Am 4. Oktober 1866 klingelt die 20-jährige Stenographin Anna Grigorjewna in Petersburg an der Wohnungstür des Schriftstellers Fjodor Dostojewski: Der 44-Jährige muss unter größter Zeitnot seinen Roman »Der Spieler« vollenden, sonst droht ihm nicht nur der finanzielle Ruin, sondern auch der Verlust sämtlicher Urheberrechte. Gemeinsam gelingt ihnen das scheinbar Unmögliche, sie bewältigen den Roman in wenigen Wochen – und verlieben sich ineinander. Sie wird seine Frau, Mutter seiner Kinder, erste Zuhörerin und Kritikerin, umsichtige Geschäftsfrau und Anwältin seiner Bücher über seinen Tod hinaus. Ihre Erinnerungen vermitteln eine Fülle zeitgeschichtlicher Ereignisse und erhellen den Anteil, den seine Familie an seinen Erfolgen hatte.
»Mein aufrichtiger und inniger Wunsch: den Lesern Fjodor M. Dostojewski mit allen seinen Vorzügen und Mängeln zu zeigen – so, wie er war, in der Familie und privat.« Anna Dostojewskaja
Anna G. Dostojewskaja (1846–1918) war die zweite Ehefrau von Fjodor M. Dostojewski (1821–1881). Sie heiratete den Schriftsteller 1867, noch vor dem Höhepunkt seiner Karriere, und gestaltete sein privates und schriftstellerisches Leben aktiv mit. Das Paar hatte vier Kinder, unternahm zahlreiche Europatouren und kehrte immer wieder nach Sankt Petersburg zurück. Bis zu ihrem Tod galt ihr ganzes Engagement dem Werk und Andenken ihres Mannes.
Anna Dostojewskaja
Mein Leben mit Fjodor Dostojewski
Erinnerungen
Aus dem Russischen von Brigitta Schröder
Nie hatte ich mich mit dem Gedanken getragen, Erinnerungen zu schreiben. Ganz abgesehen davon, dass mir, wie ich wusste, jedwede literarische Begabung abging, war ich mein Leben lang mit der Herausgabe der Werke meines unvergessenen Mannes so beschäftigt, dass ich kaum Zeit fand, mich um andere sein Andenken betreffende Dinge zu kümmern.
1910, als ich die Herausgabe seiner Werke, an der mir sehr viel lag, aus gesundheitlichen Gründen anderen übertragen und auf Drängen der Ärzte fern der Hauptstadt leben musste, spürte ich eine gewaltige Lücke in meinem Leben, die es durch interessante Arbeit auszufüllen galt, sonst, das fühlte ich, würde ich nicht mehr lange durchhalten.
Da ich in völliger Abgeschiedenheit lebte und an den aktuellen Ereignissen gar nicht oder nur indirekt teilhatte, vertiefte ich mich mit Herz und Verstand mehr und mehr in die Vergangenheit, die für mich so glücklich war. Dies half mir, die Leere und Ziellosigkeit meines derzeitigen Lebens zu überwinden.
Als ich die Notizbücher meines Mannes und meine eigenen noch einmal las, fand ich darin so bemerkenswerte Einzelheiten, dass mich unwillkürlich der Wunsch ankam, die von mir stenographisch festgehaltenen Details allgemeinverständlich niederzuschreiben, denn ich war überzeugt, meine Aufzeichnungen würden meine Kinder interessieren, die Enkel und vielleicht auch Verehrer des Talents meines Mannes, die erfahren wollen, wie Fjodor Michailowitsch im Familienkreis war.
Diese in den letzten fünf Wintern (1911–1916) zu verschiedenen Zeiten niedergeschriebenen Erinnerungen füllten mehrere Hefte, die ich nach Möglichkeit zu ordnen suchte.
Ich verspreche nicht, dass meine Aufzeichnungen unterhaltsam sein werden, verbürge mich aber für ihre Wahrhaftigkeit und für die Unvoreingenommenheit bei der Beschreibung der Handlungen bestimmter Personen: Die Erinnerungen gründen sich hauptsächlich auf Notizen und werden durch Hinweise auf Briefe, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel untermauert.
Offen gestehe ich, dass es in meinen Erinnerungen viele literarische Mängel gibt: weitschweifiges Erzählen, Disproportionen zwischen den einzelnen Kapiteln, altmodischen Stil und anderes mehr. Aber mit siebzig Jahren fällt es schwer, etwas neu zu erlernen, und deshalb möge man mir diese Verstöße verzeihen in Anbetracht meines aufrichtigen und innigen Wunsches, den Lesern Fjodor Michailowitsch Dostojewski mit allen seinen Vorzügen und Mängeln zu zeigen, so, wie er war, in der Familie und privat.
