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Terry Pratchett: Voll im Bilde. Ein Scheibenwelt-Roman.

Ich möchte den vielen wunderbaren
Menschen danken, die dieses Buch
ermöglicht haben. Danke.
Danke. Danke …

SEHT DOCH…

Der Weltraum. Manchmal nennt man ihn auch die allerletzte Grenze.

(Was natürlich Unsinn ist, denn eine allerletzte Grenze kann es gar nicht geben, weil sonst nichts da wäre, wovon sie sich abgrenzt, aber im Vergleich zu anderen Grenzen ist die hier schon ziemlich endgültig …)

Vor dem trüben Licht der Sterne hängt ein Nebel, gewaltig und schwarz, in dem ein roter Riese glimmt wie der Irrsinn der Götter …

Aber dann erweist sich das Glimmen als das Glitzern in einem riesenhaften Auge, es wird vom Schlag eines gewaltigen Augenlids verdunkelt, die Dunkelheit bewegt eine Flosse, und Groß A’Tuin, die Sternenschildkröte, schwimmt weiter durch die große Leere.

Auf ihrem Rücken stehen vier riesige Elefanten. Auf deren Schultern, von Meeresfluten umspült und unter ihrer winzigen, sie umkreisenden Sonne schimmernd, befindet sich, majestätisch um die hohen Berge über ihrer gefrorenen Nabe kreisend, die Scheibenwelt – Welt und Spiegel von Welten zugleich.

Beinahe unwirklich.

Die Wirklichkeit ist nicht digital, ist kein Ein-Aus-Zustand, sondern vielmehr analog. Sie besteht aus Abstufungen. Mit anderen Worten: Die Wirklichkeit ist eine Eigenschaft, über die die meisten Dinge ebenso verfügen wie über, sagen wir mal, ein Gewicht. Deshalb sind beispielsweise manche Menschen wirklicher als andere. Man schätzt, dass es auf jedem x-beliebigen Planeten nur ungefähr fünfhundert wirkliche Bewohner gibt, weshalb sie sich auch ständig und unerwarteterweise über den Weg laufen.

Die Scheibenwelt ist so unwirklich, wie etwas nur sein kann, dabei gerade noch so echt, dass es sie wirklich gibt.

Und auf jeden Fall echt genug, um in echten Schwierigkeiten zu stecken.

»Ach, den. Ja, klar. Der ist immer hier heraufgekommen.«

»Was war das denn für einer?«, erkundigte sich Victor.

»Hör mal, Freundchen, noch vor vier Tagen hat mein gesamtes Vokabular aus zwei Verben und einem Nomen bestanden. Was glaubst du denn, was ich von ihm so gehalten habe? Ich wusste, dass er sich nicht um uns gekümmert hat, mehr nicht. Vielleicht haben wir ihn für einen Stein mit zwei Beinen gehalten, wer weiß?«

Victor dachte an das Buch in seiner Tasche. Singen und Feuer anzünden. Wer machte denn so was?

»Ich weiß auch nicht, was hier los ist«, sagte er. »Ich würde es gerne herausfinden. Sagt mal, habt ihr keine Namen? Ich komme mir komisch vor, mit jemandem zu reden, der keinen Namen hat.«

»Nur ich«, sagte Gaspode. »Aber ich bin ja ein Hund. Ich bin nach dem berühmten Gaspode benannt worden.«

»Mich hat mal ein Kind Muschi genannt«, sagte der Kater unsicher.

»Ich dachte immer, ihr habt Namen in eurer eigenen Sprache«, sagte Victor. »Was weiß ich… ›Mächtige Tatze‹ oder… oder ›Schneller Jäger‹ oder so was in der Art.«

Er lächelte aufmunternd.

Die anderen sahen ihn ausdruckslos an.

»Er liest Bücher«, erläuterte Gaspode der Runde. »Weißt du, die Sache ist so«, erklärte er Victor und kratzte sich ausgiebig, »normalerweise machen sich Tiere nichts aus Namen. Wir wissen auch so, wer wir sind.«

»Andererseits«, sagte die Maus, »finde ich ›Schneller Jäger‹ nicht schlecht.«

»Ich dachte dabei eher an einen Namen für eine Katze«, sagte Victor. Er fing an zu schwitzen. »Mäuse haben freundliche, eher niedliche Namen, wie zum Beispiel… Piepsi.«

»Piepsi?« Die Maus sah ihn frostig an.

Das Kaninchen grinste.

»Und ich dachte immer, Kaninchen heißen Hoppel. Oder Herr Kuschelweich«, tastete sich Victor vorsichtig weiter.

Das Kaninchen hörte auf zu grinsen und zuckte mit den Ohren.

»Jetzt hör mal gut zu, Kumpel«, sagte es.

»Weißt du was«, sagte Gaspode aufgekratzt, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen, »ich habe gehört, dass es da diese Legende gibt, in der die ersten beiden Menschen auf der Welt allen Tieren einen Namen gegeben haben. Das gibt einem schon zu denken, oder?«

Victor zog das Buch hervor, um seine Verlegenheit zu überspielen. Singen und Feuer anzünden. Drei Mal am Tag.

»Dieser alte Mann –«, setzte er an.

»Was hast du denn immer mit dem?«, fiel ihm das Kaninchen ins Wort. »Er ist ein paar Mal am Tag auf den Hügel raufgekommen und hat komische Töne von sich gegeben. Man hätte seine … seine«, das Kaninchen zögerte, »also jedenfalls geschah es immer zu den gleichen Zeiten. Viele Male am Tag.«

»Drei Mal. Drei Vorstellungen. So ähnlich wie bei einer Theatervorführung?« , fragte Victor und ließ den Zeigefinger über die Seite gleiten.

»Wir können nicht bis drei zählen«, gab das Kaninchen verstimmt zurück. »Es gibt nur eins … viele. Viele Male.« Es funkelte Victor an. »Herr Kuschelweich«, sagte es in vernichtendem Ton.

»Und Leute von woandersher haben ihm Fische gebracht«, sagte Victor. »Sonst wohnt hier ja niemand. Sie müssen von weit weg gekommen sein. Diese Leute sind meilenweit gesegelt, nur um ihm Fische zu bringen. Als wollte er die Fische hier aus der Bucht nicht essen. Dabei wimmelt es nur so davon. Als ich schwimmen war, habe ich Hummer gesehen, so was von riesig, einfach unglaublich.«

»Was für Namen hast du denen denn gegeben?«, fragte Herr Kuschelweich, ein allem Anschein nach ziemlich nachtragendes Kaninchen. »Herr Schnippschnapp?«

»Genau, ich will diese Sache jetzt auf der Stelle geklärt haben«, quiekte die Maus. »Zu Hause war ich eine von den ganz Großen. Dort hätte ich jede andere Maus in die Pfanne hauen können. Ich will einen ordentlichen Namen, mein Junge. Jeder, der mich Piepsi nennt«, bei diesen Worten schielte sie schräg nach oben zu Victor, »läuft Gefahr, einen Kopf in der Form einer Bratpfanne zu kriegen, habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Die Ente quakte in aller Ausführlichkeit.

