friedlich und schön.
Warum hatte sie das nur getan? Warum war sie einfach so gegangen und hatte ihre Kinder und ihren Mann im Stich gelassen? Was war so schrecklich gewesen, dass sie das Leben nicht mehr ertragen hatte?
Russel fiel es wie dem Rest seiner Familie sehr schwer, den Verlust zu verkraften. Declan, schon damals sein bester Freund, war ihm eine große Hilfe gewesen. Russel konnte die Nächte nicht zählen, die er bei den Walshs geschlafen hatte, weil Vater und Schwester mit ihrer eigenen Trauer beschäftigt waren und keine Kraft hatten, Russel ausreichend zu trösten.
Hätte ihn jemand gefragt, er hätte überzeugend behauptet, über den Verlust hinweg zu sein. Schließlich war er ein erwachsener Mann von neunundzwanzig und kein halbverwaister Zehnjähriger mehr, dessen Welt komplett zusammengebrochen war. Aber der Tod seiner Mutter hatte eine tiefe Narbe in ihm hinterlassen. Declans unerschütterliche Freundschaft hatte geholfen, die Wunde zu schließen. Aber erst Aislyns Liebe und seine zu ihr glätteten auch die Narbe, erzeugten aber gleichzeitig eine tiefe Furcht, die er in den hintersten Winkel seines Bewusstseins verbannte: die Furcht, dass sie ihn verlassen könnte. Egal auf welche Weise.
Sein Vater drückte ihn und Cait noch einmal fest an sich, das stumme Zeichen, dass die alljährliche Trauerzeremonie vorüber war. Er ließ seine Kinder los, warf wie immer dem Grabstein einen Luftkuss zu und sprach einen kurzen Segen auf Gälisch, ehe er sich vom Grab abwandte. Er legte Russel die Hand auf die Schulter, während sie zum Parkplatz gingen.
»Wie geht es dir, Sohn?«
»Wie immer, Dad.« Was Russel, wie sein Vater wusste, auf diesen Moment bezog, nicht auf den Rest seines Lebens.
Cait hakte sich an der anderen Seite bei ihm unter. »Und wann dürfen wir dich zum Traualter schleifen? Führen, meine ich.«
Russel grinste flüchtig. »Sobald Aislyn Ja sagt.«
Cait fletschte die Zähne und knurrte. »Ich werde sie mit vorgehaltener Pistole noch heute dazu zwingen.«
Russel schüttelte den Kopf. »Das funktioniert nicht. Sie wird zustimmen, sobald sie soweit ist.«
Sein Vater sah ihn ernst an. »Was mich zu der Frage bringt, ob du überhaupt in der Lage bist, Frau und Kinder zu ernähren.«
Russel verdrehte die Augen und seufzte. »Dad, wir leben in modernen Zeiten, in denen die Frauen ihr eigenes Geld verdienen und keinen Mann brauchen, durch den sie versorgt sind.«
»Amen!«, stimme Cait ihm nachdrücklich zu und strafte ihren Vater mit einem missbilligenden Blick.
»Aber ja«, bestätigte Russel, »sollte es hart auf hart kommen, reicht mein Verdienst als Musiker und Privatermittler aus, um uns beide und die künftigen Kinder sorgenfrei über die Runden zu bringen.« Er sah auf die Uhr. »Weshalb ich mich sputen sollte, denn ich habe in einer knappen Stunde ein Treffen mit potenziellen neuen Klienten.«
»Kommst du Sonntag mal wieder zum Essen?«, lud sein Vater ihn ein. »Ich mache uns Rabbit Stew. Aislyn ist natürlich auch eingeladen.«
»Ich werde sie fragen. Und ja, ich komme gern. Mit ihr oder ohne sie. Sie hat Montag ein Vorspielen und will noch viel üben.«
Sie hatten den Parkplatz erreicht und verabschiedeten sich mit der üblichen Umarmung.
»Halt die Ohren steif, kleiner Bruder«, wünschte Cait, ehe sie ins Auto stieg. Sein Vater nickte ihm noch einmal zu und hob grüßend die Hand, bevor er ebenfalls einstieg.
Russel setzte sich in seinen Wagen und fuhr los, froh, für dieses Jahr die quälende Warum-Frage abhaken zu können.