Kindheit und Jugend
Wie ich auf die Welt kam
Mit dem Alexander-Newski-Kloster in Petersburg verbinden sich für mich wichtige Erinnerungen: So wurden in der einzigen Gemeindekirche (heute Klosterkirche), die sich über dem Hauptportal befand, meine Eltern getraut.
Ich selbst wurde am 30. August, dem Tag des heiligen Alexander Newski, in einem zum Kloster gehörenden Haus geboren, ein Gemeindegeistlicher des Klosters sprach das Gebet und taufte mich. Auf dem Tichwiner Friedhof des Alexander-Newski-Klosters liegt mein unvergessener Mann begraben, dort, neben ihm, werde auch ich, so es das Schicksal will, meine letzte Ruhestätte finden. Es ist, als sei dies alles zusammengetroffen, um das Alexander-Newski-Kloster zu dem Ort zu machen, der mir der liebste ist auf Erden.
Ich kam am 30. August 1846 an einem jener schönen Herbsttage zur Welt, die man »Altweibersommer« nennt. Bis heute gilt der Tag des heiligen Alexander Newski beinahe als der größte Feiertag der Hauptstadt. Dann wird eine Prozession von der Kasaner Kathedrale zum Kloster und zurück veranstaltet, begleitet von einer vielköpfigen Menge aus dem Volk, das an diesem Tag von der Arbeit befreit ist. In früheren, längst verflossenen Zeiten beging man den 30. August allerdings noch festlicher: Mitten auf dem Newski-Prospekt errichtete man in einer Länge von mehr als drei Werst ein breites Holzgerüst, auf dem die Prozession im Glanz ihrer vergoldeten Kreuze und Kirchenfahnen, erhöht, abgehoben von der Menge, gemächlich dahinzog. Hinter dem langen Zug geistlicher Würdenträger in Messgewändern aus Goldbrokat schritten hochgestellte Persönlichkeiten, Militärs mit Bändern und Orden, hinter ihnen aber fuhren mehrere vergoldete Paradekutschen, in denen Mitglieder des Herrscherhauses saßen. Die Prozession bot ein so außerordentlich schönes Bild, dass an diesem Tag die ganze Stadt zusammenkam.
Meine Eltern wohnten in einem auch heute noch dem Kloster gehörenden Haus1 im ersten Stock. Die Wohnung war sehr groß (elf Zimmer), und die Fenster gingen auf den heutigen Schlüsselburger Prospekt und zum Teil auf den Platz vor dem Kloster. Die Familie war zahlreich: die alte Mutter und vier Söhne, von denen zwei verheiratet waren und Kinder hatten. Man lebte einträchtig und nach alter Sitte gastfreundlich, so dass sich an Geburts- und Namenstagen der Familienmitglieder, zu Weihnachten und Ostern alle nahen und entfernten Verwandten gewöhnlich schon am Morgen bei der Großmutter einfanden und bis in die späte Nacht fröhlich feierten. Besonders viele Gäste aber versammelten sich am 30. August, da bei schönem Wetter die Fenster geöffnet waren, man die Prozession bequem ansehen und obendrein in heiterer, vertrauter Gesellschaft weilen konnte. So war es auch am 30. August 1846. Meine Mutter, durchaus munter und fröhlich, empfing zusammen mit den übrigen Familienmitgliedern herzlich die Gäste und bewirtete sie. Dann jedoch zog sie sich zurück, und alle waren überzeugt, dass sich die junge Hausfrau in den hinteren Zimmern um die Speisen und Getränke für die Gäste kümmerte. Aber meine Mutter, die das bevorstehende »Ereignis« nicht so schnell erwartet hatte, fühlte sich, wahrscheinlich durch die Anstrengung und Aufregung, plötzlich unwohl, schickte nach der in solchen Fällen unentbehrlichen Person und begab sich in ihr Schlafzimmer. Meine Mutter erfreute sich stets guter Gesundheit, sie hatte bereits zuvor Kinder geboren, und deshalb verursachte das eingetretene Ereignis im Haus keinerlei Durcheinander oder Aufregung.