»Ist ja gut, immer mit der Ruhe«, sagte Gaspode. »Die Ente sagt, dass alles miteinander zusammenhängt. Menschen und Trolle und alle anderen kommen hierher. Tiere fangen plötzlich an zu reden. Die Ente meint, dahinter steckt etwas, das sich hier befindet.«

»Woher will eine Ente das alles wissen?«, fragte Victor.

»Hör mal, Freundchen«, mischte sich das Kaninchen wieder ein, »versuch du doch mal die ganze Strecke übers Meer zu fliegen. Wenn du dann auch noch den richtigen Kontinent wiederfindest, kannst du vielleicht daran denken, über Enten herzuziehen.«

»Ach«, sagte Victor, »du sprichst wohl diese geheimnisvollen animalischen Instinkte an, ja?«

Alle starrten ihn an.

»Jedenfalls muss dieser Unsinn wieder aufhören«, sagte Gaspode. »Dieses Überlegen und das Sprechen und das alles ist für Menschen gut und schön. Ihr seid daran gewöhnt. Allerdings müssen wir erst einmal herausfinden, was die Ursache von alldem ist, versteht ihr?«

Die Tiere starrten Victor immer noch an.

»Tja«, sagte er leicht verunsichert, »vielleicht hilft uns das Buch weiter. Die frühen Eintragungen sind in irgendeiner uralten Sprache verfasst, die ich nicht –« Er unterbrach sich. Zauberer waren in Holy Wood nicht gerne gesehen. Wahrscheinlich war es keine gute Idee, die Universität und seine bescheidene Rolle darin zu erwähnen. »Das heißt«, fuhr er fort und wählte seine Worte mit Bedacht, »ich glaube, ich kenne vielleicht jemanden in Ankh-Morpork, der womöglich in der Lage wäre, es zu lesen. Er ist auch ein Tier. Ein Menschenaffe.«

»Wie sieht’s bei ihm denn mit geheimnisvollen animalischen Instinkten aus?«, erkundigte sich Gaspode.

»Was die angeht, ist er absolut auf dem Laufenden«, antwortete Victor.

»In diesem Fall«, sagte das Kaninchen.

»Vorsicht«, sagte Gaspode. »Da kommt jemand.«

Man sah, wie sich eine Fackel den Hügel heraufbewegte. Die Ente schwang sich schwerfällig in die Luft und segelte davon. Die anderen verzogen sich in die Dunkelheit. Nur der Hund rührte sich nicht von der Stelle.

»Willst du dich nicht auch verdrücken?«, zischte Victor.

Gaspode hob eine Augenbraue.

»Wuff?«, sagte er.

Die Fackel irrte wie ein Glühwürmchen im Zickzack durch das Gestrüpp. Manchmal verharrte sie einen Augenblick auf der Stelle, dann bewegte sie sich in einer völlig anderen Richtung weiter. Sie war sehr hell.

»Was ist das?«, fragte Victor.

Gaspode hob witternd die Nase in die Luft. »Mensch«, sagte er. »Weibchen. Billiges Parfüm.« Seine Nase zuckte. »Das Zeug nennt sich Spielzeug der Leidenschaft.« Die Hundenase witterte weiter. »Frische Wäsche, keine Stärke. Alte Schuhe. Viel Studio-Make-up. Sie ist bei Borgels gewesen und hat« – seine Nase zuckte – »Eintopf gegessen. Keine große Portion.«

»Vermutlich weißt du auch, wie groß sie ist?«, sagte Victor.

»Sie riecht nach ungefähr einsachtundfünfzig, einsneundundfünfzig«, lautete Gaspodes Schätzung.

»Also, ich bitte dich!«

»Geh eine Meile auf meinen Pfoten, und nenn mich dann einen Lügner.«

Victor schob mit den Füßen Sand über sein kleines Feuer und schlenderte den Hang hinab.

Als er sich dem Licht näherte, blieb es stehen. Er erhaschte einen kurzen Blick auf eine weibliche Gestalt, die mit einer Hand ein Schultertuch vor der Brust geschlossen hielt und mit der anderen die Fackel hoch über den Kopf. Dann verschwand das Licht so rasch, dass es blaue und purpurrote Punkte auf Victors Netzhaut tanzen ließ. Dahinter zeichnete sich die schwarze Silhouette einer kleinen Gestalt vor der Abenddämmerung ab.

Die Silhouette sagte: »Was machen Sie in meinem… Was soll ich … Warum sind Sie in … Wo …«, und dann, als hätte sie die Situation auf einmal besser im Griff, schlug sie eine andere Tonart an, und eine vertrautere Stimme fragte: »Was machst du denn hier?«

»Ginger?«, sagte Victor.

»Ja?«

Victor zögerte einen Moment. Was gab es unter solchen Umständen groß zu sagen?

»Äh…«, sagte er. »Es ist abends sehr schön hier, findest du nicht?«

Sie funkelte Gaspode an.

»Das ist doch dieser grässliche Köter, der immer im Studio herumstreunt«, sagte sie. »Ich kann kleine Hunde nicht ausstehen.«

»Bell, bell«, sagte Gaspode. Ginger starrte ihn an. Victor konnte ihre Gedanken fast lesen: Er hat bell, bell gesagt. Er ist ein Hund, und Hunde bellen schließlich, oder nicht?

»Ich hab’s mehr mit Katzen«, sagte sie verunsichert.

Eine tiefe Stimme sagte: »Ach ja? Wäschst du dich auch mit deiner eigenen Spucke?«

»Was war das?«

Victor wich zurück und wedelte hektisch mit den Händen. »Sieh mich nicht so an!«, sagte er. »Ich hab das nicht gesagt!«

»Ach? Dann ist es wahrscheinlich der Hund gewesen!«, zischte sie.

»Wer? Ich?«, sagte Gaspode.

Ginger erstarrte. Ihre Augen drehten sich nach unten, dorthin, wo Gaspode saß und sich lässig hinterm Ohr kratzte.

»Wuff?«, sagte er.

»Dieser Hund hat gesprochen –« Ginger zeigte mit dem Finger auf ihn.

»Ich weiß«, sagte Victor. »Das heißt, dass er dich mag.« Er schaute an der jungen Frau vorbei. Dort kam noch ein Licht den Hügel herauf.

»Hast du jemanden mitgebracht?«, fragte er.

»Ich?« Ginger drehte sich um.

Begleitet vom Knacken trockener Zweige trat Schnapper aus der Dämmerung heraus. Hinter ihm wankte Detritus wie ein besonders unheimlicher Schatten heran.