Die Uhr zeigte halb zehn, als er zu Hause ankam. Er parkte den Wagen vor der Garage, denn er würde ihn wahrscheinlich heute noch einmal brauchen. Ein Blick im Vorbeigehen in den Spiegel im Flur zeigte ihm, dass er präsentabel aussah und sich nicht umziehen musste. Deshalb ging er hinüber in sein winziges Büro, ein kleines Zimmer, das seine Großeltern als Vorratsraum genutzt hatten. Früher war es mit Regalen vollgestellt gewesen, in denen sich Konserven, verschlussdichte Dosen mit verschiedenem Inhalt, kiloweise Tee und zig Gläser mit Großmutters selbstgemachter Marmelade dicht an dicht gereiht hatten.
Er hatte die Regale entfernt und zwei Schreibtische im rechten Winkel hineingestellt. Auf einem standen sein Computer, der Drucker, das Festnetztelefon und der Kopierer. Vor den anderen hatte er zwei Besucherstühle gestellt. Fünf mit modernsten Safeschlössern versehene Hängeregisterschränke täuschten vor, dass Privatermittler Russel O’Leary gut zu tun hatte, denn nur er wusste, dass alle leer waren und nur im ersten gerade mal hundertfünf Akten aus vier Jahren hingen. Gesetzesbücher und andere juristische Fachliteratur im Regal daneben sollten Seriosität demonstrieren. Auf die legte er großen Wert, denn ein Detektiv, der sich nicht an die Gesetze hielt, bekam sehr schnell einen schlechten Ruf und keine Aufträge mehr. Deshalb hatte er diese Bücher auch gelesen. Wenn er sich mal in einem Punkt nicht sicher war, konnte er immer noch Declan um Rat fragen. Eine Reihe von Fachbüchern über verschiedene Formen von Wirtschaftskriminalität, Bankwesen und andere Gebiete vervollständigten die Sammlung.
Russel setzte sich an den Computer, um die Songtexte zu tippen, die als Booklet der neuen CD beigefügt werden sollten, während er auf das Eintreffen seiner neuen Klienten wartete, die um zehn Uhr kommen wollten. Ihre Pünktlichkeit oder Verspätung würde ihm vorab einen Hinweis geben, wie wichtig ihnen die Angelegenheit war, über die Mrs Rafferty am Telefon nicht hatte sprechen wollen, als sie gestern den Termin vereinbart hatte. Doch wenn sie und ihr Mann kamen, sähe es unprofessionell aus, wenn Russel nur am Schreibtisch säße und die Zeitung las.
Die Türklingel läutete, kaum dass er den Computer hochgefahren hatte: zwanzig Minuten vor zehn. Russel ging zur Tür. Als er sie öffnete, sah er sich einem Ehepaar mittleren Alters gegenüber, das sichtlich besorgt und verzweifelt wirkte.
»Mrs und Mr Rafferty?«, vergewisserte er sich.
Beide nickten.
»Bitte, treten Sie ein. Gleich hier die Tür links, bitte.«
Die Raffertys gingen ins Arbeitszimmer und sahen sich um wie bisher alle Klienten. Und wie bei allen ihren Vorgängern verfehlten die Accessoires nicht ihre Wirkung, denn zumindest Mr Raffertys Gesichtsausdruck wandelte sich von Besorgnis zu moderater Zuversicht.
»Nehmen Sie Platz.« Russel deutete auf die Stühle. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Tee, Orangensaft, Mineralwasser? Oder Kaffee? Etwas Stärkeres?«
Mr Rafferty nickte. »Ein Whiskey wäre nicht schlecht.«
»Bren!«, rügte seine Frau. »Um diese Zeit?«
Russel lächelte. »Irish Coffee?«, bot er an.
»Das wäre wundervoll«, stimmte Bren Rafferty zu, und seine Frau nickte zögernd.
»Entschuldigen Sie mich einen Moment.«
Russel ging in die Küche, um zwei Portionen des Getränks zuzubereiten, was den Raffertys Gelegenheit gab, sich genauer umzusehen und zu dem Schluss zu kommen, mit ihm eine gute Wahl getroffen zu haben. Nicht nur um des guten Eindrucks willen gab er sich besondere Mühe mit dem Irish Coffee und servierte ihn gekonnt wie ein Kellner. Als der er sich auch schon mal versucht hatte und deshalb das Metier beherrschte.
Anschließend setzte er sich wieder hinter den Schreibtisch, nahm einen Notizblock und einen Stift zur Hand und blickte die beiden auffordernd an. »Was kann ich für Sie tun?«
»Unsere Tochter ist verschwunden«, platzte Mrs Rafferty heraus. »Und die Polizei tut nichts!« Sie brach in Tränen aus.
