Émile Zola
Das Glück der Familie Rougon
Die Rougon-Macquart - Band 1
Ich möchte erläutern, wie sich eine Familie, eine kleine Gruppe von Wesen, in einer Gesellschaft verhält, indem sie sich entfaltet, um zehn, zwanzig Einzelwesen hervorzubringen, die auf den ersten Blick grundverschieden erscheinen, die aber, wie die Analyse zeigt, innig miteinander verbunden sind. Die Vererbung hat ihre Gesetze, wie die Schwerkraft.
Ich werde versuchen, durch Lösung der zwiefachen Frage des Temperaments und der Umwelt den Faden zu finden und zu verfolgen, der mit mathematischer Genauigkeit von einem Menschen zum anderen führt. Und wenn ich alle Fäden habe, wenn ich eine ganze soziale Gruppe in Händen halte, werde ich zeigen, wie diese Gruppe als Handlungsträger einer geschichtlichen Epoche am Werk ist und wie sich diese von mir zu schaffende Gruppe in der Vielschichtigkeit ihrer Bemühungen betätigt, ich werde das ganze Wollen jedes einzelnen ihrer Mitglieder und den ihnen allen gemeinsamen Drang analysieren.
Für die Rougon-Macquart, die Gruppe, die Familie, die zu untersuchen ich mir vornehme, ist charakteristisch die Zügellosigkeit der Begierde, das weite Aufbegehren unseres Zeitalters, das sich auf die Genüsse stürzt. Physiologisch gesehen, zeigen die Rougon-Macquart das langsame Vererben von Nerven-und Blutsübeln, die in einem Geschlecht als Folge eines ersten organischen Schadens zutage treten und die je nach der Umwelt bei jedem der Einzelwesen dieses Geschlechts die Gefühle, die Wünsche, die Leidenschaften, alle natürlichen und instinktiven menschlichen Äußerungen bestimmen, deren Ergebnisse die überkommenen Bezeichnungen Tugend und Laster annehmen. Historisch gesehen, gehen die Rougon-Macquart aus dem Volk hervor, sie strahlen in die ganze zeitgenössische Gesellschaft aus, sie steigen zu allen Stellungen auf, vermöge jenes im wesentlichen neuzeitlichen Impulses, den die unteren Klassen auf dem Wege durch den sozialen Körper empfangen, und die Rougon-Macquart erzählen so mit ihren persönlichen Dramen die Geschichte des Zweiten Kaiserreichs, von der Hinterhältigkeit des Staatsstreichs bis zum Verrat von Sedan.
Drei Jahre lang habe ich die Dokumente zu diesem großen Werk gesammelt, und der vorliegende Band war sogar schon geschrieben, als der Sturz der Bonapartes, dessen ich als Künstler bedurfte und der für mich stets schicksalhaft notwendig am Schluss des Dramas stand, ohne dass ich zu hoffen gewagt hätte, er stehe schon so nahe bevor, mir die furchtbare und unausweichliche Lösung meines Werkes brachte. Dieses Werk ist nunmehr fertig; es bewegt sich in einem geschlossenen Kreis; es wird das Bild eines abgestorbenen Regimes, einer seltsamen Epoche des Wahnsinns und der Schande sein.
Dieses Werk, das mehrere Episoden umfassen wird, ist also in meinem Denken die Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich. Und die erste Episode, Das Glück der Familie Rougon, müsste mit ihrem wissenschaftlichen Titel Die Ursprünge heißen.
Paris, am 1. Juli 1871
Émile Zola
Verlässt man Plassans durch die im Süden der Stadt gelegene Porte de Rome, so findet man rechts von der Straße nach Nizza, hinter den ersten Häusern der Vorstadt, ein verwahrlostes Stück Land, das in der Gegend als Saint-Mittre-Hof bekannt ist.
Der Saint-Mittre-Hof bildet ein langgezogenes Viereck von beträchtlicher Größe, das sich in gleicher Höhe mit dem Fußsteig längs des Weges hinzieht, von dem es lediglich ein zertretener Grasstreifen trennt. Auf der einen Seite, von rechts, wird es von der baufälligen Häuserreihe eines Sackgässchens begrenzt. Links und hinten ist es durch moosbewachsenes Gemäuer abgeschlossen, über dem man die Zweige der hohen Maulbeerbäume des Jas-Meiffren gewahrt, eines großen Anwesens, das seinen Zugang weiter unten in der Vorstadt hat. So von drei Seiten eingeschlossen, gleicht der Saint-Mittre-Hof einem Platz, der nirgends hinführt und nur von Spaziergängern betreten wird.
Hier war früher ein Friedhof, dem Schutzpatron Saint-Mittre geweiht, einem provenzalischen Heiligen, der in dieser Gegend große Verehrung genoss. 1851 erinnerten sich die alten Leute in Plassans noch an die Mauern dieses Friedhofs, der jahrelang verschlossen geblieben war. Das Erdreich, seit mehr als hundert Jahren mit Leichen vollgestopft, schwitzte den Tod aus, und man hatte am anderen Ende der Stadt eine neue Begräbnisstätte anlegen müssen. Verlassen wie er war, reinigte sich der alte Friedhof in jedem Frühjahr von selbst, indem er sich mit einer dunklen und dichten Pflanzendecke bezog. Dieser fette Boden, in den die Totengräber keinen Spatenstich mehr tun konnten, ohne einen Fetzen von einer Leiche aufzuwerfen, war von unheimlicher Fruchtbarkeit. Von der Straße aus sah man nach den Mairegen und der darauffolgenden Junihitze die Spitzen der Gräser über die Mauern ragen. Innen aber wogte ein tief grünes, unergründliches Meer, betupft mit großen Blüten von seltsamem Glanz. Darunter, im Schatten der enggedrängten Stengel, ahnte man das feuchte, von gärenden Säften durchtränkte Erdreich.
Eine der Merkwürdigkeiten dieses Grundstücks waren damals Birnbäume mit verdrehten Ästen und ungeheuren Knorren. Keine Hausfrau von Plassans hätte die riesigen Birnen ernten mögen, in der ganzen Stadt verzog man vor Ekel das Gesicht, wenn man von diesen Früchten sprach. Aber die Vorstadtjungen waren nicht so wählerisch; sie kletterten abends in der Dämmerung in Scharen über das Gemäuer und stahlen die Birnen, sogar ehe sie reif waren.
Bald hatte das üppige Leben der Gräser und Bäume alle Leichen in dem ehemaligen Saint-Mittre-Friedhof aufgezehrt, gierig wurde alles, was vom Menschen verwest, von den Blumen und Früchten aufgesogen, und so kam es, dass man schließlich nur noch den durchdringenden Duft der wilden Levkojen verspürte, wenn man an dieser Faulgrube vorüberging. Das war das Werk weniger Sommer gewesen.
