DAS BUCH
Die 2080er-Jahre: Commander Howard Falcon verliert beim Absturz seines Luftschiffes Queen Elizabeth IV beinahe sein Leben und kann nur dank modernster Cyborg-Technologie gerettet werden. Von nun an ist er so gut wie unsterblich. Halb Mensch, halb Maschine wird er immer wieder aufs Neue modifiziert und auf den aktuellsten Stand der Technik gebracht.
Die 2090er-Jahre: Dank seiner einzigartigen Fähigkeiten wird Howard Falcon zu einem Botschafter der Menschheit im Universum. Als erster erkundet er die Atmosphäre des Jupiter – und entdeckt dort eine Welt, von der er niemals zu träumen wagte. Er unternimmt immer spektakulärere Missionen im Sonnensystem, führt wissenschaftliche Expeditionen durch und nimmt Kontakt zu fremden Lebensformen auf.
Die 2280er-Jahre: Howard Falcon ist eine Berühmtheit, doch auf der Erde steht man ihm, wie jeder intelligenten Technologie, zunehmend kritisch gegenüber. Als ein seit Langem schwelender Konflikt zwischen Menschen und Maschinen zu eskalieren droht, ist Falcon der Einzige, der zwischen den beiden Welten vermitteln kann. Sollte er jedoch scheitern, steht die Menschheit am Rande eines Krieges, der die Grenzen des Sonnensystems zu sprengen droht …
DIE AUTOREN
Stephen Baxter, 1957 in Liverpool geboren, studierte Mathemathik und Astronomie, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Baxter lebt und arbeitet im englischen Buckinghamshire. Zuletzt sind auf Deutsch seine Romane Proxima und Ultima erschienen.
Alastair Reynolds wurde 1966 im walisischen Barry geboren. Er arbeitete lange Jahre als Astrophysiker für die ESA, bevor er sich als freier Schriftsteller selbstständig machte. Reynolds lebt in der Nähe von Leiden in den Niederlanden. Zuletzt ist auf Deutsch sein Roman Okular erschienen.
Mehr über die Autoren und ihre Werke erfahren Sie auf:
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STEPHEN BAXTER
ALASTAIR REYNOLDS
DIE
MEDUSA
CHRONIKEN
ROMAN
Mit Arthur C. Clarkes Story
»Ein Treffen mit Medusa«
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der englischen Originalausgabe
THE MEDUSA CHRONICLES
Deutsche Übersetzung von Peter Robert
Die Novelle A MEETING WITH MEDUSA übersetzte Eva Malsch
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Deutsche Erstausgabe 11/2016
Redaktion: Ralf Dürr
Copyright © 2016 by Dendrocopos Ltd. und Stephen Baxter
»Ein Treffen mit Medusa«: Copyright © 1971 by Rocket Publishing Company Ltd.
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, nach dem Originalcover von Blacksheep
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN 978-3-641-19300-3
V001
www.diezukunft.de
Inhalt
Wie alles begann
Prolog
ERSTER TEIL – Begegnung in der Tiefe
ZWEITER TEIL – Adam
DRITTER TEIL – Rückkehr zum Jupiter
VIERTER TEIL – Die schwierigen Jahrhunderte
FÜNFTER TEIL – Parlamentär
SECHSTER TEIL – Der innere Jupiter
Erster Epilog
Zweiter Epilog
Nachwort der Autoren
ANHANG – Arthur C. Clarke: »Ein Treffen mit Medusa«
In Gedenken an
Sir Arthur C. Clarke
Wie alles begann
Arthur C. Clarke: »Ein Treffen mit Medusa« (1971):
In den Achtzigerjahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts trägt Howard Falcon, Kapitän des Luftschiffs Queen Elizabeth IV, bei dessen Absturz schwere Verletzungen davon. Experimentelle Cyborg-Chirurgie rettet ihm das Leben.
In den Neunzigerjahren bricht Falcon mit einem Ballonfahrzeug namens Kon-Tiki zu einer Solo-Mission in die Jupiterwolken auf. Dort findet er eine exotische Umgebung vor, deren Ökologie von riesigen »Pflanzenfressern« beherrscht wird, die er »Medusen« nennt; sie werden von »Flügelrochen« gejagt.
Die kybernetische Chirurgie hat Falcon mit übermenschlichen Fähigkeiten ausgestattet, ihn jedoch von der Menschheit isoliert, denn es wird keine weiteren derartigen Experimente geben. Aber Falcon »empfand einen feierlichen Stolz auf seine einzigartige Einsamkeit. Er war das erste unsterbliche Mittelding zwischen zwei Produkten der Schöpfung. Immerhin würde er ein Botschafter sein – zwischen dem Alten und dem Neuen – zwischen den Kreaturen aus Kohlenstoff und den Kreaturen aus Metall, die eines Tages die Oberhand gewinnen würden. Beide würden ihn brauchen in den schwierigen Jahrhunderten, die der Welt bevorstanden.«
Dieses Buch erzählt die Geschichte jener schwierigen Jahrhunderte.
Prolog
Falcon würde den Tag, an dem er angefangen hatte, von der Flucht in den Himmel zu träumen, für immer in Erinnerung behalten.
Commander Howard Falcon, World Navy, war damals nur Howard gewesen, elf Jahre alt, zu Hause in Yorkshire, England, einer Region, die zu einer föderalen Zone der neuerdings vereinigten Welt gehörte. Und während der Nacht hatte es geschneit.
Mit dem Ärmel seines Bademantels fuhr er über mehrere Scheiben des Fensters und wischte den Beschlag weg. Auf der Außenseite jedes kleinen Glasquadrats hatte sich am unteren Rand und in einer Ecke ein präziser L-förmiger Schneebelag angesammelt. In den Tagen zuvor hatte es häufiger geschneit, aber nie so stark wie in dieser Nacht. Und der Schnee war genau zur richtigen Zeit gekommen, ein Weihnachtsgeschenk des Globalen Wettersekretariats.