Gegen zwei Uhr mittags endete der Festgottesdienst in der Kathedrale, die volltönenden Klosterglocken schlugen, und als der Prozessionszug aus dem Hauptportal des Klosters kam, begann auf dem Platz eine Militärkapelle feierlich zu spielen. Gäste, die am Fenster gesessen hatten, holten eilig die Übrigen herbei, und es wurde gerufen: »Sie kommt, sie kommt, die Prozession geht los.« Unter diesen Ausrufen, dem Geläut der Glocken und der Musik, die an das Ohr meiner Mutter drangen, begann auch ich meinen so langen Lebensweg.2
Die Prozession war vorüber, und die Gäste rüsteten zum Aufbruch, wollten sich jedoch zuvor von der Großmutter verabschieden, die sich, wie man ihnen sagte, hingelegt habe, um ein wenig zu ruhen. Gegen drei Uhr betrat mein Vater mit seiner alten Mutter am Arm den Raum, in dem sich die Gäste aufhielten. Sie blieben mitten im Zimmer stehen, und mein Vater verkündete feierlich, ein wenig erregt wegen des soeben eingetretenen Ereignisses: »Liebe Verwandte und Gäste, gratuliert mir zu einer großen Freude: Gott hat mir eine Tochter geschenkt – Anna.« Mein Vater war von äußerst heiterem Gemüt, ein Witzbold, ein Spaßvogel, die geborene »Seele der Gesellschaft«. Alle hielten seine Mitteilung für einen Feiertagsscherz, niemand glaubte daran, und es ertönten Rufe wie: »Das kann nicht sein! Grigori Iwanowitsch scherzt! Wie ist denn das möglich? Anna Nikolajewna war doch die ganze Zeit hier!« Da wandte sich die Großmutter an die Gäste. »Nein, Grischa sagt die Wahrheit: Vor einer Stunde wurde meine Enkelin geboren, Njutotschka!«
Nun hagelte es Glückwünsche, und in der Tür erschien ein Mädchen mit gefüllten Champagnergläsern. Alle tranken auf das Wohl des Neugeborenen, seiner Eltern und der Großmutter. Die Damen liefen zu der Wöchnerin, um sie zu beglückwünschen (dazumal gab es noch keine ärztlichen Vorsichtsmaßregeln) und die »Kleine« zu küssen, die Männer aber nutzten die Abwesenheit der Damen, um die bereitgestellten Champagnerflaschen zu leeren, und brachten Trinksprüche auf das Neugeborene aus. Auf so feierliche Weise wurde mein Eintritt in die Welt begrüßt, und das war, wie alle sagten, ein gutes Vorzeichen für mein künftiges Schicksal. Dieses Vorzeichen bewahrheitete sich später: Obwohl ich viele materielle Sorgen und moralische Leiden ertragen musste, betrachte ich mein Leben als überaus glücklich, und ich würde nichts ändern wollen.
Einige Worte über meine Eltern. Die Familie meines Vaters stammte aus Kleinrussland3, der Ururgroßvater trug den Familiennamen Snitko. Mein Urgroßvater zog, nachdem er seinen Besitz im Gouvernement Poltawa verkauft hatte, nach Petersburg und nannte sich bereits Snitkin. Mein Vater besuchte eine Petersburger Jesuitenschule, wurde aber nicht Jesuit und blieb sein Leben lang ein gütiger und offenherziger Mensch.4
Mein Vater arbeitete in einem Magistrat oder Departement. Meine Mutter stammte aus Schweden, aus dem angesehenen Geschlecht Miltopeus. Einer ihrer Vorfahren war lutherischer Bischof, die Onkel waren Gelehrte. Das beweist die Endung ‑eus, die Gelehrte aus einer Art Koketterie an ihren Namen anhängten, ähnlich wie die Hinzufügung der Partikel de oder von. Gelebt haben die Vorfahren in Abo, und in der dortigen berühmten Kathedrale sind sie auch begraben. Als ich Abo einmal auf der Durchreise nach Schweden besuchte, wollte ich zu den Gräbern der Ahnen gehen, doch da ich weder Finnisch noch Schwedisch konnte, bekam ich von dem Wächter keine Auskunft.