Zu jener Zeit gedachte die Stadt aus diesem nutzlos schlummernden Gemeindeeigentum Gewinn zu ziehen. Man legte die Mauern längs der Straße und des Sackgässchens nieder und riss das Gras und die Birnbäume aus. Dann wurde der Friedhof geräumt. Man durchwühlte mehrere Meter tief den Boden und häufte in einer Ecke die Gebeine auf, die die Erde noch zurückgeben wollte. Fast einen Monat lang schoben die Straßenjungen, die den Birnbäumen nachtrauerten, Kegel mit den Totenschädeln; eines Nachts hängten üble Spaßvögel an alle Klingelzüge der Stadt Schenkelknochen und Schienbeine. Dieses Ärgernis, dessen sich Plassans noch heute erinnert, hörte erst mit dem Tage auf, da man sich entschloss, den Knochenhaufen in eine tiefe Grube zu werfen, die auf dem neuen Friedhof dafür ausgeschachtet wurde. Aber in der Provinz geht alle Arbeit mit weiser Langsamkeit vonstatten, und so sahen die Einwohner eine ganze Woche lang dann und wann einen einsamen großen Karren vorüberziehen, der die menschlichen Überreste wegschaffte wie Bauschutt. Das schlimmste dabei war, dass dieser Karren Plassans in seiner ganzen Länge durchqueren musste und er wegen des schlechten Straßenpflasters bei jedem Stoß Knochenstücke und einige Handvoll fetter Erde verstreute. Keine Spur von kirchlichen Zeremonien – eine langsame und rohe Verfrachtung. Niemals hat eine Stadt Ekelhafteres erleben müssen.
Jahrelang blieb das Gelände des ehemaligen Saint-Mittre-Friedhofs ein Anlass allgemeinen Entsetzens. Allen und jedem zugänglich, am Rande einer Landstraße, lag es verödet da und fiel abermals dem Unkraut zur Beute. Die Stadt, die das Grundstück zweifellos gern verkauft hätte, um dort neue Häuser entstehen zu sehen, sollte keinen Abnehmer finden; vielleicht schreckte die Erinnerung an den Knochenhaufen und an jenen Karren, der mutterseelenallein mit der schwerfälligen Hartnäckigkeit eines Alptraums durch die Straßen hin und her gerumpelt war, die Leute ab; vielleicht erklärt sich die Tatsache mehr noch durch die Trägheit der Provinz, durch ihren Widerwillen gegen Zerstörung und Wiederaufbau. Wahr ist jedenfalls, dass die Stadt das Grundstück behielt, ja dass sie sogar ihre Absicht, es zu veräußern, schließlich vergaß. Sie ließ es nicht einmal einzäunen; jeder, der nur wollte, konnte es betreten. Und im Laufe der Jahre gewöhnte man sich nach und nach an diesen verödeten Winkel. Man setzte sich am Wegrand ins Gras, man lief kreuz und quer darüber, der Ort belebte sich. Als dann die Füße der Spaziergänger die Grasnarbe zerstört hatten und der festgetrampelte Boden grau und hart geworden war, glich der ehemalige Friedhof einem schlechtgeebneten öffentlichen Platz. Um noch gründlicher jede widerliche Erinnerung auszulöschen, kamen die Einwohner langsam und ohne es zu merken dazu, die Bezeichnung des Grundstücks zu ändern; man begnügte sich damit, den Namen des Heiligen beizubehalten, auf den man auch das Sackgässchen taufte, das sich in einen Zipfel des Grundstücks hineinbohrte. So entstanden der Saint-Mittre-Hof und die Saint-Mittre-Sackgasse.
Das alles liegt schon weit zurück. Seit mehr als dreißig Jahren hat der Saint-Mittre-Hof bereits sein eigenes Gesicht. Die Stadt, viel zu sorglos und zu verschlafen, um aus dem Gelände Nutzen zu ziehen, hat es gegen ein geringes Entgelt an einige Stellmacher aus der Vorstadt verpachtet, die es als Holzhof verwenden. Noch heute machen riesige, zehn bis fünfzehn Meter lange Stämme, die hier und dort, in Haufen geschichtet, wie Bündel hoher, zu Boden gestürzter Säulen herumliegen, den Platz unwegsam. Diese Stapel von mastbaumähnlichen, parallel nebeneinanderliegenden Stämmen, die sich von einem Ende des Geländes zum andern hinziehen, bilden eine Quelle unerschöpflicher Freude für die Gassenjungen. Da einzelne Stämme heruntergeglitten sind, ist der Boden stellenweise vollständig wie mit einer Art Parkett aus runden Hölzern bedeckt, über das man nur mit an Wunder grenzenden Gleichgewichtskünsten laufen kann. Den ganzen Tag üben sich Scharen von Kindern in dieser Fertigkeit. Man sieht, wie sie über die dicken Bohlen springen, im Gänsemarsch über schmale Grate balancieren oder rittlings darauf entlangrutschen. Diese abwechslungsreichen Spiele enden gewöhnlich mit Prügeleien und Tränen. Manchmal setzt sich auch ein Dutzend Kinder eng aneinandergedrängt auf das dünne Ende eines Stammes, das einige Fuß über dem Boden schwebt, und schaukelt sich stundenlang auf und nieder. So ist der Saint-Mittre-Hof nach und nach zu einem Spielplatz geworden, auf dem seit einem Vierteljahrhundert die Hosenböden sämtlicher Vorstadtjungen durchgescheuert werden.
Ein vollends seltsames Gepräge haben diesem verlorenen Winkel die umherziehenden Zigeuner gegeben, die nach altem Brauch hier ihre Wohnstätte aufschlagen. Sobald eines dieser fahrbaren Häuser, die stets eine ganze Sippe beherbergen, nach Plassans kommt, macht es ganz hinten im Saint-Mittre-Hof halt. Daher ist der Platz niemals verwaist; immer haust dort irgendeine sonderbare Bande, eine Rotte wild aussehender Männer und entsetzlich dürrer Weiber, und zwischen ihnen sieht man ganze Scharen schöner Kinder sich auf dem Boden wälzen. Dieses Völkchen lebt ohne Scheu vor aller Augen unter Gottes freiem Himmel, kocht sein Mahl im eisernen Kessel, nährt sich von Dingen, die man nicht bezeichnen kann, breitet seine durchlöcherten Lumpen aus, schläft, prügelt und küsst einander und stinkt vor Schmutz und Elend.