Der Garten, den Howard kannte, hatte sich verwandelt. Er wirkte breiter und länger, von den Hecken zu beiden Seiten bis zu dem Zaun mit dem Zickzackmuster am Ende der sanft abfallenden Rasenfläche, auf dem ein Grat aus Schnee lag, hübsch wie die Verzierung eines Geburtstagskuchens. Es sah alles so kalt und still aus, so einladend und geheimnisvoll.
Und der Himmel über dem Zaun und den Hecken war klar, wolkenlos und zu dieser noch frühen Stunde von einem zarten blassrosa Pink durchzogen. Howard schaute lange zum Himmel hinauf und fragte sich, wie es wohl wäre, über der Erde zu sein, von nichts als Luft umgeben. Es würde kalt sein da oben, aber für die Freiheit des Fliegens nähme er das in Kauf.
Hier, im Wohnzimmer des Landhauses, war es jedoch warm und behaglich. Als Howard aus seinem Zimmer heruntergekommen war, hatte er festgestellt, dass seine Mutter schon auf war und Brot backte. Sie hatte ein Faible fürs Traditionelle. Sein Vater hatte Feuer im Kamin gemacht, und jetzt knisterte und zischte es. Auf dem Kaminsims prangte eine Sammlung von Nippes und Souvenirs, darunter ein unbeholfen zusammengebasteltes Modell auf einem durchsichtigen Kunststoffständer: ein Heißluftballon mit offener Gondel und einer Plastikhülle darüber.
Howard suchte sich sein Lieblingsspielzeug und stellte es aufs Fensterbrett, damit es den Schnee ebenfalls sehen konnte. Der goldglänzende Roboter war ein kompliziertes Ding, auch wenn er wie eine Antiquität aus dem Radiozeitalter aussah. Howard hatte ihn erst vor ein paar Monaten bekommen, zu seinem elften Geburtstag. Er wusste, dass seine Eltern viel Geld dafür bezahlt hatten.
»Es hat geschneit«, sagte Howard zu dem Spielzeug.
Der Roboter summte und ratterte zum Zeichen, dass er überlegte. Irgendwo in seinem Labyrinth aus Schaltkreisen und Prozessoren gab es einen Spracherkennungs-Algorithmus.
»Wir könnten einen Schneemann bauen«, sagte das Spielzeug.
»Ja«, stimmte Howard mit einem leisen Anflug von Enttäuschung zu. Auf ein bestimmtes Stichwort reagierte der Roboter fast immer mit derselben Antwort; wenn man Schnee erwähnte, schlug er vor, einen Schneemann zu bauen. Keinen Schnee-Engel. Er schlug auch nie eine Schneeballschlacht oder eine Schlittenfahrt vor. Eigentlich überlegte er gar nicht, dachte Howard ein wenig betrübt. Trotzdem liebte er ihn.
»Komm, Adam«, sagte er schließlich. Er nahm den Roboter vom Fensterbrett und klemmte ihn sich unter den Arm.
Leise, damit seine Mutter ihm nicht damit in den Ohren lag, dass er wärmere Sachen anziehen sollte, bevor er das Cottage verließ, ging er zum Schrank unter der Treppe, um seinen Schal zu holen. Dann fiel ihm ein, dass er versprochen hatte, etwas zu erledigen. Mit dem Schal um den Hals kehrte er ins Wohnzimmer zurück und stocherte mit dem Schürhaken in den Kohlen, um die Glut anzufachen. Einen Moment lang starrte Howard wie gebannt in die Tiefen des Feuers; er sah Gestalten und Phantome im Tanz der Flammen.
»Howard!«, rief seine Mutter aus der Küche. »Zieh deine Stiefel an, wenn du rausgehst …«
Howard tat so, als hätte er nichts gehört, und schlich sich hinaus; leise schloss er die Tür hinter sich. Er überquerte das makellose Weiß des schneebedeckten Rasens. Seine Hausschuhe hinterließen Abdrücke im Schnee. Die Luft war ohnehin kühl, aber durch die Schuhsohlen drang bereits eine feuchtere, entschlossenere Kälte an seine Füße. Er stellte Adam auf den Steinsockel eines Vogelhäuschens, von wo aus er die Geschehnisse überwachen konnte.
Howard begann, Schnee aufzuhäufen.
»Das ist ein guter Anfang«, sagte Adam.
»Ja, es geht voran.«
»Du wirst eine Möhre für die Nase und ein paar Knöpfe für die Augen brauchen.«
Er arbeitete weiter. Nach einer Weile spornte ihn Adam erneut an. »Ein sehr guter Schneemann, Howard.«
In Wahrheit war der Schneemann ein klobiges, missgestaltetes Gebilde, das eher einem Ameisenhaufen als einem Menschen ähnelte. Howard brach ein paar Zweige ab und steckte sie in die zusammengesackte weiße Masse. Er trat zurück, die Hände in den Hüften, als würde sich sein halbherziger Versuch gleich in etwas verwandeln, was Anerkennung verdiente.
Aber mit den Zweigen sah der Schneemann noch trauriger aus.
»Schau«, sagte Adam. Er hob einen starren Arm und zeigte zum Himmel.
Howard kniff die Augen zusammen. Zunächst sah er nichts. Aber da war es. Eine winzige, nach unten hin verlängerte Kugel bewegte sich durch die Luft; unter ihr hing ein noch winzigerer Korb. Aus dem Apparat über dem Korb züngelte immer wieder eine Flamme empor, ein kurzes Aufblitzen vor dem heller werdenden Himmel. Die Sonne musste über den Horizont gekrochen sein, zumindest auf der Höhe des Ballons, denn eine Seite seiner Hülle zeichnete sich als goldene Sichel ab.