Der Vater meiner Mutter, Nikolai Miltopeus, war Gutsbesitzer im Gouvernement Sankt Michel, und die ganze Familie lebte auf dem Gut außer dem Sohn Roman Nikolajewitsch, der das Moskauer Landvermessungsinstitut besuchte. Als er seine Ausbildung beendet und eine Stelle in Petersburg erhalten hatte, verkaufte er das Gut des Vaters (der zu dieser Zeit bereits gestorben war) und zog mit der gesamten Familie nach Petersburg. Hier verschied meine Großmutter Anna-Maria Miltopeus bald darauf, und meine Mutter blieb mit zwei Schwestern bei ihrem Bruder wohnen. Meine Mutter war eine Frau von bemerkenswerter Schönheit – groß, schlank, gut gebaut, mit auffallend regelmäßigen Gesichtszügen. Zudem verfügte sie über eine sehr schöne Sopranstimme, die ihr fast bis ins Alter erhalten blieb. Geboren wurde sie im Jahr 1812, und als sie neunzehn wurde, verlobte sie sich mit einem Offizier. Zur Heirat kam es nicht, denn der Offizier nahm am Ungarischen Feldzug teil und fiel. Der Kummer meiner Mutter war grenzenlos, und sie beschloss, niemals zu heiraten. Doch die Jahre vergingen und linderten allmählich den Schmerz des Verlusts. In den russischen Gesellschaftskreisen, in denen meine Mutter verkehrte, gab es Frauen, die gern Heiraten vermittelten (das war damals Sitte), und so baten sie, eigens für meine Mutter, zu einer Gesellschaft zwei junge Männer, die eine Braut suchten. Meine Mutter gefiel beiden sehr, aber als man sie fragte, ob ihr die vorgestellten jungen Männer gefielen, antwortete sie: »Nein, ich fand den ›Alten‹ besser, der die ganze Zeit erzählte und lachte.« Dieser Mann wurde mein Vater. Früher galten Leute über vierzig als alt, und Vater war damals schon zweiundvierzig (er wurde 1799 geboren). Papa hatte seine Jugend fröhlich und angenehm verbracht, lebte aber unter dem Einfluss seiner strengen Mutter zurückhaltend und war mit seinen zweiundvierzig Jahren ein gesunder, starker Mann mit frischer Gesichtsfarbe, schönen blauen Augen und gesunden Zähnen, allerdings schon ziemlich gelichtetem Haar. Er hatte nicht die Absicht, vor dem Tod seiner Mutter eine Familie zu gründen, deshalb besuchte er Gesellschaften als angenehmer Plauderer, aber keineswegs als Freier. Er wurde meiner Mutter ebenfalls vorgestellt, und sie gefiel ihm sehr, aber da sie schlecht Russisch sprach und er schlecht Französisch, unterhielten sie sich nicht sehr lange. Als man ihm jedoch die Worte meiner Mutter wiedergab, interessierte ihn die Aufmerksamkeit des schönen Fräuleins sehr, und fortan besuchte er öfter das Haus, in dem er ihr begegnen konnte. Am Ende verliebten sie sich und beschlossen zu heiraten. Doch es gab ein ernsthaftes Hindernis: Mama war Lutheranerin, und nach den Vorstellungen von Papas rechtgläubiger Familie sollten die Ehefrauen denselben Glauben haben wie ihre Männer. Schließlich entschied Papa, sich gegen seine Familie zu stellen und zu heiraten, auch auf die Gefahr hin, sich mit einigen ihrer Mitglieder zu überwerfen. Mama erfuhr davon und befand sich, aus Furcht, Zwist in die so einträchtige Familie zu tragen, lange in einer schwierigen Lage: Sollte sie zum orthodoxen Glauben wechseln oder auf den geliebten Mann verzichten? Ein Umstand beeinflusste ihre Entscheidung: Spätnachts vor dem Tag, an dem sie meinem Vater ihre Entscheidung kundtun sollte, kniete sie lange vor dem Kruzifix und bat Gott um Hilfe. Als sie den Kopf hob, sah sie plötzlich über dem Kruzifix ein helles Leuchten, das das ganze Zimmer erfüllte und dann verschwand. Diese Erscheinung wiederholte sich noch zweimal. Das nahm meine Mutter als ein Zeichen von oben, die Frage, die sie bedrückte, zugunsten meines Vaters zu entscheiden. In derselben Nacht hatte sie einen Traum: Sie geht in eine orthodoxe Kirche und betet vor dem Tuch mit der Abbildung der Grablegung Christi. Auch diesen Traum deutete sie als einen Wink des Himmels. Man kann sich ihr Erstaunen vorstellen, als sie zwei Wochen später zur Zeremonie der Salbung in die Simeon-Kirche (in der Mochowaja) kam und entdeckte, dass sie vor dem Tuch mit der Abbildung der Grablegung Christi stand und dass alles ringsum genauso aussah, wie sie es im Traum erblickt hatte. Das beruhigte ihr Gewissen. Nachdem meine Mutter den orthodoxen Glauben angenommen hatte, befolgte sie die Riten der Kirche eifrig, bereitete sich durch Kirchenbesuch und Fasten auf Beichte und Abendmahl vor, ging zum Abendmahl, aber weil es ihr schwerfiel, die Gebete in kirchenslawischer Sprache zu erlernen, betete sie nach dem schwedischen Gebetbuch. Sie bereute niemals, die Religion gewechselt zu haben. »Sonst«, pflegte sie zu sagen, »hätte ich das Gefühl, meinem Mann und meinen Kindern nicht nahezustehen, und das wäre für mich schwer.«
Meine Eltern lebten etwa fünfundzwanzig Jahre einträchtig zusammen, sie passten gut zueinander. Das Oberhaupt des Hauses war meine Mutter, die einen starken Willen besaß; Papa ordnete sich ihr freiwillig unter und sicherte sich nur eines: die Freiheit, auf dem Apraxin-Hof und anderen Märkten (es gab damals eine Menge Antiquitätenhändler) verschiedene Raritäten und kuriose Dinge, vor allem aber kostbares Porzellan, von dem er etwas verstand, aufzustöbern und zu kaufen.
