Der vorliegende Band schließt die Gesamtdarstellung der Unterrichtsinhalte ab, die in den Bänden 2–5 der Reihe „Geschichte im Unterricht“ vorgelegt wurden. Band 4 behandelte das „lange“ 19. Jahrhundert von der Französischen Revolution bis zum Deutschen Kaiserreich; der vorliegende Band widmet sich dem „kurzen“ 20. Jahrhundert von der Weimarer Republik bis zur Wende 1990. Wie allen vorausgehenden Bänden liegt dem Unterricht das im ersten Band entwickelte Kompetenzmodell zugrunde. Dieses Kompetenzmodell versucht, durch eine systematische Entwicklung und Vernetzung von kategorialen Begriffen zu einer Kompetenzbildung zu gelangen.
Auch in diesem Band orientiert sich die Darstellung an den Bedürfnissen und den Bedingungen des Geschichtsunterrichts am Gymnasium. In den bisherigen Bänden wurde die kategoriale Wissensbasis der Orientierungskompetenz kumulativ aufgebaut. Dieser Wissensaufbau war mit der Französischen und der Industriellen Revolution abgeschlossen. Die darauf folgenden Unterrichtsinhalte dienen daher allein der Vertiefung und der Anwendung der Orientierungskompetenz. Diese Anwendung wird vor allem in der Beurteilung und Bewertung der historischen Phänomene bestehen; die Orientierungskompetenz geht damit in Handlungskompetenz über. Da die kategoriale Entwicklung der Orientierungskompetenz abgeschlossen ist, enthält dieser Band keine kompetenzorientierten Ergebnissicherungen auf der Kategorienebene mehr.
Gefahren für den kompetenzorientierten Unterricht
Wichtig bleibt aber nach wie vor das konsequente Wiederholen und Vertiefen der kategorialen Begriffe. Ein Nachlassen in der Konsequenz führte bei jüngeren Schülerinnen und Schülern umgehend zu einem Absinken des Leistungsniveaus; durch die Wiederaufnahme der Wiederholungs- und Vertiefungsarbeit konnte aber das höhere Niveau schnell wieder erreicht werden.
Man könnte beklagen, dass das Modell zu einer gewissen Schematisierung der Geschichtsbetrachtung führe. Diese Schematisierung liegt aber keineswegs in der Natur des Kompetenzmodells, sondern in seiner noch unentwickelten Anwendung. Am Anfang werden – insbesondere jüngere – Schülerinnen und Schüler das Modell zunächst in der Tat schematisch anwenden; das ist ganz selbstverständlich und gar nicht zu vermeiden, da ihnen zu Beginn noch keine elaborierte, vernetzte Begrifflichkeit zur Verfügung steht; sie muss ja erst im Laufe der Zeit im Umgang mit den Kategorien und in der Entwicklung der Kompetenz entstehen. Die schematische Anwendung entspricht den ersten tappenden Gehversuchen eines Kindes, das im Laufe der Zeit seine Beine immer geschickter und natürlicher zu bewegen lernt, wenn die entsprechende Übung dazukommt. Nicht anders verhält es sich im kognitiven Bereich der Kompetenzbildung.
Kompetenzbildung
Durch zunehmende Vernetzung und Vertiefung der Begriffe entsteht die notwendige Gewandtheit im Umgang mit den Begriffen, die das Schematisieren als eine erste Niveaustufe der Entfaltung der Kompetenz hinter sich lässt und zu dem führt, was durch die Kompetenzbildung erreicht werden soll – eine reflektierte und begründete Urteilsbildung, die sich ihrer eigenen Voraussetzungen bewusst ist. Die schematische Anwendung der Begriffe entspricht der Niveaustufe A; sie gibt zu erkennen, dass die historische Begrifflichkeit vorhanden ist, aber noch nicht die notwendige Flexibilität hat, die der Vielgestaltigkeit des Geschichtsprozesses gerecht wird. Diese Beweglichkeit des Denkens entsteht auf der zweiten Niveaustufe, auf der die Begriffe, die die Wissensbasis der Kompetenz konstituieren, zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dies geschieht sowohl in zeitlicher wie auch in kausaler Hinsicht. Die Schülerinnen und Schüler kommen dadurch in die Lage, Entwicklungen darstellen zu können, z. B. die Entwicklung der Herrschaftsform von der Stammesherrschaft zur heutigen Demokratie. Soll diese Darstellung über die chronologische Genese hinausgehen, muss sie auch kausale Erläuterungen enthalten. Dazu ist nötig, über die Grenzen der jeweiligen Domäne1 hinauszugehen und die Kategorien anderer Domänen zu Erklärung heranzuziehen. Auch da wird eine solche Erklärung zunächst einfach und unbeholfen ausfallen müssen, da die Schülerinnen und Schüler sich zuerst auf eine oder zwei weitere Domänen stützen werden. So könnten sie die Entstehung der Aristokratie oder Demokratie auf eine Veränderung der Gesellschaft zurückführen. Durch Hinzuziehung weiterer Domänen wie „Wirtschaft“ oder „Religion“ differenziert sich die Erklärung weiter, sodass die Schülerinnen und Schüler allmählich lernen, von einer monokausalen zu einer multikausalen Erklärung überzugehen. Dies bedeutet einen weiteren Schritt in der Ausarbeitung der Kompetenz; wir bewegen uns nun auf einer oberen Graduierung innerhalb der Niveaustufe B.