Howard konnte den Blick einfach nicht abwenden. Er liebte Ballons. Er hatte sie in Büchern und Spielfilmen gesehen. Er hatte Modelle gebaut. Er verstand sogar einigermaßen, wie sie funktionierten. Aber jetzt sah er zum ersten Mal einen mit eigenen Augen.
Der Ballon verschwand hinter dem Cottage außer Sicht. Howard musste ihn weiter beobachten. Fast ohne den Blick zu senken, schnappte er sich Adam und rannte los, mitten durch den missratenen Schneemann, sodass dieser umkippte und zu Boden stürzte.
»Ich will da oben sein«, rief Howard.
»Ja, Howard«, sagte Adam geduldig, während sein Kopf immer wieder auf den Boden schlug.
»Da oben!«
ERSTER TEIL
Begegnung in der Tiefe
2099
1
Die Wellen des winterlichen Ozeans krachten gegen den Rumpf und spien ihre Gischt über die Bugreling. Sie hätten ebenso gut gegen Felswände anstürmen können, was ihre Wirkung auf das große Schiff betraf. An Deck war nichts von der Dünung zu spüren, nicht das geringste Schaukeln. Die Sam Shore fühlte sich so stabil und ruhig an, als wäre sie am Meeresgrund verankert.
Was stimmte also nicht?
Falcons Blick huschte nach backbord und nach steuerbord.
Heranzoomen und scharf stellen.
Maschinen tummelten sich im grauen Wasser. Dank ihrer fahlweißen Körper waren sie leicht mit Lebewesen zu verwechseln.
Verfolgen und vergrößern.
Die schnittigen Gebilde, jedes ein paar Meter lang und mit Kameras, Greifarmen und miniaturisierten Sonarkapseln ausgerüstet, schwammen anmutig neben dem riesigen Schiff her. Manchmal kamen sie beunruhigend nah heran, und Falcon fragte sich, ob diese Aktivitäten bei der kabbeligen See wirklich ungefährlich waren. Was, wenn sie mit dem Rumpf des Flugzeugträgers kollidierten? Die Sicherheit von Präsidentin Jayasuriya stand auf dem Spiel …
»Na, halten Sie Ausschau nach Walen, Howard?«
Falcon drehte sich einigermaßen widerwillig um. Die Ballonräder seines Untergestells rutschten über das feuchte Deck. Aber schließlich war er hier, um Menschen um sich zu haben; nicht einmal Howard Falcon war ein solcher Einsiedler, dass er eine Einladung der Weltpräsidentin abgelehnt hätte, Silvester mit ihr auf dem größten Kreuzfahrtschiff der Welt zu verbringen. Schon gar nicht dieses Silvester, die Geburt des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts. Und es überraschte ihn nicht, wer ihn da gefunden hatte, mit niemand Geringerem als der Kapitänin im Schlepptau. Beide beschirmten sie das Gesicht gegen die Kälte und die Gischt und kniffen die Augen fest zusammen.
»Geoff Webster«, sagte Falcon. »Kaum steige ich aus dem Shuttle, haben Sie mich auch schon aufgespürt.«
Webster grinste. »Jedes Mal, wenn Sie aus dem Weltraum herunterkommen, Howard, höre ich Himmelstrompeten.«
Administrator Webster, über sechzig Jahre alt, war einer von Falcons ältesten Freunden, einer der wenigen, mit denen er nach dem Unfall der Queen Elizabeth IV in Kontakt geblieben war. Websters Benehmen gegenüber Falcon hatte sich seit dessen Rekonstruktion kein Jota geändert; er war so knurrig und ehrlich wie immer. Und als Leiter des Amtes für Langfristige Planung, einer der wichtigsten Abteilungen des Sekretariats für Strategische Entwicklung, war er ein nützlicher Verbündeter. Tatsächlich wäre ohne Websters Unterstützung wohl nichts aus Falcons letztem bahnbrechenden Abenteuer geworden: seinem Alleinflug in die Jupiterwolken, von dem er erst vor wenigen Monaten zurückgekehrt war.
Jetzt grinste Webster und stellte ihm seine Begleiterin vor. »Howard Falcon, darf ich Sie mit Captain Joyce Embleton bekannt machen.«
Man musste es Embleton hoch anrechnen, dass sie nicht zögerte, ihm die Hand zum Gruß zu reichen, und dass es ihr gelang, nicht das Gesicht zu verziehen, als Falcon sie mit dem ergriff, was ihm als Hand diente. »Freut mich sehr, Sie an Bord zu haben, Commander Falcon.«
Sie war adrett und aufrecht, mit einer modischen Glatze unter einer prunkvollen Uniformmütze, die zum Schutz vor dem Wind und der Gischt tief heruntergezogen war und stramm auf dem Kopf saß. Und zu Falcons Überraschung klang sie wie eine waschechte Britin, obwohl sie hier das Kommando über den einstigen Stolz der US Navy führte. Aber es war ja schließlich auch schon über sechzig Jahre her, dass Großbritannien und Amerika in der Atlantischen Partnerschaft vereinigt worden waren.
»Sie sind eine echte Berühmtheit, Commander. Wir alle haben Ihre Spritztour in die Tiefen des Jupiters früher in diesem Jahr verfolgt. Durchaus möglich, dass Sie von einigen jüngeren Mitgliedern der Crew mit Autogrammwünschen belästigt werden. Obwohl …« Sie warf einen Blick auf Falcons Oberkörper.
»Ob Sie’s glauben oder nicht, meine Unterschrift kriege ich immer noch hin«, sagte Falcon trocken.