In ihren ersten Ehejahren wohnten meine Eltern mit der Großmutter und der vielköpfigen Familie zusammen. Als die Großmutter nach fünf Jahren starb und die Familie zerfiel, redete meine Mutter dem Vater zu, ein Haus am Nikolai-Militär-Hospital zu erwerben und dazu ein großes Stück Land (etwa zwei Desjatinen) – eine Fläche, die jetzt die Jaroslawler und die Kostromaer Straße einnimmt –, das Grundstück ging auf die Malaja-Bolotnaja-Straße hinaus und reichte bis zur Fabrik von Stieglitz.
Meine erste bewusste Erinnerung bezieht sich auf April 1849, als ich zwei Jahre und acht Monate alt war. In unserem Hof stand eine baufällige Scheune; Mama hatte beschlossen, sie abreißen und eine neue errichten zu lassen. Die Arbeiter kamen und trafen die notwendigen Vorbereitungen, sie mussten nur noch die Scheune niederreißen. Meine Mutter trat auf die verglaste Galerie, um von dort zuzusehen, und meine neugierige Kinderfrau folgte ihr, mit mir auf dem Arm. Unglücklicherweise hatten sich die Lastfuhrleute, die hinten im Hof wohnten, zu lange aufgehalten; man rief ihnen zu, sie sollten sich beeilen, und sie setzten sich in einem langen Zug in Bewegung. Schon sah es aus, als wären alle hinausgefahren, doch als die Arbeiter sich mit vereinten Kräften anschickten, die Scheune niederzureißen, erschien noch ein verspäteter Kutscher. Es war sonnenklar, dass er, wenn er den Hof nicht rasch verließe, mitsamt seinem Pferd von der einstürzenden Scheune erschlagen würde. Man hörte ein furchtbares Prasseln und die Schreckensrufe der Umstehenden, eine Staubsäule stieg auf, und im ersten Augenblick war nicht auszumachen, ob ein Unheil geschehen war. Zum Glück war alles gutgegangen, doch die Aufschreie meiner Mutter und der Kinderfrau bewirkten, dass ich aus Leibeskräften losbrüllte. Als ich mich später nach dieser Zeit erkundigte, sah mein Vater die Wirtschaftsbücher durch und bestätigte, dass die neue Scheune im Frühjahr 1849 gebaut worden war.
Meine zweite bewusste Erinnerung bezieht sich auf eine Krankheit, die ich als Dreijährige hatte. Ich weiß nicht, was mir fehlte, aber der Arzt ließ mir einige Blutegel auf die Brust setzen. Ich erinnere mich lebhaft, wie sehr ich mich vor diesen sich ringelnden Würmern ekelte, was für eine Angst ich vor ihnen hatte und wie ich versuchte, sie abzureißen. Deutlich entsinne ich mich auch, wie mich meine Mutter zum heiligen Abendmahl und zum Gebet vor der wundertätigen Ikone der Mater Dolorosa (auf der Schpalernaja) fuhr. Als ich sah, dass Mama und die Kinderfrau beteten und weinten, bekreuzigte ich mich und brach ebenfalls in Tränen aus. Am Tag nach der Andacht trat die Krisis ein, und ich erholte mich schnell. Im Allgemeinen kränkelten die Kinder in unserer Familie selten. Natürlich hatten wir mitunter Husten und Schnupfen, doch sämtliche Krankheiten wurden mit Hausmitteln kuriert, und alles ging glimpflich ab.
