Oliver Musenberg (Hg.)

Kultur – Geschichte – Behinderung

Band 2: Die eigensinnige Aneignung von Geschichte

ATHENA

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ISBN (Print) 978-3-89896-638-2
ISBN (ePUB) 978-3-89896-889-8

Vorwort

»Gerade Verzicht auf jeden Eigensinn war das oberste Gebot, das ich mir auferlegt hatte; ich, freier Affe, fügte mich diesem Joch«[1]. Eigensinn ist ein schillernder Begriff, der nicht nur in der literarischen Welt Verwendung findet und im Zentrum des kürzesten und vielleicht auch unheimlichsten Märchens der Gebrüder Grimm steht (»Das eigensinnige Kind«), sondern auch in wissenschaftlichen Texten der Geschichtswissenschaft und Pädagogik zu finden ist.

Mit der eigensinnigen Aneignung von Geschichte fokussiert dieser zweite Band von Kultur – Geschichte – Behinderung didaktische Fragen historischen Lernens. An der Schnittstelle von Geschichtsdidaktik, Erziehungswissenschaft und Disability Studies fragen die Autor_innen nach Möglichkeiten der Vermittlung und Aneignung von Geschichte. Neben explizit didaktische Perspektiven treten dabei einleitend auch geschichtswissenschaftliche, kulturwissenschaftliche und bildungstheoretische Reflexionen.

Während eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fragen historischer Bildung im Kontext von Differenz, Diversity und Disability noch bis vor wenigen Jahren kaum sichtbar war, finden sich zunehmend wechselseitige Bezugnahmen z. B. der Geschichtsdidaktik und der Erziehungswissenschaft (Inklusive Pädagogik, Sonderpädagogik). Konkret zeigen sich dieser Austausch und die Thematisierung von Inklusion innerhalb der Geschichtsdidaktik z. B. in der Sektion »Geschichtsunterricht ohne Verlierer? Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik in Theorie, Empirie und Pragmatik« beim 50. Deutschen Historikertag im Jahr 2014 an der Universität Göttingen[2] und in der Tagung »Inklusion im Geschichtsunterricht« im Jahr 2015 an der Pädagogischen Hochschule Salzburg[3].

Die Beiträge des vorliegenden Bandes leisten einen weiteren Beitrag zu diesem noch am Anfang stehenden Diskurs und fokussieren dabei u. a. die Frage, wie »Behinderung« im inklusiven Unterricht zum Thema gemacht und zum Lerngegenstand werden kann.

Mein herzlicher Dank gilt allen Autor_innen für Ihre Beiträge zu diesem Buch sowie der Redaktion von Docupedia-Zeitgeschichte für die Reprint-Erlaubnis des Beitrages von Thomas Lindenberger.

Für die Unterstützung bei der Durchsicht der Manuskripte danke ich Maria Pfennig. Bei Anja Lapac und Rolf Duscha vom Athena-Verlag bedanke ich mich für die angenehme Zusammenarbeit.

Der Herausgeber

Berlin, im Sommer 2016

[1] Kafka, Franz (1919): Ein Bericht für eine Akademie: In: Raabe, Paul (Hg.) (1994): Franz Kafka. Sämtliche Erzählungen. Frankfurt a. M., 147–155.

[2] Alavi, Bettina/Lücke, Martin (Hgg.): Geschichtsunterricht ohne Verlierer!? Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag.

[3] Kühberger, Christoph/Schneider, Robert (Hrsg.): Inklusion im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung geschichtsdidaktischer und sonderpädagogischer Fragen im Kontext inklusiven Unterrichts. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

I Eigensinn und Aneignung

Oliver Musenberg

Die eigensinnige Aneignung von Geschichte: Zur Einleitung

Die erziehungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Debatten um Heterogenität und Inklusion zeigen sich auch in der Geschichtsdidaktik als zunehmende Thematisierung von Alterität, Differenz und Vielfalt, einerseits im Hinblick auf die Diversität der historischen Inhalte, der Perspektiven und Narrationen jenseits tradierter nationalstaatlicher Meistererzählungen und andererseits hinsichtlich der Frage nach heterogenitätssensiblen Vermittlungs- und Aneignungswegen in einem inklusiven Geschichtsunterricht (vgl. Lücke 2015; Alavi/Lücke 2016; Barsch/Hasberg 2014; Kühberger/Schneider 2016). Unter Rückgriff auf Alf Lüdtke und dessen Verwendung des Eigen-Sinn Begriffs im Zusammenhang seines alltagsgeschichtlichen Zugangs zur Arbeiter- und NS-Geschichte (vgl. Lüdke 2002; Lindenberger in diesem Band) hat Martin Lücke vorgeschlagen, historisches Lernen »als produktive eigen-sinnige Aneignung vergangener Wirklichkeiten als selbst erzählte oder selbst imaginierte Geschichte« (Lücke 2015, 200) neu zu fassen. Diese Reformulierung historischen Lernens liefert den Impuls für die inhaltliche Schwerpunktsetzung des vorliegenden zweiten Bandes von Kultur – Geschichte – Behinderung und für die besondere Berücksichtigung der Begriffe Eigensinn und Aneignung (vgl. die folgenden Beiträge von Lindenberger, Geimer und Hoffmann; vgl. Musenberg 2016). Wie auch Lüdtkes Alltagsgeschichte u. a. die Würdigung der bis dahin »namenlosen« der Geschichte zum Ziel hatte, so geht es im Folgenden auch darum, »Behinderung« als Gegenstand historischen Lernens und Bildungsinhalt aufzugreifen, ohne die (wenn überhaupt) tradierten »Meistererzählungen« von Behinderten als Opfer und Empfänger caritativer Bemühungen einerseits oder als überkompensierende Superhelden andererseits zu wiederholen (vgl. die Beiträge von Sierck und Mckeown in diesem Band).

Mit Schiesser (2004) lassen sich vier Bedeutungen von Eigensinn unterscheiden, und zwar 1) Störrischsein, Starrköpfigkeit, Verquersein, mitunter auch Verrücktsein, 2) der je eigene Sinn, den sich eine Person gibt und mit dem sie ihre Umgebung interpretiert und kartografiert, 3) die Wahrnehmung mit den eigenen fünf Sinnen, also die eigene Sinnlichkeit, Erfahrung, Logik und Struktur, die das Verhalten der Person beeinflusst und schließlich 4) die positiv konnotierte Hartnäckigkeit, Eigenständigkeit und Originalität (vgl. ebd., 4).