Wird den Schülerinnen und Schüler im Laufe der Arbeit bewusst, dass sie zwar gewandt und gekonnt mit den kategorialen Begriffen arbeiten können, dass diese Begriffe aber selbst nur eine Auswahl und damit eine Begrenzung ihrer Urteilsfähigkeit darstellen, dann erreichen sie die Niveaustufe C. Sie sind nun in der Lage, ihre eigenen Überlegungen zu reflektieren und die Grenzen ihrer Urteilsbildung zu erkennen. Auf der Niveaustufe C bewegen sie sich ebenfalls, wenn sie die Kategorien mehrerer Domänen zusammennehmen, um eine historischen Erscheinung zu beurteilen – z. B. die Idee der Volkssouveränität in der Neuzeit.
Der Aufbau der historischen Kompetenz geht also von der kumulativen Erarbeitung kategorialer Begriffe aus, die dann zunehmend vernetzt und reflektiert werden. Die Kompetenz wird dadurch zu einem dynamischen Ganzen, das sowohl selbstreflexiv wie auch kreativ ist. In Bd. 5 geht es vor allem um diese dynamische und selbstreflexive Anwendung der Orientierungskompetenz.
Einfache Form der Orientierungskompetenz
Orientierungskompetenz: Die Schülerinnen und Schüler können sich (a) in der Geschichte orientieren (b) durch Geschichte orientieren (Standort und Identität) |
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Domäne |
Kategorie |
Niveaustufe |
Operator |
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(a) Reproduktion
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(a) Reproduktion Domäneninhalte
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(b) Problembewusstsein Fragen zu
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(b) Problembewusstsein
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(c) Problemlösung
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(c) Problemlösung
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Wissen |
Können |
Begriffsgefüge als dynamische Einheit
Grundlegende Bedenken, die dem Kompetenzmodell entgegen gebracht wurden, beruhen auf dem Missverständnis, dass man das Begriffsgefüge des Strukturgitters nicht als dynamische Einheit, sondern als eine Addition abstrakter Begriffe aufgefasst hat. Kenntnis der lernpsychologischen Grundlagen der Kompetenzbildung kann ein solches Missverstehen vermeiden; denn unsere Begriffskonfiguration der Orientierungskompetenz wie auch aller weiteren Kompetenzen stellt nichts anderes als ein solches lernpsychologisches Schema dar. Auch sei nochmals daran erinnert, dass die Niveaustufen essenzieller Bestandteil der Kompetenz sind. Auch sie verdeutlichen, dass man die Kategorien der Domänen nicht als statische Elemente verstehen kann und darf, die die Schülerinnen und Schüler nur zu lernen hätten.
Niveaustufen der Kompetenz |
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Niveaustufe |
Beschreibung |
Operator |
A |
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B |
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C |
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Didaktische Reduktion
Wie für jeden Geschichtsunterricht stellt eine radikale Reduktion der historischen Inhalte auf grundlegende Strukturen auch für die Kompetenzbildung eine wesentliche Voraussetzung dar. Damit wird ein zweites Ziel des Buches formuliert. Es geht um die Herausarbeitung der inhaltlichen Essenz des Geschichtsunterrichts, nicht um eine methodische Vermittlung der Inhalte, nicht um Arbeits- und Sozialformen. Das inhaltlich Wesentliche herauszufiltern bedeutet die größte Herausforderung für die jungen Kolleginnen und Kollegen, nicht ihre methodische Vermittlung. Trotz der Notwendigkeit zur didaktischen Reduktion nehmen die historischen Inhalte in der Darstellung – wie auch schon in Band 4 – einen größeren Raum ein. Dies ist lehrplanbedingt, da der Bildungsplan der Behandlung der Neuzeit und der Zeitgeschichte deutlich mehr Zeit einräumt als der Entwicklung von der Vorgeschichte bis zum Absolutismus. Daher müssen die Inhalte differenzierter dargestellt werden als das zuvor in den Bänden 2 und 3 der Fall war. Dennoch wird nur das dargestellt, was zur Behandlung der Materie im Unterricht notwendig ist. Dabei bleibt die Kompetenzorientierung vollständig erhalten, auch wenn sie in der Darstellung gegenüber den Inhalten in den Hintergrund zu treten scheint. Dies scheint aber nur so; denn die Kompetenzkategorien werden auf differenziertere Inhalte angewendet, ohne dass sie selbst weiter differenziert werden müssen. Differenzierter wird allerdings die Anwendung der Kompetenzkategorien ausfallen.