So ist aus der öden und leblosen Stätte, wo einst nur die Hummeln in der drückenden Stille der Sonnenglut um die fetten Blumen summten, ein geräuschvoller Ort geworden, erfüllt vom Gezänk der Zigeuner und dem schrillen Geschrei der jungen Taugenichtse aus der Vorstadt. Ein Sägewerk, das in einer Ecke die Stämme für den Zimmerplatz zurichtet, dient mit seinem grellen Knirschen den Stimmen als ständige Bassbegleitung. Dieses Sägewerk ist ganz primitiv: das zu schneidende Stück Holz wird über zwei hohe Böcke gelegt, und zwei Brettschneider, von denen der eine oben auf dem Stamm steht, der andere unten, am Sehen gehindert durch das herabfallende Sägemehl, zwingen ein breites, starkes Sägeblatt zu einer ständigen Hin- und herbewegung. Stundenlang beugen sich die beiden Männer mit automatischer Regelmäßigkeit und Unempfindlichkeit auf und nieder, wie zwei Marionetten. Das zugerichtete Holz wird an der hinteren Mauer in Stapeln von zwei bis drei Meter Höhe Brett für Brett sauber und ordentlich zu tadellosen Würfeln aufgeschichtet. Diese Art viereckige Meiler, die dort oft mehrere Jahre liegenbleiben und am Boden vom Gras angenagt werden, zählen zu den Reizen des Saint-Mittre-Hofes. Sie schaffen geheimnisvolle schmale und verschwiegene Pfade, die zu einem breiteren Weg zwischen den Holzstößen und der Mauer führen. Hier ist eine Wildnis, ein Streifen Grün, von dem aus man nur hier und da ein Stückchen Himmel sieht. In diesem Gang an der mit Moos bewachsenen Mauer, dessen Boden von einem dicken und dichten Wollteppich bedeckt zu sein scheint, herrschen noch der üppige Pflanzenwuchs und die schaudererregende Stille des einstigen Friedhofs. Man spürt hier das Wehen des heißen, kaum merklichen Hauchs wollüstiger Verwesung, der aus den von der Sonnenglut durchwärmten alten Gräbern steigt. In der ganzen Umgebung von Plassans gibt es keinen Ort, der mehr von innerem Leben aufgewühlt wäre, mehr durchzittert von Wärme, Einsamkeit und Liebe; und dort ist es köstlich zu lieben. Als der Friedhof geräumt wurde, hatte man wohl die Gebeine gerade in diesem Winkel aufgestapelt, denn noch heute stößt man mit dem Fuß, im feuchten Grase wühlend, nicht selten auf Schädelreste.
Doch niemand denkt mehr an die Toten, die unter diesem Gras geschlafen haben. Tagsüber kommen nur die Kinder beim Versteckspielen hinter diese Holzstapel. Der grüne Gang bleibt unberührt und unbeachtet. Man sieht nichts als den Holzplatz, angefüllt mit Stämmen und grau von Staub. Morgens und nachmittags, wenn die Sonne milde scheint, wimmelt das ganze Grundstück von Leben, und über all diesem lebhaften Treiben, über der Straßenjugend, die zwischen den Holzhaufen spielt, und den Zigeunern, die das Feuer unter ihrem Kessel schüren, zeichnet sich gegen den Himmel die magere Silhouette des oben auf seinem Stamm stehenden Brettschneiders ab, wie sie mit der Regelmäßigkeit eines Pendels auf und ab schwingt, als wolle sie das Zeitmaß sein für das glühende neue Leben, das an dieser einst der ewigen Ruhe bestimmten Stätte aufgeblüht ist. Nur die Alten, die auf den Stämmen sitzen und sich in der Abendsonne wärmen, reden noch manchmal von den Gebeinen, die sie einstmals auf dem sagenhaften Karren durch die Gassen von Plassans abfahren sahen.
Bei sinkender Nacht leert sich der Saint-Mittre-Hof, scheint hohl zu werden, ein großes, schwarzes Loch. Nur ganz hinten sieht man noch den verglimmenden Schein des Zigeunerfeuers. Dann und wann verschwinden Schatten lautlos im Dickicht der Dunkelheit. Im Winter vor allem wird der Ort unheimlich.
Eines Sonntagabends gegen sieben Uhr schlich ein junger Bursche aus der Saint-Mittre-Sackgasse und schlüpfte, dicht an der Mauer entlanggehend, zwischen die Stämme des Holzplatzes. Es war in den ersten Dezembertagen 1851. Trockene Kälte herrschte. Der gerade volle Mond strahlte die scharfe Helligkeit aus, die ihm im Winter eigen ist. Der Holzplatz wirkte in dieser Nacht nicht hohl und unheimlich wie in den Regennächten, sondern breitete sich, von großen, weißen Lichtfeldern erhellt, mit einer sanften Schwermut in der Stille und Regungslosigkeit des Frostes aus.
Der junge Bursche blieb einige Augenblicke am Rand des Grundstücks stehen und schaute argwöhnisch nach vorn. Unter seiner Jacke hielt er den Kolben einer langen Flinte verborgen, deren nach unten gerichteter Lauf im Mondlicht glänzte. Die Waffe an die Brust drückend, prüfte er mit aufmerksamen Blicken die Schattenvierecke, welche die Bretterstapel hinten im Hof warfen. Der Boden sah aus wie ein Schachbrett: von Schatten und Licht deutlich abgesetzte schwarze und weiße Felder. Mitten auf dem Hof hoben sich auf einem Stück grauen, nackten Erdreichs die Sägeböcke der Brettschneider ab, verzerrt, schmal, bizarr, wie eine ungeheure mit Tinte auf Papier gezeichnete geometrische Figur. Der übrige Zimmerplatz mit seinem Parkett aus Stämmen war nur noch ein breites Bett für die schlummernde Helligkeit, nur ganz leicht von den feinen, schwarzen Schattenlinien gestreift, die an den dicken Bohlen entlangliefen. Unter dem Wintermond erinnerte dieses Meer von Masten, die in dem eisigen Schweigen regungslos, wie erstarrt in Schlaf und Kälte, dalagen, an die Toten des alten Friedhofs. Der junge Bursche warf nur einen flüchtigen Blick auf diese leere Fläche: keine Menschenseele, kein Lüftchen, nicht die geringste Gefahr, gesehen oder gehört zu werden. Die dunklen Stellen hinten im Hof beunruhigten ihn mehr. Doch nach kurzer Prüfung wagte er sich ins Freie und überquerte schnell den Holzplatz.
Sobald er sich in Deckung fühlte, verlangsamte er seine Schritte. Er war jetzt in dem grünen Gang, der an der Mauer hinter den Bretterstößen entlangläuft. Hier vernahm er nicht einmal mehr das Geräusch der eigenen Schritte. Das gefrorene Gras unter seinen Füßen knisterte kaum. Ein Gefühl des Wohlbehagens schien sich seiner zu bemächtigen. Er musste diesen Ort wohl gern haben, keinerlei Gefahr hier fürchten und nur Angenehmes und Gutes suchen. Jetzt verbarg er seine Flinte nicht mehr. Der Gang erstreckte sich gleich einem Schattengraben; hin und wieder glitt der Mondschein zwischen zwei Bretterhaufen hindurch und schnitt einen Lichtstreifen ins Gras. Alles, Schatten und Lichter, schlief einen tiefen, sanften und traurigen Schlaf. Ein Friede ohnegleichen lag auf diesem Pfade. Der junge Bursche folgte dem Weg in seiner ganzen Länge. Erst an seinem Ende, dort, wo die Mauern des Jas-Meiffren einen Winkel bilden, hielt er inne und lauschte, wie um zu hören, ob nicht irgendein Geräusch vom Nachbargrundstück herkäme. Dann, als er nichts vernahm, bückte er sich, schob ein Brett beiseite und verbarg sein Gewehr in einem Holzstoß.