Russel reichte ihr ein Papiertaschentuch aus einer Spenderbox auf dem Tisch, die er dort vorsorglich für solche Fälle stehen hatte. »Wenn die Polizei ›nichts‹ tut, vermute ich, Ihre Tochter ist erwachsen und kein Kind mehr.«
Bren Rafferty nickte und wischte sich einen kleinen Sahnerückstand vom Irish Coffee von der Oberlippe. »Sie wurde vor zwei Monaten achtzehn. Aber einfach wegzubleiben und sich tagelang nicht zu melden – das sieht Edana überhaupt nicht ähnlich.«
»Wann ist sie verschwunden? Und wie? Von zu Hause?«
Rafferty schüttelte den Kopf. »Sie ist vor vier Tagen wie jeden Morgen aus dem Haus gegangen und zur Uni gefahren. Sie studiert Mathematik im ersten Semester am Trinity College. Und sie ist einfach nicht wieder nach Hause gekommen.« Rafferty schluckte und kämpfte sichtbar gegen aufsteigende Tränen an. Statt sie zu vergießen, nahm er einen weiteren Schluck des heißen Getränks, setzte das Glas ab und schüttelte den Kopf. »Und seitdem gibt es keine Spur von ihr.«
»Wir haben alle ihre Freunde angerufen, auch im College nachgefragt«, ergänzte seine Frau und knetete das Taschentuch. »Aber angeblich weiß niemand was. Und das kann es doch nicht geben! Irgendwer muss doch wissen, wo Eddie zuletzt war oder was sie vorhatte.«
Davon war Russel überzeugt. Er erinnerte sich noch gut an seine Zeit als Teenager. Declan war über alle seine geheimen Vorhaben informiert gewesen und hatte ihn gegenüber seinen Eltern gedeckt, wenn es sein musste. Und sei es nur dadurch, dass er auf deren Nachfragen vorgegeben hatte, nichts über Russels Pläne oder seinen Aufenthaltsort zu wissen.
»Hat sie einen Freund?«
Rafferty nickte. »Er hat sie auch seit der gemeinsamen Vorlesung am College nicht mehr gesehen und ist ebenso besorgt wie wir.«
Russel hatte halb erwartet, den üblichen Spruch blauäugiger Eltern von jungen Mädchen zu hören: Aber nein, dafür ist unsere Tochter doch noch VIEL zu jung! Oder: Aber nein, dafür hat sie keine Zeit, sie konzentriert sich ganz auf die Schule/ihre Ausbildung/das Studium. Dass die Raffertys vom Freund wussten und die Beziehung Russels Eindruck nach offenbar billigten, sprach für ein gutes Verhältnis zwischen Eltern und Tochter. Das wollte jedoch nichts heißen. Auch Russel hatte schon immer ein sehr gutes Verhältnis zu seinen Eltern. Seit dem Tod seiner Mutter war das zu seinem Vater und zu Cait noch enger geworden. Aber das bedeutete nicht, dass er ihnen alles auf die Nase band. Gewisse Dinge behielt er grundsätzlich für sich.
»Der Freund ist also immer noch da und nicht ebenfalls verschwunden?«, vergewisserte sich.
»Ja, natürlich.« Mrs Rafferty blickte ihn an, als habe er eine extrem dumme Frage gestellt.
Russel lächelte. »Damit ist ausgeschlossen, dass die beiden zusammen durchgebrannt sind«, erklärte er.
»Eddie würde nie durchbrennen!«, war Mrs Rafferty im Brustton empörter Elternliebe überzeugt.
Noch so eine Blauäugigkeit, der Russel nicht zum ersten Mal begegnete. Gerade bei ernsthaften Problemen in der Familie verstanden es Kinder und Jugendliche oft hervorragend, so zu tun, als wäre alles in Ordnung, während sie heimlich ihre Flucht planten. Von der die Eltern dann völlig überrascht waren, weil nach ihrem Wissen doch alles in bester Ordnung gewesen war.
Genau wie bei manchen Selbstmördern. Sie funktionierten nach außen hin so gut, dass nicht einmal der engste Familienkreis mitbekam, wie schlecht es ihnen in Wahrheit ging. Oder dass es ihnen überhaupt schlecht ging. Es bedurfte nur eines überzeugenden falschen Lächelns, um alle Welt glauben zu lassen, das Leben sei wunderbar und alles in bester Ordnung. Wie bei seiner stets fröhlichen, allseits beliebten Mutter.