Problemorientierung und Handlungskompetenz
In unsere Darstellung werden auch immer wieder reflektierende Passagen eingebaut, die in ihrer grundlegenden Fragehaltung in der Geschichtswissenschaft weniger üblich sind. Sie sind der spezifischen Natur des Geschichtsunterrichts und des kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts geschuldet. Zum einen muss der Geschichtsunterricht durchgehend problemorientiert angelegt sein; die Schülerinnen und Schüler sollen zum Nachdenken angeregt werden. Sie sollen historische Sachverhalte nicht nur auf der Inhaltsebene kennenlernen (Niveaustufe A), sondern sie auch verstehen und begreifen (Niveaustufen B und C). Dieses Verstehen- und Begreifenlernen führt zum systematischen Aufbau einer historischen Urteilsfähigkeit. Die Urteilsbildung findet auf der Grundlage der erworbenen Kompetenzkategorien statt, die dadurch zu einer reflektierten Basis der historischen Urteilsbildung werden. Durch diese Urteilsbildung wird die Handlungskompetenz entwickelt, die beurteilt, ob eine historische Entwicklung wünschenswert ist oder eher vermieden oder verhindert werden sollte. Dadurch kommt ein normatives Element ins Spiel, das für die Geschichtsentwicklung berechtigt ist, da es in ihr auch um die Entwicklung und Umsetzung von Werten geht. Entscheidend ist dabei allerdings, dass dieses normative Element durch den Bezug auf die historischanthropologische Entwicklung des Menschen, nicht nach subjektivem Wähnen und Meinen begründet wird. Wir kennzeichnen die Prozesse der Urteilsbildung in den Marginalien als „Kompetenzorientierte Urteilsbildung“.
Ergebnissicherung
Die inhaltliche Essenz des Geschichtsunterrichts ist von jeder Methodik unabhängig; die Bedeutung des Nationalsozialismus bleibt unverändert dieselbe – gleichgültig, ob er schülerzentriert oder lehrerorientiert unterrichtet wird. Die didaktische Reduktion der Inhalte hängt auch nicht von der Frage ab, ob der Unterricht lernzielorientiert oder kompetenzorientiert angelegt ist. Sie stellt eine unerlässliche und zentrale Prämisse beider Unterrichtsformen dar. Der Unterschied beginnt erst an der Stelle, wo die inhaltlichen Ergebnisse zu einer Kompetenz weiterverarbeitet werden. Daher haben wir eine doppelte Ergebnissicherung durchgeführt: Eine inhaltliche Ergebnissicherung, bei der der lernzielorientierte Unterricht stehen bleiben kann, und eine kompetenzorientierte, wodurch der lernzielorientierte Unterricht in den kompetenzorientierten übergeführt wird. Die zweite benötigen wir, wie schon gesagt, bei der Zeitgeschichte in der elementaren Form nicht mehr, da sie bereits vorliegt.
Kompetenzüberprüfung
Eine Kompetenzüberprüfung findet im Anschluss an jede Unterrichtseinheit in der Weise statt, dass die oben angegeben Niveaustufen der Kompetenz mit der Frage „Kann ich ...?“ formuliert werden: „Kann ich einen Sachverhalt wiedergeben, erläutern, beurteilen?“ Das entspricht den drei Niveaustufen der Kompetenzbildung. Aufgaben dazu kann jede Lehrerin und jeder Lehrer ohne Probleme selbst erstellen, sodass wir auf ihre explizite Darstellung verzichten. Beispiele dazu finden sich in Band 1 und 2 unserer Reihe „Geschichte im Unterricht“.
1 Wir bezeichnen die großen Strukturbereiche der Geschichte als Domänen, insofern die zu diesen Bereichen gehörenden Begriffe die Wissensbasis der Kompetenz darstellen. Eine solche Wissensbasis bildet in der Lerntheorie eine Domäne.
Relevante Kategorien zur Planung der Unterrichtseinheit
Gehen wir, wie in den vorherigen Bänden, zur Planung der Unterrichtseinheit wieder von den Domänen aus und fragen, welche Kategorien für die Unterrichtseinheit „Weimarer Republik“ relevant sind.