In der Ecke dort lag ein alter Grabstein, der beim Räumen des ehemaligen Friedhofs vergessen worden war. Ein wenig schief auf den Boden gestellt, bildete er eine Art erhöhter Sitzbank. Der Regen hatte die Kanten zerbröckelt, das Moos zernagte ihn langsam. Trotzdem hätte man im Mondlicht noch den Überrest der auf der Vorderseite, die halb in der Erde steckte, eingemeißelten Inschrift lesen können: »Hier ruht ... Marie ... gestorben ...« Die Zeit hatte das Weitere verwischt.
Nachdem der junge Bursche seine Flinte versteckt, nochmals gelauscht und immer noch nichts gehört hatte, entschloss er sich, auf den Stein zu steigen. Die Mauer war niedrig; er stützte die Ellenbogen auf den Rand. Doch jenseits der Maulbeerbaumreihe längs der Mauer sah er nur eine lichtübergossene Ebene; das Gelände des Jas-Meiffren, flach und baumlos, breitete sich wie ein riesiges Stück ungebleichter Leinwand unter dem Monde aus. In einer Entfernung von hundert Metern bildeten das Wohnhaus und das vom Halbpächter bewohnte Gesindehaus Flecken von noch blendendem Weiß. Voll Unruhe schaute der junge Bursche nach dieser Seite, als gerade eine Turmuhr in der Stadt mit ernsten, langsamen Schlägen sieben zu schlagen begann. Er zählte die Schläge, dann stieg er, gleichsam überrascht und erleichtert, von dem Stein herunter.
Wie jemand, der sich auf eine lange Wartezeit gefasst macht, setzte er sich auf die Bank. Er schien nicht einmal die Kälte zu spüren. Während fast einer halben Stunde verharrte er bewegungslos, die Augen verträumt auf einen Schattenfleck geheftet. Er hatte sich in eine dunkle Ecke gesetzt, doch allmählich erreichte ihn der höhersteigende Mond, und sein Kopf war hell beleuchtet.
Es war ein Bursche von kräftigem Aussehen, sein feingezeichneter Mund und die noch zarte Haut verrieten seine Jugend. Er mochte siebzehn Jahre alt sein. Er war schön, von einer eigenartigen Schönheit.
Sein hageres und längliches Gesicht schien wie vom Daumen eines mächtigen Bildhauers geformt, die gewölbte Stirn, die hervortretenden Brauenbogen, die Adlernase, das breite, flache Kinn, die Wangen mit den sich deutlich abzeichnenden Backenknochen und den zurücktretenden Seitenflächen gaben dem Kopf etwas ungemein Energisches. Mit zunehmendem Alter musste dieses Gesicht wohl allzu knochig werden, hager wie das eines fahrenden Ritters. Doch in dieser Zeit erwachender Männlichkeit, da es an Wangen und Kinn noch kaum mit Bartflaum bedeckt war, wurde seine Härte durch eine gewisse reizvolle Weichheit gemildert, durch einige Partien, die sich noch nicht ausgeprägt hatten und kindlich geblieben waren. Auch die Augen von einem weichen Schwarz verliehen mit ihrem feuchten Jugendglanz diesem sonst so energischen Gesicht etwas Sanftes. Allen Frauen hätte dieser Junge wohl nicht gefallen, denn er war durchaus nicht das, was man einen hübschen Burschen nennt; doch die Gesamtheit seiner Züge war von so glühender und anziehender Lebendigkeit, so schwärmerischer und kraftvoller Schönheit, dass die Mädchen seiner Provinz, diese sonnenverbrannten Töchter des Südens, von ihm träumen mussten, wenn er an warmen Juliabenden an ihrer Tür vorbeischlenderte.
Immer noch saß er sinnend auf dem Grabstein und merkte nicht, wie das Mondlicht jetzt schon über seine Brust und seine Beine floss. Er war von mittlerer Größe, ein wenig untersetzt. Feste Gelenke verbanden seine von der Arbeit schon hart gewordenen Hände, richtige Arbeiterhände, mit den allzu kräftig entwickelten Armen. Die in groben Schnürschuhen steckenden Füße schienen stark und vorn breit zu sein. Seinen Gelenken, seinen Gliedmaßen und der schwerfälligen Haltung seiner Glieder nach war er ein Mann aus dem Volke. Doch in der Art, wie er den Hals geradehielt, und in dem nachdenklichen Schimmer seiner Augen lag etwas wie eine dumpfe Auflehnung gegen das Abstumpfende der körperlichen Arbeit, die ihn bereits zu Boden zu drücken begann. Es musste, tief vergraben unter der Schwerfälligkeit seiner Herkunft und seiner Gesellschaftsklasse, eine verstand begabte Natur in ihm leben, einer jener feingearteten, auserlesenen Geister, die, in derbes Fleisch gebettet, darunter leiden, dass sie nicht strahlend ihrer plumpen Hülle entsteigen können. So kam es, dass er bei all seiner Kraft schüchtern und zaghaft wirkte, als schäme er sich unbewusst seiner Unvollkommenheit und seines Unvermögens, ihr abzuhelfen. Ein braver Kerl, aus dessen Unwissenheit Begeisterung geworden war, ein männliches Herz, dem nur der Verstand eines kleinen Jungen beistand, hingabefähig wie eine Frau und mutig wie ein Held. An diesem Abend trug er eine lange Hose und eine Joppe aus grünlichem, feingeripptem Baumwollsamt. Ein weicher Filzhut, etwas nach hinten gesetzt, warf einen Schattenstreifen auf seine Stirn.
Als es von der benachbarten Turmuhr halb schlug, fuhr er mit einem Ruck aus der Träumerei auf. Da er sich von weißem Licht überströmt sah, schaute er besorgt umher. Mit einer hastigen Bewegung setzte er sich wieder ins Dunkle, doch er vermochte nicht mehr in seine Träumerei zurückzufinden. Nun spürte er, dass seine Hände und Füße vor Kälte ganz erstarrt waren, und von neuem ergriff ihn Ungeduld. Abermals kletterte er auf den Stein, um einen Blick in den Jas-Meiffren hinüberzuwerfen, der noch immer stumm und leer dalag. Dann stieg er, weil er nicht mehr wusste, womit er die Zeit totschlagen sollte, hinunter, zog seine Flinte aus dem Bretterstapel, wo er sie versteckt hatte, und vertrieb sich die Zeit damit, das Schloss spielen zu lassen. Diese Waffe war eine lange, schwere Flinte, die sicherlich einmal einem Schmuggler gehört hatte. An der Stärke des Kolbens und an der mächtigen Schwanzschraube des Laufes konnte man die alte Steinschlossflinte erkennen, die ein einheimischer Büchsenmacher zu einem Perkussionsgewehr umgearbeitet hatte. Solche Flinten sieht man in den Bauernhäusern über den Kaminen hängen. Liebevoll streichelte der junge Bursche seine Waffe. Mehr als zwanzigmal ließ er den Hahn schnappen, steckte den kleinen Finger in den Lauf und prüfte aufmerksam den Kolben. Nach und nach erfüllte ihn eine jugendliche Begeisterung, die mit einem gut Teil Kinderei vermischt war. Schließlich legte er die Flinte an die Wange und zielte ins Leere wie ein Rekrut bei der Übung. Bald musste es acht Uhr schlagen. Schon hielt er eine gute Minute lang seine Waffe an der Wange, als, leicht wie ein Hauch, eine leise und atemlose Stimme aus dem Jas-Meiffren herüberklang.