Ich denke gern an meine Kindheit und Jugend zurück: Vater und Mutter liebten uns alle sehr und straften nie ohne Grund. Das Leben in der Familie verlief friedlich, in ruhigem Gleichmaß, ohne Streitigkeiten, Dramen oder Katastrophen. Wir hatten immer satt zu essen, wurden jeden Tag spazieren geführt, im Sommer saßen wir von morgens bis abends im Garten; im Winter rodelten wir von einem kleinen Eisberg, der ebendort angelegt wurde. Mit Spielzeug wurden wir nicht verwöhnt, deshalb schätzten und schonten wir es. Kinderbücher besaßen wir keine; niemand bemühte sich um unsere »Entwicklung«. Manchmal erzählte uns jemand Märchen, hauptsächlich der Vater. Wenn er, vom Dienst zurückgekehrt, gegessen hatte, legte er sich auf den Diwan, rief uns Kinder zu sich und begann zu erzählen – immer das gleiche Märchen: vom Dummkopf Iwanuschka, aber die Varianten waren zahllos, und mein Bruder und ich wunderten uns stets aufs Neue: Warum nennt man Iwanuschka einen Dummkopf, wenn er sich doch so klug aus allen möglichen misslichen Lagen befreit? Vergnügungen wurden uns selten geboten: der Tannenbaum, der zur Weihnachtszeit jeden Abend angezündet wurde, Maskeraden zu Hause; in der Butterwoche Kutschfahrten und Besuche von Schaubudenvorstellungen. Zweimal im Jahr – vor Weihnachten und zu Ostern – fuhren wir ins Theater, vornehmlich in die Oper oder ins Ballett. Wir schätzten diese seltenen Vergnügungen sehr, noch Monate danach waren wir von dem Erlebnis bezaubert.
Im Sommer 1856 fuhr unsere ganze Familie nach Moskau, und dieses Erlebnis hat sich mir deutlich eingeprägt und auf meine Phantasie gewirkt. Eine Tante meines Vaters lebte seit vielen Jahren als Nonne im Auferstehungskloster im Kreml, wo sie ein wichtiges Amt bekleidete – als eine Art Zahlmeisterin. Sie hatte in Moskau viele Bekannte und einflussreiche Freunde und versprach Papa, dafür zu sorgen, dass wir die gesamten Krönungsfeierlichkeiten miterleben konnten. Dieser Verlockung konnte Papa nicht widerstehen; er brachte die ganze Familie schon zu Beginn des Sommers nach Moskau und mietete für uns ein Sommerhaus in Sokolniki. Im August zogen wir für die Dauer der Krönungsfeierlichkeiten in den Kreml, in zwei kleine Zimmer im Kloster. Vor der Wohnung der Mutter Oberin wurde eine große offene Veranda eingerichtet und mit Stühlen möbliert, und von dort aus sahen wir den feierlichen Einzug Seiner Kaiserlichen Hoheit und der kaiserlichen Familie in den Kreml. Wir besaßen sogar Karten für die feierliche Krönungsprozession in der Mariä-Entschlafens-Kathedrale. Das war ein wirklich unvergessliches Erlebnis: Am herrlichen Morgen des 26. August bewegte sich die Prozession unter dem Geläut der Kremlglocken gemessen und feierlich durch den breiten, mit rotem Tuch ausgelegten Weg von der Haupttreppe zum Platz zwischen den beiden Kirchen: Vorn schritten die Sänger der Hofkirche in roten Mänteln, dahinter die Moskauer Geistlichkeit in goldbestickten Gewändern, angeführt vom Metropoliten beider Hauptstädte; ihnen folgte eine Menge Militär und Hofbeamte in prächtigen goldbestickten Uniformen. Den Abschluss bildete Seine Kaiserliche Hoheit Alexander II. unter einem prunkvollen Baldachin mit weißen Straußenfedern und goldenen Quasten, drei Schritte dahinter liefen die kaiserliche Gemahlin und das festlich gekleidete, mit Orden geschmückte Gefolge. Die Begeisterung der Volksmenge beim Anblick des Zaren war unbeschreiblich, die Klänge der Nationalhymne vermischten sich mit ohrenbetäubenden Hurra-Rufen. Nach einer oder anderthalb Stunden kehrte die Prozession aus der Entschlafens-Kathedrale zurück über die Paradetreppe, auf deren oberem Ende sich der eben gekrönte Kaiser vor dem Volk verneigte, das sich ungemein zahlreich auf dem Platz versammelt hatte. Bei der Rückkehr der Prozession in den Palast hatten wir das Glück, das erregte Gesicht unseres teuren Zaren und das edle Antlitz der Kaiserin ganz aus der Nähe zu sehen!