Herrschaft |
Recht |
Gesellschaft |
Religion |
Wissenschaft |
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Wirklichkeit |
Selbstverstândnis |
Wirtschaft |
Krieg |
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Daraus entwickeln wir nachfolgende Strukturskizze:
Strukturskizze
Strukturskizze zur Weimarer Republik |
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Leitfrage: War der Untergang der Republik schon in ihren Anfängen begründet? |
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Entstehung |
Innere Beschaffenheit |
Außenpolitik |
Untergang |
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Wilsonnote
Am 23. Oktober 1918 sandte der amerikanische Präsident Wilson folgende Note an die deutsche Reichsregierung:
„In dem Gefühl, dass der ganze Weltfrieden jetzt davon abhängt, dass klar gesprochen und aufrichtig gehandelt werde, betrachtet es der Präsident als seine Pflicht [...] auszusprechen, dass die Völker der Welt kein Vertrauen zu den Worten derjenigen hegen und hegen können, die bis jetzt die deutsche Politik beherrschten, und ebenfalls zu betonen, dass beim Friedensschluss [...] die Regierung der Vereinigten Staaten mit keinem andern als mit den Vertretern des deutschen Volkes verhandeln kann, welche bessere Sicherheiten für eine wahre verfassungsmäßige Haltung bieten als die bisherigen Beherrscher Deutschlands. Wenn mit den militärischen Beherrschern und monarchischen Autokraten Deutschlands jetzt verhandelt werden muss, oder wenn es wahrscheinlich ist, dass wir später auch mit ihnen bei der Regelung der internationalen Verpflichtungen des Deutschen Reiches zu tun haben werden, dann kann Deutschland über keine Friedensbedingungen verhandeln, sondern muss sich ergeben. Diese wesentlichen Dinge können nicht unausgesprochen bleiben.“2
Das waren für einen diplomatischen Schriftwechsel ungewöhnliche, unfreundliche und herbe Worte. Der amerikanische Präsident sprach den deutschen regierenden Kreisen sein Misstrauen aus und machte deutlich, dass er nur mit Vertretern des deutschen Volkes zu verhandeln gedenke, nicht mit „militärischen Beherrschern und monarchischen Autokraten“. Säße er den letzten gegenüber, könne es keine Verhandlungen, sondern nur ein Friedensdiktat geben. Von einer solchen Klarheit und Aufrichtigkeit hänge der Weltfrieden ab.
Parlamentarische Monarchie
Diese Note führte dazu, dass am 28. Oktober1918 die Reichsverfassung geändert wurde: Aus der konstitutionellen Monarchie wurde eine parlamentarische. Kriegserklärungen und Friedensschlüsse bedurften nun der Zustimmung von Bundesrat und Reichstag; der Reichskanzler und seine Minister waren nicht mehr dem Kaiser, sondern dem Bundesrat und dem Reichstag verantwortlich. Ernennungen, Beförderungen usw. von Offizieren und Beamten mussten von jetzt ab durch den Reichskanzler gegengezeichnet werden.
Abdankung des Kaisers
Zwölf Tage später, am 9. November1918 – der Kieler Matrosenaufstand hatte inzwischen zu blutigen und revolutionären Unruhen geführt –, wurde der Kaiser im Großen Hauptquartier in Spa zu grundlegenden Entscheidungen gedrängt. In Berlin tobten Straßenkämpfe, immer dringlichere Nachrichten liefen ein, die den Kaiser zur Abdankung bewegen wollten. Wilhelm II. ließ sich beraten und kam gegen 10.00 Uhr vormittags zu dem Entschluss, als Deutscher Kaiser, nicht aber als König von Preußen abzudanken. Über das Schicksal des Deutschen Kaiserreichs war damit noch nicht entschieden.
Gegen Mittag gab dann der vor gut einem Monat ernannte Reichskanzler Prinz Max von Baden die Abdankung Wilhelms bekannt. Er handelte eigenmächtig, ohne Wissen des Kaisers, und übertrug Friedrich Ebert das Amt des Reichskanzlers: „Herr Ebert, ich lege Ihnen das Deutsche Reich ans Herz!“ – „Ich habe zwei Söhne für dieses Reich verloren!“, soll Ebert geantwortet haben und sprach damit das Dilemma dieses halben Staatsstreiches aus, das nach zwei weiteren Stunden offensichtlich werden sollte.
Um 14.00 Uhr dieses dramatischen Tages riefen Philipp Scheidemann und Karl Liebknecht gleichzeitig, aber an verschiedenen Orten die Republik aus. Damit machten sie aus dem halben Staatsstreich einen ganzen bzw. eine Revolution. Scheidemann rief die Republik vom Balkon des Reichstages aus, Liebknecht zunächst im Tiergarten, dann zwei Stunden später – gegen 16.00 Uhr – nochmals und öffentlichkeitswirksamer vom Balkon des Berliner Schlosses aus.
Scheidemann schleuderte seinen Zuhörern kämpferische Worte entgegen:
„Die Feinde des werktätigen Volkes, die wirklichen «inneren Feinde», die Deutschlands Zusammenbruch verschuldet haben, sind still und unsichtbar geworden. [...] Der Kaiser hat abgedankt. Er und seine Freunde sind verschwunden. Über sie alle hat das Volk auf der ganzen Linie gesiegt! Der Prinz Max von Baden hat sein Reichskanzleramt dem Abgeordneten Ebert übergeben. Unser Freund wird eine Arbeiterregierung bilden, der alle sozialistischen Parteien angehören werden. [...] Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe die Deutsche Republik!“3
Damit hatte die Monarchie unfreiwillig und staatsstreichartig abgedankt. Der Kaiser ging ins Exil nach Holland.
