KYLE MILLS
DIE
JÄGERIN
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Bea Reiter
Ich möchte meiner Frau Kim sowie Darrell und Elaine Mills, Robert Gottlieb, Matt Bialer, Caitlin Blasdell, Pete Groseclose und Chris Bruno für ihre Hilfe und Unterstützung danken. Besonderer Dank geht an Bruce Budowle, den DNA-Guru des FBI, der ganz langsam gesprochen hat, als er mir die Wissenschaft hinter CODIS erklärte, und es mit bewundernswerter Geduld ertragen hat, dass meine Fantasie gelegentlich mit mir durchgegangen ist.
Zum ersten Mal seit langer Zeit konnte Quinn die Sonne auf ihrer Haut spüren und sich darüber freuen. Es war zwölf Uhr, und der ruhige Platz, auf dem sie saßen, füllte sich langsam, als die Menschen aus den umliegenden Gebäuden in ihre Mittagspause gingen. Sie lehnte sich noch etwas weiter auf der Bank zurück und spürte, wie die Hitze Arizonas sie wärmte, während sie den Eingang zu dem Gebäude vor sich im Auge behielt.
»Da! Ist er das?«, sagte Eric, der verstohlen auf einen großen, gut angezogenen Mann mit breiten Schultern und kurz geschnittenen Haaren zeigte.
»Nein.«
Quinn widerstand der Versuchung, an nichts zu denken; inzwischen beherrschte sie diesen kleinen Trick schon viel zu gut. Den größten Teil der letzten drei Tage hatte sie am Steuer von Erics Wagen verbracht und nur den Teil der Straße gesehen, den sie brauchte, um keinen Unfall zu bauen. Sie hatte alles verdrängen wollen – das Grauen, das sie in den Fallakten gefunden hatte, die tote Frau in Erics Haus, das Gefühl der Leere, in das sie versunken war, nachdem sie Marin bei der Arbeit zugesehen hatte. Doch vor allem die rasende Wut, die über sie gekommen war, als sie Marin im Lagerraum gesehen hatte, und die perverse Freude, die sie empfunden hatte, als er endlich verbrannt war. Sie fragte sich, ob sie einen flüchtigen Eindruck davon bekommen hatte, was er gefühlt haben musste, während er die Frauen umbrachte.
Doch um diese Erinnerungen fernzuhalten, war sie gezwungen gewesen, alles andere auch zu verdrängen. Und so konnte sie nicht leben. Sie wollte nicht zulassen, dass ihr Marin ihr Leben nahm.
Sie sah zu Eric und musterte sein Profil. Er schien ein völlig anderer Mensch zu sein als an dem Tag, an dem sie ihn kennengelernt hatte. Äußerlich war er natürlich noch der Gleiche – die dunkle, glatte Haut, das lange schwarze Haar, der schmale, muskulöse Körper. Es war etwas in seinen Augen …
Nein, sie hatten sich nicht verändert – sie waren immer noch so grau. Doch jetzt konnte man tiefer in sie hineinsehen.
Eric drehte sich um und sah sie etwas genervt an. »Hör auf damit. Du machst mich nervös.«
»Wie bitte?«
»Du starrst mich an.«
»Tut mir leid. Ich habe mich nur gefragt, an was du gerade denkst.«
»Ich denke an gar nichts.«
»Wirklich?«
»Mein Gehirn ist eine einzige große Leere.«
Sie lächelte, drehte sich aber nicht weg. Eric war der eigentliche Grund dafür, warum sie das, was geschehen war, nicht verdrängen konnte. Denn wenn sie das tat, musste sie ihn ebenfalls aus ihrem Leben streichen.
»Quinn, im Ernst, du machst mich wahnsinnig …«
Sie beugte sich vor und presste ihre Lippen auf seinen Mund. Als sie den Kopf zurückzog, hatte er wieder diesen rätselhaften Ausdruck im Gesicht, aus dem sie einfach nicht schlau wurde.
»Gefällt’s dir nicht?«, fragte sie.
»Ich … na ja …«
Sie küsste ihn noch einmal, und dieses Mal schmiegte sie sich mit ihrem Körper an ihn. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er den anfänglichen Schock überwunden hatte und mitmachte. Er entspannte sich und schlang die Arme um sie. Quinn war sich nicht sicher, seit wann sie ihn eigentlich küssen wollte. Vielleicht schon seit dem Moment, in dem sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte.
Sie hielten sich noch in den Armen, als Quinn die Augen aufmachte und einen Mann sah, der aus dem Gebäude vor ihnen kam. Sie schob ihre Hände auf Erics Brust und stieß ihn weg. »Das ist er!«
»Großartig. Ausgerechnet jetzt«, sagte Eric, während er ihrem Blick folgte. »Wo? Ich seh niemanden.«
»Da vorn! Der Mann, der neben dem Brunnen steht und sich gerade eine Zigarette anzündet.«
Als Eric ihn schließlich entdeckt hatte, verzog er das Gesicht. Quinn packte seine Hand und zog ihn mit sich von der Bank, während sie seine verständliche Enttäuschung ignorierte. Mark Beamons Aussehen war nicht gerade das, was man als vertrauenerweckend bezeichnen würde. Sein Gesicht war ziemlich fett, mit einer fliehenden Stirn unter dem schütteren Haar und pausbäckigen Wangen, die den Kampf gegen die Schwerkraft anscheinend schon aufgegeben hatten. Sein Anzug war gerade aus der Mode gekommen und sah aus, als hätte er ihn gekauft, als er noch fünfzehn Kilo schwerer gewesen war.
Beamon ging weiter, während er dichten Rauch aus seinen Lungen blies und das grüßende Nicken von Passanten mit einem etwas verlegenen Lächeln erwiderte. Das Tempo, das er anschlug, war etwas zu schnell, um normal zu wirken – es sah fast so aus, als würde er flüchten.
»Jetzt komm schon«, sagte Quinn, während sie Eric hinter sich herzog.
»Quinn, bist du dir sicher?«
»Ja, ich bin sicher. Das ist er.«
Sobald Beamon den Platz vor dem neuen Bürogebäude des FBI in Phoenix hinter sich gelassen hatte, wurde er erheblich langsamer. Er zog gemächlich an seiner Zigarette und blieb gelegentlich stehen, um sich die Geschäfte und Restaurants in der Straße anzusehen.