Wir sahen auch die übrigen Feierlichkeiten, das heißt, alles, was man von einer Galerie aus sehen konnte – und Galerien gibt es in allen Sälen mit Ausnahme des Facettenpalasts. Ich will von einem überraschenden Vorfall erzählen, dessen Zeugin ich war: Während eines Essens für hochgestellte Persönlichkeiten, Militärs und Zivilisten betrat Seine Kaiserliche Hoheit den Saal, machte die Runde bei allen Anwesenden, wechselte mit vielen freundliche Worte und entfernte sich in die inneren Gemächer. Eine Viertelstunde später war das Essen beendet, und die Gäste erhoben sich von der Tafel. Und nun geschah etwas Überraschendes: Viele Gäste stürzten zu den Vasen, die die Tafel schmückten, und zogen, nein, rissen die herrlichen Bouquets künstlicher Blumen heraus, um sie als Andenken an diesen Tag mitzunehmen. Doch gab es weniger Sträuße als Gäste, und die Menge derer, die Blumen erbeuten wollten, war groß. Also begannen diese, wie man meinen sollte, wohlerzogenen und vermutlich hochgestellten Personen, einander die Sträuße oder einzelne Blumen zu entreißen, so dass manch einer schließlich nur mehr das Gerippe eines Straußes in Händen hielt, das heißt bloßen Draht. Und wie wild, beinahe animalisch die Kämpfenden dabei aussahen! Bei allem Verständnis für den Wunsch, eine Blume als Andenken an diesen Tag zu besitzen, war diese Beinahe-Prügelei zwischen so ehrwürdig wirkenden Personen ein abstoßender Anblick. Dieses Gefühl jedenfalls hinterließ die Szene bei mir.
Wenn ich auf meine Kindheit und Jugend zurückblicke, sehe ich mit Bedauern, wie sehr sich die Sitten unserer Gesellschaft in den letzten 50, 60 Jahren verändert haben. Ich denke zum Beispiel an unser Verhältnis zu den Bewohnern unserer Häuser und ihr Verhältnis zu uns: Darin lag etwas Patriarchalisches, das wohl nie mehr zurückkehren wird.
Meine Mutter besaß neben zwei Häusern in der Jaroslawler Straße und einem riesigen (fast zwei Desjatinen großen) unbebauten Grundstück zwei Häuser in der Kostromaer Straße. Im ersten Stock des steinernen Hauptgebäudes wohnten wir, im Erdgeschoss lebte die alte Witwe eines Obersten. Zum Haus gehörte ein großer schattiger Garten mit zahlreichen Beerensträuchern. Auf dem Hof befanden sich zwei große einstöckige Holzhäuser, die in kleine Wohnungen mit je einem oder zwei Zimmern aufgeteilt waren. Die Miete dafür schwankte zwischen fünf und acht Rubeln im Monat. Die Fenster der meisten Wohnungen gingen zu unserem Garten hinaus, das heißt, auf den Teil, den meine Mutter mit einem Zaun vom Hauptgarten abgetrennt und den Mietern zur Nutzung überlassen hatte. Wenn die Mütter ihre Kinder im Garten spielen ließen, hatten sie diese immer im Blick; das schätzten Menschen mit Familie sehr, und unsere Wohnungen standen nie leer, im Gegenteil – wurde eine Wohnung frei, gab es Wartelisten mit mehreren Bewerbern. Angenehm für die Mieter war auch, dass meine Mutter sie nie wegen der Mietzahlungen bedrängte. Sie erkundigte sich, wann sie gewöhnlich ihren Lohn erhielten, und schickte an diesen Tagen nach der Miete. Oft sagte eine Mieterin meiner Mutter heimlich, ohne Wissen ihres Mannes, wann er seinen Lohn bekomme, und bat sie, an diesem Tag jemanden wegen der Mietzahlung zu schicken.