Ergebnissicherung
Vom Kaiserreich zur Republik |
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Ereignis |
Grund |
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Parlamentarische Demokratie oder Rätemodell
Nach der doppelten Ausrufung der Republik stand die Nationalversammlung, die eine neue Staatsverfassung erarbeiten sollte, vor der Wahl, ob die Republik westlichen parlamentarischen Vorbildern folgen oder ob das russische Rätemodell die Richtung weisen sollte.
Parlamentarische Demokratie |
Râtemodell 4 |
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(1) Wählerschaft und Willensbildung |
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(2) Repräsentation |
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(3) Mandat |
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(4) Gewaltenteilung |
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Der Abgeordnete Cohen-Reuß plädierte für die parlamentarische Form der Demokratie, Däumig für das Rätemodell:
Pro und Contra zum Rätemodell
Cohen-Reuß |
Dâumig |
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Die Nationalversammlung entschied sich erwartungsgemäß zugunsten der parlamentarischen Republik und verabschiedete eine Verfassung, die auf den ersten Blick vorbildlich demokratisch erschien, bei genauem Hinsehen aber gravierende Strukturmängel offenbarte.
Weimarer Verfassung
Die Verfassung verpflichtete sich dem Prinzip der Gewaltenteilung und beruhte auf einer uneingeschränkten Volkssouveränität. Das Volk hatte ein umfassendes Wahlrecht: Es konnte den Reichspräsidenten in direkter Wahl bestimmen, wählte die Abgeordneten zum Reichstag und zu den Landtagen und konnte durch Volksabstimmungen und Volksbegehren auch unmittelbaren Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen. Das Wahlrecht war allgemein, gleich und geheim; zum ersten Mal durften auch Frauen wählen. Ein Verhältniswahlrecht sorgte dafür, dass auch die Stimmen für kleinere Parteien nicht verloren gingen; selbst kleinste Parteiungen konnten im Reichstag oder den Landtagen vertreten sein, da es keine Untergrenze wie die spätere 5 %-Hürde gab. Der Staat war föderal aufgebaut; die Länder besaßen ein Mitwirkungsrecht bei der Gesetzgebung. Der Präsident hatte eine starke Position inne: Er wurde für sieben Jahre gewählt und besaß infolge der Direktwahl durch das Volk eine starke Legitimation. Er ernannte den Reichskanzler und die Minister, hatte den Oberbefehl über das Heer, konnte durch Notverordnungen in Gesetzgebung und Regierung eingreifen und war berechtigt, den Reichstag aufzulösen. Die Regierung bedurfte des Vertrauens des Reichstags, sodass sie ohne ihn nicht handlungsfähig war. Ein Reichsgericht regelte alle Zivil- und Strafrechtsangelegenheiten, ein Staatsgerichtshof war für Verfassungsfragen zuständig. Den Ländern verblieb ein Rest an Souveränität, insofern ihnen die Justiz- und Kultushoheit zugestanden wurden. Die Weimarer Verfassung zeichnete eine mustergültige demokratische Staatsstruktur vor, die in mancher Hinsicht sogar demokratischer als die heutige Verfassung der BRD war.
Probleme der Verfassung
Warum hatte sie sich dennoch als Fehlkonstruktion erwiesen? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir einen genaueren Blick auf die Rechte des Staatsoberhauptes werfen.
Artikel 25 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 erlaubte dem Reichspräsidenten, „den Reichstag aufzulösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlass.“ Dieses Recht war sinnvoll, um einer Situation zu begegnen, in der der Reichstag handlungsunfähig war; z. B. wenn keine Mehrheitsbildung erzielt werden konnte.
Artikel 48
Artikel 48 gab dem Reichspräsidenten außerordentliche Vollmachten:
„Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten. Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die [...] festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen. Von allen gemäß Abs. 1 oder Abs. 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstages außer Kraft zu setzen.“5
Dieser Artikel war der folgenschwerste der Weimarer Verfassung und wurde später zum Sargnagel der Republik. Dennoch war auch er sinnvoll, um den Staat handlungsfähig zu halten, falls es zu keiner Regierungsbildung kam oder wenn ein Staatsstreich abgewendet werden musste, wie dies in den Anfangsjahren der Republik mehrfach der Fall war. Hier half Artikel 48, die Republik zu schützen und zu wahren, wenn ihn der Präsident in diesem Sinne anwandte. Die Maßnahmen nach Artikel 48 unterlagen der parlamentarischen Kontrolle. Der Reichspräsident musste den Reichstag darüber unverzüglich informieren; dieser hatte das Recht, die getroffenen Entscheidungen rückgängig zu machen.