Webster funkelte Falcon an. »Wir sind hier zu Gast, Howard. Seien Sie nett.«
Embleton ging um Falcon herum und musterte ihn nüchtern. »Sie kommen mir nicht wie eine Mimose vor. Es steckt noch immer etwas von dem Menschen in Ihnen, der Sie mal waren, nicht wahr? Dies ist das Gesicht, das Ihnen Ihre Mutter gegeben hat, selbst wenn es eine ziemlich unbewegliche, ledrige Maske geworden ist.«
»Man hat mich vor Ihrer Unverblümtheit gewarnt, Captain Embleton. Ich dachte, das könnte nur eine Übertreibung sein.«
»War es nicht. Unverblümtheit spart Zeit, finde ich.« Sie legte den Kopf schief und sah ihn an. »Ah, Sie versuchen zu lächeln, wie ich sehe.«
»Ich verspreche, Ihre Gäste nicht in Angst und Schrecken zu versetzen, indem ich das allzu oft mache.«
»Mir drängt sich die Frage auf, ob Sie etwas benötigen, was Sie warm hält. So geht es jedenfalls den meisten unserer Gäste in diesem feuchten atlantischen Wind, obwohl unsere Sonar- und elektromagnetischen Schirme das Schlimmste abhalten.« Sie schnippte mit den Fingern. »Conseil?«
Ein Roboter von der Größe einer Mülltonne rollte von einer anderen Gruppe von Gästen weg und auf die Kapitänin zu. »Kann ich behilflich sein?«
Der überraschte Falcon verspürte einen nostalgischen Zauber. »Hallo, Kleiner. Kann man mit dir einen Schneemann bauen …?«
Webster zog die Augenbrauen hoch.
»Schon gut.«
»Commander«, sagte Embleton. »Wir können Ihnen alles besorgen, was Sie brauchen.«
»In Situationen wie diesen wollen die meisten Leute wissen, ob ich rostanfällig bin.«
»Das lag mir auch auf der Zunge. Jedenfalls werden Sie sich hier bestimmt nicht wie ein Fremdkörper fühlen.« Sie beugte sich vor und murmelte diskret: »Sie sind nicht unser einziger Gast aus dem Weltraum. Schauen Sie mal nach steuerbord rüber.«
Falcon sah eine Gruppe hochgewachsener, eleganter Passagiere; wenn sie sich bewegten, schimmerte Metall an ihren Armen und Beinen, und selbst von hier aus konnte er das Surren von Servomotoren hören. »Marsianer?«
»Dritte Generation. Hohe Tiere aus Port Lowell. Auf der Erde kommen sie ohne ihre Exoskelette gar nicht erst aus dem Bett. Und wie ich höre, hat die intensive Arbeit, die zu Ihrer Rettung geleistet wurde, diese Technologie rasant vorangetrieben.«
»Freut mich, dass ich von Nutzen sein konnte«, sagte Falcon.
Embleton nickte. »Mit dem Lächeln klappt es vielleicht nicht so gut, Commander, aber um einen witzigen Spruch sind Sie nie verlegen.« Sie traten einen Schritt näher an die Reling am Rand des Decks. »Und unsere Wassergeister scheinen es Ihnen angetan zu haben.«
»So nennen Sie sie …? Ich gehöre zwar zur World Navy, Captain, aber hier bin ich doch überfordert. Es hat eine Weile gedauert, bis ich herausgefunden hatte, dass diese Biester mechanisch sind und keine exotischen Delfine.«
»Nun, es gibt hier Delfine – und alle möglichen anderen Tiere. Die Meere haben sich recht gut erholt seit den schlechten alten Zeiten. Nein, diese Geister betrachtet man am besten als Wächter – und sie sind uns eine große Hilfe. Kommen Sie, begleiten Sie mich …«
Es war ein ziemlich weiter Weg. Das Flugdeck des Flugzeugträgers war über anderthalb Kilometer lang, wie man den Passagieren erzählt hatte, und von Luken durchsetzt, die früher einmal Kampfflugzeuge und selbstlenkende Raketen ins Freie entlassen hatten. Für Falcon, der von der Nähe des Bugs aus nach hinten schaute, waren die gewaltigen Aufbauten und die flossenförmigen Hydroflieger am Heck nur noch graue Schemen im Dunst.
»Die gute alte Sam Shore ist ein Kriegsveteran, Commander«, sagte Embleton, während sie langsam dahinschlenderte. »Sie ist neunzig Jahre alt und verbringt einen großen Teil ihrer Zeit im Trockendock. Auf See lassen wir in Momenten wie diesen, wenn wir nicht mit Maschinenkraft fahren, den Rumpf und die Luftzuführungen zum Maschinenraum von den Geistern pflegen – schon die Seepocken fernzuhalten ist eine schwierige Aufgabe.«
»Die Geister haben einen unabhängigen Antrieb? Und autonome Steuerung?«
»Einen eigenen Antrieb, ja, natürlich, aber nur einen geringen Grad von Autonomie. Die Geister werden vom Schiff aus gesteuert, vom Bootsmann …«
»Bootsmann?«
»Unserem Hauptcomputer. Der seinerseits im Wesentlichen den Befehlen der Crew untersteht.« Sie schaute auf Conseil hinab, der ihnen mit einem leeren Getränketablett in einem flexiblen Manipulator gefolgt war. »Interessant, wenn man bedenkt, dass die am höchsten entwickelte künstliche Intelligenz an Bord dieser kleine Kerl hier ist.«
Falcon bückte sich, um die Herstellerplakette des Roboters zu lesen. Er erfuhr, dass »Conseil« ein Allzweck-Homiform Mark 9 war, ein Produkt von Minsky & Good, Inc., aus Urbana, Illinois, Vereinigte Staaten, Atlantische Partnerschaft. Falcon kannte den Namen; Minsky war auf Computertechnik spezialisiert. Das Unternehmen brachte die besten verfügbaren Desktop-Modelle auf den Markt, und einige ihrer hoch entwickelten Minisecs waren so klein, dass sie in eine Hosentasche passten.
