Erzählungen
KLÖPFER&MEYER
Für Martin
Seinen Blick vergesse ich nie: Charly unten auf der Straße, wie er zu mir hochsieht. Die Taschen seines Sakkos ausgebeult und nass, seine Hände vom Schneematsch verdreckt. Sein Gesicht ganz verzerrt von Wut und Enttäuschung.
Dann wandte er sich ab und ging. Verschwand einfach in der Finsternis. Es war an diesem Abend wirklich finster, der Strom war ja ausgefallen. Meiner Wohnung gegenüber liegt der Friedhof, Grablichter schimmerten diffus, sonst nichts. Der Himmel war bewölkt, keine Sterne zu sehen und kein Mond, zu schweigen von der Milchstraße. Ein blindes Universum.
Das Wort »Freund« habe ich im Zusammenhang mit ihm das erste Mal in den Mund genommen, da war er schon fort.
Charly war ein Mann mittlerer Größe mit rundem Gesicht und sehr dick. Er verbarg seinen Umfang in einem grauen, zeltartigen Sakko. Er trug einen grauen Hut mit breitem schwarzen Band, für den er jedes Mal aufs Neue umständlich einen Platz suchte, da das Tischchen zwischen uns mit meinem Laptop zu drei Vierteln belegt war. Unter dem Sakko ein nicht mehr weißes Hemd. Cordhosen mit Hosenträgern. Er war älter gekleidet, als er an Jahren schien. Ich weiß bis heute nicht, wie alt er eigentlich war. Er hatte einen segelnden Gang und müffelte, wenn er mir zu nah kam. Aber meist saßen wir uns gegenüber, und es roch nach Kaffee.
Ich habe mir Charly nicht ausgesucht. Er ist mir zugelaufen, vielmehr: zugesegelt. Warum er mich gewählt hat an jenem Nachmittag im Café, weiß ich nicht. Vielleicht hat er mir angesehen, dass ich ungebetene Gesellschaft schlecht wieder loswerde. Oder er wählte mich, weil der Platz mir gegenüber leer war. Weil ich so unmissverständlich, so unübersehbar allein war.
»Verzeihung – ist hier noch frei?«
Ich nickte, was hätte ich sonst tun sollen. Er zog übertrieben vorsichtig den Stuhl vor und setzte sich ebenso vorsichtig. Vom ersten Augenblick an zog er meine Aufmerksamkeit ab, saugte sie auf. Ein breiter, rundschädeliger, meinen Geist besetzender Brocken Mensch.
Auch die Art, wie er an meinem Laptop vorbeischielte, wirkte unecht. Meine Konzentration war dahin. Aus Höflichkeit wartete ich einige Minuten, sah dann auf die Uhr, als müsse ich einen Termin einhalten, und packte meine Sachen zusammen.
»Oh«, sagte er betroffen. »Ich wollte Sie nicht vertreiben.«
»Das haben Sie nicht«, log ich, und er lächelte.
Da ging es also auf, zum ersten Mal: jenes Charly-Lächeln. Rund, offen und blank. Entwaffnend und verwundbar zugleich.
Sein im Lächeln aufgehendes Gesicht stand mir noch vor Augen, als ich längst zu Hause an meinem Schreibtisch saß und in großer Ruhe nicht fertigbrachte, was mir in seiner Gegenwart nicht gelungen war. Ein sonderbarer Mann, dachte ich. Ein Herr mit Umgangsformen, und wenn er lächelt, ist er ein Kind.
Ich sitze im Café. Der Platz mir gegenüber ist leer, die Zuckerdose voll. Wenn er hier wäre, wäre es genau umgekehrt. Und nicht so still. Wir würden über Berlusconi reden, über Schickedanz oder Suhrkamp. Charly mochte Neuigkeiten mit Klang.
»Berlusconi!«, würde er rufen und ungehalten den Kopf schütteln, und ich, beispielsweise, würde erwidern: »Volatilitätsprodukte. Schon gehört? Sind zurzeit gefragt.«
»Ah«, würde er sagen und lächeln, beglückt von dem neuen Wort.