Artikel 50
Eine parlamentarische Kontrolle des Präsidenten sah auch Artikel 50 vor:
„Alle Verordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten, auch solche auf dem Gebiete der Wehrmacht, bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister. Durch die Gegenzeichnung wird die Verantwortung übernommen.“6
Artikel 25
Die Verfassung hatte einen Machtmissbrauch des Präsidenten also durchaus bedacht und ihm Schranken gesetzt. Dennoch blieben zwei Gefahrenpunkte bestehen: Einmal, dass der Reichstag seine Kontrollfunktion nicht wahrnahm, weil er zu keiner Einigung kam; zum anderen, dass der Reichspräsident die parlamentarische Kontrolle dadurch unmöglich machte, dass er den Reichstag auflöste. In der Kombinationsmöglichkeit der beiden Artikel 25 und 48 lag ein entscheidender Strukturfehler der Verfassung; sie hätte die Verfassung nicht zulassen dürfen. Das erste Problem dagegen ergab sich aus dem Verhalten des Reichstags selbst; er konnte sich zur Wirkungslosigkeit verurteilen, wenn er außerstande war, mehrheitlich zu einer Einigung zu kommen. Das aber war kein Problem der Verfassung, sondern des Politik- und Demokratieverständnisses der Abgeordneten. Wenn sie sich der demokratischen Mittel nicht bedienen wollten, die ihnen die Verfassung bot, dann nützte auch die beste demokratische Verfassung nichts. Das Gleiche galt für Artikel 48: Es lag im Ermessen des Reichspräsidenten, ob er seine außerordentlichen Befugnisse im Sinne der Demokratie oder gegen sie anzuwenden gedachte. Das erste tat Friedrich Ebert und konnte die Republik bewahren; den zweiten Weg schlug Hindenburg ein – allerdings unterstützt und gedrängt von demokratie- und republikfeindlichen Parteien, die vom Volk gewählt wurden, wie auch von einem ebenso undemokratisch gesonnenen Umfeld. Das zeigt deutlich, dass eine demokratische Verfassung allein nicht genügt; es bedarf auch der Demokraten, um ihren Buchstaben Geist und Leben zu geben.
Artikel 53
Bedenklich war auch Artikel 53 der Verfassung:
„Alle Verordnungen des Reichspräsidenten bedürfen der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Minister“ (Art. 50) und
„Der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister werden vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen.“ (Art. 53)7
Artikel 50 verlangte eine demokratische Kontrolle des Reichspräsidenten durch den Reichskanzler oder seine Minister; Artikel 53 durchkreuzte diese Absicht, indem der Reichskanzler und damit indirekt auch die Minister vom Wohlwollen des Reichspräsidenten abhingen. Hier mangelte es an einer konsequenten Durchführung der Gewaltenteilung; ein Problem, an dem viele moderne Demokratien leiden.
Artikel 54
Einen letzten Strukturfehler der Verfassung finden wir in Artikel 54:
„Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muss zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluss sein Vertrauen entzieht.“8
Die Verfassung verlangte, dass Reichskanzler und Reichsminister nur mit dem Vertrauen des Reichstags regieren konnten. Sie bezeugte damit redlichen demokratischen Geist, übersah aber, dass sie damit einem Präsidentenregiment Tür und Tor öffnete, wenn durch eine Abwahl von Kanzler und Minister die Regierungs- und Handlungsfähigkeit des Staates verloren ging. Die BRD hat dieses Problem durch die Einführung eines konstruktiven Misstrauensvotums behoben, nach dem ein Kanzler nur durch gleichzeitige Neuwahl eines Nachfolgers abgewählt werden kann.
Inhaltliche und kompetenzorientierte Ergebnissicherung
Weimarer Verfassung |
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Sie enthält:
Sie ist ihrer Intention nach:
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Strukturfehler:
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Weimarer Parteien
Weimarer Parteien und ihre Einstellung zur demokratie |
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Demokratisch |
Rechts konservativ |
Rechts extrem |
Links extrem |
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Verloren immer mehr Mandate |
Erdrutschartige Gewinne |
Zunehmende Gewinne |
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Ab 1932 zusammen keine Mehrheit |
Ab 1932 absolute Mehrheit mit der Möglichkeit einer Blockadepolitik |
Nur die Parteien der Mitte waren Anhänger der Demokratie, die extremen favorisierten die Monarchie oder eine Diktatur. Zum Problem wurde diese Parteienkonstellation, als mit jeder neuen Wahl die Stimmen der demokratischen Parteien ab-, die der extremen – insbesondere der NSDAP – zunahmen, bis 1932 eine Situation eintrat, in der auch die Gesamtheit der demokratischen Parteien im Reichstag keine Mehrheit mehr hatte. Damit war eine demokratische Herrschaft auch theoretisch unmöglich geworden. Nur ein demokratisch orientierter Präsident und ein entsprechendes Präsidialkabinett hätten hier die demokratische Republik retten können – gegen den Willen der Mehrheitswähler, was die Idee der Demokratie karikiert hätte.