»A-ha!«, sagte er. »Da haben wir die Turteltauben wohl überrascht!«

Victor gaffte ihn an. »Die was?«

»Die was?«, sagte Ginger.

»Ich hab euch zwei überall gesucht«, sagte Schnapper. »Jemand hat gesagt, er hätte euch hier raufgehen sehen. Sehr romantisch. Da könnte man was draus machen. Würde gut auf den Plakaten aussehen. Na schön.« Er legte die Arme um die beiden. »Dann kommt mit«, sagte er.

»Wohin denn?«, fragte Victor.

»Wir fangen gleich morgen früh an zu drehen«, sagte Schnapper.

»Aber Herr Silberfisch hat doch gesagt, dass ich in dieser Stadt nie wieder Arbeit finde«, sagte Victor.

Schnapper machte den Mund auf, zögerte dann aber einen Augenblick. »Hmm. Stimmt. Aber ich gebe euch eine zweite Chance«, sagte er und sprach dabei ausnahmsweise ganz langsam. »Genau. Eine Chance. Ihr seid doch junge Leute. Eigensinnig. Bin selbst mal jung gewesen. Also hab ich mir gedacht, Schnapper, dachte ich mir, selbst wenn du dich damit selbst in den Ruin treibst – du solltest ihnen eine zweite Chance geben. Natürlich zu einer niedrigen Gage. Ein Dollar am Tag, wie sieht’s aus?«

Victor sah den Ausdruck plötzlicher Hoffnung in Gingers Gesicht.

Er öffnete den Mund.

»Fünfzehn Dollar«, sagte eine Stimme. Und zwar nicht die seine.

Er machte den Mund wieder zu.

»Was?«, sagte Schnapper.

Victors Mund ging wieder auf.

»Fünfzehn Dollar. Neu verhandelbar nach einer Woche. Fünfzehn Dollar oder gar nix.«

Victor klappte den Mund wieder zu und verdrehte die Augen.

Schnapper fuchtelte mit dem Zeigefinger unter seiner Nase herum, besann sich dann aber eines Besseren.

»Das gefällt mir!«, sagte er schließlich. »Beinharter Verhandler! Also gut. Drei Dollar.«

»Fünfzehn.«

»Fünf sind mein letztes Angebot, mein Junge. Hier laufen tausend Leute herum, die dankend annehmen würden!«

»Nennen Sie mir zwei, Herr Schnapper.«

Schnapper warf einen kurzen Blick auf Detritus, der in einen Tagtraum versunken war, in dem Rubin eine gewisse Rolle spielte, dann fiel sein Blick auf Ginger.

»Na schön«, sagte er. »Zehn. Aber nur, weil ich euch mag. Aber damit treibe ich mich selbst in den Ruin.«

»Abgemacht.«

Schnapper streckte die Hand aus. Victor starrte auf seine eigene Hand, als sähe er sie zum ersten Mal, dann schüttelte er Schnappers Hand.

»Und jetzt gehen wir wieder runter«, sagte Schnapper. »Es gibt viel zu organisieren.«

Er schritt durch die Bäume voran. Victor und Ginger folgten ihm kleinlaut. Sie hatten sich noch nicht von ihrem Schrecken erholt.

»Spinnst du?«, zischte Ginger. »Ihn so hinzuhalten! Wir hätten unsere letzte Chance verspielen können!«

»Ich hab doch überhaupt nichts gesagt! Ich dachte, du warst das!«, sagte Victor.

»Du warst es!«, erwidert Ginger.

Ihre Blicke begegneten sich.

Und wanderten nach unten.

»Bell, bell«, sagte Gaspode der Wunderhund.

Schnapper drehte sich um.

»Was ist das für ein Geräusch?«, fragte er.

»Ach, das ist … Wir haben diesen Hund gefunden«, sagte Victor rasch. »Er heißt Gaspode. Nach dem berühmten Gaspode, wissen Sie.«

»Er kann Kunststückchen«, sagte Ginger boshaft.

»Ein dressierter Hund?« Schnapper langte nach unten und tätschelte Gaspodes kugelrunden Kopf.

»Knurr, knurr.«

»Er kann wirklich erstaunliche Sachen«, sagte Victor.

»Erstaunliche«, echote Ginger.

»Trotzdem, ein hässliches Vieh«, sagte Schnapper. Er sah Gaspode mit einem langen, abschätzigen Blick an. Ebensogut hätte er einen Tausendfüßler zu einem Arschtrittwettbewerb herausfordern können, denn Gaspode hielt so gut wie jedem Blick eiskalt stand.

Schnapper schien eine Idee auszubrüten. »Bringt ihn doch einfach morgen früh mit. Die Leute lachen immer gerne«, sagte Schnapper.

»Ja, er ist echt zum Lachen«, sagte Victor. »Zum Kreischen.«

Als sie weitergingen, hörte Victor hinter sich eine leise Stimme sagen: »Das wirst du mir noch büßen. Außerdem schuldest du mir einen Dollar.«

»Wofür denn?«

»Agentenhonorar«, sagte Gaspode der Wunderhund.

»So ähnlich. Aber die Leute sehen eigentlich kein einzelnes Bild, sehen Sie hier, sie sehen viele Bilder auf einmal.«

»Also, jetzt blicke ich vor lauter Sehen überhaupt nicht mehr durch.«

»Jedes Bild ist ein Teil des Gesamteffekts. Die Leute sehen, entschuldigen Sie, kein Einzelbild, sie sehen nur den Effekt, den ein Haufen Einzelbilder ergeben, die sehr schnell am Auge vorbeihuschen.«

»Im Ernst? Das ist ja interessant«, sagte Schnapper. »Sehr interessant sogar.« Er schnippte die Asche von seiner Zigarre in Richtung der Dämonen. Einer von ihnen schnappte sie aus der Luft und fraß sie auf.

»Was würde denn passieren, wenn, sagen wir mal, nur ein Bild im ganzen Film anders wäre?«, fragte Schnapper nachdenklich.

»Komisch, dass Sie das fragen«, sagte Gaffer. »Das ist erst neulich passiert, als wir Im tiefen Tal der Supertrolle zusammengeklebt haben. Einer der Lehrlinge hat ein einziges Bild aus Der Goldrausch eingefügt, und wir mussten alle den ganzen Vormittag an Gold denken und wussten nicht mal, warum. Als wäre es, ohne dass die Augen es gesehen haben, direkt in unsere Köpfe gesprungen. Natürlich habe ich dem Kerl ein paar saftige Ohrfeigen verpasst, als wir es entdeckten, aber wir wären wohl nie darauf gekommen, wenn ich mir den Streifen nicht zufällig ganz langsam angeschaut hätte.«

Er nahm den Kleisterpinsel wieder in die Hand, legte sich ein paar Filmstreifen zurecht und klebte einen nach dem anderen aneinander. Erst nach einer Weile wurde ihm bewusst, dass es hinter ihm sehr still geworden war.