Als sie noch etwa einen Meter hinter Beamon waren, wurde Quinn langsamer und passte sich seiner Geschwindigkeit an.
»Mr Beamon?«, sagte sie, während sie versuchte, nicht nervös zu klingen.
Er drehte sich um und sah sie an. »Hallo. Kennen wir uns?«
»Eigentlich nicht. Nein, Sir.«
»Und was kann ich für Sie tun?«
»Könnte ich … könnte ich ein paar Minuten mit Ihnen reden?«
Es schien eine einfache Frage zu sein, doch er dachte darüber nach, als ginge es um Leben oder Tod. »Sind Sie von der Presse?«
»Nein. Ich habe für das FBI gearbeitet. Genau genommen tue ich das wohl immer noch.«
Beamons Blick ging zu Eric und blieb an dem Bluterguss auf seinem gebrochenen Jochbein hängen. »Und was ist mit Ihnen? Was machen Sie?«
»Ich bin Physiker.«
Beamon zuckte mit den Schultern. »Dann ist es, glaube ich, okay. Ich versuche gerade zu entscheiden, wo ich zu Mittag essen soll. Warum kommen Sie nicht mit?«
Quinn Barry warf einen Blick auf ihre Uhr und verzog das Gesicht. Es war erst 11.30 Uhr, aber sie war schon bei ihrer vierten Tasse Tee und dem fünfzehnten Reiskuchen.
»Dann lassen Sie es heute laufen?«
Quinn zuckte zusammen und stieß den letzten der kleinen Kuchen mit Erdbeergeschmack von ihrem penibel aufgeräumten Schreibtisch. Er schien in Zeitlupe zu fallen und sich so zu drehen, dass er mit der Oberseite auf dem Boden aufkam.
»Quinn?«
»Louis, das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Quinn, während sie sich auf ihrem Stuhl umdrehte. Sie konnte hören, wie sich ihr Südstaatenakzent in ihre Stimme schlich. Egal, wie sehr sie auch übte, er kam immer wieder, wenn sie unter Stress stand. Oder betrunken war.
Louis Crater beugte sich ein wenig vor, was dazu führte, dass sich das Licht der Deckenbeleuchtung auf seiner Glatze spiegelte, sah sie aber nicht an. Stattdessen starrte er auf den Bildschirm, mit jenem strengen Gesichtsausdruck, mit dem er auf alles und jeden reagierte.
»Morgen?«, fragte er, während sein Blick immer noch am Bildschirm hing, obwohl ihm der Code, der darauf zu sehen war, absolut nichts sagte.
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich heute einen umfangreichen Test mit dem forensischen Index laufen lasse und das Ganze ohne Probleme ablaufen dürfte …«
In ihrem letzten Leben als Programmiererin bei einem großen Unternehmen hatte Quinn ständig mit Leuten wie Louis zu tun gehabt. Das und die Tatsache, dass sie zahllose einsame Stunden in düsteren Büros mit zu viel Kaffee und zu viel Junkfood verbracht hatte, war der Grund dafür gewesen, warum sie eineinhalb Jahre nach ihrem Collegeabschluss mit dem Programmieren aufgehört hatte. Stattdessen hatte sie eine Stelle als Sachbearbeiterin beim FBI angenommen, in der Hoffnung, so ihre Chance auf eine Karriere als Ermittlungsbeamtin zu erhöhen.
»Dann also morgen. Habe ich das richtig verstanden, Quinn?«
Etwa zur gleichen Zeit hatte Louis – der Mann, der für CODIS, die DNA-Profil-Datenbank des FBI, verantwortlich war und jetzt wie ein Geier im Aufwind über ihrem Schreibtisch hing – angesichts strikter Sparmaßnahmen das Subunternehmen gefeuert, von dem das System gepflegt wurde. Und dann, zweifellos nur wenige Sekunden danach, hatte er jene verhängnisvollen Worte von sich gegeben, mit denen Abteilungsleiter überall auf der Welt ihre Chefs überzeugen: »Wenn wir das Ganze intern erledigen lassen, können wir das besser und billiger machen.«
»Ja, Louis. Das ist alles kein Problem.« Quinn seufzte.
Und daher war sie jetzt eigentlich wieder genau da, wo sie angefangen hatte – sie schlug sich mit der Umprogrammierung einer riesigen, unübersichtlichen Datenbank herum, allerdings im Auftrag einer Regierungsbehörde und für ein Gehalt, das nur etwa die Hälfte dessen betrug, was sie früher als Programmiererin in der Privatwirtschaft verdient hatte.
»Ich bin wirklich froh, dass wir den Terminplan einhalten können«, sagte Louis, während er sich zu seinen vollen Einsdreiundachtzig aufrichtete und Quinn auf dem herumknabberte, was von dem Radiergummi am oberen Ende ihres Bleistifts noch übrig war. »Quinn, was halten Sie davon, wenn wir uns nach der Arbeit noch auf einen Drink treffen? Dann können Sie mir erklären, was Sie mit der Datenbank gemacht haben.«
Das klang alles andere als verlockend. Und da für die Umschaltung der Datenbank natürlich Murphys Gesetz galt, würde es während ihres Tests mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem systemweiten Crash kommen.
»Ich würde ja gern, Louis, aber ich kann nicht. Ich habe heute Abend schon etwas vor.«
»Mittagessen?«
»Ich habe einer Freundin versprochen, dass ich schnell etwas mit ihr essen gehe«, antwortete Quinn wahrheitsgemäß. »Sie können gern mitkommen. Es wird sicher lustig …«
Er schüttelte den Kopf – leicht verärgert, wie sie dachte – und ging ohne ein weiteres Wort wieder in sein Büro.
Schlecht. Ganz schlecht. Jedes Mal, wenn er ihren Schreibtisch verließ, schien er noch eingeschnappter und mürrischer zu sein. Soweit Quinn das beurteilen konnte, hatten alle, für die sie bis jetzt gearbeitet hatte, etwas gemein: Zum einen hörten sie nur das, was sie hören wollten, und zum anderen machten sie ihren Chefs Versprechungen, die unmöglich zu halten waren. Louis Craters Chancen auf eine Beförderung wurden zumindest zum Teil davon bestimmt, ob dieses Projekt termingerecht und erfolgreich zum Abschluss gebracht werden konnte, während ihre Karriereaussichten ausschließlich von seiner Laune abhingen. Und die war alles andere als gut.