Verleumdungskampagnen und politische Morde
Verleumdungskampagnen und politisch motivierte Morde, denen demokratische Politiker zum Opfer fielen, prägten in den Anfangsjahren die Atmosphäre der Republik. 1921 wurde Matthias Erzberger, der Führer der Zentrumspartei, der den Mut aufgebracht hatte, den Waffenstillstand zu unterzeichnen, bei Bad Griesbach im Schwarzwald von Angehörigen eines rechtsradikalen Geheimbundes ermordet. Die demokratischen Politiker wurden in nationalistischen Kreisen für vogelfrei erklärt, die Mörder als Helden gefeiert: „Nun danket alle Gott, für diesen braven Mord“, sangen Korpsstudenten nach dem Mord an Erzberger. Die Schwarzwälder „Volkswacht“ rief zum Mord an Reichskanzler und Außenminister auf: „Haut immer feste auf den Wirth! Haut seinen Schädel, dass es klirrt! Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau.“9 Lüge und Mord wurden zu Mitteln der Propaganda und des öffentlichen politischen Lebens.
Formen politischer Morde
Formen politischer Morde 1918–1922 |
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„Tödlich verunglückt“ |
184 |
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Willkürlich erschossen |
73 |
Willkürlich erschossen |
8 |
„Auf der Flucht erschossen“ |
45 |
Als Repressalie erschossen |
10 |
Angebliches Standrecht |
37 |
Angebliches Standrecht |
3 |
Angebliche Notwehr |
9 |
Angebliche Notwehr |
1 |
Im Gefängnis oder Transport gelyncht |
5 |
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Angeblicher Selbstmord |
1 |
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Summe der von Rechtsstehenden Ermordeten |
354 |
Summe der von Linksstehenden Ermordeten |
22 |
Der Heidelberger Dozent J. Gumbel veröffentlichte 1922 diese Zahlen, die vom Reichsjustizministerium 1923 bestätigt wurden.10
Wie verhielt sich die Justiz dazu? Sie legte unterschiedliche Maßstäbe an: Straftaten politisch links Stehender verfolgte sie konsequent und bestrafte sie hart, gegenüber rechten Straftätern drückte sie ein Auge zu und ließ „Milde“ walten. Das Ausmaß dieser „Milde“ war aber so groß, dass sie mit Recht und Gerechtigkeit nichts mehr gemein hatte, sondern vielmehr Ausdruck von Zynismus und politischer Agitation war. Die Justiz war politisch rechtslastig; ihre Urteile waren politisch, nicht rechtlich motiviert, was sie in den Augen einer denkenden Öffentlichkeit diskreditierte. Ins Zwielicht kam damit auch die Republik, in deren Namen die Justiz Recht bzw. Unrecht sprach. Hier rächte sich die Übernahme von Beamten und Richter aus dem Kaiserreich.
Sühne der politischen Morde 1918–1922 |
||
Linksstehende Täter |
Rechtsstehende Täter |
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Gesamtzahl der Morde |
22 |
354 |
Davon ungesühnt |
4 |
326 |
Teilweise gesühnt |
1 |
27 |
Gesühnt |
17 |
1 |
Zahl der Verurteilungen |
38 |
24 |
Geständige Täter freigesprochen |
0 |
23 |
Geständige Täter befördert |
0 |
3 |
Dauer der Einsperrung je Mord |
15 Jahre |
4 Monate |
Zahl der Hinrichtungen |
10 |
0 |
Geldstrafe je Mord |
0 |
2 Papiermark11 |
Dolchstoßlegende
Auch Hindenburg, der spätere Reichspräsident, beteiligte sich an dem politischen Lügengewebe; vor einem Untersuchungsausschuss zum Kriegsende erfand er die Dolchstoßlegende: Das deutsche Heer sei im Kampfe unbesiegt geblieben, aber an der „Heimatfront“ – von Demokraten und Sozialdemokraten – „von hinten erdolcht worden“. Mit dieser Parole plakatierte die DNVP zu den Wahlen von 1924.
Die Ausschussmitglieder und die Öffentlichkeit hätten diese Unwahrheit durchschauen können, wenn sie Hindenburgs Brief vom 3. Oktober 1918 an den Reichskanzler Prinz Max von Baden zu Rate gezogen hätten:
„Die oberste Heeresleitung bleibt auf ihrer [...] Forderung der sofortigen Herausgabe des Friedensangebots an unsere Feinde bestehen. [...] infolge der Unmöglichkeit, die in den Schlachten der letzten Tage eingetretenen sehr erheblichen Verluste zu ergänzen, besteht nach menschlichem Ermessen keine Aussicht mehr, dem Feinde den Frieden aufzuzwingen. [...] Unter diesen Umständen ist es geboten, den Kampf abzubrechen, um dem deutschen Volke und seinen Verbündeten nutzlose Opfer zu ersparen. Jeder versäumte Tag kostet Tausenden von tapferen Soldaten das Leben.“12
Ruhrbesetzung
Wegen geringfügiger Rückstände in den Reparationszahlungen – statt geforderter 13,8 Mio. Tonnen Kohle seien 1922 nur 11,7 Mio., statt 200 000 Telegraphenmasten nur 65 000 geliefert worden – besetzten französische und belgische Truppen Anfang 1923 das Ruhrgebiet. Der tatsächliche Hintergrund dürfte allerdings ein anderer gewesen sein. Der französische Ministerpräsident Raymont Poincaré, der gleichzeitig auch das Außenministerium leitete, war durch die neue Weimarer Außenpolitik, die sich mit dem Vertrag von Rapallo nach Osten öffnete, irritiert. Zugleich erschien ihm Deutschland immer noch zu groß, sodass er eine territoriale Verkleinerung für wünschenswert hielt. Er strebte daher eine dem Saargebiet vergleichbare Sonderstellung des Rheinlands und des Ruhrgebiets an. Die Bindung des Ruhrgebiets zum Deutschen Reich sollte nur noch lose sein; stattdessen sollte Frankreich in die Lage kommen, bestimmenden Einfluss auf es zu erhalten.