Ohne an dieser Stelle die Verwendungsweisen im Sinne einer Begriffsgeschichte nachzeichnen zu können (vgl. Lindenberger in diesem Band und Musenberg 2016), lässt sich etwas schematisch festhalten, dass sich die Verwendungen von Eigensinn im Spannungsfeld von Pathologisierung und Euphorisierung bewegen. Für den Pol der Pathologisierung können z. B. die Versuche stehen, Eigensinn als Symptom von »Schwachsinn« zu deuten. Dem Eigensinn begegne man »bei vielen psychopathisch veranlagten und nervösen Kindern, sodann in ausgeprägter Form, die schon förmlich an Negativismus erinnert, bei manchen Imbezillen« (Dannemann 1911, 419–420, vgl. Musenberg 2016). Für den Pol der Euphorisierung steht hingegen die Betonung von Eigensinn als Ausdruck von Selbstbestimmung, Eigenständigkeit, Unangepasstheit und Willensstärke. So findet sich in aktueller psychologischer Ratgeberliteratur Eigensinn als Mittel gegen Burn-out und Depression. Es gehe darum, wieder sein Ding zu machen und die eigenen Interessen in den Mittelpunkt zu rücken, indem z. B. nein gesagt werden soll, »auch wenn es kein Problem wäre, das Ansinnen des anderen zu erfüllen« (Nuber 2016, 23) oder indem bewusst auf relativierende Sätze und abschwächende Floskeln in der eigenen Rede verzichtet werden soll (vgl. ebd.).

In Abgrenzung zu diesen pathologisierenden und euphorisierenden Verwendungsweisen von Eigensinn geht es im Folgenden um die Erörterung des bildungstheoretischen und didaktischen Potentials des Begriffs (vgl. Pollmanns 2006), zunächst ausgehend von Franz Kafkas Erzählung Ein Bericht für eine Akademie:

In der Erzählung Ein Bericht für eine Akademie von Franz Kafka berichtet der Affe Rotpeter von seinem Weg in die Welt der Menschen. Nach seiner Gefangennahme durch den Hamburger Zoobetreiber Hagenbeck, seiner Verschiffung nach Europa in einer engen Kiste sowie seiner Aneignung menschlichen Verhaltens und Sprache berichtet Rotpeter in einer nicht näher bestimmten »Akademie« über sein Leben: »Hohe Herren von der Akademie! Sie erweisen mir die Ehre, mich aufzufordern, der Akademie einen Bericht über mein äffisches Vorleben einzureichen«. Dieser Aufforderung kann er, Rotpeter, aber nicht nachkommen, da er sich schon zu weit vom »Affentum« entfernt habe:

»Nahezu fünf Jahre trennen mich vom Affentum, eine Zeit, kurz vielleicht am Kalender gemessen, unendlich lang aber durchzugaloppieren, so wie ich es getan habe, streckenweise begleitet von vortrefflichen Menschen, Ratschlägen, Beifall und Orchestralmusik, aber im Grunde allein, denn alle Begleitung hielt sich, um im Bilde zu bleiben, weit vor der Barriere. Diese Leistung wäre unmöglich gewesen, wenn ich eigensinnig hätte an meinem Ursprung, an den Erinnerungen der Jugend festhalten wollen. Gerade Verzicht auf jeden Eigensinn war das oberste Gebot, das ich mir auferlegt hatte; ich, freier Affe, fügte mich diesem Joch« (Kafka 1994 [1919], 147).

In Kafkas Text erzählt Rotpeter rückblickend seinen Transformationsprozess vom »Affentum« zum menschlichen Wesen und zwar nicht primär als Prozess der Befreiung und Aufklärung, sondern zunächst als Anpassung und Einübung von Konventionen, die nur gelingen können, wenn die »alte Affenwahrheit« und jeglicher Eigensinn ausgelöscht werden. Ausgangspunkt für den Transformationsprozess ist die totale Ausweglosigkeit der Gefangenschaft:

»In alledem aber doch nur das eine Gefühl: kein Ausweg. Ich kann natürlich das damals affenmäßig gefühlte nur mit Menschenworten nachzeichnen und verzeichne es infolgedessen, aber wenn ich auch die alte Affenwahrheit nicht mehr erreichen kann, wenigstens in der Richtung meiner Schilderung liegt sie, daran ist kein Zweifel« (ebd. 149–150).

Gewissermaßen in Umkehrung von Platons Höhlengleichnis ist Bildung hier nicht in erster Linie der Weg aus dem Dunkel der Höhle ans Licht der Wahrheit (vgl. Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger 2013), sondern ein – zumindest zwiespältiger – und durch äußere Zwänge geleiteter und mit der Preisgabe des »Eigenen« einhergehender Prozess. Durchaus eine Befreiung, aber aus dem Motiv der Ausweglosigkeit:

»Diese Fortschritte! Dieses Eindringen von Wissensstrahlen von allen Seiten ins erwachende Hirn! Ich leugne nicht: es beglückte mich. Ich gestehe aber auch ein: ich überschätzte es nicht, schon damals nicht, wieviel weniger heute. Durch eine Anstrengung, die sich bisher auf der Erde nicht wiederholt hat, habe ich die Durchschnittsbildung eines Europäers erreicht. Das wäre an sich vielleicht gar nichts, ist aber insofern doch etwas, als es mir aus dem Käfig half und mir diesen besonderen Ausweg, diesen Menschenausweg verschaffte […]. Überblicke ich meine Entwicklung und ihr bisheriges Ziel, so klage ich weder, noch bin ich zufrieden. Die Hände in den Hosentaschen, die Weinflasche auf dem Tisch, liege ich halb, halb sitze ich im Schaukelstuhl und schaue aus dem Fenster« (ebd., 154).

Rotpeter durchläuft einen Prozess, der nicht einer vorgezeichneten Entwicklungsnorm folgt, sondern im Sinne der Bildung als Möglichkeit von ihm als Subjekt initiiert wird, wenn auch in einem engen vorgegebenen Möglichkeitsraum. Dass er dazu auf jeden »Eigensinn« verzichten muss, bleibt in der Erzählung eine durchaus bedauernswerte Voraussetzung für die – halb erzwungene, halb gewollte – Transformation vom Affen zum Menschen in Affengestalt.