»Ein experimentelles Modell. Kann teilweise die Initiative ergreifen. Entscheidet selbstständig, welchen Gast er als Nächstes bedient, wie er Wünschen zuvorkommt und dergleichen. Und er besitzt einige Fähigkeiten zur Gefahrenabwehr. Man hat mir gesagt, dass er sogar in erheblich größerem Maße zu eigenständigem Denken und zur Entscheidungsfindung imstande ist als unser Bootsmann. Und nun serviert er hier die Getränke – aber das wollen wir natürlich so. Der Mensch soll das Sagen haben.«
»Conseil?«, fragte Webster. »Warum dieser Name?«
Falcon schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Banause. Eine Anspielung auf Jules Verne, natürlich.«
Webster war nicht beeindruckt. »Und das aus dem Mund von jemandem, der wie ein Requisit aus einem Jules-Verne-Film aussieht …«
»Wie steht’s mit der Zeitverzögerung?«
Embleton schaute zu Falcon hoch. »Verzeihung?«
»Bei der Steuerung der Geister. Sie spielen immerhin nur ein paar Meter von Ihren Hauptballasttanks entfernt herum, die da am Rumpf entlang verlaufen, wenn ich mich nicht irre.«
Embleton lächelte. »Sie haben sich über uns informiert, wie ich sehe. Nach dem, was mit der Queen Elizabeth passiert ist, verstehe ich, weshalb Sie sich Gedanken über Zeitverzögerungen und Reaktionszeiten machen …«
Eine Zeitverzögerung bei der Signalübermittlung zwischen einer ferngesteuerten Kameraplattform und ihrem fernen menschlichen Kontrolleur hatte beim Absturz des Luftschiffs eine entscheidende Rolle gespielt. Als die Plattform in Turbulenzen geriet, war der Kontrolleur zu weit weg gewesen, um eingreifen zu können, während die Plattform selbst zu simpel für eine autonome Reaktion gewesen war … All das hatte katastrophale Folgen gehabt, für die Plattform, das Luftschiff – und Howard Falcon. Er würde es wohl nie vergessen.
Embleton fuhr fort: »Wegen der Geister brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Die Signalverzögerungen sind minimal, wir haben diverse Back-up-Optionen, und die Geister sind straff programmiert. Wenn sie nicht sicher sind, schalten sie sich einfach ab.«
»Aber selbst die ausgeklügeltsten Sicherheitssysteme können versagen. Ja, so wie bei der Kameraplattform, die die QE IV zum Absturz gebracht hat.«
Webster zeigte nach oben. »Eine ganz ähnliche Plattform kommt da gerade auf uns zu.«
Strahlend helles Licht fiel von einer Kameraplattform herab, die lautlos keine zwei Meter über ihren Köpfen schwebte.
Und genau in dem Moment, als das Licht Falcon erfasste, kam ein forscher, gut aussehender Mann in einer frisch gebügelten Uniform der World Navy mit großen Schritten herbei. Eine kleine Entourage folgte ihm, darunter ein jüngerer Mann, der immer wieder auf den klobigen Minisec in seiner Hand schaute. Der Mann an der Spitze schien um die vierzig zu sein, aber wie Falcon wusste, konnte das Aussehen dank der allmählich verfügbar werdenden Lebensverlängerungstherapien trügen.
Falcon erkannte ihn, wie kaum anders zu erwarten. Dies war Captain Matthew Springer, der Eroberer des Pluto: der andere diesjährige Held der Weltraumforschung.
Springer ergriff Falcons künstliche Hand, ohne mit der Wimper zu zucken. »Commander Howard Falcon! Und Administrator Webster. Verzeihen Sie mir, wenn ich störe, Captain. Ich habe mich so gefreut, Commander, als ich erfuhr, dass Sie auf dieser Kreuzfahrt dabei sein würden …«
Falcon bemerkte, dass die Kameraplattform herabsank, um diese historische Begegnung einzufangen, aber ihre vielen Objektive waren allesamt auf Springer gerichtet.
Und Springer musterte Falcon eingehend. »Hey – Sie atmen ja.«
»So wie Sie«, sagte Falcon trocken.
Webster verdrehte die Augen.
Aber Springer schien gegen Ironie immun zu sein. »Ist wohl auch sinnvoll. Ein menschlicher Touch. Und Sie können mehr oder weniger natürlich sprechen. Statt mithilfe irgendwelcher Zusatzlautsprecher, nicht wahr? Also, was sind das für Lungen, die Sie da haben?«
»Ich maile Ihnen die technischen Details.«
»Danke. Wissen Sie, als Junge habe ich Ihre Heldentaten verfolgt. Die halsbrecherischen Ballonfahrten. Und ich muss Ihnen sagen, von der letzten Generation technologischer Pioniere sind Sie derjenige, den ich am meisten …« Sein Assistent berührte ihn am Arm, murmelte etwas und zeigte auf seinen Minisec. Springer hob die Hände. »Ich muss weg – Drinks mit der Weltpräsidentin. Man springt, wenn man gerufen wird, stimmt’s, Commander? Bis später – und bitte kommen Sie zu meinem Vortrag über Icarus und meinen Großvater in der …« Er zeigte auf Embleton.
»In der Sea Lounge«, sagte Kapitänin Embleton bereitwillig, noch während sich Springer entfernte.
»Und weg war er«, sagte Webster. »Gefolgt vom Kometenschweif seines Fanklubs und von dieser verdammten Plattform.«
»Nicht dass die Kamera sonderlich lange auf mir verweilt wäre«, meinte Falcon.