Quinn rückte ihren Stuhl wieder vor die Tastatur und holte tief Luft. Bis zur Mittagspause waren es noch fünfzehn Minuten. Wenn sie sich beeilte, konnte sie die Testroutine starten, bevor sie das Gebäude verließ.
»Rate mal, wer da ist.«
Fast auf die Sekunde genau fünfzehn Minuten später legten sich zwei mit zahlreichen Ringen geschmückte Hände auf Quinns Augen, sodass ihr für kurze Zeit die Sicht auf die Codezeilen, die über den Bildschirm huschten, versperrt war.
»Hallo, Katie.«
Quinn konnte erst wieder etwas sehen, als sich ihre Freundin auf einen leeren Stuhl fallen ließ.
»Was ist mit Mittagessen? Gehen wir?«, fragte Katie, während sie einen Briefbeschwerer aus Messing vom Schreibtisch nahm und ihn mit geheucheltem Interesse untersuchte.
»Ja, klar gehen wir. Ich muss nur schnell was fertig machen.«
Katie beugte sich vor und versuchte, einen Blick auf den Computerbildschirm zu erhaschen. »Pac-Man?«
Quinn verzog das Gesicht und begann, wieder Befehle in den Computer einzugeben, während sich ihre Freundin wie ein hyperaktives Kind auf dem Bürostuhl drehte. »Dieses fensterlose Büro hat was«, sagte Katie, während sie auf die Wände deutete. »Ich war noch nie so tief unter dem J.-Edgar-Hoover-Gebäude. Eigentlich dachte ich ja, dass sie hier die gefolterten Verdächtigen einsperren.«
Quinn schüttelte den Kopf, während sie weiter auf den Bildschirm starrte. »Die sind weiter den Gang runter. Hier werden nur die Mitarbeiter gefoltert.«
»Wenn du glaubst, dass es im dritten Stock oben besser ist, hast du dich geirrt.« Katie beugte sich noch ein Stück vor. »Bist du fertig? Ich bin am Verhungern.«
»Ich muss nur noch eine Suche beginnen, damit sie fertig ist, wenn ich wiederkomme.«
»Was suchst du denn?«
»Einen guten Menschen.«
»Hör auf. Ich komme um vor Neugier. Im Ernst.«
»Phantome.«
»Oh – du darfst es mir nicht sagen, stimmt’s? Es ist streng geheim.«
Quinn drückte die Eingabetaste und rollte mit ihrem Stuhl einen halben Meter nach hinten, während der Computer die Suchparameter verarbeitete. »Eigentlich nicht. Das habe ich ernst gemeint. Weißt du, was der forensische Index ist?«
»Ein Teil der DNA-Datenbank, richtig?«
»Ich bin beeindruckt. Genau genommen handelt es sich bei diesem Index um den Systembereich, in dem Daten zu ungelösten Fällen gespeichert sind. Wenn also irgendein Kerl in Michigan ein Verbrechen begeht und Blut oder Speichel oder was auch immer am Tatort zurücklässt, wird seine DNA-Signatur in die Datenbank der Polizei von Michigan eingegeben, die dann in unseren Zentralcomputer hochgeladen wird. Nehmen wir einmal an, jemand hat bei einem Verbrechen in Kalifornien die gleiche DNA hinterlassen. Dann würde der forensische Index die Übereinstimmung finden und die Polizei beider Staaten darüber informieren, dass die Fälle etwas miteinander zu tun haben.«
»Und nach welchem Phantom suchst du jetzt?«
»Nach mir. Wir mussten Teile der Systemhardware aufrüsten, und ich habe den Code so umgeschrieben, dass er sie akzeptiert. Lange Rede, kurzer Sinn, ich habe eine fiktive DNA-Signatur in die Datenbanken aller fünfzig Staaten eingegeben. Und jetzt werde ich die Suchroutine starten, die ich geschrieben habe, und herausfinden, ob mein Datensatz gefunden wird. Mit etwas Glück kann ich meinen Job behalten.«
»Das nennst du Glück?«, sagte Katie, die sich wieder umsah. »Dann war das also das Problem.«
»Was meinst du damit? Was für ein Problem?«
»Warum du die ganze letzte Woche so ausgesehen hast, als hätte jemand deine Katze mit dem Rasenmäher überfahren.«
Quinn wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm zu und tat so, als würde sie Befehle eingeben, während sie gleichzeitig versuchte, den forschenden Blick ihrer Freundin zu ignorieren.
»Nein, das war’s nicht«, sagte Katie schließlich. »Es geht um David, stimmt’s?«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
Katie täuschte eine Bewegung nach links vor und schnappte sich den Terminkalender, der neben dem Computerbildschirm lag. Quinn war zu langsam und konnte sie nicht aufhalten.
»Katie, gib das her!«
»Das hättest du wohl gern.« Katie rollte außer Reichweite und fing an, in dem Terminkalender zu blättern.