»Bist du da, Silvère?« fragte die Stimme.
Silvère ließ die Flinte fallen und war mit einem Satz oben auf dem Grabstein.
»Jaja«, antwortete er, gleichfalls die Stimme dämpfend. »Warte, ich will dir helfen!«
Er hatte die Arme noch nicht ausgestreckt, als schon der Kopf eines jungen Mädchens über der Mauer erschien. Die Kleine hatte sich mit seltener Behändigkeit den Stamm eines Maulbeerbaumes zunutze gemacht und war an ihm wie eine junge Katze hochgeklettert. An der Sicherheit und Leichtigkeit ihrer Bewegungen sah man, dass dieser seltsame Weg ihr vertraut sein musste. Im Handumdrehen saß sie oben auf der Mauer. Da nahm Silvère sie in die Arme und wollte sie auf die Bank setzen. Aber sie wehrte sich.
»Lasse doch«, sagte sie unter schelmischem Lachen wie ein Mädchen, das schäkert. »Lasse doch! – Ich kann wirklich allein herunter.« Dann, als sie auf dem Stein war: »Wartest du schon lange auf mich? Ich bin so gerannt, ich bin ganz außer Atem.«
Silvère antwortete nicht. Er schien wenig zum Lachen aufgelegt und sah die Kleine bekümmert an. Er setzte sich neben sie und sagte:
»Ich wollte dich unbedingt sehen, Miette. Ich hätte die ganze Nacht auf dich gewartet ... Morgen in aller Frühe geht es fort.«
Miette hatte gerade die Flinte erblickt, die im Gras lag. Sie wurde ernst und murmelte:
»Ach! – Es ist also beschlossen ... Da liegt deine Flinte ...«
Beide schwiegen.
»Ja«, antwortete Silvère dann mit noch unsicherer Stimme, »es ist meine Flinte ... Ich wollte sie lieber schon heute Abend aus dem Hause schaffen. Hätte ich sie morgen früh mitgenommen, so würde Tante Dide es vielleicht gesehen und sich beunruhigt haben ... Ich will die Flinte verstecken und sie mir, kurz bevor wir abmarschieren, holen.« Und da Miette anscheinend die Augen nicht von der Waffe abzuwenden vermochte, die er törichterweise im Gras hatte liegenlassen, stand er auf und schob sie wieder in den Bretterstapel. »Wir haben heute Morgen erfahren«, sagte er, als er sich wieder setzte, »dass die Aufständischen von La Palud und von Saint-Martin-de-Vaulx abmarschiert sind und die letzte Nacht in Alboise zugebracht haben. Es war ausgemacht worden, dass wir uns ihnen anschließen. Heute Nachmittag hat schon ein Teil der Arbeiter von Plassans die Stadt verlassen; morgen werden die übrigen zu ihren Brüdern stoßen.« Das Wort »Brüder« sprach er mit jugendlicher Überschwänglichkeit aus. Dann wurde er immer lebhafter und fuhr mit bewegter Stimme fort: »Der Kampf wird unvermeidlich. Aber das Recht ist auf unserer Seite, wir werden siegen.«
Miette hörte Silvère zu, wobei sie vor sich hin starrte, ohne irgendetwas zu sehen. Als er schwieg, sagte sie nur:
»Schon gut!« Und nach einer Pause: »Du hattest mich darauf vorbereitet ... trotzdem hoffte ich noch ... Nun ist es also entschieden!«
Sie fanden keine anderen Worte. Der verlassene Winkel des Holzplatzes, die grüne Gasse versanken wieder in ihren schwermütigen Zauber; einzig der Mond, der auf dem Gras den Schatten der Bretterhaufen weiterbewegte, lebte noch.
Die beiden jungen Leute auf dem Grabstein saßen jetzt stumm und regungslos wie die Gestalten eines Grabmals auf dem Stein in dem bleichen Licht. Silvère hatte den Arm um Miette gelegt, und sie lehnte sich gegen seine Schulter. Sie tauschten keinen Kuss, sie hielten einander nur umschlungen, und ihre Liebe war von der rührenden Unschuld geschwisterlicher Zärtlichkeit.
Miette hatte einen großen, braunen Kapuzenmantel an, der ihr bis auf die Füße herabfiel und sie völlig einhüllte. Nur ihr Kopf und ihre Hände waren zu sehen. Noch heute tragen in der Provence1 die Frauen aus dem Volk, die Bäuerinnen und die Arbeiterinnen, diesen weiten Mantel, den man dort »Pelisse« nennt und schon seit alten Zeiten kennt. Bei ihrem Kommen hatte Miette die Kapuze zurückgeschlagen. Sie war den ganzen Tag im Freien und trug bei ihrem heißen jungen Blut niemals eine Haube. Ihr bloßer Kopf hob sich kräftig von dem mondgebleichten Gemäuer ab. Sie war noch ein Kind, aber ein Kind im Begriff, ein Weib zu werden. Sie stand in dem unbestimmten und köstlichen Alter, da in dem Backfisch das junge Weib zum Vorschein kommt. In dieser Zeit hat jedes heranwachsende Mädchen etwas von der Zartheit einer aufspringenden Knospe, eine Unbestimmtheit der Formen von unendlichem Reiz. Schon künden sich in der noch kindhaften Schmächtigkeit die vollen und wollüstigen Linien der Reife an; mit der ersten schamhaften Verlegenheit kommt das Weib zum Vorschein, noch hat sie halb den Körper eines kleinen Mädchens, und doch legt sie, ihr selber unbewusst, bereits in jeden ihrer Züge das Bekenntnis ihres Geschlechts. Für manche Mädchen ist dieses Alter unvorteilhaft; sie schießen dann plötzlich in die Höhe, werden hässlich, gelb und schwächlich wie Treibhauspflanzen. Doch bei Miette wie bei allen, die gesundes Blut haben und an der frischen Luft aufwachsen, war es eine Zeit ergreifender Anmut, die niemals wiederkehrt. Miette zählte dreizehn Jahre. Obwohl sie schon recht kräftig war, hätte man sie nicht für älter gehalten, so sehr erstrahlte ihr Gesicht zuweilen in einem hellen und kindlichen Lachen. Sie musste übrigens schon heiratsfähig sein; infolge des Klimas und ihres harten Lebens entwickelte das Weib sich schnell in ihr. Sie war fast ebenso groß wie Silvère, mollig und bebend vor Leben. Wie ihr Freund war auch sie keine Allerweltschönheit. Man würde sie nicht für hässlich gehalten haben, aber vielen jungen Leuten musste sie zumindest eigenartig vorkommen. Sie hatte herrliches Haar; stark und gerade über der Stirn ansetzend, fiel es, einer aufspringenden Welle