»Alles klar bei Ihnen, Herr Schnapper?«, fragte er.

»Hmm? Oh.« Schnapper war tief in Gedanken versunken. »Ein einziges Bild hat das bewirkt?«

»Aber ja. Ist Ihnen nicht gut, Herr Schnapper?«

»Mir ist es nie besser gegangen«, antwortete Schnapper. »Mir geht’s blendend.«

Er rieb sich die Hände. »Wir beide sollten uns jetzt mal unterhalten, von Mann zu Mann«, fügte er hinzu. »Ich habe nämlich so ein Gefühl«, er legte Gaffer freundschaftlich eine Hand auf die Schulter, »als könnte das heute Ihr Glückstag sein.«

In einer Gasse ganz woanders saß Gaspode und murmelte vor sich hin: »So was! Platz, hat er gesagt. Jetzt gibt er mir schon Befehle. Bloß damit seine Freundin keinen grässlichen, komisch riechenden Hund in ihrem Zimmer haben muss. Deshalb muss ich, der beste Freund des Menschen, jetzt hier draußen im Regen hocken. Wenn es regnen würde, jedenfalls. Schon möglich, dass es gar nicht regnet, aber wenn es regnen würde, wäre ich inzwischen nass bis auf die Knochen. Würde ihm ganz recht geschehen, wenn ich einfach weggehen würde. Das könnt ich jederzeit machen. Jederzeit. Ich muss hier nicht sitzen bleiben. Ich hoffe, dass niemand glaubt, ich sitze hier, weil er gesagt hat, dass ich hier sitzen soll. Den Menschen würd ich gern kennen lernen, der mir Befehle erteilt. Ich sitze hier, weil ich hier sitzen will. Genau.«

Dann winselte er ein bisschen und trottete in den Hausschatten, wo er nicht so gut zu sehen war.

Oben im Zimmer stand Victor mit dem Gesicht zur Wand gedreht. Es war erniedrigend. Schlimm genug, dass sie der grinsenden Frau Kosmopilit auf der Treppe begegnet waren. Sie hatte ihn vielsagend angelächelt und eine komplizierte Geste, zu der viel Ellbogenbewegungen gehörten, gemacht, eine Geste, die nette alte Damen, da war er sich ziemlich sicher, eigentlich gar nicht kennen dürften.

Hinter ihm machte sich Ginger unter leisem Rascheln und Klirren bettfein.

»Sie ist wirklich sehr nett. Erst gestern hat sie mir erzählt, dass sie vier Ehemänner hatte«, sagte Ginger.

»Was hat sie denn mit den Knochen gemacht?«, fragte Victor.

»Ich bin sicher, dass ich nicht weiß, was du damit meinst«, sagte Ginger und schniefte. »So, jetzt darfst du dich umdrehen. Ich bin im Bett.«

Victor atmete erleichtert auf und drehte sich um. Ginger hatte die Zudecke bis zum Hals hochgezogen und hielt sie dort mit der Entschlossenheit einer belagerten Garnison, die ihre Barrikaden verteidigte.

»Du musst mir versprechen«, sagte sie, »dass du die Situation nicht ausnutzt, falls irgendwas passiert.«

Victor seufzte. »Versprochen.«

»Ich muss schließlich an meine Karriere denken, weißt du?«

»Ja, weiß ich.«

Er setzte sich auf den Stuhl neben der Lampe und zog das Buch aus seiner Tasche.

»Ich will ja nicht undankbar sein oder so«, plapperte Ginger weiter.

Victor blätterte durch die vergilbten Seiten und suchte die Stelle, bis zu der er gekommen war. Schon viele Leute hatten ihr Leben in der Nähe des Holy Wood Hill verbracht, allem Anschein nach aus dem einzigen Grund, ein Feuer am Brennen zu halten und drei Mal am Tag zu beten und zu singen. Warum?

»Was liest du da?«, wollte Ginger nach einer Weile wissen.

»Ach, so ein altes Buch, das ich gefunden habe«, erwiderte Victor kurz angebunden. »Es geht um Holy Wood.«

»Aha.«

»An deiner Stelle würde ich versuchen zu schlafen«, sagte er und drehte sich so, dass er die kritzelige Handschrift im Lampenlicht besser sehen konnte.

Er hörte sie gähnen.

»Hab ich dir den Traum eigentlich zu Ende erzählt?«, fragte sie.

»Ich glaube nicht«, sagte Victor mit, wie er hoffte, entmutigendem Tonfall.

»Es fängt immer mit diesem Berg an –«

»Hör mal, du solltest jetzt wirklich keine Geschichten mehr erzählen –« » – und rings um den Berg sind lauter Sterne, du weißt schon, im Himmel, aber einer von ihnen schwebt herab, und es ist überhaupt kein Stern, es ist eine Frau, die eine Fackel hoch über den Kopf hält –«

Victor blätterte langsam zum Anfang des Buches zurück.

»Ja?«, sagte er vorsichtig.

»Und sie redet immer auf mich ein, will mir etwas sagen, das ich nicht verstehen kann, es geht darum, dass ich etwas wecken soll, und dann kommen viele Lichter und dieses laute Gebrüll, wie ein Löwe oder ein Tiger oder so was. Und dann wache ich auf.«

Victors Finger fuhren die Konturen des Berges unter den Sternen nach.

»Wahrscheinlich ist es nur ein Traum«, sagte er. »Wahrscheinlich hat er überhaupt nichts zu bedeuten.«

Der Hügel von Holy Wood hatte natürlich keine solche Spitze. Aber vielleicht hatte er früher einmal so ausgesehen, in den Tagen, als es hier noch eine Stadt gab, an der Stelle, wo heute die Bucht liegt. Meine Güte, da musste etwas wirklich einen heftigen Groll auf diesen Ort gehabt haben.

»Was passiert denn noch in diesem Traum?«, fragte er mit gespielter Gleichgültigkeit.

Keine Antwort. Er schlich zum Bett.

Sie schlief.

Er ging wieder zu seinem Stuhl, der schon jetzt versprach, nach spätestens einer halben Stunde bedauernswert unbequem zu werden, und schaltete das Licht aus.

Etwas in dem Hügel. Von dorther drohte Gefahr.

Die unmittelbarste Gefahr bestand jedoch darin, dass er ebenfalls einschlief.