Embleton lachte. »Tja, wir wollen die Wassergeister ja nicht erschrecken, Commander.« Sie machten sich wieder auf den Weg zum Heck, gefolgt von Conseil. »Es gibt bestimmt eine Menge Leute an Bord, die es faszinierend finden werden, Sie kennenzulernen. Wir haben sogar ein Mitglied des medizinischen Teams dabei, das Sie behandelt hat. Aber ich bestehe darauf, dass Sie mir gestatten, Ihnen das Schiff zu zeigen … Die Shore wurde auf dem Höhepunkt der letzten Phase echter globaler Spannungen auf Kiel gelegt, aber ich bin froh, sagen zu können, dass sie niemals in wahrem Zorn ihre Fänge gebleckt hat. Da Sie ja selbst Navy Officer sind, werden Sie einige Elemente der Konstruktion vielleicht interessant finden. Heutzutage sind wir natürlich berühmt für unsere erstklassigen Einrichtungen für die Passagiere.« Sie ließ den Blick über Falcons zwei Meter zehn großen Körper schweifen. »Ich frage mich, wie Sie wohl auf der Eisbahn zurechtkämen?«
Webster lachte schallend. »Er könnte Schlittschuh laufen, wenn wir seine Räder gegen Kufen austauschen würden. Aber ein schöner Anblick wäre das nicht.«
»Commander Howard Falcon.« Die Stimme war ein raues Knurren.
Und während eine kleine Schar von Passagieren mit Drinks in den Händen an ihnen vorbeiging, bunt wie Blumen vor dem Grau des Atlantiks und alle zweifellos märchenhaft reich, blieb Falcon stehen und sah sich einer Gruppe von Schimpansen gegenüber.
Es waren zwölf. Drei oder vier von ihnen schauten die Menschen mit unverhüllter Feindseligkeit an. Außer weiten Jacken mit Kordelzug und zahlreichen Taschen trugen die Schimps keine Kleidung, obwohl einige von ihnen sichtlich vor Kälte zitterten. Sie hockten zusammengekauert auf dem Deck, ihre geschlossenen Fäuste kratzten über die Metallfläche. Derjenige, der wie ihr Anführer aussah, war älter, mit grauen Haaren um die Schnauze, und ein wenig größer als die anderen.
Embleton trat entschlossen vor. »Ich sollte Sie einander vorstellen, wie es sich gehört. Commander Falcon kennen Sie bereits. Commander, das ist Ham 2057a, Botschafter der Unabhängigen Pan-Nation beim Weltrat und ein weiterer Gast von Präsidentin Jayasuriya.«
Falcon bemühte sich, den Affen nicht anzustarren. Dies war der erste Simp – Superschimp –, den er seit dem Absturz der QE IV sah. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Sir.«
»Ich Sie auch, Commander.«
»Gefällt Ihnen die Kreuzfahrt?«
»Vermisse Heimat in Kongo-Baumwipfeln, um Wahrheit zu sagen …« Der Botschafter sprach ein verstümmeltes, aber verständliches Englisch, was ihn offenbar einige Anstrengung kostete. Einer seiner Adjutanten schien ein Dolmetscher zu sein, der den anderen seine Worte mit Grunz- und Quieklauten sowie mit Gesten übersetzte. »Kenne Sie natürlich. Für uns Howard Falcon berühmt nicht nur wegen Jupiter.«
»Der Absturz der Queen.«
»Viele Simps an jenem Tag gestorben.«
»Und viele von der menschlichen Besatzung …«
»Simps! Mit Sklavennamen wie meinem. Angezogen wie Puppen. Gezwungen, auf noch eindrucksvollerem Kreuzliner als diesem zu arbeiten, Boss.«
Falcon bemerkte, wie Webster bei diesem Wort zusammenzuckte. »Nun ja, Bittorns Programm war gut gemeint«, sagte der Administrator. »Es sollte ein Weg sein, eine Brücke zwischen verwandten Spezies zu bauen …«
Ham schnaubte. »Simps! So verdammt nützlich, klettern in Raumstationen bei null G herum – kraxeln in Luftschiff-Takelage. Und so komisch-komisch niedlich als Mundschenk in kleinen Sklavenuniformen. Andere Tiere auch. Intelligente Hunde. Intelligente Pferde … Intelligent genug, um Demütigung und Furcht zu kennen. Jetzt alle tot …
Dann Schiff abgestürzt. Sie nur knapp überlebt. Millionen ausgegeben, um Sie zu retten. Auch ein paar Simps knapp überlebt. Sie nicht gerettet. Keine Millionen ausgegeben. Simps eingeschläfert.«
Embleton trat vor. »Botschafter, dies ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt und der richtige Ort …«
Ham beachtete sie nicht. »Aber Sie, Commander Falcon. Aufzeichnungen von Absturz. Keine Kameras, aber Untersuchungsergebnisse, Worte von Überlebenden. Einige Simps lange genug gelebt, um Geschichte zu erzählen. Das Schiff dem Untergang geweiht. Sie auf Weg nach unten, nach unten zum Kontrollraum, riskieren Leben, um Schiff zu retten, wenn möglich. Und Sie finden ängstlichen Simp. Sie bleiben stehen, Commander. Bleiben stehen, beruhigen ihn, sagen ihm, geh nicht nach unten, nach unten, sondern nach oben, nach oben zum Peildeck. Wo er beste Chance hätte. Sie sagen: ›Boss – Boss – geh!‹«
Falcon wandte den Blick ab. »Er ist trotzdem gestorben.«
»Haben Ihr Bestes getan. Sein Name, Baker 2079q. Acht Jahre alt. Wir erinnern uns, verstehen Sie. An alle Simps. Bewahren sie im Gedächtnis, jeden einzelnen. Sie waren Personen. Bessere Zeiten jetzt.« Zu Falcons Überraschung streckte er ihm eine Hand hin. Falcon musste den Oberkörper herunterbeugen, um sie zu ergreifen. »Sie kommen Unabhängige Pan-Nation besuchen.«
»Das würde ich sehr gern tun«, sagte Falcon.