gleich, mächtig nach hinten, floss dann wie ein gekräuseltes Meer voller Strudel und Launen über Hinterkopf und Nacken, schwarz wie Tinte. Das Haar war so dicht, dass sie nichts damit anzufangen wusste. Es behinderte sie. So fest sie konnte, drehte sie es, damit es weniger Platz einnahm, zu mehreren Strängen von der Stärke eines Kinderhandgelenks zusammen, dann steckte sie es am Hinterkopf auf. Sie hatte kaum Zeit, an ihre Frisur zu denken, und trotzdem gewann dieser riesige, ohne Spiegel und in größter Eile gemachte Haarknoten unter ihren Fingern eine eindrucksvolle Anmut. Wenn man sie so sah mit ihrem lebendigen Helm, mit dieser Masse krausen Haars, das über Schläfen und Hals wie ein Tierfell hinabquoll, begriff man, wieso sie stets mit bloßem Kopf ging, unbekümmert um Regen und Frost. Unter der dunklen Linie des Haaransatzes hatte die sehr niedrige Stirn Form und goldene Farbe einer schmalen zunehmenden Mondsichel. Die großen vorquellenden Augen, die breitflüglige, kurze Stupsnase, die allzu vollen und roten Lippen wären, einzeln betrachtet, hässlich gewesen. Doch in der reizvollen Rundung des Gesichts, im Spiel des sprudelnden Lebens bildeten diese Einzelzüge ein Ganzes von eigenartiger und ergreifender Schönheit. Wenn Miette lief, dabei den Kopf nach hinten warf und ihn weich auf die rechte Schulter neigte, glich sie mit ihrer von klingender Fröhlichkeit geschwellten Kehle, ihren Kinderpausbacken, den breiten, weißen Zähnen, den festgewundenen, krausen Haarsträhnen, die bei ihren Freudenausbrüchen wie ein Rebenkranz auf ihrem Nacken tanzten, einer antiken Bacchantin2. Und um in ihr die Jungfrau, das dreizehnjährige Mädchen, wiederzufinden, musste man hören, wieviel Unschuld in ihrem kräftigen, klangvollen Frauenlachen lag, musste vor allem die noch so kindliche Zartheit des Kinns, die weiche Reinheit der Schläfen beachten. In einem gewissen Licht nahm Miettes von der Sonne gebräuntes Gesicht eine bernsteinfarbene Tönung an. Ein ganz feiner dunkler Flaum lag bereits wie ein leichter Schatten über der Oberlippe. Die Arbeit hatte schon ein wenig ihre kleinen, kurzen Hände entstellt, die, wären sie müßig geblieben, reizende Patschhändchen eines Bürgermädchens abgegeben hätten.
Miette und Silvère verharrten lange in Schweigen. Sie lasen gegenseitig in ihren sorgenschweren Gedanken. Und je mehr sie sich gemeinsam in die Furcht vor dem unbekannten Morgen versenkten, desto enger hielten sie einander umschlungen. Sie verstanden sich bis ins Innerste und fühlten das Vergebliche und Grausame jeder lauten Klage. Schließlich konnte sich das junge Mädchen jedoch nicht länger beherrschen; sie drohte zu ersticken und machte in einem einzigen Satz der gemeinsamen Beklemmung Luft.
»Du kommst doch wieder, nicht wahr?« stammelte sie, den Mund nahe an Silvères Hals.
Silvère antwortete nicht, denn die Kehle war ihm wie zugeschnürt und er fürchtete, in Tränen auszubrechen wie sie; er küsste sie auf die Wange wie ein Bruder, der keinen anderen Trost findet. Dann ließen sie einander los und fielen wieder in ihr Schweigen zurück.
Nach einer kleinen Weile fuhr Miette fröstelnd zusammen. Sie lehnte sich nicht mehr an Silvères Schulter und fühlte ihren Körper zu Eis erstarren. Noch am Abend zuvor hätte sie nicht so geschaudert in diesem verlassenen Gang, auf diesem Grabstein, wo sie schon seit mehreren Jahren im Frieden der alten Toten so glücklich ihren Liebkosungen lebten.
»Ich friere so«, sagte sie und zog die Kapuze ihrer Pelisse über den Kopf.
»Wollen wir ein bisschen gehen?« fragte der junge Bursche. »Es ist noch nicht neun Uhr, wir können einen kleinen Spaziergang auf der Landstraße machen.«
Miette dachte, dass sie vielleicht lange Zeit nicht mehr das Glück eines Zusammenseins, einer jener abendlichen Plaudereien haben würde, für die sie tagsüber lebte.
»Ja, gehen wir«, sagte sie lebhaft, »gehen wir bis zur Mühle ... Ich bliebe die ganze Nacht bei dir, wenn du es wolltest.«
Sie verließen die Bank und verbargen sich im Schatten eines Bretterstapels. Hier schlug Miette ihre Pelisse auseinander, die in kleinem Rautenmuster gesteppt und mit blutrotem Baumwollstoff gefüttert war. Dann warf sie Silvère ein Ende ihres warmen, weiten Mantels um die Schultern, und so hüllte sie ihn ganz ein, nahm ihn mit sich, dicht an sie geschmiegt, unter das gleiche Kleidungsstück. Sie legten einander den Arm um die Taille, um nur noch eins zu sein. Als sie auf diese Weise zu einem einzigen Wesen verschmolzen waren, als sie sich so in die Falten des Mantels gewickelt hatten, dass sie jegliche menschliche Form verloren, setzten sie sich mit kleinen Schritten in Richtung der Landstraße in Bewegung, wobei sie unbesorgt die mondhellen, kahlen Flächen des Holzplatzes überquerten. Miette hatte Silvère eingehüllt, und er hatte das so selbstverständlich mit sich geschehen lassen, als habe ihnen der Mantel allabendlich diesen Dienst erwiesen.
Die Straße nach Nizza, zu deren beiden Seiten die Vorstadt liegt, war im Jahre 1851 noch von hundertjährigen Ulmen gesäumt, alten Riesen, großartigen und noch immer kraftvollen Baumruinen, die vor einigen Jahren von der ordnungsliebenden Stadtverwaltung durch junge Platanen ersetzt worden sind. Als Silvère und Miette unter den Bäumen angelangt waren, deren ungeheure Äste der Mond auf dem Gehsteig abzeichnete, begegneten sie zwei- oder dreimal dunklen Massen, die sich schweigend dicht an den Häusern entlangbewegten. Es waren, wie sie selbst, Liebespärchen, die, in ihren Überwürfen völlig von der Außenwelt abgeschlossen, im tiefen Schatten ihre heimliche Liebe spazieren führten.
