Wolffsohn Michael
Wir waren Glückskinder – trotz allem
Eine deutschjüdische Familiengeschichte
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Michael Wolffsohn, geb. 1947 in Tel Aviv, stammt aus einer deutsch-jüdischen Familie, die 1939 nach Palästina floh und 1954 nach Deutschland zurückkehrte. Er war Professor für Neuere Geschichte an der Bundeswehruniversität München, veröffentlicht regelmäßig in nationalen und internationalen Medien und hat über 30 Bücher verfasst. 2017 wurde er als »Hochschullehrer des Jahres« ausgezeichnet, 2018 erhielt er den Franz-Werfel-Menschenrechtspreis.
Thea Saalheimer ist siebzehn, als sie mit ihrer Familie vor dem Naziterror nach Tel Aviv flieht. Dort verliebt sie sich in Max Wolffsohn und baut mit ihm ein neues Leben auf. Fünfzehn Jahre später kehren die beiden mit ihrem Sohn Michael ins Nachkriegsdeutschland zurück. Wie erlebten Thea und ihre Familie den Nationalsozialismus und die Emigration in ein Land, das ihnen in jeder Hinsicht fremd war? Wie kam es, dass sie ins Land der Täter zurückzogen?
Originalausgabe
2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: buxdesign | Lisa Höfner unter Verwendung folgender Fotos: »Boykottaktion« © bpk, »Unser Haus in Tel Aviv« © Francesco Russo-VIEW/Alamy Stock Foto, »Thea Saalheimer und ihre Schwestern« © Ornan Rotem/»1938 – Warum wir heute genau hinschauen müssen«, Elisabeth Sandmann Verlag 2018 und »Meine Mutter Thea und ich« aus dem Privatbesitz des Autors
© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
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eBook-Herstellung Fotosatz Amann, Memmingen (01)
eBook ISBN 978-3-423-43884-1 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-76331-8
Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website http://www.dtv.de/ebooks
ISBN (epub) 9783423438841
Bruder Konrad und Abraham Silbermann (S. 93 ff.) gab es nicht wirklich. Sie sind auf echten Personen, Situationen und Wertvorstellungen der katholischen bzw. jüdischen Welt basierende Figuren. Die Fakten werden hier erzählerisch verdichtet.
Der Name »Carolin Hakenschwert« ist frei erfunden; die Person gab es aber tatsächlich.
Dieses Buch widme ich meinen lieben Enkeln Anna, Noah, Talina, Eva und Jonathan.
Der damals siebenjährige Noah hat gesagt, er wolle »mehr über Juden und Hitler wissen«. Diesen Wunsch versuche ich ihm, all meinen Enkeln und vielleicht auch anderen mit diesem Buch zu erfüllen.
Dass Juden nicht anders als andere Menschen waren, sind und bleiben, hat ein längst verstorbener, doch unsterblicher Dichter namens William Shakespeare in seinem Theaterstück »Der Kaufmann von Venedig« so wunderbar beschrieben wie kein anderer. Gewiss kann ich es nicht so gut wie er.
»Ich bin ein Jud. Hat nicht ein Jud auch Augen? Hat nicht ein Jud auch Hände, Glieder, Körper, Sinne, Sehnsucht, Leidenschaft? genährt von gleicher Nahrung, verletzt von gleichen Waffen, anfällig gleichen Leiden, geheilt durch gleiche Mittel, fühlt er warm und kalt und fühlt er kalt vom gleichen Winter wie vom gleichen Sommer ganz wie ein Christ? – wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Und wenn ihr uns Unrecht tut, solln wir uns dann nicht rächen?«
William Shakespeare,
Der Kaufmann von Venedig.
Akt III, Szene 1
Ich lebe in Deutschland. Geboren bin ich 1947 in Israel, das damals noch Britisch-Palästina hieß. Nach Hitler. Meine Mutter heißt Thea, mein Vater hieß Max. Meine Eltern sind in Deutschland geboren. Vor Hitler. Sie mussten aus Deutschland fliehen, um ihr Leben zu retten. Wegen Hitler. Sie lebten lange in Israel. Das ist der Jüdische Staat. Man kann auch sagen »der Staat der Juden«. Dort verbrachte ich meine ersten Lebensjahre.
Wir alle sprechen fließend Deutsch. Anders als ihr nenne ich meine Mutter aber nicht »Mama« oder »Mutti«, sondern »Ima«. Mein Vater ist nicht der »Papa« oder »Vati«, sondern »Aba«. Aba und Ima, das ist Hebräisch. Hebräisch spricht man in Israel. Dort verbrachte ich die ersten sieben Jahre meiner Kindheit, bevor wir 1954 nach Berlin – genauer: nach West-Berlin – zogen. Einer meiner Großväter war Opa Karl, den anderen nannte ich nur »Opa«. Das war, um genau zu sein, Opa Justus, der Vater meiner Ima Thea. Die Mutter meiner Ima war ganz einfach meine »Oma«. Sie hieß Gretl. Die Mutter meines Aba nannte ich »Sabta Recha«. Sabta heißt auf Hebräisch »Großmutter«.