Ich habe es in der neuen Ausgabe von »Finanz und Wirtschaft« entdeckt und mir für ihn gemerkt, aus Gewohnheit – er ist ja nicht mehr da. Keine Ahnung, was es bedeutet. Das war für unsere Gespräche nicht wichtig, auch wenn mich Charly ab und zu mit Sachkenntnis überrascht hat. Meist aber genügten ihm die Wörter und meine Gesellschaft.
Von fern ist die Sirene eines Krankenwagens zu hören. Charly würde jetzt die Augenbrauen heben: »Da fliegt wieder die Feuerwehr!«
Ich habe ihn nicht wiedergesehen seit dem Stromausfall, weder hier noch bei mir zuhause. Immer noch komme ich fast jeden Mittwoch und Samstag her, auch wenn es mittwochs schwierig geworden ist wegen der Bewerbungsgespräche. Meine Café-Tage hatte Charly schnell heraus, und vielleicht, wer weiß, taucht er ja doch wieder auf, eines Tages.
Als er mir begegnete, war ich schon auf dem absteigenden Ast. Man hatte mir nahegelegt, mich umzuorientieren, so nannten sie das, es gab Gerüchte. Ich ignorierte die Anzeichen, so gut es ging. Ich führte ein Studentenleben mit 39 und sagte mir, dass meine immer wieder pro forma unterbrochene und dann an anderer Stelle fortgesetzte Existenz an der Uni – eine halbe Forschungsstelle hier, ein Lehrauftrag da – nun schon beinahe zwölf Jahre währte, und warum sollte sich etwas ändern? Irgendein Naturgesetz besagte, dass für mich alles immer so weiterginge: meine vier Wände, die Uni, mittwochs und samstags Caféschreiben. So war das Leben, so würde es bleiben in Ewigkeit. Es ist die Ewigkeit, die mir abhandengekommen ist, nichts Geringeres. Wahrscheinlich war das der Grund, warum ich mir Charly gefallen ließ, diesen ausladenden, merkwürdigen Mann. Er war das letzte Bollwerk. Ich weiß nicht warum, aber er war es jedenfalls.
Mittwochs und samstags, spätestens nach einer Stunde, segelte er auf mein Tischchen zu. Umständliche Begrüßung, umständliches Suchen nach einem Platz für seinen Hut, und dann ging’s los. Er muss auf seinem Weg ins Café an einem Kiosk vorbeigekommen sein. So wie auch ich, als ich das Prinzip unserer Gespräche begriffen hatte, vorab die Zeitungsständer der Bibliothek aufsuchte. Freundlicher Austausch von Schlagzeilen, und irgendwann der erste windschiefe Satz: »Wenn Berlusconi zurückkommt, geht’s mit Schalke bergab!« Vielleicht war es auch die fliegende Feuerwehr. Oder sein freundlich leerer Blick, wenn ich auf eine seiner Nachrichten detaillierter einging. Ich weiß nicht, wann mir klar wurde, dass mit ihm etwas nicht richtig war. Ich weiß nicht einmal, ob es in dieser Bewusstheit jemals geschah. Charly war merkwürdig stimmig in sich. Er sagte alltägliche Dinge und streute, wie Perlen, hier und da kleine Absurditäten ein. Er war sanftmütig und penetrant, eine diskrete Klette. Ein raffinierter Verrückter.
Als wir einander das erste Mal etwas preisgaben, das war der Tag, an dem meine Uni-Existenz endgültig beendet worden war. Charly stutzte, als er auf mich zusteuerte: Ich hatte meinen Laptop nicht dabei und stattdessen ein Glas Cognac vor mir stehen. Auf dem Tischchen war Platz für seinen Hut, das schien ihn anhaltend zu irritieren. Ich lud ihn zum Kaffee ein wie immer und trank selbst noch einen Cognac und noch einen, das war neu.