Wegen all dieser Dinge blieben die Mieter meist viele Jahre bei uns, und zwischen ihnen und uns entstand ein freundschaftliches Verhältnis. Sie riefen uns Kinder bei unseren Kosenamen und waren immer lieb zu uns. Zu Weihnachten und Ostern kamen alle Mieter mit Glückwünschen zu uns, und an den Namenstagen meines Vaters und meiner Mutter türmten sich auf zwei Tischen ihre Gaben: Konditoreigebäck, große Brezeln und selbstgebackene Brötchen. Meine Mutter nahm die Geschenke wohlwollend an, denn sie wusste, eine Ablehnung würde die Gratulanten kränken, dann bewirtete sie sie und schenkte ihnen Kuchen oder Geld. Zu familiären Anlässen wie Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen luden die Mieter meine Eltern stets ein und empfingen sie wie Ehrengäste. Mein Vater wurde oft als Taufpate gebeten, und er verweigerte diese Christenpflicht nie; meine Mutter hingegen erklärte, sie habe eine »unglückliche Hand«, zwei ihrer Patenkinder seien gestorben, was tatsächlich stimmte. In allen wichtigen Lebensfragen wandten sich die Mieter unserer Häuser, meistens die Frauen, um Rat an meine Mutter, die sie bei Krankheiten außer mit Ratschlägen mit einfachen Arzneien versorgte wie Chinin, Rhabarber u. ä. Auch mit Klagen gegen ihre Männer bzw. ihre Frauen und Kinder kamen die Mieter zu meiner Mutter, und dann ging mein gütiger Vater hin, um dem Schuldigen ins Gewissen zu reden oder ihn zu beschämen. Papa war von sanftem, friedfertigem Wesen und verstand es, die Streitparteien zu versöhnen, ohne den Stolz einer Seite zu verletzen. Gelang ihm das nicht, mischte sich Mama ein, sie war eine energische Dame und rüffelte den Störer des Familienfriedens lautstark, und erstaunlicherweise wurde ihre Einmischung nie mit Grobheiten vergolten.
An meine Mutter wandten sich die Mieter auch, wenn sie Festtagskleider brauchten, um am heiligen Abendmahl teilzunehmen oder weil sie zu einer Hochzeit eingeladen waren. Dafür spendete Mama eines ihrer Kleider, ein changierendes Seidenkleid, dazu ein gehäkeltes Schultertuch und eine Haube mit hellblauen Bändern. Vor den Großen Fasten baten die Mieterinnen meine Mutter der Reihe nach, ihnen diese Ausstattung für den Besuch des Abendmahls zu überlassen, und es entstand eine Warteliste, welche Frau die Kleidung an welchem Samstag bekommen sollte. Eines Tages geschah in der zweiten Fastenwoche ein Unglück: Eine Frau betete in Mamas Kleidern so inbrünstig vor den Heiligenbildern, dass sie mit dem Kopf eine Öllampe umstieß und das Öl ihr auf Kopf und Rücken floss. Man kann sich ihre Verzweiflung vorstellen. Aus der Kirche zurückgekehrt, band sie die Kleider zu einem Bündel, ließ meine Mutter in die Diele rufen, warf sich auf die Knie und schluchzte. Mama erschrak, sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Als das Malheur erklärt war, betrachtete Mama die Sachen und beruhigte die arme Frau: Sie werde Kleid und Tuch in die Reinigung geben und an die Haube neue Bänder nähen. Doch da die Sachen lange in der Reinigung blieben, waren die übrigen Anwärterinnen auf die Festtagskleidung wütend und verfolgten die arme Schuldige mit Spott und spitzen Bemerkungen.
Als mein lieber Vater gestorben war, kamen alle Bewohner unserer Häuser zur Totenmesse, und die Männer trugen seinen Sarg erst bis zum Übersetzen über die Newa, dann die Bolschaja Ochta entlang bis zur Friedhofskapelle und zum Grab. Sie alle trauerten aufrichtig um den gütigen alten Mann, auch wenn er ihnen mitunter heftig den Kopf gewaschen und die Meinung gesagt hatte.
Als meine Schwester und später auch ich heirateten, drängten sich alle unsere Mieter auf der Treppe und vor der Kutsche, um uns in unseren Hochzeitskleidern zu sehen und uns aufrichtig ein glückliches Leben zu wünschen.
Solche patriarchalen Beziehungen gibt es heute nicht mehr, und das ist schade. Sie erleichterten das Leben und halfen, die uns allen vom Schicksal gesandten Prüfungen besser zu ertragen.