Er saß im Dunkeln und machte sich Sorgen. Wie weckte man einen Schlafwandler überhaupt? Er erinnerte sich vage daran, dass das eigentlich eine ziemlich gefährliche Angelegenheit war. Es gab Geschichten über Leute, die davon träumten, guillotiniert zu werden und denen, als sie jemand an der Schulter berührte, um sie zu wecken, prompt der Kopf abgefallen war. Woher man hinterher wusste, was der Tote geträumt hatte, darüber war allerdings nichts bekannt. Vielleicht ist der Geist des Betroffenen hinterher bei dem Betreffenden am Fußende des Bettes erschienen und hat sich bitterlich beschwert.

Der Stuhl knarrte beängstigend, als er seine Position veränderte. Wenn er ein Bein so ausstreckte, konnte er es vielleicht auf der Bettkante ablegen, so dass Ginger, selbst wenn er einschlief, auf keinen Fall an ihm vorbeikam, ohne ihn zu wecken.

Es war schon komisch. Seit Wochen hatte er einen Tag nach dem anderen damit verbracht, sie in die Arme zu nehmen, sie mutig gegen alles zu verteidigen, als was Mory jeweils verkleidet war, sie zu küssen und dann so gut wie immer mit ihr in den Sonnenuntergang davonzureiten, um glücklich – und vermutlich auch sehr wollüstig – bis ans Ende ihrer Tage mit ihr zusammenzuleben. Niemand, der jemals einen dieser Streifen gesehen hatte, würde es für möglich halten, dass er die Nacht in ihrem Zimmer auf einem aus Holzsplittern bestehenden Stuhl verbrachte. Er konnte es ja selbst kaum glauben, dabei saß er tatsächlich hier. So was kam in den Filmen natürlich nie vor. Bei den bewegten Bildern gab es immer nur Leydenschafft in einer völlig aus den Fugen geratenen Welt. Wäre das hier ein Streifen, würde er mit Sicherheit nicht im Dunkeln auf einem harten Stuhl sitzen. Stattdessen würde er… Also, jedenfalls würde er nicht im Dunkeln auf einem harten Stuhl sitzen, so viel war sicher.

»Ich dachte auch, dass es so an die tausend sind.«

»Der Junge da unten sagt, Schnapper hätte sie bestellt«, sagte Feldwebel Colon.

»Jetzt mach aber mal halblang! Dann will er das Geschäft mit den Jumbo-Würstchen wohl im ganz großen Stil aufziehen?«

Sie sahen einander an. Nobby setzte ein hinterhältiges Grinsen auf.

»Na, komm schon«, sagte er. »Darf ich ihm die Nachricht überbringen? Bitte!«

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Moving Pictures« bei Victor Gollancz Ltd., London


Die vorliegende Ausgabe ist eine Neuübersetzung des erstmals 1993 im Wilhelm Goldmann Verlag auf Deutsch erschienenen Romans.

Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Copyright © der Originalausgabe 1990

By Terry & Lyn Pratchett
First published by Victor Gollancz Ltd., London
Discworld ® is a trademark registered by
Terry Pratchett
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1993
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Neuveröffentlichung 2011
Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung
des Hans-im-Glück-Verlags, München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur
Coverillustration: Sebastian Wunnicke
Satz: Uhl + Massopust, Aalen


Redaktion: Vera Thielenhaus


ISBN 9783641098179
V002


www.manhattan-verlag.de

Buch

Ein winziges Nest auf der Scheibenwelt wird zum Dreh- und Angelpunkt einer neuen   Mode: Alle sind verrückt nach »Klickern«, Geschichten in bewegten Bildern. Und so zieht »Holy Wood«, geheimnisvoller Ursprungsort dieser Bilder, Trolle, Zwerge, Zimmermänner, Zügelhalter und Wunderhunde in seinen Bann. Doch dann wechseln nicht mehr nur bunte Geschichten, sondern auch die Geschöpfe aus der Kerkerdimension mit Hilfe der magischen Klickertechnik ins Diesseits herüber. Und alles gerät gefährlich außer Kontrolle ...

 

 

Autor

Terry Pratchett, geboren 1948, gilt als einer der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Von seinen mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Romanen wurden weltweit bisher über 80 Millionen Exemplare verkauft, seine Werke sind in 38 Sprachen übersetzt. Für seine Verdienste um die englische Literatur wurde ihm sogar die Ritterwürde verliehen. Terry Pratchett starb im März 2015.

 

Terry Pratchetts Fanclub in Deutschland: http://pratchett-fanclub.de .

Mehr Informationen zum Autor und seinen Büchern sowie eine Gesamtübersicht über seine bei Goldmann und Manhattan lieferbaren Titel erhalten Sie unter http://www.pratchett-buecher.de.

1

Hierbei handelt es sich um jene Frucht, die nur in bestimmten Gegenden des heidnischen Wiewunderlandes gedeiht. Sie wird über sieben Meter lang, ist von ohrenschmalzfarbenen Stacheln überzogen und riecht wie ein Ameisenbär, der kürzlich eine verdorbene Ameise gefressen hat.

2

Tatsächlich gibt es in Seyd begrüsst in Ankh-Morpork, Städte der Thausend Überraschungen, der berühmten Broschüre der Kaufmannsgilde, ein ganzes Kapitel mit der Überschrift »Tipps für Barbaren auf Beutejagd und neu in der Stadt«. Dort wird auf die Höhepunkte des Nachtlebens sowie auf Schnäppchenangebote für landestypische Mitbringsel im Basar hingewiesen. Und unter der Überschrift »Raus aus der Steppe – rein ins Vergnügen« findet sich eine Liste mit Restaurants, auf deren Speisekarte auch Stutenmilch und Yak-Wurst stehen. So mancher Vandale mit spitzer Haube ist in seine eiskalte Jurte zurückgetrottet und hat sich gewundert, wieso er nach seinem Aufenthalt in Ankh-Morpork um so vieles ärmer, dafür allem Anschein nach um einen schlecht gewebten Vorleger, einen Liter ungenießbaren Wein und einen ausgestopften violetten Esel mit Strohhut reicher war.

3

Die Alternative hatte darin bestanden, sich freiwillig in die Skorpiongrube werfen zu lassen.

4

Mit Letzterem hatte sie, wenn auch nur rein zufällig, recht.

5

Wörtlich übersetzt ein »Sach-Schreiber« bzw. ein Gerät, mit dem sich Schwankungen im Gefüge der Wirklichkeit aufspüren und messen lassen.

6

UNTERTITEL: »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liepe eingestellt (wörtlich: Mache ich die angenehme Erfahrung, dass mir Chondrodit, der Trollgott der Liebe, mit einem Steinbrocken eins über den Schädel zieht).« Bitte beachten: Chondrodit sollte nicht mit Gigalit verwechselt werden, dem Trollgott, der den Trollen dadurch Weisheit bringt, indem er ihnen mit einem Steinbrocken eins über den Schädel zieht, oder mit Silikarus, dem Trollgott, der den Trollen Glück bringt, indem er ihnen eins mit einem Steinbrocken über den Schädel zieht, oder mit dem Volkshelden Monolith, der den Göttern das Geheimnis der Steine entrissen hat.