»Schalke hat den Trainer entlassen«, sagte er verunsichert, und ich erwiderte: »Ich habe schlechte Nachrichten.« Ich glaube, es war der erste persönliche Satz außer »Nennen Sie mich Charly«, der zwischen uns je gefallen war. Er sah mich großäugig an, und ich begann zu erzählen. Ich schwadronierte über die Ungerechtigkeit der Welt und der Universität im Besonderen, die mir meine Zukunft verdorben hatte, vielmehr: meine schöne, unverbindliche, immerwährende Gegenwart. Er hörte schweigend zu. Zwischendrin griff er gedankenverloren in die Zuckerdose und ließ eine Handvoll Zuckerwürfel in seinen Kaffee platschen. Er hatte immer schon bestürzend süßen Kaffee getrunken, was mir erst jetzt, in diesem Moment, bewusst wurde. So süß jedoch noch nie.
»Das ist aber gemein«, sagte er schließlich. Es war die angemessenste Reaktion, die ich mir vorstellen konnte, und ich bestellte gleich noch einen Cognac. Charly rief: »Die Milchstraße müsste man auflecken können!« Ich lachte, und er blickte verstohlen um sich, griff in seine Sakkotasche wie ein Zauberer und legte eine Tüte Pralinen vor mich hin. Aus seiner Innentasche beförderte er eine weitere. Wie Lunchpakete lagen sie vor uns.
»Jetzt essen wir erst mal«, sagte er und nestelte an seiner Packung. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Mir gefiel der Blick nicht, mit dem er die Pralinen anstarrte. Ich lachte wieder, nervös und verwirrt, und nahm einen großen Schluck Cognac.
»Ich liebe Pralinen«, sagte Charly.
Ich wusste nicht, was das für ein Geständnis war. Ich hatte überhaupt keine Ahnung von der Bedeutung dieses Satzes.
Die Stadt liegt sehr still. In Charlys Universum würde jetzt die Feuerwehr vorbeifliegen. Der Papst würde von der Kanzlei heruntersprechen und Pipelines prophezeien, große Pipelines, durch die Physiker des Max-Planken-Instruments Gottesteilchen schießen. Wir lebten in einem Pralinen-All, die Milchstraße schimmerte milchig vor dunklem Trüffel. Ich übertreibe. Charlys Welt war angeschrägt, nicht haltlos verrückt. Sie war in dezenter Schieflage abgeleitet von allem, was ist und was mich noch immer umgibt, ohne ihn. Das Café ist dasselbe, ich sitze darin wie eh und bin auf verstörende Weise ungestört. So also fühlt es sich an, denke ich: jemanden zu verlieren. Irgendwann musstest du das ja erleben.
An jenem Abend verließen wir das Café gemeinsam. Es war kalt, auch in der Innenstadt lag Schnee. Wir hatten beide Seegang, ich wegen des Cognacs und Charly, weil er Charly war. Und dann, mit einem Mal, war er verschwunden. Ich wandte mich um.
Er kauerte im Schnee, das Gesicht zu Boden gerichtet, schwer atmend, und ich bemerkte erst jetzt, dass nicht nur seine Stirn, sondern sein ganzer Kopf schweißüberströmt war, die Haare pappten an seinem Schädel. Er kippte zur Seite, rollte auf den Rücken und streckte sich hin, die Augen geschlossen.
So sehe ich ihn vor mir in den Nächten, in denen ich nicht schlafen kann: ein gestrandeter Wal auf weißem Sand. Die fliegende Feuerwehr mit Blaulicht. Ich sehe mich im Flur der Notaufnahme auf und ab gehen, auf und ab, immer in Versuchung zu verschwinden. Und das habe ich dann ja auch getan.
Irgendwann kam ein Arzt und fragte mich, was Charly zu sich genommen habe.
»Kaffee«, antwortete ich. Ich ahnte da schon, worauf es hinauslief.
»Zucker?«, fragte der Arzt. Etwas an seinem Ton, an dieser Frage, die keine war, und der Müdigkeit seiner Augen sagte mir, dass Charly nicht zum ersten Mal hier war.
»Etwa zwanzig Stück«, antwortete ich dünn, »und zwei Tüten Pralinen.«
Der Arzt musterte mich schweigend. Es lag nichts Gutes in diesem Schweigen, ich fürchtete, gleich würde er mir etwas eröffnen, das ich nicht hören wollte und das er mit »Ich darf Ihnen das eigentlich nicht sagen« einleiten würde, und ich stieß hastig hervor: »Ich kenne den Mann kaum«, drehte mich um und ging.