Koller unterscheidet in seiner Theorie transformatorischer Bildungsprozesse grundsätzlich zwischen Lernen und Bildung. Lernen lässt sich nach Koller »als Prozess der Aufnahme, Aneignung und Verarbeitung neuer Informationen verstehen, bei dem jedoch der Rahmen, innerhalb dessen die Informationsverarbeitung erfolgt, selber unangetastet bleibt« (Koller 2012, 15). Demgegenüber seien Bildungsprozesse »als Lernprozesse höherer Ordnung zu verstehen, bei denen nicht nur neue Informationen angeeignet werden, sondern auch der Modus der Informationsverarbeitung sich grundlegend ändert« (ebd.).

Rotpeters fiktiver Bildungsprozess ist in radikaler Weise eine Veränderung des Verarbeitungsmodus, verbunden sogar mit einer Transformation über die Grenze der Spezies hinaus (zur Verwendung literarischer Texte für die erziehungswissenschaftliche Reflexion vgl. Koller 2012, 170–173). Für die weiteren Ausführungen ist nun weniger der konkrete Verlauf des Transformationsprozesses von Bedeutung, sondern die Rolle, die hier dem Eigensinn zugesprochen wird – Eigensinn verstanden als das, was ein Subjekt in den Bildungsprozess mitbringt, sein subjektiver Sinn, der sich wiederum aus unterschiedlichen Quellen (Anlage-Umwelt) speisen mag und bedingt, dass verschiedene Menschen, z. B. verschiedene Schüler_innen, aus sehr individuellen Perspektiven auf die Welt, sich selbst und andere schauen.

Während es in Hegels Phänomenologie des Geistes heißt, dass Eigensinn eine Freiheit sei, »welche noch innerhalb der Knechtschaft stehenbleibt« (Hegel 2009 [1807], 149) und somit in einem vernunftbasierten Bildungsprozess aufgehoben werden muss, ist Eigensinn in manchen Strömungen aktueller Pädagogik ein schützenswertes Gut, das vor allem anzuerkennen ist und das als einzig legitimer Ausgangspunkt (und Zielpunkt?) pädagogischen Handelns gilt (so vor allem in einer konstruktivistisch ausgerichteten Pädagogik und Didaktik) (vgl. Voß 1989 und Reich 2014). Aber auch ohne expliziten Rückgriff auf den Konstruktivismus kann mit dem Begriff des Eigensinns zunächst auf den subjektiven Charakter von Bildungsprozessen aufmerksam gemacht werden, wie er aktuell auch in der Geschichtsdidaktik als »Subjektorientierte Geschichtsdidaktik« (Ammerer/Hellmuth/Kühberger 2015) betont wird.

Dem Bildungsbegriff wohnt etwas Eigensinniges inne, da es immer nur das einzelne Subjekt ist, das sich bilden kann: »Selbsttätigkeit stellt die einzige Möglichkeit dar, der Bildungsaufgabe nachzukommen. […] Unbeschadet seiner Naturausstattung und seiner Sozialprägung muss jeder Mensch die ihm mögliche Anstrengung aufbringen, um am immer vorläufigen Ende ein Maß an Wissen und Haltung zu erlangen, das vorübergehend Geltung beanspruchen kann« (Rekus 2016, 52).

Aus systemtheoretischer Perspektive ist die Betonung des subjektiven Eigensinns verdächtig, gerade weil hier das Eigene, Subjektive stark gemacht wird und zumindest implizit die Vorstellung mittransportiert wird, das Eigensinn etwas ist, was Subjekte – essentialistisch – ganz alleine für sich haben, aus sich selbst heraus generieren und gerade hierin auch das Positive zu sehen ist, was der Begriff leiste. Luhmann kritisiert, dass Sinn als etwas gedacht wird, das da sein kann, dass einem aber auch abhanden kommen kann und somit Sinn dem Individuum zugerechnet wird (Luhmann 2004, 224). Er geht hingegen davon aus, dass die Kategorie Sinn auf zwei verschiedene Systemtypen angewandt werden müsse, »nämlich auf psychische Systeme, Bewusstseinssysteme, die sinnhaft erleben, und auf soziale Systeme, Kommunikationssysteme, die Sinn dadurch reproduzieren, dass er in der Kommunikation verwendet wird« (ebd., 225). Sinn ist dann »die Gesamtheit dessen, was in einem System möglich ist. Jedes System hat in diesem Verständnis einen Sinnhorizont, dessen Ausdehnung endlich ist; für psychische Systeme ist dieser Sinnhorizont durch das überhaupt Denkbare, für soziale Systeme durch das überhaupt Kommunizierbare begrenzt« (vgl. Becker/Reinhardt-Becker 2001, 46–47).