Er schüttelte die düsteren Gedanken ab und konzentrierte sich wieder auf den neuen Fall. »Ich brauche bitte den Namen des Freundes. Und seine Handynummer, wenn Sie die haben. Und idealerweise auch eine Liste aller anderen Freundinnen und Freunden von Edana. Die Namen der Leiter ihrer Collegekurse und alles, was Sie mir sonst noch sagen können. Hobbys, Lieblingsorte, wo sie sich immer gern aufhält – alles.« Er lächelte entschuldigend. »Ich weiß, Sie haben schon alles abgesucht und alle Leute abtelefoniert. Aber Sie sind besorgte Eltern, ich bin professioneller Ermittler. Ich sehe vielleicht Hinweise oder Spuren, die Ihnen entgangen sind.«
Rafferty nickte. Er holte einen Briefumschlag aus der Innentasche seines Mantels und reichte ihn Russel. Russel öffnete ihn und zog den Inhalt heraus. Auf mehreren ausgedruckten Bögen standen Namen, Adressen, Telefonnummern, eine Auflistung der Kurse, die Edana Rafferty am Trinity College belegt hatte, Informationen zu ihren Hobbys und alle Orte, an denen sie sich gern aufhielt. Ein Foto von ihr lag dem ebenfalls bei: ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen mit blauen Augen und einem spitzbübischen Lächeln, deren lockiges Haar ihr fast bis zum Hintern reichte.
»Das hilft mir enorm weiter. Vielen Dank.«
Bren Rafferty schnaufte ungehalten. »Die Liste haben wir vorsorglich für die Polizei angefertigt. Hat die nicht interessiert. Solange kein konkreter Hinweis auf ein Verbrechen vorliegt, haben die keine Veranlassung und auch keine Kapazität, für nichts und wieder nichts einem Mädchen nachzujagen, das einfach mal ein paar Tage blau macht. Das sagte man uns ins Gesicht. Wortwörtlich!«
Russel schüttelte den Kopf. »Von mir werden Sie so etwas nicht zu hören bekommen. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich Ihre Tochter finde, aber ich beginne sofort mit der Suche, und ich gebe niemals auf. Was mein Honorar betrifft …«
»Fünfzig Euro die Stunde plus Spesen steht auf Ihrer Website.« Rafferty nickte. »Es ist uns egal, wie viel es kostet und wie lange es dauert. Wir haben Erspartes. Wir können es uns leisten. Wir müssen nur wissen, was mit Eddie ist. Sie ist bestimmt nicht weggelaufen. Ihr muss etwas zugestoßen sein.«
Seine Frau begann wieder zu weinen, und auch er selbst kämpfte erneut mit den Tränen. Russel war versucht ihnen zu versichern, er werde die Tochter finden, um sie zu trösten. Aber er wusste von Declan, wie tückisch so ein Versprechen war. Es erweckte in den Eltern Hoffnung, die sich möglicherweise – nach vier Tagen spurlosen Verschwindens sogar wahrscheinlich – nicht erfüllen würde. Und die Schuld daran bekam im Fall eines Verbrechens nicht etwa der Täter oder bei einem Unfall das niederträchtige Schicksal, sondern der Mensch, der den Angehörigen indirekt versprochen hatte, alles werde wieder gut. Keine gute Reputation für einen Privatermittler.
Russel lächelte erneut. »Ich wollte sagen: Was mein Honorar betrifft, so werde ich Ihnen alle Kosten minutiös nachweisen. Mit täglichem Bericht, wenn Sie den wollen.«
Rafferty winkte ab. »Das können Sie halten, wie Sie es immer tun. Wir wollen nur unsere Tochter zurück.« Er legte den Arm um seine Frau, zog sie an sich und strich ihr tröstend über das Haar. Eine Geste, die ihn spürbar ebenso trösten sollte wie sie.
Russel rollte mit dem Stuhl vor den Computer, füllte ein Vertragsformular aus und druckte es zweifach aus. »Wenn Sie das bitte unterschreiben würden. Und beachten Sie bitte den Passus über die Legalität.« Er deutete auf den entsprechenden Abschnitt.