Mittwochs habe ich jetzt manchmal Termine und kann nicht ins Café gehen. Ich schreibe Bewerbungen, ab und zu werde ich zu einem Gespräch eingeladen. Sie fragen mich nach meinen Skills und meinem Portfolio, und ich bin versucht zu kontern: Schickedanz! Oder: Schalke! Von der fliegenden Feuerwehr zu schweigen. Als müsse ich noch eine Weile Charly-Verrücktheiten in die Welt streuen, um sie für mich bewohnbar zu halten.
Ich ging damals nach Hause und schlief meinen Rausch aus. Ich würde gerne behaupten, dass ich mir Sorgen um Charly machte, doch das tat ich nicht oder wollte nicht oder wollte nicht wissen, dass ich es tat. Ich räumte meinen Schreibtisch an der Uni aus und ging weiter jeden Mittwoch und Samstag ins Café, es nützte aber nichts. Weder tauchte Charly auf, noch half die Café-Routine gegen das Nichts, das mich anstarrte. Merkwürdig, dass es den Flur einer Notaufnahme und das Ende einer halben Uni-Stelle brauchte, um mich darauf zu stoßen, dass das Leben endlich ist, aber so war es wohl.
Nach fünf Wochen sah ich ihn noch einmal wieder, aber nicht im Café. Er hockte auf den Stufen vor meiner Wohnung, als ich nach Hause kam. Da hatte ich ihn und sein Schicksal schon vergessen. Ich erschrak. Über seinen Anblick und die Tatsache, dass er vor meiner Tür saß. Ich hatte keine Ahnung, woher er meine Adresse kannte, und es war mir nicht recht. Ich weiß noch, es war mir nicht recht, ich dachte: Wie kriegst du den wieder los.
Er war blass und atmete schwer, hielt seine linke Hand auf seine Brust, wie um etwas zu schützen, aber er lächelte sein Kindlächeln, als er mich sah. »Da bist du«, sagte er glücklich. Ich nahm ihn mit hinein, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. Er müffelte mehr denn je, so sehr, dass ich gleich Kaffee kochte, abends um neun, und das Fenster im Wohnzimmer öffnete bei klirrender Kälte. Charly hockte auf meinem Sofa, ich rückte den Sessel von ihm ab und stellte die dampfende Kanne zwischen uns.
»Nimm dir doch«, sagte ich, und das Licht ging aus.
»Nanu«, sagte Charly. Ich tastete mich durch den dunklen Flur zum Sicherungskasten und dann in die Küche und kramte nach einer Kerze und Streichhölzern.
»Hast du Zucker?«, fragte Charly.
»Leider nein«, log ich und zündete die Kerze an. Charlys Gesicht hellte sich auf, erst vom Kerzenschein und dann noch einmal von innen, und ich fürchtete da schon, was kommen würde, er machte wieder sein Zauberergesicht. Und wirklich, er öffnete zwei Knöpfe seines Sakkos und beförderte eine große Schachtel Pralinen hervor.
»Die hab ich für uns gerettet«, wisperte er, öffnete sie und begann sofort zu essen.
»Charly, nein!«, rief ich. Er sah mich verduzt an, hörte aber nicht auf, Pralinen in seinen Mund zu schieben, und ich riss die Schachtel an mich und sprang auf, lief zum Fenster und warf sie hinaus.
Ich sah der Schachtel hinterher, sah zu, wie sie auf dem Boden aufschlug und die Pralinen auf den Schnee spreißelten, und ich staunte, wie schön das aussah, ein bestirnter Himmel im Negativ. Dann hörte ich Charly in meinem Rücken aufjaulen. Ein tiefer, donnergrollender Klagelaut.
Ich habe nicht einmal versucht, ihn aufzuhalten. Ich hatte Angst vor ihm, konnte nicht einschätzen, wozu er in diesem Moment fähig war, doch das war es nicht allein. Ich hatte nicht den Mut.
Das letzte Bild von ihm: wie er drunten im Schnee winselnd nach den Pralinen greift und sie in seine Taschen stopft, sich dann nach mir umdreht, sein Blick angefüllt von Wut und namenloser Enttäuschung. Dann geht er wankend davon.