7

UNTERTITEL: »Denn das ist meine Velt«

8

UNTERTITEL: »Ich kann halt liepen nur«

9

UNTERTITEL: »… und sonst gar nix. – Hallo, Großer!«

10

Frau Marietta Kosmopilit, ehemalige Näherin aus Ankh-Morpork. Sie war von ihren Träumen nach Holy Wood geführt worden, wo sie rasch feststellte, dass die Kunst, eine Nähnadel zu führen, überaus geschätzt wurde. Nachdem sie früher nur gelegentlich eine Socke gestopft hatte, strickte sie jetzt Pseudo-Kettenhemden für Trolle und konnte auch im Handumdrehen eine Haremshose nähen.

11

Kamele sind viel zu intelligent, um ihre Intelligenz zuzugeben.

12

Einige von ihnen hielten Klemmbretter in der Hand.

13

Trollzähne bestehen aus Diamanten.

14

Wurden aber aus der fertigen Produktion wieder herausgeschnitten.

15

Aus keinem besonderen religiösen Grund. Sie fanden einfach nur toll, wie es beim Grinsen aussah.

16

Alle Zwerge tragen Bärte und viele Lagen Kleidung. Ihr Brautwerbungsschema besteht in erster Linie darin, auf sehr delikate und umständliche Art und Weise herauszufinden, welchem Geschlecht der jeweils andere Zwerg (oder die Zwergin) angehört.

17

Trolle haben 5400 Bezeichnungen für Steine und einen für Vegetation. »Oograh« kann von Moos bis zu Mammutbaum alles bedeuten. Trolle stehen auf dem Standpunkt, dass alles, was man nicht essen kann, auch keinen Namen verdient.

18

Es ging um einen jungen Menschenaffen, der in der Großstadt ausgesetzt wird. Er wächst dort auf und kann sich in der Sprache der Menschen verständigen.

19

Das Nekrotelicomnicon war von einem klatschianischen Schwarzkünstler verfasst worden, den die Welt unter dem Namen Achmed der Verrückte kannte, obwohl er es vorzog, Achmed der Ich-kriege-einfach-immer-diese-Kopfschmerzen genannt zu werden. Angeblich wurde das Buch an einem Tag geschrieben, nachdem Achmed zu viel von diesem eigenartig dicken klatschianischen Kaffee getrunken hatte, der einen nicht nur nüchtern macht, sondern einen durch die Nüchternheit hindurch und auf der anderen Seite wieder herauszieht. Auf diese Weise erblickt man das reale Universum – also das jenseits der Wolken barmherziger Selbsttäuschung, die jedes intelligente Leben normalerweise um sich herum aufbaut, damit es nicht wahnsinnig wird. Von Achmeds Leben vor diesem Ereignis ist nur wenig bekannt, denn die Seite mit der Überschrift »Über den Autor« ist kurz nach seinem Tod spontan verpufft. Der Abschnitt mit der Überschrift »Andere Bücher desselben Autors« deutet jedoch darauf hin, dass sein vorher veröffentlichtes Werk den Titel »Achmed der Ich-kriege-einfach-immer-diese-Kopfschmerzens Buch der Lustigen Katzengeschichten« hieß, womit so einiges erklärt wäre.

20

Abgesehen von allem anderen verschafft ein Bürgerkrieg einem Bruder eine bessere Entschuldigung, die Hand gegen seinen Bruder zu erheben, als die sonst übliche, nämlich das, was dessen Frau bei Tante Veras Beerdigung über unsere Mutter gesagt hat.

21

49 873, wenn man Numeri Riktors mechanischem Himmelszähler glauben wollte.

22

Zumindest die, die in Steinhäusern wohnten.

23

Nach Troll-Maßstäben war das Oscar Wilde in Höchstform.

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Eigentlich nannte er es »Ugh«, was aber übersetzt vermutlich so viel wie »Zuhause« hieß.

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Zauberer, denen es gelingt, der Aufmerksamkeit anderer ehrgeiziger Zauberer zu entgehen, können durchaus recht alt werden. Wahrscheinlich sogar noch älter.

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Damit ist sein Widerwille gemeint. Der Widerwille von Seiten der Opfer dürfte sich von selbst verstehen.

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»Wir regieren euch en gros.«

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Ja, in seinem Kopf herrschte peinliche Ordnung.

29

Auf Trollisch hätte man gesagt: »Er musste noch anderen tollwütigen Grizzlybären eins auf die Zwölf geben.«

Es gibt eine Redensart, derzufolge alle Straßen nach Ankh-Morpork führen, der größten Stadt auf der Scheibenwelt.

Zumindest sagt man, dass es eine Redensart gibt, derzufolge alle Straßen nach Ankh-Morpork führen.

Aber das ist falsch. Alle Straßen führen von Ankh-Morpork weg, nur gehen die Leute manchmal in die falsche Richtung.

Schon vor langer Zeit haben die Dichter es aufgegeben, die Stadt zu beschreiben. Heute versuchen die geschicktesten unter ihnen, sie zu entschuldigen. Sie sagen: Ja, stimmt schon, dass sie stinkt, stimmt schon, dass sie überbevölkert ist, und durchaus möglich, dass es ein bisschen wie in der Hölle zugeht, würde man dort sämtliche Feuer ausgehen lassen und eine Herde inkontinenter Kühe abstellen, aber man muss doch zugeben, dass sie voller purem, pulsierendem, dynamischem Leben steckt! Und da ist durchaus etwas Wahres dran, selbst wenn es aus dem Mund von Dichtern stammt. Doch alle, die keine Dichter sind, sagen: Na und? Auch Matratzen stecken voller Leben, trotzdem verfasst niemand Gedichte über sie. Die Einwohner Ankh-Morporks hassen das Leben dort, und wenn sie die Stadt aus geschäftlichen Gründen verlassen müssen – oder aus Abenteuerlust oder, was häufiger vorkommt, bis irgendeine Verjährungsfrist abläuft –, können sie es kaum erwarten, wieder zurückzukehren. Um das Leben dort endlich wieder hassen zu können. Auf den Aufklebern hinten an ihren Karren steht: »Ankh-Morpork – wem’s hier gefällt, der kann ja gehen!« Sie nennen die Stadt Die Große Wahooni, nach der gleichnamigen Frucht. 1

Ab und zu lässt ein Herrscher der Stadt eine Mauer um Ankh-Morpork errichten, angeblich, um Feinde draußen zu halten. Dabei fürchtet sich Ankh-Morpork überhaupt nicht vor Feinden. Im Gegenteil, es heißt sie sogar willkommen – vorausgesetzt, es handelt sich um Feinde, die die Taschen voller Geld haben. 2 Die Stadt hat Überschwemmungen, Brandkatastrophen, Barbarenhorden, Revolutionen und Drachen überlebt. Manchmal, zugegeben, durch reinen Zufall, aber überlebt hat sie alles. Der fröhliche und unrettbar korrupte Geist der Stadt hat sich als absolut unzerstörbar erwiesen …

Bis jetzt.