»Katie, das meine ich ernst …«
»16. Juni«, las ihre Freundin. »Mit David Schluss machen.« Sie blätterte einige Seiten weiter. »10. August. David den Laufpass geben. 2. September. David ist ein Idiot.«
Quinn stand auf und riss ihrer Freundin den Terminkalender aus der Hand. »Du hast ja recht. Ich bin ein Feigling. Das brauchst du mir nicht unter die Nase zu reiben.«
»Großer Gott, Quinn, was hält dich eigentlich bei ihm? Mir ist ja klar, dass ein gut aussehender, weltgewandter CIA-Agent mit perfektem Hintern ein Geschenk Gottes für ein Landei wie dich sein muss, aber …«
»He, ich bin kein Landei. Ich komme aus dem Süden. Das ist alles.«
»Ah, ja. Tut mir leid. Jedenfalls ist der Kerl ein Trottel. Was für eine Ausrede hat er denn dieses Mal?«
Quinn seufzte und ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen. »Schon wieder eine Party mit seinen Arbeitskollegen. Du weißt doch, wie sie sind – ein paar Kerle mit langweiligen Haarschnitten, deren Job es ist, den Leuten in Langley Kaffee zu bringen, tun so, als würden sie die Welt regieren. Und immer wenn David mit ihnen zusammen ist, spielt er den Angeber und redet mit mir, als wäre ich geistig minderbemittelt.«
»Erzähl mir was Neues.«
Quinns Blick ging an ihrer Freundin vorbei und blieb an den Männern und Frauen in dem Raum hängen, in dem fast alle Computeranlagen des FBI standen. »Dieses Wochenende wollten wir eigentlich Fallschirmspringen gehen.«
»Fallschirmspringen? Soll das etwa heißen, du wolltest dich aus einem Flugzeug werfen?«
Quinn nickte. »Ich habe einen ganz tollen Kurs gefunden – man macht einen Tag Theorie, und dann lassen sie einen springen. Zwei Leute springen mit, und einer von ihnen filmt dich. Ich habe Monate gebraucht, um David dazu zu bringen, den Kurs mit mir zusammen zu machen, und er hat versprochen, dass wir dieses Wochenende hingehen. Aber jetzt sagt er, dass wir zu dieser Party müssen und dass er sowieso zu viel zu tun hat.«
»Wenn Gott gewollt hätte, dass wir aus Flugzeugen springen, hätte Er uns Flügel gegeben.«
Quinn zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, es wäre mal was Neues. Etwas Aufregendes.«
»Dann musst du jetzt also auf diese Party gehen, dich betrinken und etwas essen, für das du nichts bezahlen musst, anstatt in deinen Tod zu springen.«
»Das ist noch nicht alles.«
»Raus damit.«
»David möchte, dass ich das Kleid trage.«
Katie schlug entsetzt die Hände vors Gesicht. »O mein Gott! Nicht das Kleid!« Sie kreischte so laut, dass alle im Büro stehen blieben und den Kopf in ihre Richtung drehten.
Die beiden Frauen beugten sich zueinander, versteckten sich, so gut es ging, hinter Quinns Schreibtisch und versuchten, einen Lachanfall zu unterdrücken. Als Katie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, drückte sie Quinn mitleidig die Hand. »Nicht das Kleid!«, wiederholte sie, dieses Mal mit Flüsterstimme. »Himmel, alles, nur das nicht.«
Brad Lowell spürte die Augen der Sekretärin auf sich, doch das reichte nicht, um ihn dazu zu bringen, die Tür zu öffnen und hindurchzugehen. Er holte tief Luft und sah sich in dem geräumigen Vorzimmer um, während er sich bemühte, ihrem neugierigen Blick auszuweichen. Die wenigen Möbel sahen teuer und viel zu funktionell aus. Die Wände waren etwas zu weiß und völlig ohne Bilder, was den Eindruck hervorrief, dass der Raum noch nicht ganz fertig war. Doch er wusste, dass dem nicht so war. Die Büroetage hatte sich schon seit Jahren nicht mehr verändert. Genau wie der Mann, für den sie eingerichtet worden war.
»Sie können gleich reingehen«, forderte ihn die Sekretärin auf.
Lowell warf ihr einen Blick zu, und sie lächelte ihm aufmunternd zu. Sie wusste zwar nicht, weshalb er hier war, aber es war klar, dass er nicht der Erste war, der sich nervös vor dem Büro ihres Chefs herumgedrückt hatte.
Lowell drückte den Rücken durch und knöpfte sein Jackett zu, dann stieß er die Tür auf, ging hindurch und zog sie hinter sich zu. Die Luft in dem Raum, in dem er jetzt stand, schien anders zu sein – irgendwie dichter. Er wusste, dass er sich das nur einbildete, doch das beklemmende Gefühl, das ihn überfiel, konnte er trotzdem nicht abschütteln.
Richard Price reagierte auf sein Kommen mit einem kurzen Nicken – nicht mehr und nicht weniger, als die Höflichkeit gebot – und fuhr fort, etwas auf den Block zu schreiben, der genau in der Mitte seines Schreibtisches lag.
Die Lesebrille auf seiner Nase gehörte noch nicht lange zum Inventar, doch nun, da Price auf Ende sechzig zuging, kam sie immer häufiger zum Einsatz. Bis auf die Brille und die an den Schläfen grau werdenden Haare sah er noch genauso aus wie vor fünfzehn Jahren, als Lowell ihn kennengelernt hatte. Unter dem akribisch gebügelten Anzughemd waren breite Schultern zu erkennen, und ein abrupt schmaler werdender Oberkörper, der in einer steinharten Taille endete. Die Kombination aus diesem beeindruckenden Körperbau und der breiten, flachen Nase, auf der die Brille saß, ließ ihn aussehen wie eine Mischung aus pensioniertem Boxer und Intellektuellem – was im Grunde genommen gar nicht einmal so falsch war.
»Was ist passiert, Brad?«, sagte Price, der immer noch nicht den Kopf hob. Lowell starrte auf den vergoldeten Kugelschreiber in der faltigen Hand, der sich über das Papier bewegte.
»Wir hatten ein Problem, Sir.«
»Das habe ich mir schon gedacht. Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass die Operation perfekt vorbereitet war.«
»Die Zielperson hat nicht kooperiert.«
Lowell widerstand der Versuchung, an seiner Krawatte zu zerren, die mit einem Mal etwas zu eng saß. Auch nach all den Jahren konnte Price ihn noch problemlos einschüchtern.
»Wollen Sie noch eine Weile um den heißen Brei herumreden, oder erzählen Sie mir endlich, was passiert ist?«
»Er ist nicht aufgetaucht. Er hat sich ein anderes Opfer und einen anderen Ort gesucht.«
»Was für ein ›anderes Opfer‹?«
Lowell zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche seines Jacketts und las daraus vor, obwohl sich ihm der Inhalt unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt hatte. Er wusste, dass er keinen Fehler machen durfte. Price hatte eine schon fast unheimliche Begabung dafür, sich auf den kleinsten Fehltritt zu stürzen. Und er vergaß nie etwas.