»Auf Bäume steigen?«
»Ich liebe Herausforderungen.«
Embleton lächelte. »Jetzt probieren Sie’s aber erst mal mit Eislaufen, Commander …«
Doch eine Stimme schnitt ihr das Wort ab: »Wal ahoi! An Steuerbord!«
Falcon drehte sich zusammen mit den anderen um.
Die Wale waren auf dem Weg nach Norden.
Wenn man auf diesen grauen Ozean unter einem grauen Himmel hinausschaute, sahen die riesigen Körper wie eine Armada aus, eine Flotte von Schiffen, nicht wie etwas Lebendiges. Natürlich erschienen sie klein im Vergleich zu der ungeheuren Länge des Flugzeugträgers, aber sie hatten eine Kraft und Zielstrebigkeit an sich, mit der es keine von Menschen konstruierte Maschine aufnehmen konnte: Sie waren wie geschaffen für diese Umgebung.
Jetzt hob sich keine dreißig, vierzig Meter von der Bordwand der Shore entfernt ein gewaltiger, für Falcons ungeschulten Blick missgestalteter Kopf aus dem Wasser, ramponiert und pockennarbig wie die Oberfläche eines Asteroiden. Doch dann öffnete sich ein riesiges Maul, eine Höhle, von deren Dach die Bartenplatten herabhingen, die die Planktonkost dieses Tieres aus den oberen Schichten des Meerwassers filterten, eine dünne Schleimsuppe für die Energieversorgung eines solch gewaltigen Körpers. Und dann öffnete sich ein riesiges, aber verblüffend menschliches Auge.
Als Falcon in dieses Auge schaute, hatte er plötzlich den Eindruck, jemanden vor sich zu sehen, den er schon lange kannte.
Er war zum Jupiter gereist, wo er in Wolkenschichten, in denen gemäßigte, fast erdähnliche Bedingungen herrschten, einem anderen riesigen Wesen begegnet war: einer Meduse, einem Geschöpf von der Größe der Shore, das in dieser unvorstellbar fernen See schwamm. Dieser Wal hier war vom Evolutionsdruck in einer Umgebung geprägt worden, die sich gar nicht so sehr von dem Wasserstoff-Helium-Luftozean des Jupiters unterschied, und hatte sicherlich viel mit den Medusen gemein. Und doch empfand Falcon ein Gefühl der Verwandtschaft mit diesem riesigen terrestrischen Säugetier, das auf einer gemeinsamen Biologie beruhte, ein Gefühl der Verwandtschaft, das er bei einer Jupitermeduse niemals verspüren würde.
Ham, der Simp-Botschafter, war neben ihm. »Sehen Sie, Commander Falcon. Eine weitere Rechtsperson (nichtmenschlicher Art).« Und er grunzte und quiekte vor Gelächter.
2
Während des Dinners ging die USS Sam Shore unauffällig auf Tauchfahrt.
Luken und Wartungsschächte wurden lautlos geschlossen und abgedichtet. Ballasttanks wurden geöffnet, die Geräusche des einströmenden Wassers jedoch höflicherweise gedämpft, um die Passagiere nicht zu beunruhigen. Der Tauchwinkel betrug ein Grad, was selbst für jene Gäste, die genau auf den Flüssigkeitsspiegel der Getränke in ihren Gläsern achteten, kaum wahrzunehmen war.
Falcon bemerkte es natürlich. Er spürte den Neigungswinkel des Decks, die Schräglage von einem Ende eines Korridors zum anderen. Durch die Sensoren in seinem Untergestell registrierte er die Veränderung in der Infraschallfrequenz der Maschine, Zeichen für eine Leistungsminderung, die jetzt, da sich das Schiff in seiner optimalen Umgebung unter Wasser bewegte, möglich war.
Falcon entging nur sehr wenig.
Nach dem Essen und vor Springers Vortrag machte er mit Webster einen Spaziergang.
Das sogenannte Servicedeck der Shore, unter dem riesigen Hangardeck, war eine Höhle voller Träger, Nieten, Schienen, Kräne und Drehbühnen, in der früher Kampfflugzeuge und Raketen mit Atomsprengköpfen betankt, gewartet und überholt worden waren. Jetzt hatte sich dieser hell erleuchtete Raum in eine Kombination aus Einkaufszentrum und Luxushotel verwandelt – mit erstaunlichen Ausmaßen, ganze anderthalb Kilometer lang.
»Sie sollten sich hier eigentlich wie zu Hause fühlen, Howard«, sagte Webster gerade. »Wäre die Queen Elizabeth nicht abgestürzt, wären Sie schließlich auch Kapitän eines Kreuzliners geworden, nicht wahr? Auf eine passende Galauniform müssten Sie heutzutage natürlich verzichten …«
Falcon ignorierte ihn und inspizierte die Einbauten. Auf dieser prestigeträchtigen Kreuzfahrt präsentierten die Schiffseigner zusammen mit der Meeresabteilung des Welternährungssekretariats hier unten eine Ausstellung über den Ozean der heutigen Zeit und dessen Nutzungsmöglichkeiten, vermutlich, um unter den betuchten Passagieren Investoren zu akquirieren. Falcon und Webster ließen den Blick über Ausstellungsobjekte, Modelle sowie holografische und animierte Bilder diverser Natur- und anderer Wunder schweifen – obwohl Falcon bezweifelte, dass man irgendetwas an den Ozeanen der Erde noch als natürlich bezeichnen konnte. Am Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts bestand die Nahrung großer Teile der Menschheit aus den Produkten gewaltiger Plankton-Farmen, die durch den erzwungenen Aufstieg nährstoffreicher Substanzen vom Meeresboden unterhalten wurden. Da die Mineralienvorkommen an Land erschöpft waren, hatte man auch am Meeresboden umfassenden Abbau betrieben. Natürlich war sich die Menschheit in diesem Jahr 2099 der Bedürfnisse jener Geschöpfe mehr als bewusst, mit denen sie sich die Welt – und im Fall der aufgewerteten Schimps sogar die politische Macht – teilte. Aber die gesamte Erde wurde allmählich zu einer Kulturlandschaft, dachte Falcon, wie eine riesige Plantage – einer der Gründe, weshalb Leute wie er es kaum erwarten konnten, sie zu verlassen.