Es war Mitternacht. Die Brandung brach sich donnernd am Strand und zauberte einen phosphoreszierenden Schein in die Nacht. Rings um den uralten Hügel jedoch war jedes Geräusch so tot, als müsste es sich durch mehrere Schichten Samt kämpfen.

Das Loch im Sand war schon ziemlich groß.

Hätte jemand sein Ohr daran gelegt, hätte er glauben können, leisen Applaus zu hören.

Dass die Alchimisten überhaupt in einer Gilde organisiert waren, war bemerkenswert. Zauberer waren zwar genauso unkollegial, aber von Natur aus hierarchisch strukturiert und auf Konkurrenz getrimmt. Sie brauchten eine Organisation. Was brachte es schließlich, ein Zauberer der siebten Stufe zu sein, wenn man nicht auf sechs andere Stufen verächtlich hinabschauen konnte, während man nach der achten strebte? Man brauchte andere Zauberer, um sie zu hassen und zu verachten.

Wohingegen jeder Alchimist ganz für sich selbst Alchimist war. Er arbeitete in abgedunkelten Räumen oder verborgenen Kellern und suchte endlos nach dem Hauptgewinn – dem Stein der Weisen, dem Elixier des Lebens etc. Meist handelte es sich um hagere Männer mit geröteten Augen und mit Bärten, die eigentlich keine Bärte waren, sondern eher vereinzelte Haarsträhnen, die sich zum Zwecke gegenseitigen Schutzes aneinanderklammerten. Viele jener hageren Männer hatten zudem diesen entrückten, weltfremden Ausdruck im Gesicht, den man bekommt, wenn man sich zu oft und zu lange in der Nähe kochenden Quecksilbers aufhält.

Es war auch nicht so, dass ein Alchimist den anderen verabscheute. Meistens nahmen sie einander einfach nicht wahr oder hielten sich für Walrösser.

Deshalb hatte ihre kleine, viel geschmähte Gilde nie nach dem Status mächtigerer Gilden gestrebt, wie jener der Diebe oder der Bettler oder der Assassinen. Man widmete sich stattdessen der Unterstützung der Witwen und Familien jener Kollegen, die beispielsweise einen allzu laxen Umgang mit Kaliumzyanid gepflegt hatten. Oder die einige interessante Pilze destilliert, das Ergebnis getrunken und anschließend das Dach erklommen hatten, um mit den Elfen zu spielen. Allerdings gab es gar nicht allzu viele Witwen und Waisen, da sich Alchimisten mit anderen Menschen recht schwer taten. Im Allgemeinen heirateten sie nur dann, wenn ihnen jemand den Schmelztiegel halten musste.

Alles in allem hatten die Alchimisten von Ankh-Morpork bislang noch nicht viel mehr zu Stande gebracht, als Gold in weniger Gold zu verwandeln.

Bis jetzt…

Jetzt waren sie so nervös und aufgeregt wie einer, der unverhofft ein riesiges Vermögen auf seinem Konto findet und sich nicht entscheiden kann, ob er jemanden darauf aufmerksam machen oder lieber mit dem ganzen Geld das Weite suchen soll.

»Den Zauberern wird das überhaupt nicht gefallen«, sagte einer von ihnen, ein dünner, zögerlicher Mann namens Lully. »Sie werden es glatt Magie nennen. Und ihr wisst ja, die werden total sauer, wenn sie glauben, dass jemand, der kein Zauberer ist, Zauberei betreibt.«

»Aber hier ist doch überhaupt keine Magie im Spiel«, erwiderte Thomas Silberfisch, der Präsident der Gilde.

»Und was ist mit den Kobolden?«

»Das ist keine Magie. Das ist stinknormaler Okkultismus.«

»Na ja, und die Salamander …«

»Absolut bodenständige Naturkunde. Da gibt’s nichts dagegen einzuwenden.«

»Schön, von mir aus. Trotzdem werden sie’s als Magie bezeichnen. Ihr kennt sie doch.«

Die Alchimisten nickten niedergeschlagen.

»Elende Reaktionäre«, sagte Sendivoge, der Gildensekretär. »Aufgeblasene Thaumokraten. Und die anderen Gilden auch. Was verstehen die schon vom Fortschritt der Wissenschaft? Da scheren die sich gar nicht drum! Dabei hätten sie so etwas schon vor Jahren selbst erfinden können, aber haben sie es getan? Von wegen! Die doch nicht! Denkt nur mal daran, um wie viel… na ja, besser wir damit das Leben der Menschen machen können. Was für gewaltige Möglichkeiten sich hier auftun!«

»Pädagogisch«, sagte Silberfisch.

»Historisch«, sagte Lully.

»Und natürlich den Unterhaltungsaspekt nicht zu vergessen«, sagte Peavie, der Schatzmeister der Gilde, ein kleiner, nervöser Mann. Eigentlich waren die meisten Alchimisten nervös, schließlich wussten sie nie, was das in ihrem Tiegel blubbernde Zeug ihres jüngstes Experiments als Nächstes anstellen würde.

»Ja, klar. Unterhaltsam soll’s natürlich auch sein«, sagte Silberfisch.

»Einige der großen historischen Dramen«, sagte Peavie. »Stellt euch das bloß mal vor! Man holt ein paar Schauspieler zusammen, die spielen alles ein einziges Mal durch, und auf der ganzen Scheibe können die Leute es sich so oft ansehen, wie sie wollen! Was man da, nebenbei gesagt, an Gage spart«, ergänzte er.

»Aber alles natürlich sehr geschmackvoll«, sagte Silberfisch. »Wir tragen eine große Verantwortung und müssen sicherstellen, dass das alles nicht irgendwie …« Seine Stimme erstarb. »Ihr wisst schon … irgendwie … anstößig wird.«

»Die verbieten es uns«, sagte Lully finster. »Ich kenne doch diese Zauberer.«

»Das befürchte ich auch«, sagte Silberfisch. »Aber hier in der Stadt ist das Licht ohnehin zu schlecht. Darüber waren wir uns einig. Wir brauchen klaren Himmel. Und einen Sicherheitsabstand zur Stadt. Ich glaube, ich kenne den perfekten Ort.«

»Ehrlich gesagt, kann ich’s gar nicht glauben, dass wir das tatsächlich durchziehen«, sagte Peavie. »Noch vor einem Monat war das Ganze eine Schnapsidee. Und jetzt hat alles funktioniert! Es ist wie Magie! Nur eben nicht magisch, dass mich da bloß niemand falsch versteht«, fügte er rasch hinzu.