»Mary Dunnigan. Sechsundzwanzig Jahre alt, Wirtschaftswissenschaftlerin, angestellt bei einem Thinktank in Washington. Sie hat dort seit etwas mehr als einem Jahr gearbeitet – die Stelle hat sie direkt nach ihrer Promotion an der Georgetown University angenommen.«
Lowell hob für einen Moment den Kopf, als Price seine Brille absetzte und auf den Schreibtisch legte. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. »Sie hatte seit drei Monaten einen Freund – ein junger Rechtsanwalt, keine Vorstrafen. Die Beziehung scheint nicht sehr eng gewesen zu sein, aber wir haben keinen Hinweis darauf, dass es noch einen anderen Mann in ihrem Leben gab. Bis jetzt hat er zwei Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen, aber er scheint noch nicht sonderlich besorgt zu sein …«
»Was ist mit ihrem Arbeitgeber?«
»Jemand aus der Firma hat eine Nachricht auf ihren Anrufbeantworter gesprochen, nachdem sie heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen ist, aber sie haben lediglich um Rückruf gebeten, anstatt sich Sorgen wegen ihrer Abwesenheit zu machen. Anscheinend hat sie manchmal von zu Hause aus gearbeitet und keine festen Arbeitszeiten eingehalten.«
»Die Polizei?«
»Befasst sich noch nicht damit. Es dürfte wohl Montag, vielleicht sogar Dienstag werden, bis sie als vermisst gemeldet wird. Wenn die Polizei dann erst eingeschaltet wird, wird es so aussehen, als wäre sie gerade erst verschwunden. Irgendwann werden die Beamten mit den Ermittlungen beginnen, aber ich glaube, wir können davon ausgehen, dass sie sich auf ihren aktuellen Freund und ein paar frühere Beziehungen konzentrieren werden. Sie werden kein sehr enges Zeitfenster für ihr Verschwinden ausmachen können, sodass Alibis nur schwer zu ermitteln sein werden. Wir werden die offiziellen Ermittlungen jedenfalls sehr genau beobachten.«
»Es ist also noch einmal gut gegangen.«
»Ich glaube, ja.«
»Dann haben wir Glück gehabt.«
»Ja, Sir. Da ist noch etwas. Aus ihrer Krankengeschichte geht hervor, dass sie als Studentin wegen Depressionen behandelt wurde. Eine der Ursachen war Überarbeitung, es ging aber auch um eine gescheiterte Beziehung. Das dürfte allzu ehrgeizige Ermittlungen der Polizei sehr unwahrscheinlich machen. Man wird wohl einfach annehmen, dass sie …
Price wies auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Sie wissen, was ich von Glück halte …«
»Ja, Sir«, erwiderte Lowell, während er sich setzte. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich jetzt noch unwohler. »So denke ich auch. Aber in diesem Fall …«
»Familie?«
»Beide Elternteile sind noch am Leben und miteinander verheiratet, außerdem hat sie einen jüngeren Bruder. Die ganze Familie lebt in Texas, keine erkennbaren Verbindungen in die Politik oder zur Polizei, kein größeres Vermögen.«
Das Gesicht von Price wurde starr. Er presste die Faust auf die Lippen und schien sich auf den dicken Teppich unter seinen Füßen zu konzentrieren. Lowell kannte diese Angewohnheit und wusste, dass er kein Wort sagen durfte, während Price über das Problem nachdachte. Er nutzte die Zeit, um in Gedanken noch einmal den Rest dessen, was er zu sagen hatte, durchzugehen. Es dauerte fast eine Minute, bis Price sich aus seiner Starre löste.
»Wie ist das passiert, Brad? Wie konnten wir ihn aus den Augen verlieren?«
Mit dieser Frage hatte Lowell gerechnet, und er wusste, dass er seine Antwort vorsichtig formulieren musste. Erklärungen akzeptierte Price, Ausreden dagegen nicht. Dazwischen lag ein schmaler Grat, der manchmal gefährlich sein konnte.
»Sir, ich habe zurzeit nur drei Männer, mit denen ich arbeiten kann. Einer von ihnen ist neu. Ich habe einfach nicht genug Personal, und das bedeutet, dass ich mich fast ausschließlich auf elektronische Überwachungsmöglichkeiten verlassen muss …«
»Und warum ist das ein Problem?«
»Er findet unsere Wanzen und Ortungsgeräte fast schneller, als wir sie installieren können. Und ich glaube, das ist schon die ganze Zeit so gewesen.«
Price rollte seinen Stuhl zurück und konzentrierte sich wieder auf den Teppich, doch dieses Mal ging Lowell das Risiko ein und unterbrach seinen Gedankengang. »Sir, ich glaube, wir verlieren die Kontrolle.«
Price bewegte nur die Augen. Sein Blick ging für einen Moment nach oben und kehrte dann sofort wieder zum Boden zurück. »Die Situation ist zwar ernst, Brad, aber es ist keine neue Situation. Es besteht kein Anlass dazu, übertrieben zu reagieren.«
»Dieses Mal war es anders.« Lowell stellte überrascht fest, dass er laut geworden war. Er sprach leiser, respektvoller weiter, aber er wollte nicht schweigen. Dieses Mal nicht.
»Bis jetzt gab es immer einen Vektor. Wir haben es kommen sehen. Aber dieses Mal war es anders. Zufällig. Willkürlich. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll … Es war wie ein Spiel. Sir, ich weiß nicht, wo das hinführen wird. Ich glaube, es wird Zeit, dass wir unsere Position noch einmal überdenken …« Lowell brach ab, und ein langes Schweigen begann. Er hatte noch mehr zu sagen – nach zehn Jahren hatte sich bei ihm eine Menge Frustration aufgestaut. Doch dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.
»Wir stehlen inzwischen nur noch Zeit, Brad. Und das wissen wir beide«, sagte Price schließlich. »Wir müssen diese Sache so lange wie nur irgend möglich geheim halten.«
»Ja, Sir. Ich verstehe.« Lowell hatte gewusst, dass er nichts ändern konnte. Aber er hatte endlich einmal seine Meinung sagen müssen.