Ausgangspunkt pädagogischen Handelns ist hingegen, so Rekus, »die von Mensch zu Mensch unterschiedliche und sich in der Zeit permanent ändernde Einmaligkeit der Person mit ihren jeweiligen Stärken und Schwächen, Begabungen und Behinderungen, mit ihren Vorlieben und Abneigungen« (Rekus 2016, 48). Dennoch lasse sich diese Differenz in pädagogischer Hinsicht nicht als »unterschiedliche Ausstattung« auffassen: »Vielmehr meint ›Differenz‹ das individuell unterschiedliche Verhältnis zum Gesollten, was als Lern- bzw. Bildungsaufgabe erscheint« (ebd., 49). So ist dann auch Bildsamkeit nicht etwas, das man haben oder nicht haben kann, sondern »Bildsamkeit meint den humanen Zuspruch bzw. die Anerkennung der grundsätzlichen Selbstbildungsfähigkeit jedes Menschen unbeschadet seiner natürlichen und sozialen Präfiguration. Bildsamkeit macht den Ausdruck ›Behinderung‹ in pädagogischen Kontexten obsolet. Pädagogisches Handeln fragt in dieser Hinsicht nicht, was die Menschen an Ausstattung mitbringen, sondern hilft, sie auf den Weg der Bildung zu bringen« (ebd. 52; vgl. Zirfas 2012). Vor diesem Hintergrund ist es für Rekus nicht ganz nachvollziehbar, warum im Inklusionsdiskurs so vehement die Anerkennung der Verschiedenheit in den Fokus gerückt wird, wo es doch in der Schule darum ginge, die tatsächliche, »natürliche« Verschiedenheit der Menschen in eine »kulturelle« Gleichheit zu überführen: »Standen die empirischen Differenzen der Schüler bisher unter dem Anspruch, durch Bildungsprozesse aufgehoben zu werden, stehen sie nun unter Bestandsschutz. Empirische Tatsachen werden so zur normativen Vorgabe für die Schul- und Unterrichtsgestaltung, was zumindest in logischer Hinsicht problematisch ist« (Rekus 2016, 47). Wenngleich hier vielleicht zu Recht die Gefahr gesehen wird, dass egalitäre Bildungsansprüche durch die Betonung von Differenz und sich daraus ableitender Individualisierung unterlaufen werden könnten, muss jedoch hinterfragt werden, ob die von Rekus vorgenommene Unterscheidung in objektive und subjektive Aspekte der Selbsttätigkeit hinreichend ist, um den Bildungsansprüchen aller gerecht zu werden: Mit objektiver Selbsttätigkeit meint Rekus, das der sachlogische Aspekt eines Unterrichtsgegenstandes immer bestehen bleibt und nachvollzogen werden muss: »Der Beweis des Satzes von Thales kann z. B. für einen sehbehinderten oder gar blinden Schüler nicht anders erfolgen als für einen sehenden. Beide müssen den konstruktiven Weg beschreiten, um die Richtigkeit des Satzes selber erkennen zu können. Der methodische Anspruch, der das Lernen bestimmt, ist nicht differenzierbar« (ebd.). Mit subjektiver Selbsttätigkeit sei hingegen gemeint, dass z. B. sehbehinderte Schüler_innen sehr wohl ganz spezifische (technische) Hilfen benötigen, um »der sachlogisch gebotenen und geltungsverbürgenden Methode zur Aufgabenlösung« (ebd. 53) folgen zu können. Wenngleich dieses Beispiel einleuchten mag, so schwindet die Eindeutigkeit, wenn statt eines mathematischen Beweises, z. B. »Berlin als geteilte Stadt« im Geschichts- oder Politikunterricht thematisiert wird und Schüler_innen an diesem Unterricht teilnehmen, die im Hinblick auf das »Gesollte«, hier die Auseinandersetzung mit Geschichte, ausgeprägte Lernschwierigkeiten aufweisen (und die vielleicht auch den Satz des Thales mit verschiedenen Hilfsmitteln nicht nachvollzogen hätten). Hier ist weder eine sachlogische Struktur vorgegeben, die auf bestimmte Weise nachvollzogen werden muss (im Gegenteil wird in der Geschichtsdidaktik gerade die Multiperspektivität und kontroverse Narrativität als Prinzip hochgehalten), noch sind die Schüler_innen – trotz individueller Unterstützung – zum gleichen Ziel zu führen, sondern es ist mit einem zieldifferenten Unterricht zu rechnen (zur Problematik der Zieldifferenz vgl. Riegert 2016).

Die zentrale bildungstheoretische Figur der Selbsttransformation wird trotz der bereits dargestellten universellen Auffassung von Bildsamkeit in der Regel recht anspruchsvoll und voraussetzungsreich gedacht (vgl. Stojanov 2014). Die Möglichkeit zur Transformation ist mit einem hohen Reflexionsniveau assoziiert. Mit Ackermann kann hingegen auf ein elementares Verständnis von Bildung hingewiesen werden: Es »soll nicht die Struktur elaborierter Sprache, sondern die Tätigkeit der Symbolbildung als das zentrale Element der Bildung aufgefasst werden […]. Hier ist ein sehr weites und umfassendes Symbolverständnis erforderlich, das auch äußerst reduzierte Symbolbildungen erkennbar und wahrnehmbar macht. Im Blick auf (schwer) geistig behinderte Menschen geht es darum, gerade die einfachsten Formen von Symbolbildungen als solche zu identifizieren und als Bildung zu erkennen. Die Symbolfunktion besteht in der Fähigkeit, ›etwas‹ durch ›etwas anderes‹ – nämlich durch Symbole – zu ›repräsentieren‹. So kann etwas bereits Vergangenes oder Abwesendes wieder ›vergegenwärtigt‹ werden« (Ackermann 2010, 234).

Auf diesem Wege wird der Bildungsbegriff mit »nicht-autonomen«, »unvernünftigen« und eigensinnigen Sprech- und Verhaltensweisen konfrontiert. Die möglicherweise auf Dauer gestellte Notwendigkeit stellvertretender Intentionalität in Verbindung mit »erwartungswidrigen« eigensinnigen Aneignungsprozessen irritieren die für Bildung prominenten Vorstellungen des autonomen und vernünftigen Subjekts und kennzeichnen letzten Endes die Aporie eines Bildungsbegriffs, der seinen normativ-humanen Überschuss nicht aufgeben kann, aber gleichzeitig dieses Humane nicht durch die Exklusion (von Menschen mit geistiger Behinderung) aufs Spiel setzen darf (vgl. Musenberg 2014, 300).

Dem Eigensinn der Lernenden muss Raum und Resonanz gegeben werden, um nach produktiven Möglichkeiten der »Verunsicherung« und »Irritation« zu suchen. Bildungsprozesse werden laut Koller nur dann in Gang gesetzt, wenn die subjektiven Selbst- und Weltverhältnisse irritiert und infrage gestellt werden (vgl. Koller 2012, 77–78). Es geht dann also nicht nur darum, den jeweils individuellen Eigensinn verschiedener Schüler_innen wertzuschätzen, sondern es geht auch darum, diesen zu irritieren. Sowohl in der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse als auch in der Geschichtsdidaktik und Geschichtstheorie werden die Verunsicherung und ein dadurch hervorgerufenes Orientierungsbedürfnis als zentrales Motiv (historischer) Bildung angesehen (vgl. Ankersmit 2012; Rüsen 2013; Bräuer/Schreiber 2016).

Auch die folgenden Beiträge tragen zur Irritation fachwissenschaftlicher und didaktischer Routinen in Theorie, Empirie und Pragmatik bei und bieten Reflexionsanstöße für die Weiterentwicklung historischer Bildung in inklusiven Zusammenhängen.

Literatur

Ackermann, Karl-Ernst (2010): Zum Verständnis von »Bildung« in der Geistigbehindertenpädagogik. In: Musenberg, Oliver/Riegert, Judith (Hrsg.): Bildung und geistige Behinderung. Bildungstheoretische Reflexionen und aktuelle Fragestellungen. Oberhausen, 53–72.

Alavi, Bettina/Lücke, Martin (Hrsg.) (2016): Geschichtsunterricht ohne Verlierer!? Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts.

Ammerer, Heinrich/Hellmuth, Thomas/Kühberger, Christoph (Hrsg.) (2015): Subjektorientierte Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts.

Ankersmit, Frank R. (2012): Historische Erfahrung. Berlin.