»Nicht einfach nur Illusion, sondern echte Illusion«, sagte Lully.

»Ich weiß nicht, ob schon jemand daran gedacht hat«, sagte Peavie, »aber wir könnten damit sogar ein bisschen Geld verdienen. Was meint ihr?«

»Aber das ist nicht wichtig«, bemerkte Silberfisch.

»Nein. Nein, natürlich nicht«, murmelte Peavie und ließ den Blick kurz über die anderen schweifen.

»Sollen wir’s uns noch mal ansehen?«, fragte er dann schüchtern. »Ich drehe auch die Kurbel. Und, und … na ja, ich weiß, dass ich noch nicht allzu viel zu diesem Projekt beigetragen habe, aber neulich habe ich das, äh… das Zeug hier erfunden.«

Er zog eine sehr große Tüte aus der Tasche seines Gewandes und warf sie auf den Tisch. Sie kippte um, und mehrere luftig weiche, unförmige weiße Klümpchen rollten daraus hervor.

Die Alchimisten schauten sie verdutzt an.

»Was ist das?«, wollte Lully wissen.

»Also, man nimmt einfach ein bisschen Mais«, erklärte Peavie verlegen, »und gibt es in einen, sagen wir mal, 3er Schmelztiegel, dazu etwas Speiseöl, tja, und dann legt man einen Teller oder sowas obendrauf, und wenn man es erhitzt, explodiert es, allerdings nicht besonders heftig, und wenn es nicht mehr explodiert, nimmt man den Teller runter, und der Mais hat sich in diese … äh, Dinger metamorphosiert.« Er blickte in verständnislose Gesichter. »Man kann sie essen«, murmelte er kleinlaut. »Wenn man Butter und Salz dazu gibt, schmeckt es wie … salzige Butter.«

Silberfisch streckte eine von Chemikalien fleckige Hand aus und suchte sich vorsichtig eines der fluffigen Klümpchen aus. Dann kaute er nachdenklich darauf herum.

»Ich weiß auch nicht, warum ich ausgerechnet so was gemacht habe«, sagte Peavie und wurde rot. »Es kam mir einfach so … richtig vor.«

Silberfisch kaute weiter.

»Schmeckt wie Pappdeckel«, sagte er nach einer Weile.

»Tut mir leid«, sagte Peavie und versuchte, den Rest des Häufchens mit der hohlen Hand wieder in den Sack zu schaufeln. Silberfisch legte ihm sanft die Hand auf den Arm.

»Andererseits«, sagte er und wählte noch ein bauschiges Bröckchen aus, »hat es irgendwie ein gewisses Etwas. Das Zeug kommt einem wirklich irgendwie richtig vor. Wie heißen die Dinger noch mal?«

»Eigentlich haben sie noch keinen Namen«, erwiderte Peavie. »Ich nenne sie einfach Knallmais.«

Silberfisch nahm sich noch eins. »Komisch, man kann einfach nicht damit aufhören«, sagte er. »Die Dinger schmecken irgendwie nach mehr. Knallmais? Passt. Trotzdem, meine Herren, sollten wir noch einmal an der Kurbel drehen.«

Lully spulte den Film in der unmagischen Laterne zurück.

»Und du kennst einen Ort, an dem wir unser Projekt in aller Ruhe aufbauen können, ohne dass uns die Zauberer dabei in die Quere kommen?«, fragte er.

Silberfisch nahm sich noch eine Handvoll Knallmais.

»Es ist ein ganzes Stück die Küste runter«, sagte er. »Ein sehr hübsches, sonniges Fleckchen und obendrein völlig ab vom Schuss. Außer einem windschiefen alten Wäldchen, einem Tempel und Sanddünen ist dort gar nichts.«

»Ein Tempel? Die Götter können echt sauer werden, wenn man –«, setzte Peavie an.

»Die ganze Gegend ist schon seit Jahrhunderten verlassen«, unterbrach ihn Silberfisch. »Dort gibt’s überhaupt nichts. Keine Menschen, keine Götter, gar nichts. Nur jede Menge Sonnenschein und freies Gelände, die auf uns warten. Das ist unsere Chance, Kollegen. Wir müssen ohne Magie auskommen, wir können kein Gold machen, wir müssen sogar ohne Auskommen auskommen – also machen wir bewegte Bilder. Und schreiben damit Geschichte

Die Alchimisten lehnten sich zurück und sahen schon ein bisschen fröhlicher aus.

»Genau«, sagte Lully.

»Hm. Stimmt«, sagte Peavie.

»Dann auf die bewegten Bilder«, sagte Sendivoge und hielt eine Handvoll Knallmais hoch. »Woher kennst du die Gegend eigentlich?«

»Ach, ich –« Silberfisch unterbrach sich und blinzelte verwirrt in die Runde. »Keine Ahnung«, sagte er schließlich. »Ich kann mich… nicht daran erinnern. Muss wohl irgendwann davon gehört und es wieder vergessen haben, und dann war es auf einmal – zack! – wieder da. Ihr wisst ja, wie so was geht.«

»Genau«, sagte Lully. »So wie bei mir mit dem Film. Es war so, als würde ich mich daran erinnern, wie es funktioniert. Manchmal spielt einem der Verstand schon ziemlich verrückte Streiche.«

»Genau.«

»Genau.«

»Wahrscheinlich war das einfach so ne Idee, deren Zeit gekommen ist.«

»Genau.«

»Genau.«

»So muss es sein.«

Rings um den Tisch breitete sich ein leicht bekümmertes Schweigen aus. Es war das Geräusch ratternder Gehirne, die versuchten, ihre geistigen Finger auf etwas zu legen, das ihnen trotz aller Begeisterung immer noch einige Sorgen bereitete.

Die Luft schien zu glitzern.

»Wie heißt dieser Ort denn?«, fragte Lully schließlich.

»Keine Ahnung, wie er früher hieß«, antwortete Silberfisch, lehnte sich nach hinten und zog die Tüte mit dem Knallmais näher zu sich. »Heute wird er Holy Wood genannt, das heilige Wäldchen.«

»Holy Wood«, sagte Lully. »Kommt mir irgendwie … bekannt vor.«

Wieder wurde es ganz still, während alle darüber nachdachten.

Das Schweigen wurde schließlich von Sendivoge gebrochen.

»Na denn«, sagte er gut gelaunt, »Holy Wood, wir kommen!«

»Genau«, sagte Silberfisch und schüttelte den Kopf, als wollte er einen quer sitzenden Gedanken verscheuchen. »Ist schon irgendwie komisch. Mir kommt es gerade so vor … als wären wir schon die ganze Zeit… dorthin unterwegs gewesen.«

RUMMS !

Die Explosion fegte die Fenster, die Tür und den halben Schornstein weg.