Thea Saalheimer mit ihren Eltern, den Großeltern und Alfred Bickart, ca. 1927
Max Wolffsohn und sein Bruder Willi, ca. 1925
Man sieht schon: Wir sprechen zu Hause ein seltsames Sprachgemisch aus Deutsch und Hebräisch. Das hat eine Geschichte, und diese Geschichte will ich euch anhand der Geschichten meiner Familie erzählen. Sie fanden in Deutschland, Israel (bis 1948 Britisch-Palästina) und dann wieder in Deutschland statt.
Meine Erzählung dauert länger als eine Schulstunde, ein Fernsehfilm oder ein Fußballspiel, aber keine Angst, meine Geschichte ist kürzer als das lange Leben meiner Ima oder meines Aba. Ima ist 98, Aba wurde 80, und jetzt, während ich das schreibe, bin ich 73 Jahre alt.
Es waren 73 wunderbare Jahre, sowohl in Deutschland als auch in Israel. Opa Karl und Sabta Recha, Opa Justus und Oma Gretl, Aba Max und Ima Thea haben ihr jeweils langes Leben ebenfalls in Deutschland und Israel verbracht. Für sie waren es aber keineswegs nur wunderbare Jahre, denn als sie jung waren, wurden sie in Deutschland von dem damaligen »Führer« Adolf Hitler und seiner Nationalsozialistischen Partei verfolgt. Und trotzdem hatten sie Glück, denn anders als sechs Millionen andere Juden überlebten sie. Sie hatten also Glück im Unglück. Deshalb sagt Ima von sich selbst: »Ich war ein Glückskind.« Trotz Hitler. Ich bin erst recht ein Glückskind, denn ich habe kein einziges Unglück erlebt und anders als die meisten Juden meines Alters kannte ich alle vier Großeltern. Ich bin daher ein doppeltes Glückskind – trotz und nach Hitler.
Meine Erzählung ist zwar vergleichsweise lang, sie kreist aber vor allem um zwei kurze Wörter, um zwei Namen. Einen Gruppennamen und einen Personennamen. Name eins: Juden. Name Nummer zwei: Hitler.
Wer war dieser Hitler?
Nun, Adolf Hitler war der Chef einer Partei, die sich »Nationalsozialisten« nannte. Hitler und seine Leute, die auch »Nazis« genannt wurden, wollten, dass in Deutschland keine Juden mehr lebten.
Im Jahre 1933 war Thea noch lange nicht meine Ima. Das wurde sie erst 14 Jahre später. Damals war sie ein Mädchen von zehn Jahren, und da sie ein jüdisches Mädchen war, hatte sie eine große Angst. Diese Angst hatte zwei Namen, einen Vornamen und einen Nachnamen: Adolf Hitler. Er war gerade Reichskanzler geworden und war jetzt der mächtigste Mann in Deutschland.
»Führer, Führer, Führer!«, brüllten Millionen Deutscher begeistert und bekamen Kulleraugen, wenn sie ihn sahen oder hörten. Dabei brüllte er eigentlich nur ins Mikrofon und fuchtelte mit den Armen in der Luft, wenn er sprach.
Habt ihr mal ein Video von Adolf Hitler gesehen? Dann werdet ihr mir recht geben: Sprechen konnte man das eigentlich nicht nennen. Es hörte sich ungefähr so an: »A-icken, ocken, acken, zacken, macken, Juden, die Juden sind unser Unglück, Juda verrecke, Deutschland, Deutschland, Deutschland, Sieg, Sieg, Sieg, heil, heil, heil.« Diesem Granatenblödsinn jubelten Deutsche massenhaft zu und brüllten ihrerseits: »Heil, heil, heil, Heil Hitler, mein Führer.« Heil war allerdings gar nix, nachdem Hitler an die Macht gekommen war.
Adolf Hitler bei seiner Lieblingsbeschäftigung: Reden
Von einer unheilbaren Krankheit schienen damals die meisten Deutschen befallen zu sein. Hitler begann 1939 einen Riesenkrieg, einen Krieg, der fast überall auf der Welt tobte. Es war der Zweite Weltkrieg. An dessen Ende, 1945, war die Erde verbrannt, Dörfer und Städte zerstört, unendliche viele Juden, viele Deutsche und noch mehr Nichtdeutsche waren tot. Nun brüllte niemand mehr in Deutschland »Sieg Heil, mein Führer!«. Der Führer hatte die Welt, die Juden und auch die Deutschen in die Katastrophe geführt. Und deshalb sagen wir heute: »Nie wieder! Nie wieder Hitler! Nie wieder Nazis!«.
Hier sind meine Geschichten von Thea, meiner Familie, meiner Kindheit, den Juden, Hitler und anderen Nazis.
Obwohl es in diesen Geschichten auch um schlimme Dinge geht, sind sie lustig und traurig, erfreulich und unerfreulich. Wie das richtige Leben. Wie das Leben meiner Familie, mein eigenes Leben und das aller Menschen, überall und immer. Mal Sonnenschein, mal Regen.