Barsch, Sebastian/Hasberg, Wolfgang (Hrsg.) (2014): Inklusiv Exklusiv. Historisches Lernen für alle. Schwalbach/Ts.

Bräuer, Benjamin/Schreiber, Waltraud (2016): Orientierungsgelegenheiten – Theoriebildung für gemeinsames Geschichtslernen in inklusiven Klassen. In: Kühberger, Christoph/Schneider, Robert (Hrsg.): Inklusion im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung geschichtsdidaktischer und sonderpädagogischer Fragen im Kontext inklusiven Unterrichts. Bad Heilbrunn, 85–102.

Dannemann, Adolf (1911): Eigensinn. In: Enzyklopädisches Handbuch der Heilpädagogik. Berlin, 419–420.

Dörpinghaus, Andreas/Poenitsch, Andreas/Wigger, Lothar (2013): Einführung in die Theorie der Bildung. Darmstadt.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (2009): Phänomenologie des Geistes [1807]. Stuttgart.

Kafka, Franz (1919): Ein Bericht für eine Akademie: In: Raabe, Paul (Hrsg.) (1994): Franz Kafka. Sämtliche Erzählungen. Frankfurt a. M., 147–155.

Koller, Hans-Christoph (2012): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart.

Kühberger, Christoph/Schneider, Robert (Hrsg.) (2016): Inklusion im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung geschichtsdidaktischer und sonderpädagogischer Fragen im Kontext inklusiven Unterrichts. Bad Heilbrunn.

Lindenberger, Thomas (2014): Eigen-Sinn, Herrschaft und kein Widerstand. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 2.9.2014, URL: http://docupedia.de/zg/Eigensinn?oldid=97390 (30.01.2016)

Lücke, Martin (2015): Inklusion und Geschichtsdidaktik. In: Riegert, Judith/Musenberg, Oliver (Hrsg.): Inklusiver Fachunterricht in der Sekundarstufe. Stuttgart, 197–206.

Lüdtke, Alf (2002): Eigensinn. In: Jordan, Stefan (Hrsg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Stuttgart, 64–67.

Luhmann, Niklas (2004): Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg.

Musenberg, Oliver (2014): Selbst-Transformation und geistige Behinderung. Anmerkungen aus sonderpädagogischer Perspektive zu Krassimir Stojanovs Bestimmung des Bildungsbegriffs. In: Erwägen – Wissen – Ethik, 25, 2, 299–301.

Musenberg, Oliver (2016): Perspektiven ›eigensinniger Aneignung‹ von Geschichte. Impulse für die Theoriebildung inklusiver Geschichtsdidaktik. In: Alavi, Bettina & Lücke, Martin (Hrsg.): Geschichtsunterricht ohne Verlierer!? Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts., 19–33.

Nuber, Ursula (2016): Eigensinn. Die Strategie für ein selbstbestimmtes Leben. In: Psychologie heute 43, 3, 18–23.

Pollmanns, Marion (2006): Didaktik und Eigensinn. Zu Alexander Kluges Praxis und Theorie der Vermittlung. Wetzlar.

Reich, Kersten (2014): Inklusive Didaktik. Bausteine für eine inklusive Schule. Weinheim und Basel.

Rekus, Jürgen (2016): Allgemeinpädagogische Überlegungen aus Anlass der Inklusionsdebatte. In: Vierteljahresschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 92, 1, 46–56.

Riegert, Judith (2016): Lerngegenstände und ihre Rekonstruktion im zieldifferenten Unterricht – Forschungsperspektiven. In: Musenberg, Oliver/Riegert, Judith (Hrsg.): Didaktik und Differenz. Bad Heilbrunn, 215–232.

Rüsen, Jörn (2013): Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln, Weimar, Wien.

Schiesser, Giaco (2004): Arbeit am und mit Eigensinn. Medien, Kunst, Ausbildung oder: über den Eigensinn als künstlerische Produktivkraft. In: URL: http://www.xcult.org/texte/schiesser/eigensinn_d.pdf (01.05.2016).

Stojanov, Krassimir (2014): Zur Bestimmung und Abgrenzung eines Grundbegriffs der Humanwissenschaften. In: Erwägen – Wissen – Ethik, 25, 2, 203–212.

Voß, Reinhard (Hrsg.) (1989): Das Recht des Kindes auf Eigensinn. Die Paradoxien von Störung und Gesundheit. München.

Zirfas, Jörg (2012): Eine pädagogische Anthropologie der Behinderung – Über Selbstbestimmung, Erziehungsbedürftigkeit und Bildungsfähigkeit. In: Moser, Vera/Horster, Detlef (Hrsg.): Ethik der Behindertenpädagogik. Stuttgart, 75–89.

Thomas Lindenberger

Eigen-Sinn, Herrschaft und kein Widerstand[1]

»Eigen-Sinn: denoting willfulness, spontaneous self-will, a kind of self-affirmation, an act of (re)appropriating alienated social relations on and off the shop floor by self-assertive prankishness, demarcating a space of one’s own. There is a disjunction between formalized politics and the prankish, stylized, misanthropic distancing from all constraints or incentives present in the everyday politics of Eigen-Sinn. In standard parlance, the word has pejorative overtones, referring to ›obstreperous, obstinate‹ behavior, usually of children. The ›discompounding‹ of writing it as Eigen-Sinn stresses its root signification of ›one’s own sense‹ own meaning. It is semantically linked to aneignen (appropriate, reappropriate, reclaim).«[2]

Aus Anlass der 1995 erscheinenden englischen Übersetzung der von ihm 1989 herausgegebenen Aufsatzsammlung »Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen«[3] erläuterte Alf Lüdtke in einem (in der deutschen Fassung nicht enthaltenen) Glossar einen sperrigen, in der Wissenschaftssprache bis dahin unbekannten Terminus: »Eigen-Sinn«. Seitdem ist dieses Wort auch in der internationalen Forschung zum Schlüsselbegriff für jene Forschungsrichtung in der deutschen Geschichtswissenschaft geworden, deren wichtigste Positionen in diesem Band unter dem Sammelbegriff »Alltagsgeschichte« vorgestellt wurden. Alf Lüdtke, seinerzeit am Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte tätig, hatte bereits 1986 vorgeschlagen, das Alltagswort »Eigensinn« zum genaueren Verständnis von Handlungen und Verhaltensweisen von Fabrikarbeitern zu verwenden.[4]

25 Jahre später kommt »Eigensinn« oder »Eigen-Sinn«[5] in einigen hundert deutschen Buchtiteln vor. Meist wird dabei auf die alltagssprachliche, dem Umgang mit uneinsichtigen Kindern entnommene und früher fast ausschließlich negative Bedeutung von »Eigensinn« abgehoben, allerdings mit Vorzeichenverkehrung. Heutzutage soll »Eigen-Sinn« meist Positives assoziieren, etwa wenn er dem (vermeintlich oder tatsächlich verhaltensgestörten) hochbegabten Kind zugeschrieben wird.[6] Musikbands[7] und Kunstpädagogen,[8] die »Eigensinn« für sich reklamieren, wollen Individualität und Ambiguität als Attribute von Kreativität signalisieren. Im Gegensatz dazu assoziierte das »eigen-sinnige Kind« früher eindeutig Negatives: Es war »verstockt«, verschloss sich den Erziehungsbemühungen Erwachsener, es machte »Probleme«.