Einmal habe ich im Krankenhaus angerufen und gefragt, ob ein Mann namens Charly eingeliefert worden ist. Ob ich ein Verwandter sei, fragte man zögerlich. »Ein Freund«, antwortete ich. Und in die Erklärung, dass man in solchen Fällen leider keine Auskunft undsoweiterundsofort, legte ich auf.
Seither sage ich mir: Jemand trägt Sorge. Ich wiederhole innerlich seine Worte wie einen Kinderreim: »Die hab ich für uns gerettet.« Das hat er gesagt, als er die Pralinenschachtel hervorzog, und das heißt doch, dass jemand da ist. Eine Art Sozialarbeiterin, die dafür sorgt, dass er nicht das Falsche tut, oder zumindest nicht zu viel davon, und die er grollend akzeptiert. Ich kann mir Charly aus irgendeinem Grund nur von Frauen betreut vorstellen. Ich sage es mir vor, in den Nächten, in denen ich ihn auf der Straße liegen sehe mit geronnenem Lächeln: Jemand schützt ihn. Das Universum ist nicht blind. Charly ist in Sicherheit.
Meine Großmutter liebte meinen Großvater nicht. Der, den sie liebte, war ausgewandert. Nur eine Handvoll Briefe und einen Gedichtband hatte er ihr hinterlassen. Meine Großmutter bewohnte weiter die Villa ihrer Eltern und heiratete einen Mann, den sie nicht liebte und den sie dafür zu verachten begann, dass sie selbst nicht den Mut aufgebracht hatte, jenem anderen zu folgen (und jener nicht den Mut, zu bleiben). Dieser ungeliebte Mann, der mein Großvater gewesen sein soll, starb früh. Ich habe weder den einen noch den anderen je gekannt. Und doch folgte ich der Wahl meiner Großmutter (übermittelt von meiner Mutter, wispernd, beim Blättern in vergilbten Fotos, als ich alt genug war oder sie mich für alt genug befand, die wahre Geschichte meiner Großmutter zu erfahren). Ich erbte die Liebe zu jenem in die Fremde gezogenen Mann über zwei Generationen hinweg, und ich beschloss, dass dieser mein wirklicher Großvater war, sein sollte und musste. Die Lücke, die zuvor gar nicht existiert hatte, klaffte ab da. Ich vermisste einen Unbekannten.
Seit meine Großmutter meinem Großvater nicht nach Australien gefolgt war, flatterte die Liebe in unserer Familie wie ein Schmetterling rastlos von Blüte zu Blüte, ohne irgendwo zu verweilen, ohne irgendwo anzukommen. Es gab im Laufe der Jahre manchen, den ich zum Vater hätte wählen können. Sie tauchten in unserem Leben auf, blieben für eine Weile und gingen wieder, oder wir gingen, meine Mutter und ich, mit leichtem Gepäck. Unter diesen Männern waren zwei, die meiner Mutter in unverbrüchlicher und unerwiderter Liebe verbunden blieben. Mich nahmen sie mit in den Zoo und kauften Eis und taten Dinge, die ich mir von einem Vater hätte erträumen können. Ich aber brauchte keinen. Ich hielt mich an meinen Großvater.
Mit 13 liebte ich Karl, später Anja, dann Konstantin, und den Kioskverkäufer und den Mann, der immer samstags über die Gleise lief. Ich liebte sie, wie ich zu lieben gelernt hatte: inständig und aus der Ferne. Ich ritzte ihre wirklichen oder erdachten Namen auf Baumwurzeln im frühen Frühjahr, Wurzeln, die schon bald überwuchert wurden von der aufsprießenden Natur. Ich zeichnete ihre Gesichter auf Löschpapier und träumte nachts, ich sei eine andere und begegnete ihnen auf eine andere, wirklichere Weise. Den Gedichtband meines Großvaters mit seiner verwischten Widmung verwahrte ich unter meinem Bett, seine Schrift, die sich gegen die Fluten der Weltmeere stemmte: »Für Kati auf immer – Franz«. In Buchstaben, die meine Mutter mir hatte entschlüsseln müssen, steil und so ebenmäßig, als hätte sein Alphabet nur aus wenigen Zeichen bestanden, in denen das Wenige hatte geschrieben werden können, das zu schreiben übrig geblieben war. Seine Briefe blieben verschollen.