Darin machte er die Klienten darauf aufmerksam, dass er zur Erfüllung des ihm erteilten Auftrages ausschließlich legale Mittel einsetzte. Zu diesem Passus hatte Declan ihm geraten, weil das von vornherein alle Leute abschreckte, die ihr Wissen über Detektive aus schlechten Romanen und Filmen hatten, in denen die Leute sich den Teufel um Gesetze scherten und zur Lösung ihrer Fälle eine Straftat nach der nächsten begingen. Erst recht schreckte es diejenigen ab, die illegale Mittel sogar erwarteten.
Russel hatte schon mehr als ein Angebot erhalten, in dem es um einen Streit ums Sorgerecht ging, bei dem man ihn aufgefordert hatte, der gegnerischen Partei Beweise für eine angebliche Gefährdung des Kindeswohls unterzuschieben oder sie sogar in eine entsprechende Falle zu locken. Solche Aufträge lehnte er ab. Ebenso die, bei denen ein Ehemann seine Frau loswerden wollte, indem er ihr Untreue unterstellte und Russel beauftragte, die Frau zu diesem Zweck zu verführen und entsprechende Fotos zu machen.
Die Raffertys zeigten sich erneut beeindruckt und unterschrieben den Vertrag.
»Ich glaube, bei Ihnen sind wir in guten Händen, Mr O’Leary«, war Mrs Rafferty überzeugt.
»Ich tue mein Möglichstes.« Das einzige Versprechen, das er zu geben bereit war, denn das konnte er problemlos einhalten.
»Und«, Rafferty blickte seine Frau an, die ihm zunickte, »bitte melden Sie sich nur, wenn Sie etwas Wichtiges erfahren haben. Ständige Meldungen, in denen Sie uns nur mitteilen, dass Sie nichts wissen – ich glaube, die ertragen wir nicht.«
»Wie Sie wünschen.«
»Sie fangen sofort mit der Suche an?«, vergewisserte sich Mrs Rafferty.
Russel nickte. »Sobald Sie keine Fragen mehr haben oder mir noch etwas mitteilen möchten, lege ich los.«
Das Paar stand hastig auf. Mrs Rafferty ergriff seine Hand. »Wir überlassen Sie Ihrer Arbeit, Mr O’Leary. Je schneller Sie anfangen können, desto besser.«
Russel erhob sich ebenfalls und geleitete sie zur Tür.
»Danke, Mr O’Leary.« Mrs Raffertys Stimme klang inbrünstig. »Wir wissen, Sie tun Ihr Bestes.«
»Immer.« Aber ihm war nur allzu bewusst, dass sein Bestes nicht immer ausreichte. Oder nicht das Ergebnis brachte, das seine Klientel sich wünschte. »Auf Wiedersehen.«
Russel schloss die Tür hinter den beiden, räumte Raffertys leeres und Mrs Raffertys unberührtes Glas Irish Coffee in die Küche und begann wie versprochen mit den Nachforschungen. Er checkte die sozialen Medien, ob Edana Rafferty in den letzten Tagen irgendetwas gepostet hatte. Aber seit ihrem Verschwinden war das nicht der Fall. Er überprüfte die Chats ihres Freundeskreises in den sozialen Netzwerken und wunderte sich wieder einmal, wie leichtfertig die Leute mit ihren Daten und vor allem den Fotos umgingen. Für seine Arbeit war das jedoch ein Glücksfall.
Er stellte fest, dass alle sich mehr oder weniger große Sorgen machten. Ihr Freund Toby McGowan schien ehrlich besorgt. Er hatte ihr Foto öffentlich gepostet mit der Bitte, man möge sich melden, falls jemand Eddie sehen sollte. Eine junge Frau fiel ihm besonders auf: Gina Rossi. Sie wiegelte nicht nur Tobys Besorgnis ab, sondern betonte immer wieder, dass Eddie bestimmt nur mal eine Woche blau machte und ihr ganz sicher nichts passiert sei. Laut der Liste, die die Raffertys ihm überlassen hatten, war Gina Edanas beste Freundin, diejenige, die sich zusammen mit Toby die größten Sorgen über ihr sang- und klangloses Verschwinden hätte machen müssen. Es sei denn, sie wusste genau, dass Edana nicht »verschwunden« war.