Die Pärchen der südfranzösischen Städte haben diese Art spazieren zu gehen angenommen. Die Burschen und Mädchen aus dem Volk, die sich später einmal heiraten wollen und durchaus nichts dagegen haben, sich schon vorher ein wenig zu umarmen, wissen nicht, wohin sie sich flüchten könnten, um ungestört Küsse zu tauschen, ohne sich allzu sehr dem Klatsch auszusetzen. Obwohl die Eltern ihren Kindern volle Freiheit lassen, so würde doch, wenn diese sich ein Zimmer mieteten, sich unter vier Augen träfen, das schon am nächsten Morgen in der ganzen Gegend Ärgernis erregen. Andrerseits haben sie keine Zeit, jeden Abend die Einsamkeit der freien Flur aufzusuchen. So haben sie einen Mittelweg gewählt: sie durchstreifen die Vorstädte, unbebautes Gelände, baumbestandene Straßen, alle Stellen, wo wenig Leute vorbeikommen und viele dunkle Schlupfwinkel sind. Und aus Vorsicht, weil hier jeder den andern kennt, tragen sie Sorge, sich unkenntlich zu machen, indem sie sich in jene weiten Mäntel hüllen, in denen eine ganze Familie Schutz fände. Die Eltern dulden diese Spaziergänge in der vollen Dunkelheit, die strenge Moral der Provinz regt sich anscheinend nicht darüber auf; es wird angenommen, dass sich die Liebespärchen weder länger in einer Ecke aufhalten noch sich draußen niederlassen, und das genügt, um die Besorgnis züchtiger Gemüter zu beruhigen. Beim Spazierengehen kann man sich höchstens küssen. Hie und da jedoch nimmt es einen schlimmen Ausgang mit einem Mädchen: da haben sich die Liebenden gesetzt.
Es gibt in der Tat nichts Reizenderes als diese Liebespromenaden. Die ganze zärtliche, erfindungsreiche südliche Phantasie ist voll dabei beteiligt. Es ist ein richtiger Mummenschanz, reich an kleinen Freuden und auch den Ärmsten erreichbar. Die Liebende braucht nur den Mantel zu öffnen, schon hat sie einen Unterschlupf für ihren Liebsten bereit; sie verbirgt ihn an ihrem Herzen, in der Wärme ihrer Kleider genauso, wie die kleinen Bürgersfrauen ihre Liebhaber unter dem Bett oder im Schrank verbergen. Die verbotene Frucht bekommt hier einen besonders süßen Geschmack: man verzehrt sie unter freiem Himmel, inmitten gänzlich Unbeteiligter, auf dem Wege. Und was dabei so köstlich ist, was den getauschten Küssen eine so durchdringende Wonne verleiht, das muss wohl die Sicherheit sein, sich ungestraft vor aller Augen küssen zu können, ganze Abende in aller Öffentlichkeit Arm in Arm zuzubringen, ohne Gefahr zu laufen, dass man erkannt wird und die Leute mit dem Finger auf einen zeigen. Ein Liebespaar ist nichts als eine dunkle Masse, die jedem anderen Paar gleicht. Für den verspäteten Spaziergänger, der diese unförmigen Wesen nur undeutlich sich vorwärts bewegen sieht, ist es die Liebe, die vorübergeht, sonst nichts, die namenlose Liebe, die Liebe, die man ahnt und die man nicht kennt. Die Liebenden wissen sich wohlgeborgen, sie plaudern leise, sie fühlen sich daheim. Meist aber schweigen sie, wandern stundenlang ziellos dahin, glücklich darüber, sich in demselben Stück Stoff eng aneinandergeschmiegt zu fühlen. Das ist die höchste Wonne und höchste Keuschheit zugleich. Der große Übeltäter ist das Klima; es allein hat wohl ursprünglich die Liebenden dazu verlockt, Zuflucht in diesen Vorstadtwinkeln zu suchen. In einer warmen Sommernacht kann man keinen Gang durch Plassans machen, ohne in jedem Mauerschatten ein Pärchen im gemeinsamen Mantel anzutreffen. Manche Orte, wie zum Beispiel der Saint-Mittre-Hof, sind bevölkert von diesen dunklen Dominos3, die in der lauen, klaren Nacht langsam und geräuschlos aneinander vorbeistreifen; man könnte sie für Gäste eines geheimnisvollen Balls halten, den die Sterne für die Liebe der Armen veranstalten. Wenn es zu heiß ist und die jungen Mädchen nicht mehr die Pelisse tragen, schlagen sie einfach den obersten ihrer Röcke über den Kopf. Im Winter kümmern sich die Verliebten nicht einmal um den Frost. So dachten auch Silvère und Miette nicht daran, über die Kälte der Dezembernacht zu klagen, während sie die Straße nach Nizza hinunterwanderten.
Die jungen Leute gingen durch die schlafende Vorstadt, ohne ein Wort zu wechseln. Aufs Neue empfanden sie mit stummer Freude den molligen Zauber ihrer Umarmung. Ihre Herzen waren traurig; das Glück, so aneinandergeschmiegt dahinzuschreiten, war von der schmerzlichen Erregung des Abschieds erfüllt, und es schien ihnen, als könnten sie nie die Süße und Bitterkeit dieses Schweigens auskosten, das langsam ihre Schritte wiegte. Bald wurden die Häuser seltener: die beiden waren an den Rand der Vorstadt gelangt. Hier öffnet sich das Eingangstor zum Jas-Meiffren: zwei starke Pfeiler, verbunden durch ein eisernes Gitter, zwischen dessen Stäben hindurch man eine lange Allee von Maulbeerbäumen sieht. Beim Vorübergehen warfen Silvère und Miette unwillkürlich einen Blick in das Anwesen.
Hinter dem Jas-Meiffren senkt sich die Landstraße ganz allmählich bis zu einer Talsohle, die einem kleinen Fluss, der Viorne – ein Bächlein im Sommer, im Winter ein reißender Strom –, als Bett diente. Damals liefen die beiden Ulmenreihen hier noch weiter und machten aus der Straße eine herrliche Allee, die den mit Getreide und dürftigen Reben bebauten Hang mit einem breiten Band riesiger Bäume durchschnitt. In dieser Dezembernacht breiteten sich die frisch bearbeiteten Felder zu beiden Seiten des Weges unter dem klaren, kalten Mond wie unermessliche, grauweiße Watteschichten aus, in denen jeder Laut erstirbt. Nur die ferne, dumpfe Stimme der Viorne brachte einen Schauer in den unendlichen Frieden der Fluren.
Als die jungen Leute die Straße talabwärts einschlugen, kehrten Miettes Gedanken zum Jas-Meiffren zurück, den sie eben hinter sich gelassen hatten.
»Ich habe große Mühe gehabt, heute Abend loszukommen«, erzählte sie. »Mein Onkel wollte mich durchaus nicht weglassen. Er hatte sich in einen Keller eingeschlossen, und ich glaube, er hat dort sein Geld vergraben, denn heute Morgen schien er sehr bestürzt wegen der vielleicht eintretenden Ereignisse.«
Silvère zog sie enger an sich.
»Lasse nur«, entgegnete er, »und sei tapfer! Es wird eine Zeit kommen, wo wir uns den ganzen Tag über ungehindert sehen können ... Gräm dich nicht.«
»Ach«, sagte das junge Mädchen und schüttelte den Kopf, »du ... du hast Hoffnung ... Ich bin an manchen Tagen ganz niedergeschlagen. Was mich unglücklich macht, ist nicht die harte Arbeit. Im Gegenteil, oft bin ich froh über die Strenge meines Onkels und über die Pflichten, die er mir auferlegt. Er hat recht daran getan, eine Bäuerin aus mir zu machen, sonst wäre es vielleicht schlecht mit mir ausgegangen. Denn, siehst du, Silvère, zuweilen halte ich mich für verflucht ... Dann möchte ich lieber tot sein ... Ich denke an ... Du weißt ja ...«
Bei den letzten Worten brach sich die Stimme des jungen Mädchens in einem Schluchzen.