Ruhrbesetzung |
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Grund |
Folgen |
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Abbruch des Ruhrkampfes
Die Deutschen reagierten zunächst mit passivem Widerstand; es kam zu Sabotageakten und einem Kleinkrieg gegen die Besatzer, die ihrerseits mit giftigen Unfreundlichkeiten antworteten. Die Gewerkschaften riefen zu einem Generalstreik auf, der das Land lahmlegte. Davon betroffen waren allerdings nicht nur die französischen und belgischen Besatzungstruppen, sondern vor allem auch die eigene Bevölkerung, da der Streik zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch Deutschlands führte, der die Existenz der Bevölkerung bedrohte. Reichskanzler Stresemann sah sich daher gezwungen, einzulenken und den Ruhrkampf abzubrechen. Dies führte zu erbittertem Widerstand der Nationalisten, die ihm Vaterlandsverrat vorwarfen und verlangten, ihn vor den Staatsgerichtshof zu stellen. Stresemann begründete am 6. Oktober sein Vorgehen vor dem Reichstag:
„Ich glaube, dass [...] der Gedanke, dass eine Festung kapitulieren muss, weil sie keinen Proviant mehr hat oder weil die Zuführung von Proviant die Gefahr in sich birgt, dass das ganze Volk nachher nicht mehr in der Lage ist, sich zu ernähren, keine Sache ist, der man sich als nationaler Mann zu schämen hat, auch wenn man als nationaler Mann trauert, dass die Verhältnisse dahin gekommen sind. Wenn deshalb die «Rheinisch-Westfälische Zeitung» schreibt, der Kanzler, der das getan habe, gehöre vor den Staatsgerichtshof, dann erkläre ich hier: Ich bin gern bereit, mich vor jedem Staatsgerichtshof wegen dessen zu verteidigen, was ich getan habe! Ich möchte denjenigen, die diese Angriffe mit ihrer nationalen Gesinnung begründen, sagen: Der Mut, die Aufgabe des passiven Widerstandes auf sich zu nehmen, ist vielleicht mehr national als die Phrasen, mit denen dagegen angekämpft wurde. Ich war mir bewusst, dass ich in dem Augenblick, in dem ich das tat als Führer meiner Partei, die nach einer ganz anderen Richtung eingestellt war, damit nicht nur vielleicht die eigene politische Stellung in der Partei, ja das Leben auf das Spiel setze. Aber was fehlt uns im deutschen Volk? Uns fehlt der Mut zur Verantwortlichkeit!“13
Die Öffentlichkeit nahm das Ende des Ruhrkampfes gelassen auf. Der wirtschaftliche Ruin, zu dem er geführt hatte, war zu offensichtlich, sodass die Sinnlosigkeit seiner Fortführung jedermann nachvollziehbar war.
Inflation
Eine der gravierendsten Folgen des Ruhrkampfs war die exorbitante Geldentwertung im Jahre 1923, die zu grundlegenden Überlegungen Anlass gibt, da die Frage der Geldwertstabilität ein Problem darstellt, das das wirtschaftliche und soziale Leben auch zu anderen Zeiten begleitet und bestimmt.
Am 18. September 1923 teilte die Personalverwaltung des Ullstein-Verlags den Mitarbeitern mit, dass ein privates Telefongespräch ab sofort 500 000,- RM koste. Wollte man ins Theater gehen, musste man für einen billigen Platz zwei Eier, für einen teuren ein Pfund Butter zahlen. Der Telefonpreis markierte einen Höhepunkt der Geldentwertung, die Theaterpreise ihren Endpunkt: Das Geld war so wertlos geworden, dass es als Zahlungsmittel nicht mehr angenommen wurde; an seine Stelle traten Sachwerte als Gegenleistung.
Anhand einer Grafik, die Etappen der Geldentwertung zeigt, kann man unterschiedliche Geschwindigkeiten der Geldentwertung unterscheiden:
Geschwindigkeiten der Geldentwertung