Ich begann eine Kochlehre, liebte heimlich den Beikoch und träumte von Australien. An meinen freien Tagen las ich historische Passagierlisten, besuchte Archive und Bibliotheken und lernte alle erdenklichen Weisen, einen Auswanderer namens Franz nicht zu finden. Wäre ich nicht der Liebe meiner Großmutter gefolgt, dann hätte ich nicht den Staub so vieler vergangener Tage geatmet, hätte vielleicht nicht all die Jahre damit verbracht, Namen auf Baumwurzeln zu ritzen, doch mein Weg, schmetterlingsgleich, hätte mich auch nicht an jenen Ort geführt. Alles wäre anders gekommen und nicht unbedingt besser. Ich wäre nicht einer sehr kleinen Hoffnung gefolgt, hätte nicht eines Tages vor jener Tür gestanden, der Tür des Privatarchivs einer längst verstorbenen Frau, von der die Freundin einer entfernten Verwandten gewusst haben wollte, dass sie eine Bekannte meiner Großmutter gewesen war. Der Archivar hätte mir nicht geöffnet.
Er sah nicht aus wie die Archivare, denen ich auf meiner bisherigen Suche begegnet war, und auch nicht so, wie ich gedacht hatte, dass Archivare aussehen müssten. Ich hatte geglaubt, sie würden sich mit der Zeit unweigerlich in Alter und Gesichtsfarbe dem Alter und der Farbe dessen annähern, was sie archivierten. Dieser war jung wie ich und trug eine frische Röte auf den Wangen, von der ich nicht wusste, seit wann sie sich dort befand. Er ließ mich ein, wir gingen in seine Stube, die wirklich eine Stube war, alles um uns herum war bedeutend älter als wir. Der Archivar fragte mich, wie er mir helfen könne, und ich erzählte ihm meine Geschichte, die ganze Geschichte von Anfang an: von der Villa, in der meine Großmutter auf und ab gegangen war, auf und ab und die Widmung inwendig lernte, die in dem Gedichtband geschrieben stand, den ich unter meinem Bett verwahrte wie einst sie, als müsse ich etwas für sie zu Ende bringen. Ich erzählte von dem knappen Alphabet meines Großvaters und seinen Worten, »auf immer«, und der Archivar hörte still und aufmerksam zu und fragte erst ganz zum Schluss, als ich schwieg und weiter schwieg: »Und der Name?«
»Franz«, sagte ich.
»Oh«, sagte der Archivar. »Das wird ein bisschen schwierig«. Dann führte er mich die Treppe hinauf.
Er führte mich hinauf, nicht hinab. Die Archive, die ich bisher aufgesucht hatte, waren in Kellerräumen untergebracht gewesen, und ich hatte unwillkürlich angenommen, das müsse so sein: dass die Dinge, die aus untergegangenen Zeiten zurückgeblieben waren, in die Tiefe führten. Dieses Archiv führte himmelwärts, es war ein helles, großes Dachgeschoss mit sehr vielen Regalen, in denen sehr viele Kartons standen, in denen sehr viele alte Briefe lagen.
»Das Dumme ist«, sagte der Archivar: »Wir haben nach Nachnamen sortiert.« Er sagte es in einem Ton, als sei es eine ärgerliche Nachlässigkeit, nicht von vornherein berücksichtigt zu haben, dass eines Tages ich mit meiner langen Geschichte von zwei Großvätern und Australien und nichts weiter als einem Vornamen hereingeflattert käme, und ich war gerührt und bemerkte auch, dass die Röte auf seinen Wangen sich vertieft hatte. Zugleich bekam ich es mit der Angst vor der kaum auszuhaltenden Anwesenheit von etwas und von ihm und mir, hier, unter diesem Dach, kein Weltmeer zwischen uns. Doch bevor ich noch das Weite suchen und abermals ein Gesicht auf Löschpapier zeichnen konnte, sagte der Archivar: »Ich helfe Ihnen.«
Ich sah ihn an, er sah die Regale an und sagte: »Ich schlage vor, Sie beginnen bei A und ich bei Z.«