Silvère fiel ihr mit fast rauem Ton in die Rede.
»Schweig!« gebot er. »Du hattest mir versprochen, nicht so viel daran zu denken. Es ist nicht deine Schuld.« Dann fügte er weicher hinzu: »Wir haben einander doch lieb, nicht wahr? Wenn wir erst verheiratet sind, wirst du keine bösen Stunden mehr haben.«
»Ich weiß«, murmelte Miette, »du bist gut, du streckst mir die Hand hin. Aber es ist nun einmal so, ich habe Angst, ich lehne mich manchmal innerlich auf. Es kommt mir so vor, als habe man mir Unrecht getan, und da packt mich die Lust, böse zu sein. Dir schließe ich mein Herz auf. Jedes Mal, wenn man mir den Namen meines Vaters ins Gesicht schleudert, läuft mir ein Brennen durch den ganzen Körper. Wenn ich über die Straße gehe und mir die Jungen nachschreien: ›Seht! Da geht die Chantegreil!‹, gerate ich ganz außer mir, ich möchte sie packen und sie verprügeln.« Und nach einem scheuen Schweigen fing sie wieder an: »Du, du bist ein Mann, du darfst schießen ... Du hast es gut!«
Silvère hatte sie ausreden lassen. Nach einigen Schritten erwiderte er traurig:
»Du hast unrecht, Miette, dein Zorn ist nicht gut. Man darf sich nicht gegen Recht und Gesetz auflehnen. Ich ziehe in den Kampf für unser aller Recht, ich habe keinerlei Rachegefühle zu befriedigen.«
»Trotzdem«, fuhr das junge Mädchen fort, »möchte ich ein Mann sein und schießen. Ich meine, das müsste mir guttun.« Als Silvère weiterhin schwieg, merkte sie, dass sie ihn verstimmt hatte. Ihre Erregung ließ sofort nach. Mit flehender Stimme stammelte sie: »Du bist mir doch nicht böse? Es ist ja nur dein Fortgehen, was mir Kummer macht und mich auf diese Gedanken bringt. Ich weiß ja, dass du recht hast und dass ich mich bescheiden muss ...« Sie fing an zu weinen.
Silvère war ergriffen, er nahm ihre Hände und küsste sie.
»Sieh doch«, sprach er zärtlich, »aus dem Zorn kommst du ins Weinen, wie ein Kind! Du musst vernünftig sein. Ich schelte dich nicht ... Ich möchte dich nur gern glücklicher sehen, und das hängt viel von dir selber ab.«
Das Geschehen, dessen Erinnerung Miette eben so schmerzlich heraufbeschworen hatte, machte die beiden Liebenden für einige Minuten ganz traurig. Mit gesenktem Kopf gingen sie weiter, von ihren Gedanken verwirrt.
»Hältst du mich eigentlich für so viel glücklicher als dich?« fragte Silvère, der unwillkürlich wieder auf das Gespräch zurückkam, nach einem Augenblick. »Was wäre wohl aus mir geworden, wenn meine Großmutter mich nicht zu sich genommen und großgezogen hätte? Außer Onkel Antoine, einem Arbeiter wie ich, der mir die Liebe zur Republik beigebracht hat, scheinen alle meine übrigen Verwandten Angst zu haben, dass ich sie schmutzig mache, wenn ich auch nur an ihnen vorbeigehe.« Er erregte sich beim Sprechen, blieb stehen und hielt Miette mitten auf der Straße zurück. »Gott ist mein Zeuge«, sprach er weiter, »dass ich niemanden beneide oder verabscheue. Aber wenn wir siegen, werde ich ihnen dennoch die Meinung sagen müssen, diesen feinen Herren. Onkel Antoine weiß allerlei von ihnen zu erzählen. Du wirst schon sehen, wenn wir zurückkommen. Wir alle werden dann frei und glücklich leben.«
Miette zog ihn sanft weiter, und sie setzten ihren Weg fort.
»Du hast deine Republik sehr lieb«, sagte die Kleine mit einem Versuch zu scherzen. »Hast du mich ebenso lieb wie sie?« Sie lachte, doch es war etwas Bitteres in ihrem Lachen. Vielleicht fand sie, dass sich Silvère recht leicht von ihr trennte, um in die weite Welt zu ziehen.
Der junge Bursche antwortete ernst:
»Du, du bist meine Frau. Ich habe dir mein ganzes Herz geschenkt. Versteh, ich liebe die Republik, weil ich dich Hebe. Wenn wir erst verheiratet sind, brauchen wir viel Glück. Und um eines Teils dieses Glücks willen gehe ich morgen früh fort ... Du rätst mir doch nicht etwa, zu Hause zu bleiben?«
»Nein!« rief das junge Mädchen lebhaft. »Ein Mann muss stark sein. Mut ist etwas Schönes! – Du musst mir meine Eifersucht verzeihen! Ich möchte gern genauso stark sein wie du. Dann würdest du mich noch mehr lieben, nicht wahr?« Sie schwieg einen Augenblick, dann fügte sie mit reizender Lebhaftigkeit und Unschuld hinzu: »Ach! Wie gern ich dich umarmen und küssen werde, wenn du zurückkommst!«
Dieser Aufschrei eines liebenden und tapferen Herzens rührte Silvère tief. Er nahm Miette in die Arme und küsste sie ein paarmal auf die Wangen. Lachend wehrte sich die Kleine ein bisschen. Und vor Ergriffenheit hatte sie die Augen voller Tränen.
Rings um die Liebenden schlief die Landschaft im unendlichen Frieden der Winterkälte. Jetzt waren sie auf der Mitte des Abhangs angekommen. Links von ihnen lag ein ziemlich hoher Hügel, auf dessen Gipfel der Mond die Ruinen einer Windmühle mit silbernem Licht übergoss. Nur das Gehäuse, auf einer Seite ganz verfallen, war noch übriggeblieben. Das war das Ziel, das die beiden jungen Leute ihrem Spaziergang gesetzt hatten. Seit sie die Vorstadt hinter sich gelassen hatten, waren sie der Straße gefolgt, ohne auch nur einen einzigen Blick auf die Felder zu werfen, die sie durchwanderten. Nachdem Silvère Miette auf die Wangen geküsst hatte, hob er den Kopf. Jetzt sah er die Mühle.
»Wie schnell wir gegangen sind!« rief er. »Da ist die Mühle. Es muss bald halb zehn sein, wir müssen umkehren.«
Miette verzog schmollend den Mund.
»Lass uns noch ein wenig gehen«, bat sie, »nur ein paar Schritte, bis zu dem kleinen Seitenweg ... Wirklich, nur bis dahin.«