Russel beschloss, bei ihr mit seinen Nachforschungen anzufangen. Die Liste der Raffertys war wirklich ausführlich, denn sie hatten hinter jeden Namen nicht nur die Beziehung zu ihrer Tochter geschrieben, sondern bei ihren Kommilitonen auch, in welchem Kurs sie zusammen mit Edana waren. Anhand dessen genügte ein Blick ins Kursverzeichnis auf der Website des Trinity Colleges, um Russel zu zeigen, dass Gina in einem Mathematikkurs saß, der um elf Uhr endete. Zeit genug, um zum College zu fahren und sie abzupassen. Dank ihrer überaus zahlreich geposteten Fotos wusste er, wie sie aussah, und konnte sie nicht verfehlen. Er machte sich auf den Weg.
Declan betrachtete die »Opferwand« eines offenen Falles, den das National Bureau of Criminal Investigation in einer Task Force bearbeitete. Siebzehn junge Frauen – die Älteste gerade mal sechsundzwanzig – waren dort als Fotos aufgereiht. Die meisten Bilder zeigten lachende Gesichter oder Ganzkörperposen, die ebenfalls fröhlich wirkten. Sieben Bilder waren Leichenfotos, drei davon von noch immer nicht identifizierten Opfern. Sie alle wiesen zwei Gemeinsamkeiten auf. Alle Frauen waren nicht nur jung, sondern auch schön. Nicht unbedingt atemberaubend, aber hübscher als der Durchschnitt. Und sie alle waren als vermisst gemeldet; bestimmt auch die noch nicht identifizierten Opfer. Die anderen zehn wurden ebenfalls noch vermisst.
Alle diese Frauen waren nur die mögliche Spitze eines Eisbergs. Bestimmt gab es noch weitere, die entweder bisher nicht vermisst wurden oder deren Fälle nicht demselben Modus Operandi zugeordnet werden konnten. Der deutete auf die Umtriebe einer Bande hin, die gezielt junge Frauen entführte, um sie vermutlich als Sexsklavinnen zu verkaufen. Eines der inzwischen toten Opfer – Deirdre Fitzgerald – war ihnen entkommen. Von ihr stammte der Hinweis auf die Vorgehensweise der Bande. Durch sie war das NBCI überhaupt erst darauf gekommen, dass die Vermisstenfälle und die Todesfälle zusammenhängen könnten.
Laut Aussage von Deirdre Fitzgerald sprach ein Mann die Frauen an, verabredete sich ein paarmal mit ihnen und lud sie dann auf seine Yacht ein. Vorher nahm er noch einen Drink mit ihnen an einer Hotelbar. Miss Fitzgerald war nach dem Genuss des Drinks schwindelig geworden, hatte wohl auch Bewusstseinsstörungen gehabt, und der Mann, der sich ihr als John Craig vorgestellt hatte, hatte angeboten, sie nach Hause zu fahren. Wo sie nie angekommen war. Stattdessen war sie irgendwann auf einem Boot zu sich gekommen, eingesperrt in einer Kabine. Tagelang hatte man sie dort festgehalten und sie zwischendurch immer wieder unter Drogen gesetzt und zu Nacktfotos und teilweise auch zu Sexvideos gezwungen.
Sie war nicht die einzige Frau an Bord der Yacht gewesen, denn ihr waren noch zwei weitere mutmaßliche Opfer begegnet, als sie an Gruppenfotos hatte teilnehmen müssen. Das Boot war auch nicht immer im Hafen geblieben, sondern oft aufs Meer hinausgefahren. Und eines Nachts hatte sie gesehen, wie man eine leblose Frau über Bord geworfen hatte, die sie anhand der Vermisstenfotos identifizieren konnte. Bei ihr hatte die Obduktion Tod durch eine Überdosis Heroin ergeben, das sie schon seit einiger Zeit regelmäßig genommen haben musste und das man auch Deirdre gegen ihren Willen verabreicht hatte. Eine weitere Frau, die immer noch vermisst wurde, war ebenfalls an Bord gewesen.
Als das Boot wieder einmal in einem Hafen gelegen hatte, konnte Deirdre über Bord springen und sich an Land retten. Hatte Hilfe gefunden und sich zur Polizei bringen lassen, bevor ihre Entführer sie wieder einfangen konnten. Leider konnte Deirdre Fitzgerald keine allzu genauen Angaben machen. Sie kannte weder den Namen der Yacht noch den irgendeines anderen Menschen an Bord; nur zwei Vornamen – Jerry und Loreena – die aber vermutlich nicht echt waren. Denn unnötig zu erwähnen, dass »John Craig« gar nicht existierte. Zwar gab es in Irland etliche Männer dieses Namens, die im entsprechenden Alter waren, das Deirdre Fitzgerald als zwischen dreißig und fünfunddreißig eingeordnet hatte, aber sie alle hatten für die Zeit ihrer Entführung ein Alibi. Und keiner war Gast in dem Hotel gewesen, an dessen Bar er ihr ein Betäubungsmittel eingeflößt hatte.