Das alltagsgeschichtliche Konzept »Eigen-Sinn« lässt sich in seiner ursprünglichen Bestimmung gerade nicht auf das eine oder das andere reduzieren, und diese Uneindeutigkeit ist Teil seiner »Botschaft«. Es ist kein Zufall, sondern entspricht dem methodologischen Selbstverständnis von Alltagshistorikern, dass – vom Sonderfall des eingangs zitierten Glossar-Eintrags abgesehen – in der Forschungsliteratur keine Begriffsdefinition im herkömmlichen Sinne zu finden ist. Seine »Entdeckung« durch Alf Lüdtke knüpfte vielmehr gezielt an die im überlieferten Sprachgebrauch früherer Jahrhunderte auffindbaren Mehrdeutigkeiten an, und dabei soll es auch in diesem Artikel bleiben.

»Eigen-Sinn« – ein Kind der 1980er-Jahre

Das Unterfangen von Alf Lüdtke, Mitte der 1980er-Jahre einen solchen Terminus in die wissenschaftliche Debatte einzuführen, war Teil einer unter kritischen Intellektuellen der alten Bundesrepublik verbreiteten Suche nach neuen Begriffen und Denkweisen. Die in der Protestbewegung von 1968 an Universitäten heimisch gewordenen Spielarten des Marxismus hatten an Attraktivität und Glaubwürdigkeit eingebüßt. Zugleich konfrontierten die Neuen Sozialen Bewegungen die sich als gesellschaftskritisch verstehende Geschichtsschreibung mit neuen Fragehorizonten und Orientierungsbedürfnissen. Die diesen Bewegungen zuzurechnenden Geschichtswerkstätten stellten mit ihrer öffentlichen Kritik an der herkömmlichen Praxis von Geschichtswissenschaft eine gegen diese »Zunft« gerichtete außeruniversitäre Art von »Basisbewegung« dar.[9] Ihnen wie den an Alltagsgeschichte interessierten akademischen Historikern ging es darum, historische Fragestellungen im Hinblick auf einzelne konkrete Menschen und aus ihrer Perspektive heraus zu entwickeln. Was bis dahin gerade in Deutschland Historikergenerationen aller Couleur unhinterfragt praktiziert hatten, nämlich die pauschale Subsumtion der Handlungen und Motive der vielen Einzelnen unter »Großereignisse« Krieg und Revolution, Hyperinflation und Depression, Rationalisierung und technologische Revolution, Zusammenbruch und Wirtschaftswunder, erschien im Zeichen von »Mehr Demokratie wagen« und individueller Emanzipation zunehmend fragwürdig.

Das sollte aber nicht heißen, dass Marx’ Diktum von den Menschen, die »ihre eigene Geschichte« machen, aber »nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen«,[10] seine Gültigkeit verloren hatte, im Gegenteil. Umso dringender war zu fragen: Wie ist das Verhältnis von Individuen, Vergesellschaftung und Herrschaft in hochmodernen Industrie- und Klassengesellschaften auf der Ebene und aus der Sicht der vielen einzelnen Akteure zu fassen? Wie sind in der herkömmlichen Überlieferung »namenlos« gebliebene Arbeiter und Bauern, Dienstmägde und Straßenhändler, Prostituierte, Handwerksgesellen usw. historisch zu fassen, wie ihr Handeln und Nicht-Handeln als konkrete Forschungsgegenstände zu konzipieren?

Dem kapitalismuskritischen Klima der Nach-68er-Zeit entsprechend ging es zunächst um den männlichen Industriearbeiter und seine kollektive Existenzweise als »Klasse«, und das galt nun auch für den neuen Begriff des Eigen-Sinns. Man suchte dem emanzipatorischen Potenzial von Arbeiterbewegung, Arbeiterklasse und Arbeiterexistenz auf den Grund zu gehen. Im Zeichen der ernüchternden Einsicht in das »Ende der Arbeiterklasse« (André Gorz) und des ökonomischen wie intellektuell-moralischen Scheiterns des »ersten Arbeiter- und Bauernstaats in der deutschen Geschichte«[11] fiel die Bilanz dieser Suchbewegung im Rückblick betrachtet bescheiden aus. In gutem Hegel’schen Sinne einer dreifachen »Aufhebung« konnte das historiografische Konzept des »Eigen-Sinns« diesen post-marxistischen Entstehungszusammenhang hinter sich lassen, ohne dass es je einer Distanzierung von diesem Ursprung bedurft hätte. Wo immer es (zumindest im deutschsprachigen Kontext) um individuelle Verhaltensweisen und Handlungen in ihrer Bedeutung für Macht und Herrschaft, für Unterwerfung und Aufbegehren, für Mitmachen, Widerstehen oder Aussteigen gehen soll, bietet sich heute »Eigen-Sinn« als historiografisches Konzept an.

Wie es dazu kam, soll im Folgenden in drei Schritten erläutert werden: Am Anfang steht das Sprachumfeld der Aufklärung, in dem Alf Lüdtke »Eigen-Sinn« in jener Bedeutung vorgefunden hat, deren Aufgreifen ihm für seine Forschungen über die Bedürfnisse und Orientierungsmuster von Industriearbeitern so vielversprechend erschien. In einem zweiten Schritt gilt es, das in hohem Maße zeitgebundene Erkenntnisinteresse, mithin das, worum es Historikern und Historikerinnen bei der Ausarbeitung und Anwendung des Konzepts in der Zeit bis ca. 1990 politisch ging, zu rekonstruieren: Die bohrende und bis heute beunruhigende Frage galt der gerade auch bei Arbeitern vorherrschenden »Fügsamkeit in oktroyierte Ordnungen« (Max Weber), die sich vor allem im folgenschweren Ausbleiben von Arbeiter-Widerstand im Nationalsozialismus manifestiert hatte. Anhand des ab Mitte der 1990er-Jahre verstärkt einsetzenden Interesses an der Alltagsgeschichte der DDR wird es in einem dritten Schritt um einen der besonders erfolgreichen Transfers des Konzepts in neue Gegenstandsbereiche und um seine sukzessive Verbreitung in der allgemeinen historischen Forschung gehen.