»Und wenn wir das Team verdoppeln? Wäre das eine Lösung?«
Lowell rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er wusste, was Price hören wollte, aber er war nicht bereit, das Unbehagen zu unterdrücken, das ihn angesichts dieses Vorschlags beschlich. »Ich weiß nicht, Sir. Ich weiß es wirklich nicht. Es ist ein Risiko, noch mehr Leute ins Boot zu holen. Und ich kann nicht garantieren, dass der Nutzen das Risiko wert ist.«
»Ich glaube nicht, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt eine Alternative haben.« Price kritzelte etwas in seinen Terminkalender. »Machen Sie mir eine Liste mit Kandidaten, Brad. Wir treffen uns heute Nachmittag um vier Uhr, um die Leute auszusuchen.«
Quinn Barry lächelte immer noch, als sie das Computerzentrum des FBI wieder betrat. Selbst das depressive Grau des riesigen Raums und die ernsten Mienen der Leute, die dort arbeiteten, schafften es nicht, das Lächeln aus ihrem Gesicht zu vertreiben. Nach knapp einer Stunde mit Katie und ihrer fast schon manischen Energie, ihren unausgegorenen Theorien und ihrem schamlosen Flirt mit dem zugegebenermaßen hinreißend aussehenden Kellner brauchte es schon etwas mehr als den allgegenwärtigen Geist von J. Edgar Hoover, um ihr die Laune zu verderben. Und wenn der Test mit dem forensischen Index funktioniert hatte, war sie vielleicht sogar in der Lage, Davids Party am Abend ohne ihr übliches Dutzend mit Wasser verdünnten Wodka Tonics durchzustehen.
Sie warf nicht einmal einen flüchtigen Blick auf den Bildschirm, als sie sich auf ihren Stuhl fallen ließ. Stattdessen griff sie sich ihre Tasse und sah sich verstohlen um. Als sie einigermaßen sicher sein konnte, dass sie gerade unbeobachtet war, drehte sie die Tasse genau einmal herum und klopfte dann zweimal damit auf ihren Schreibtisch. Es war ein Ritual, das sie sich in ihrer Zeit als Programmiererin angewöhnt hatte. Okay, es war ausgesprochen albern, aber nicht annähernd so kompliziert wie manche der Zwangshandlungen, die andere Programmierer entwickelt hatten.
Quinn nahm einen Kugelschreiber und stupste damit ihre Maus an. Einen Moment später erwachte der Bildschirm zum Leben, und sie konnte zusehen, wie sich einige Worte bildeten.
SUCHE 1 ABGESCHLOSSEN
SUCHE 2 ABGESCHLOSSEN
Nachdem sie einen tiefen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen hatte, gab sie ein paar Befehle in das System ein und vergewisserte sich, dass die beiden getrennten Suchmaschinen ihre Aufgaben tatsächlich abgearbeitet hatten. Und – was noch wichtiger war –, dass die zweite Suchmaschine, die sie geschrieben hatte, nicht gecrasht, explodiert, abgebrochen oder in eine Schleife gegangen war. Quinn startete einen Druckjob und sah sich noch ein paar kleinere Details an, während die Suchergebnisse auf dem Drucker an der Wand hinter ihr ausgegeben wurden, den sie sich mit ihren Kollegen teilte. Als sie die Programmstatistiken durchsah, wurde ihr Lächeln noch breiter. Ihre Suchmaschine war ganze 75 Prozent schneller gelaufen als die andere und hatte erheblich weniger Bandbreite benutzt.
»Schätzchen, du bist genial«, flüsterte sie, während sie sich mit den Füßen vom Boden abstieß und den Bürostuhl zum Drehen brachte. Als er zum Stehen kam, sprang sie auf und lief zum Drucker. Die Ergebnisse des ersten Programmlaufs – die Suchmaschine, die ursprünglich für CODIS programmiert worden war – lagen bereits im Ausgabefach des Druckers. Wie erwartet, hatte die Suchmaschine einwandfrei, aber fantasielos funktioniert und jede der fünfzig erfundenen DNA-Signaturen, die sie in die Datenbanken der Bundesstaaten eingestellt hatte, richtig zugeordnet und den Standort des kriminaltechnischen Labors sowie die entsprechenden Fallnummern ausgespuckt. Als die Ergebnisse ihrer eigenen Suchmaschine aus dem Drucker kamen, schnappte sie sich das Papier und überflog das Ergebnis.
Die beiden Berichte sahen identisch aus.
»Ja!«, rief sie triumphierend, während sie mit der Faust auf den Drucker schlug. Dann sah sie die pikierten, leicht verärgerten Mienen ihrer Kollegen. »Entschuldigung«, murmelte sie. Sie bemühte sich, einen ernsten Gesichtsausdruck aufzusetzen und nicht zu lachen, als sie wieder zu ihrem Schreibtisch ging.
Sie setzte sich auf ihren Stuhl und fuhr mit dem Finger über die Datenspalten auf dem Ausdruck. Es war alles da – ihre erfundene DNA-Signatur mitsamt Fallnummer, die Standorte der Labors, beginnend mit Alabama – Nummer eins – und endend mit Wyoming, Nummer … Als sie die Zahl sah, die auf den Eintrag für Wyoming folgte, blieb ihr ein weiterer triumphierender Ausruf in der Kehle stecken. Fünfundfünfzig.
Unwillkürlich runzelte sie die Stirn und schob die Brille auf ihrer Nase zurecht, um sich besser auf den Ausdruck konzentrieren zu können. Fünfundfünfzig?
Sie fuhr mit dem Finger auf der Seite nach oben und fand den ersten Übeltäter fast sofort. Für das Labor in Pennsylvania waren zwei Treffer aufgeführt. Einer mit ihrer erfundenen DNA-Signatur und ein zweiter mit einer Signatur, die ihr unbekannt war. Sie zog einen Kugelschreiber aus der Tasche und malte einen Kreis um die rätselhaften Daten. Dann suchte sie nach dem Rest.
Zwei Minuten später hatte sie alle Treffer markiert. Für Pennsylvania, Oregon, Oklahoma, Maryland und New York war die gleiche unbekannte DNA ausgegeben worden. Aber es ergab keinen Sinn – es hätte funktionieren müssen. Sie starrte mit leicht geöffnetem Mund auf den Ausdruck und versuchte herauszufinden, wo sie einen Fehler gemacht hatte.
Ihre Suchmaschine hatte genau das getan, wozu sie programmiert worden war – sie hatte zwischen den erfundenen DNA-Signaturen, die von Quinn in den Computer jedes einzelnen Bundesstaates eingegeben worden waren, eine Verbindung hergestellt und diese als Serie von Verbrechen dargestellt, die von ein und demselben, nichtexistenten Täter in allen amerikanischen Bundesstaaten begangen worden waren. Aber was zum Teufel hatte die anderen fünf Treffer ausgelöst? Die DNA-Signatur war in allen fünf Fällen die gleiche, von CODIS aber noch nie als Übereinstimmung identifiziert worden. Quinn legte den Kopf in die Hände, schloss die Augen und sperrte die Daten vor sich aus. Wo hatte sie Mist gebaut? Sie hatte fast denselben Algorithmus wie vorher benutzt, da die meisten Änderungen mit der Hardwarekompatibilität zu tun hatten.