Doch bevor die Polizei ein Phantombild hatte anfertigen können, war sie einem Unfall mit Fahrerflucht zum Opfer gefallen, kaum dass man sie nach der ersten Befragung nach Hause entlassen hatte. An dem Vorsatz der Tat, begangen mit einem gestohlenen Wagen, den man später ausgebrannt am Kanal in der Nähe des Goldenbridge Friedhofs gefunden hatte, bestand kein Zweifel. Ganz offensichtlich hatte man die einzige Zeugin zum Schweigen bringen wollen. Leider mit Erfolg.
Auch die anderen Toten waren teilweise durch eine Überdosis Heroin gestorben. Einige hatte man anschließend ins Meer geworfen, andere an Land abgelegt. Zwei hatten zwar eine Überdosis im Blut gehabt, waren aber ertrunken. Allerdings waren Declan und die anderen Teammitglieder der Task Force »Hafen« noch nicht dahinter gekommen, nach welchen Kriterien die Bande entschied, wann eine Frau sterben musste. Denn in einigen Fällen waren die Frauen nur wenige Tage nach ihrem Verschwinden gestorben, in anderen erst Monate später. Alles in allem trieb die Bande seit mindestens zwei Jahren in Dublin ihr Unwesen.
Laut Deirdre Fitzgerald gehörte auch die von ihr erwähnte Loreena dazu, eine angeblich umwerfend schöne Rothaarige, die mit Leinster-Akzent sprach und deshalb höchstwahrscheinlich in Dublin oder der Umgebung zu Hause war. Diese Frau sorgte dafür, dass die Gefangenen für die Fotos ausstaffiert wurden und hatte sicherlich nicht nur Deirdre Fitzgerald die Sache als tollen Job und prima Chance auf ein Leben in Reichtum schmackhaft zu machen versucht. Wer trotzdem nicht mitmachen wollte, wurde mit Drogen willenlos gemacht.
Vielleicht war das der Schlüssel zu den Morden und den immer noch Vermissten. Wer sich von Loreena überzeugen ließ und die »Chance« mehr oder weniger freiwillig ergriff, blieb am Leben. Und meldete sich nicht mehr bei der Familie, weil zuzugeben, dass man einer Tätigkeit als Model für Sexfotos und -filmchen oder sogar als Callgirl nachging, nicht gerade ein Aushängeschild war. Wer sich nicht darauf einließ, landete mit einer Überdosis im Blut im Leichenschauhaus.
Declan schüttelte den Kopf. Was diese Bande trieb, war übel genug. Aber was veranlasste eine Frau dazu, das auch noch zu unterstützen und anderen Frauen gut zuzureden, das alles sei doch gar nicht schlimm, sondern eine tolle Chance? Er konnte sich das nur mit dem Stockholm-Syndrom erklären: Erst war sie vermutlich selbst Opfer gewesen, und um zu überleben, hatte ihre Seele sich alles schöngeredet und die Täter in Retter umgewandelt. Aber Stockholm oder nicht, die Frau war an Schwerverbrechen beteiligt, für die sie sich würde verantworten müssen.
Leider stagnierten die Ermittlungen gegenwärtig. Deshalb war die Task Force, zu der auch Leute vom National Drugs and Organized Crime Bureau gehörten, mit anderen Fällen beschäftigt. Die beiden Abteilungsleitenden – Chief Superintendent Jane O’Grady und Chief Superintendent Bruce Kavanagh – hatten sich geeinigt, dass das NBCI die Mord- und Vermisstenfälle weiter bearbeitete, während das NDOCB versuchte, über die Drogenszene die Leute von der Yacht zu finden, und die Task Force erst wieder zusammentreten würde, wenn eine der beiden Abteilungen eine neue Spur hatte.
»Hoffst du auf eine Eingebung oder dass die Bilder mit dir sprechen, wenn du sie lange genug anstarrst?«, riss ihn seine Kollegin Maureen O’Brien aus den Gedanken.