Eigen-Sinn und Arbeit

Der Eintrag für »Eigensinn« in der 1859 erschienenen Folge des »Grimm’schen Wörterbuchs« lautet »animus difficilis, obstinatus« (ein schwieriger, störrischer Geist) oder als Bezeichnung für eine Person »difficilis homo« (ein schwieriger Mensch).[12] Worin genau das »Schwierige« besteht, bleibt dabei offen. Dieser Wörterbucheintrag ist noch eher wertneutral gehalten, da er offenkundig auf die konventionelle Verwendung dieses Terminus für jemanden, der als »schwierig« gilt, abzielt. »Meyers Konversations-Lexikon« von 1888 hingegen gibt eine klare Richtung an: Es geht um das Verhältnis von Vernunft und Un-Vernunft, um jemanden, der an eigenen Meinungen wider allen Argumenten festhält:

»Eigensinn, das hartnäckige Beharren bei einer Meinung oder einem Streben, trotzdem, daß durch einleuchtende Gründe das Irrige und Verkehrte derselben nachgewiesen ist, aus keinem andern Grund, als weil es die oder das eigne ist.«[13]

Dass ein solches Verhalten vom aufklärerischen Standpunkt lexikalischen Wissens her als negativ bewertet wurde, bedurfte keiner weiteren Begründung.

In den Quellen vor dieser ersten Blütezeit der unumschränkten Wissenschaftsgläubigkeit findet sich jedoch bei niemand Geringerem als Johann Wolfgang von Goethe »Eigensinn« auch in positiver Verwendung, nämlich als innere Kraft, als persönliches Beharrungsvermögen. In den »Wanderjahren« lässt er einen Hausbesitzer erzählen:

»Die Beharrlichkeit auf dem Besitz […] gibt uns in manchen Fällen die größte Energie. Diesem Eigensinn bin ich die Rettung meines Hauses schuldig. Als die Stadt brannte, wollte man auch bei mir flüchten und retten. Ich verbot’s, befahl, Fenster und Türen zu schließen, und wandte mich mit mehreren Nachbarn gegen die Flamme. Unserer Anstrengung gelang es, diesen Zipfel der Stadt aufrechtzuerhalten. Den andern Morgen stand alles noch bei mir, wie Sie es sehen und wie es beinahe seit hundert Jahren gestanden hat.«[14]

Hier steht »Eigen-Sinn« für das Bestehen gegen eine Mehrheitsmeinung oder -stimmung, darauf gerichtet, dem eigenen Urteil folgend, etwas »Eigenes«, nämlich den Hausbesitz, zu retten. Dieser Eigen-Sinn ist situationsbedingt – »Als die Stadt brannte« – und beruht auf Machtressourcen – »Ich verbot’s«. Beharrungskraft, die sich als Abwehr von Erwartungen in bestimmten Interaktionen zeigt und auch hinzutretenden Beobachtern sofort augenfällig wird, ist auch in jener im Folgenden dokumentierten Fundstelle enthalten, die Alf Lüdtke zur Entwicklung eines Konzepts um das Wort »Eigensinn« inspiriert hat.

Der die Aufklärung in allgemeinverständlicher Sprache betreibende »Popularphilosoph« Christian Garve veröffentlichte 1790 einen Bericht »Ueber den Charakter der Bauern und ihre Verhältniß gegen die Gutsherrn und gegen die Regierung«, der auf seinen Beobachtungen der Landbevölkerung in Schlesien beruhte und 1974 im Faksimiledruck von Kurt Wölfel neu herausgegeben wurde.[15] Lüdtke führt ihn in einer ausführlichen Fußnote als einen »Text ›dichter Beschreibung‹« an, in dem es um »das Verhalten der abhängigen Bauern in Schlesien gegenüber dem Grundherren geht« und zitiert daraus:

»Zu dem tückischen Wesen [der Bauern] kann man als einen Bestandtheil, oder als eine Folge, einen gewissen Eigensinn setzen, der den Bauer, wenn er in Leidenschaft ist, oder wenn ein Vorurtheil sich einmal bey ihm eingewurzelt hat, unterscheidet. So wie sein Körper und seine Glieder steif sind, so scheint es in diesem Falle auch seine Seele zu seyn. Er ist alsdann taub gegen alle Vorstellungen, die man ihm macht. […] Nichts bringt mehr gegen den Bauern auf, als wenn man diesen Eigensinn an ihm gewahr wird. Denn was kann der Höhere weniger ertragen, als wenn der Geringere ihn nicht hört? […]«

Im Garve’schen Text sind zwei wesentliche Eigenschaften des späteren Konzepts enthalten: Zum Ersten thematisiert und reflektiert er die Beziehung von Beobachter und Beobachteten als ein zugleich sozial und kognitiv determiniertes Verhältnis. »Eigensinnig« erscheinen die Bauern zunächst in den Augen ihrer »Höheren«. Zugleich entziehen sie sich, wie Garve schreibt, den Vorstellungen auch der – das Geschäft der Aufklärung betreibenden – »Gutmeinenden« keineswegs aus »Bosheit«, sondern weil ihnen die Ansichten von ihresgleichen mehr bedeuten als die von Richtern oder Vorgesetzten oder auch aufgrund der »Ungelenksamkeit des Verstandes« infolge von fehlender »Cultur« und »Kenntnissen«. »Der Menschenfreund« wird daher »Ursache finden, Geduld und Nachsicht zu beweisen«[16] – der sich für diese Individuen interessierende und mutatis mutandis Ende des 20. Jahrhunderts immer noch der Aufklärung verpflichtete historische Anthropologe unserer Tage, so lässt sich füglich ergänzen, ebenfalls.