Nachdem sie fünf Minuten lang angestrengt nachgedacht hatte, ergab es immer noch keinen Sinn. Sie wäre nicht überrascht gewesen, wenn das gesamte System gecrasht wäre. Oder wenn ihr Programm überhaupt keine Verbindungen gefunden hätte. Sie hätte sich selbst dann nicht gewundert, wenn es eine unendliche Anzahl von Verbindungen gefunden hätte. Aber fünf?
Als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, erschrak Quinn so sehr, dass sie ihren Kugelschreiber gegen den Bildschirm warf. Sie drehte den Kopf nach hinten und stellte fest, dass ihr Chef, der fast immer mit todernstem Gesicht durch das Büro ging, zur Abwechslung einmal amüsiert aussah.
»Louis. Tun Sie das nie wieder.«
»Sie sind doch nicht etwa nervös? Vielleicht würde es helfen, wenn Sie nicht mehr so viel von diesem Tee trinken würden.«
»Wenn etwas in einem Karton steckt, der mit fröhlichen Hippie-Motiven bedruckt ist, kann es nicht schlecht für mich sein«, erwiderte Quinn, während sie sich krampfhaft um einen lockeren Ton bemühte.
»Ich habe Sie bis in mein Büro brüllen hören. Es klang, als hätten Sie mir etwas zu sagen. Und ich hoffe, es ist etwas Gutes.«
Quinn erstarrte für einen Moment, fing sich dann aber gleich wieder und zwang sich zu einem Lächeln. »Etwas Gutes. Oh, ja, natürlich. Mit Sicherheit etwas Gutes.«
»Dann läuft das System?«
»Der Suchmaschinentest für den forensischen Index hat hervorragend funktioniert«, log sie. »Er war erheblich schneller als das alte System.«
Louis schlug mit der flachen Hand auf die Rückenlehne von Quinns Bürostuhl, und sie zuckte schon wieder zusammen. »Großartig! Das ist großartig, Quinn. Kann ich das so weitergeben?«
»Ähm, ja, natürlich. Aber Sie wissen, dass ich noch nicht fertig bin, ja? Ich habe ja schon gesagt, dass es noch ein paar Details gibt, die ausgebügelt werden müssen, und beim Betatesten werden mit Sicherheit noch ein paar Fehler auftreten …«
»Ja, natürlich«, erwiderte Louis, aber es schien, als würde er ihr gar nicht zuhören. »Gute Arbeit, Quinn. Gute Arbeit.«
Sie sah zu, wie er davoneilte, und spürte, wie ihr Lebenswille abrupt auf null sank. Das eben gehörte nicht gerade zu den intellektuellen Höchstleistungen in ihrem Leben. Louis war in Gedanken sicher schon dabei, seinen Chef anzurufen und ihm zu erzählen, dass das neue System »voll funktionsfähig« sei. Computerlaien liebten diesen Ausdruck – »voll funktionsfähig«. Morgen würde sie von alten Knackern in Anzügen umgeben sein, die alle eine Demonstration wollten.
Und was konnte sie ihnen zeigen? Ein System, das unsinnige Daten ausgab, was von einem Programmfehler verursacht wurde, von dem sie nicht einmal wusste, wo sie ihn suchen sollte. Die Herren in den Anzügen würden sie mit Sicherheit umgehend nach Quantico zur Ausbildung als FBI-Beamtin schicken. Nachdem Weihnachten und Ostern auf denselben Tag gefallen waren.
Quinn sah auf die Uhr. Sie hatte noch fünf Stunden, bevor David sie von zu Hause abholen würde, um mit ihr zu der Party zu gehen. Zwar spielte sie kurz mit dem Gedanken, ihn anzurufen und abzusagen, doch das wäre das vierte Mal hintereinander, und sie hatte einfach keine Kraft mehr für einen Streit mit ihm.
Sie ließ noch einen Teebeutel in die Tasse fallen, die nicht länger ihre Glückstasse war, und ging zur Kaffeemaschine, um sich heißes Wasser zu holen. Dann musste sie es eben an diesem Nachmittag schaffen.
»Steigen Sie aus.«
Geller tat, wie ihm geheißen wurde. Er stieß die Tür des Vans auf, stieg aus und versank sofort in knöcheltiefem Schlamm.
Dem Wetterbericht im Radio zufolge war der Hurrikan Bart zu einem Tropensturm herabgestuft worden, doch der Unterschied schien rein theoretisch zu sein, da Geller sich gegen Windgeschwindigkeiten von 80 km/h stemmen musste. Der in Strömen fallende Regen durchnässte ihn innerhalb von Sekundenbruchteilen bis auf die Haut und verstärkte das Gefühl der Kälte, das er nicht mehr abschütteln konnte, selbst nachts nicht, wenn er in seinem Bett lag.
Geller versuchte, im Licht der Autoscheinwerfer zu bleiben, stellte jedoch fest, dass sie den Regen reflektierten und ihn blendeten. Er drehte sich zum Van hin und fuhr sich mit dem Finger über die Kehle. Einen Moment später wurde das Licht abgeschaltet, und er war allein mit der Dunkelheit und dem Brüllen des Sturms.
Vorsichtig ging er weiter. Den Maschendrahtzaun vor sich sah er erst, als er nur noch wenige Schritte davon entfernt war. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er den richtigen Schlüssel am Bund gefunden hatte, doch nach einigen Versuchen gelang es ihm, das schwere Vorhängeschloss aufzusperren und die Kette abzuziehen, mit der das Tor verschlossen war.
»Los!«, brüllte er, während er gegen den Wind ankämpfte und das Tor aufmachte. Der Van rollte darauf zu, ein dunkler Schatten, der langsam durch die Pfützen an ihm vorbeifuhr.