Sie fanden eine Tafel zum Thema berufliche Perspektiven, und Webster bückte sich neugierig. »Schauen Sie sich das an, Howard. Die Fachgebiete, in denen man sich qualifizieren kann: Seemannskunst, Ozeanografie, Navigation, Unterwasserkommunikation, Meeresbiologie …« Er richtete sich steif auf. »Wissen Sie, das Amt für Weltraum-Ressourcen nutzt einige Standorte am Meeresboden für Simulationen. Man kann dort zum Beispiel Anzüge testen, die entwickelt wurden, um dem starken Druck standzuhalten, mit dem wir es auf der Venus zu tun bekommen werden. Schade, dass wir uns die während dieser Spritztour nicht anschauen können.«
»Nein«, sagte Falcon, »dieser Pott ist nur für geringe Tiefen geeignet. Es reicht gerade, um sich vor feindlichen Flugzeugen zu verstecken …«
»Verzeihung.«
Die Frau stand allein im Halbdunkel der Galerie: schlicht gekleidet, dunkler Typ, Mitte dreißig, wie es schien. Mit seinen zwei Meter zehn überragte Falcon sie fast um einen halben Meter. Sie wirkte nervös, was vielleicht nicht weiter verwunderlich war.
Webster schnippte mit den Fingern. »Ich erinnere mich an Sie. Schwester Dhoni, stimmt’s? Sie waren im Militärhospital auf der Luke Air Force Base in Arizona, als wir …«
»Als Commander Falcon von der Queen Elizabeth eingeliefert wurde, ja.«
Jene Tage – jene Jahre – der Genesung waren in Falcons Albträumen noch immer sehr lebendig. Er gab sich alle Mühe, nicht zurückzuweichen. »Ich erinnere mich nicht an Sie, Schwester, tut mir leid.«
»Inzwischen bin ich Doktor. Ich habe ein fachübergreifendes Studium absolviert und mich auf Neurochirurgie spezialisiert …«
»Warum sind Sie hier?«, fragte Falcon barsch.
Sie wirkte betroffen, und Webster funkelte ihn an.
»Nun ja, Ihretwegen, Commander«, sagte Dhoni. »Nachdem der Stab der Präsidentin Sie eingeladen hatte, hielt man Ausschau nach Freunden, Angehörigen und so weiter, in deren Gesellschaft Sie sich wohlfühlen würden. Und ich bin die Einzige von Ihrem damaligen medizinischen Team, die noch in diesem Beruf tätig ist. Die anderen sind in Pension gegangen oder haben umgesattelt, und einer ist gestorben – Doktor Bignall, falls Sie sich noch an ihn erinnern.«
»Sie hätten nicht kommen müssen.«
»Herrgott noch mal, Howard«, knurrte Webster.
»Nein, Administrator Webster, ist schon okay.« Es klang, als wäre es alles andere als okay, aber sie behielt die Nerven. »Ich musste Sie sehen, Commander. Nachdem Ihre Heldentaten auf dem Jupiter Schlagzeilen gemacht hatten, habe ich einige Nachforschungen angestellt. Ihr letzter ordentlicher Check-up liegt schon schrecklich lange zurück, von einer Überholung ganz zu schweigen.«
Plötzlich war Falcon misstrauisch. Er funkelte Webster an. »Haben Sie das eingefädelt, Sie alter Esel?«
Webster sah aus, als wollte er sich herausreden, aber dann gab er bereitwillig nach. »Na ja, Howard, ich wusste ja, dass Sie nicht auf mich hören würden.« Mit den Knöcheln klopfte er auf die Schale aus gestärktem Leichtmetall, wo Falcons Brust hätte sein sollen. »Das Äußere ist in Ordnung. Einzelne Komponenten können wir problemlos austauschen. Aber das Innere war anfangs ganz schön ramponiert, und es wird nicht jünger. Wie alt sind Sie jetzt, fünfundfünfzig, sechsundfünfzig …?«
Dhoni streckte unsicher die Hand nach Falcon aus und ließ sie dann sinken. »Lassen Sie mich Ihnen helfen. Wie schlafen Sie?«
Falcon schob den Unterkiefer vor. »So wenig wie möglich.«
»Es gibt jetzt neue Behandlungsmethoden. Wir können Ihnen einiges anbieten …«
»Sind Sie deshalb hier? Um mich wieder als Laborratte zu benutzen?«
Damit durchbrach er ihre letzten Schutzmechanismen. Ihr Mund arbeitete, und sie schluckte. »Nein. Ich bin hier, weil mir etwas an Ihnen liegt. Genauso wie damals.« Sie drehte sich um und ging steifbeinig davon.
Falcon schaute ihr nach. »Sie wäre ja fast in Tränen ausgebrochen.«
»Nein, wäre sie nicht, Sie Dummkopf. Sie wäre fast handgreiflich geworden, und das wäre Ihnen recht geschehen. Ich habe Sie damals gesehen, Howard. Ich weiß, es war ein Albtraum. Aber sie war die ganze Zeit dabei, Hope Dhoni. Noch ein halbes Kind. Die ganze Zeit.« Er schien nach Worten zu ringen. »Sie hat Ihnen die Stirn abgewischt. Ach, zum Teufel mit Ihnen. Ich brauche was zu trinken.« Er ging davon und rief zurück: »Viel Spaß bei Springers Egotrip. Momentan habe ich die Nase voll von Helden. Aber wenn Sie diese Frau wiederfinden, dann entschuldigen Sie sich bei ihr, hören Sie?«