»Haben Sie das Tor wieder abgeschlossen?«
Geller fuhr sich mit der Hand durch seine kurzen Haare und versuchte, so viel Wasser wie möglich aus ihnen herauszubekommen, während er sich auf den Beifahrersitz schob. »Nein, Sir. Ich habe die Kette durch das Tor geschoben und das Schloss eingehängt, es aber nicht einschnappen lassen. So, wie Sie es angeordnet haben.«
Brad Lowell reagierte auf die Antwort lediglich, indem er das Gaspedal durchtrat und den Van mit einem kräftigen Ruck in Bewegung setzte. Die Dunkelheit, der Regen und die beschlagenen Fenster schienen ihm nichts auszumachen, während er mit zunehmender Geschwindigkeit durch die teilweise überfluteten Straßen fuhr. Geller fragte sich, wie oft er wohl schon durch den aufgelassenen Armeestützpunkt gefahren sein musste, um unter diesen Wetterbedingungen so präzise manövrieren zu können. Nachdem er kurz überlegt hatte, kam er allerdings zu dem Schluss, dass er es gar nicht wissen wollte.
»Wie weit noch?«, fragte Geller, nicht so sehr aus Interesse, sondern eher, um dem Schweigen im Wagen ein Ende zu machen. Lowell hatte dieses Bedürfnis offenbar nicht.
Schließlich lehnte Geller den Kopf ans Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Die meiste Zeit über sah er nur den unablässig fallenden Regen, doch alle paar Sekunden tat sich eine Lücke in dem dichten Vorhang aus Wasser auf, die ihm einen Blick auf die Umgebung gestattete. Dann tauchten wie geisterhafte Schemen quadratische, eng beieinanderstehende Gebäude aus der Dunkelheit auf, die genauso schnell wieder in dem Gewitter verschwanden. Alles sah tot aus. Wie das, was hinter ihnen lag.
Er streckte die Hand aus und stützte sich ab, als Lowell das Steuer des Vans nach rechts riss, den Rückwärtsgang einlegte und nach ein paar Sekunden abrupt zum Stehen kam. »Los«, sagte er, während er die Tür neben sich aufstieß und aus dem Wagen sprang. Geller saß wie erstarrt da, die Hand auf das Armaturenbrett gestützt. Er hörte, wie die hinteren Türen des Vans aufgerissen wurden.
»Geller! Setzen Sie endlich Ihren Arsch in Bewegung. Sofort!«
Er holte tief Luft und zwängte sich zwischen den beiden Sitzen hindurch, um in den hinteren Teil des Vans zu gelangen. Die Innenraumbeleuchtung war ausgeschaltet worden, sodass er sich nur am Licht der Scheinwerfer orientieren konnte, das durch die Windschutzscheibe reflektiert wurde.
»Haben Sie’s?«
Geller beugte sich vor und packte sein Ende des in eine Plastikplane eingewickelten Pakets. Dann wuchtete er es hoch und ging mit kleinen Schritten in Richtung Ausstieg, während Lowell das andere Ende aus dem Van bugsierte.
Geller schaffte es, das Paket nicht fallen zu lassen, als er die sechzig Zentimeter von der Ladefläche bis zum Boden sprang, doch im Regen wurde die Kunststoffplane immer glatter, als sie sich auf eine zweiflügelige Tür in einem verfallenen Lagerhaus zubewegten. Drei Meter vor dem Gebäude rutschte ihm die Plane aus den Händen, und sein Ende fiel in das Wasser, das ihm um die Knöchel floss.
»Großer Gott, Geller!«
»Tut mir leid«, sagte Geller leise, der spürte, wie ihm trotz des kühlen Regens, der über sein Gesicht lief, die Hitze in die Wangen stieg. »Ich …«
»Heben Sie’s auf!«
Geller ging in die Hocke und versuchte vergeblich, die nasse Plane zu packen, doch sie rutschte ihm immer wieder aus den Händen. Dieses Mal sprach Lowell langsamer als sonst und betonte jedes einzelne Wort. Seine fast schon mechanische Gelassenheit war verschwunden, und Geller hörte die Wut in seiner Stimme. »Wenn Sie das jetzt nicht sofort aufheben …«
Geller schloss die Augen und zwang sich dazu, die Arme um sein Ende des Pakets zu schlingen und die Hände darunter zu verschränken. Jetzt konnte er alles spüren. Jeden Knochen, jede Rundung des Körpers. Die Leichenstarre war inzwischen vollständig ausgebildet, und das Paket fühlte sich an wie eine Statue. Die Statue einer toten Frau, die ein paar Jahre jünger gewesen war als er.
Plötzlich wurde ihm flau im Magen, doch er unterdrückte das Gefühl und weigerte sich, seinem sich sträubenden Verstand die Kontrolle über seinen Körper zu überlassen. Wenigstens hatte er nicht die andere Seite des Pakets bekommen, sagte er zu sich, während sie das Paket durch die Tür wuchteten und einen Korridor hinuntergingen. Das wäre noch schlimmer gewesen. Er wusste nicht, ob er es ertragen hätte, ihre gebrochenen, zusammengezerrten Beine unter seinen Händen zu spüren.
»Hier rauf.«
Nachdem Geller ihm geholfen hatte, die Leiche der Frau auf ein Förderband aus Stahl in dem ansonsten völlig leeren Raum zu schwingen, trat er einen Schritt zurück. »Sir, es tut mir leid, dass ich …«
»Sie haben das ganz gut gemacht.« Lowell hatte seine Fassung wiedergewonnen und schien das Missgeschick schon vergessen zu haben, als er einen der Knöpfe drückte, die in die Wand aus Beton eingelassen waren. Mit einem Mal übertönten knarrende Metallräder und zischendes Gas das Brüllen des Sturms, das bis in das baufällige Gebäude drang.
Geller starrte das Paket – die Frau – an, während es sich auf eine kleine Öffnung in der Wand zubewegte, die links und rechts von schweren Türen aus Metall flankiert wurde. In der schwarzen Kunststoffplane und dem Isolierband spiegelten sich matt die Stichflammen, die aus Rohren in dem Loch am Ende des Förderbands schossen.
»Wie lange wird es dauern?«, hörte sich Geller sagen.
Als die Leiche in dem Loch verschwunden war, schlug Lowell die Türen zu und verriegelte sie.
»Nicht lange. Eine Stunde. Vielleicht etwas länger.«
Geller nickte stumm. Er konnte seinen Blick nicht von den kleinen Türen abwenden, durch die hörbar zischend das Gas entwich. Als er die Hitze auf seiner Haut spürte, versuchte er, ihr zu entkommen, und machte ein paar Schritte rückwärts.