Die Begriffe, die im Beobachtungsprozess generiert werden, können nicht vollständig ihrer vorgefundenen sozialen Determinierung entkleidet werden. Indem sich der Beobachter diesen Umstand als ihre immanente Begrenzung immer wieder bewusst macht, erkennt er zugleich an, dass es jenseits der durch das soziale Gefälle konstituierten Un-Verständlichkeit der »Eigensinnigen« auch eine kognitiv bedingte gibt. Der »Eigensinn« der schlesischen Bauern ereignet sich nicht nur in der Befremdungserfahrung der ihnen begegnenden Gutsherren und Forschungsreisenden, sondern er steht auch für eine tatsächlich andere Praxis des Denkens und Verstehens. Diese Betonung des Unterschieds zwischen dem Sinn gemäß der Wahrnehmung des Beobachters und dem Sinn in den Augen und im Tun des Beobachteten, der nur diesem »eigen« ist, wird in frühen Verwendungsweisen durch den Bindestrich angedeutet, den Alf Lüdtke an einigen Stellen in seinen Abhandlungen aufgegriffen hat.[17]

Zum Zweiten ist bereits in dieser Fundstelle eine weitere Dimension des Konzepts angelegt: Eigen-Sinn lässt sich nicht abgelöst von der Physis der zu untersuchenden Akteure denken. Garve beschreibt eine Analogie der »Steifheit« von Gliedern und Seele, die aber, wie er in der folgenden Szene ausführt, situationsbedingt ist:

»Jeder erinnert sich ohne Zweifel solche [tückischen – T. L.] Gesichter von Bauernknaben gesehen zu haben, wo das eine Auge, oder auch vielleicht beyde unter den halbgeschlossenen Augenliedern, wie verstohlen hervorschielen, deren Mund offen und zu einem spöttischen, etwas dummen Lachen verzogen, der Kopf gegen die Brust angedrückt oder doch zur Erde gesenkt ist, als wenn er sich verbergen wollte: mit einem Worte, Gesichter, in welchem sich Furcht, Blödigkeit, Einfalt, mit Spott und Abneigung vermischt, abmahlen. Solche Knaben stehen, wenn man etwas von ihnen verlangt, oder zu ihnen redet, unbeweglich und stumm wie ein Stock; sie antworten auf keine Frage, die der Vorübergehende thut. Ihre Muskeln sind wie steif und unbeweglich. Sobald aber der Fremde sich ein wenig entfernt, laufen sie zu ihren Kameraden und brechen in ein lautes Gelächter aus.«[18]

»Eigensinnige Körperlichkeit«[19] erlaubt den Akteuren Distanzierung von herrschaftlichen Zumutungen, sowohl während der direkten Interaktion als auch nachdem sich die Autoritätsperson oder auch der Beobachter abgewandt haben. Den Blick zu schärfen für die non-verbalen leibgebundenen Verhaltensdimensionen, neben den Sinn-stiftenden Worten und Symbolen auch die Körper der Akteure als bedeutungsträchtige und bedeutungsgebende Sinnes-Organe zu untersuchen, ist Kernbestandteil des Lüdtke’schen Eigen-Sinn-Konzepts.

Lüdtke hat diese Sichtweise erstmals im Zuge seiner Forschungen über Industriearbeiter in der Zeit der Hochindustrialisierung ausgearbeitet. In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Schlüsseltext zu nennen, der sich ebenfalls für eine historisch-anthropologische Lesart anbot: Die Berichte des jungen Pfarrers Paul Göhre über seine mehrmonatigen Erfahrungen als Hilfsarbeiter in der Werkzeugmaschinen-Abteilung eines Berliner Großbetriebs kurz vor der Jahrhundertwende.[20] Göhre berichtete zum einen sehr differenziert über die verschiedenen Fertigkeiten (der Former, Dreher, Bohrer etc.), über den Zwang zur Kooperation unter den widrigen Umständen der allgegenwärtigen Fabrikordnung, zum anderen jedoch auch ausführlich über den körperlichen und sprachlichen Umgang der Arbeiter miteinander als die Art und Weise, wie sie unter diesen Umständen Distanz und Nähe ausbalancierten. Dazu gehörten insbesondere auch wechselseitige »Neckereien« und kleine Streiche, die in den regulären Arbeitsalltag eingebettet waren und in denen Körperlichkeit und männliches Verhalten zur Schau gestellt wurden. Derartiges »Innehalten«, wozu auch das Einlegen von »illegalen« Pausen oder die Dehnung von betriebsbedingten Wartezeiten gehören konnten, ermöglichte es den Arbeitern, eigenen Bedürfnissen nachzugehen, auch wenn dies nicht notwendigerweise zum Konflikt mit dem Fabrikregime führte. »Diese Umgangsweisen und Ausdrucksformen waren nicht als direkter Widerstand gegen die Zumutung ›von oben‹ gemeint. Sie drückten vielmehr den Anspruch auf einen eigenen Raum aus – ›Eigensinn‹.«[21]

Eigen-Sinn und Widerstand

Natürlich ging es bei der Entwicklung dieses Konzepts um mehr als eine methodisch reflektierte Erkundung vergangener Arbeiterexistenz vom Arbeitsplatz her. An den Untersuchungsgegenstand »Arbeiter« und »Arbeiterklasse« knüpften sich politische Interessen und Erwartungen, aber auch das Wissen um enttäuschte Hoffnungen und historisches Scheitern. Es ging daher beim »Eigen-Sinn« immer auch um die Rekonstruktion der Möglichkeiten und Grenzen von Arbeiterpolitik.

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der NS-Diktatur gewann vor allem um 1968 an Intensität und verband sich mit einer Wiederentdeckung unorthodoxer Spielarten marxistischer Geschichtsauffassungen. In der Folge rückte die Arbeiterklasse als jenes Kollektivsubjekt, das »nichts zu verlieren hat als seine Ketten«, in das Zentrum kritischer Geschichtswissenschaft. Im Rahmen dieser Lesart von Kapitalismusgeschichte figurierte der Faschismus als die extremste Form der Herrschaft des Kapitals, und die von einer marxistischen Partei geführte Arbeiterklasse galt als ihr unerbittlichster Gegner. Die jungen Seminarmarxisten knüpften damit an die Erwartungen linker Intellektueller der frühen 1930er-Jahre an:

»Jeden Tag brennt in dem Herzen der Proletarier seine Entrechtung. Bis die rote Glut eines Tages hervorbrechen wird. Sie wird überquellen wie ein unwiderstehlicher Lavastrom und die Profitwirtschaft mit ihrem Hunger und ihrer Knechtung umschmelzen zu einer besseren Welt. Einst kommt der Tag«,

hatte ein sozialdemokratischer Redakteur im Ruhrgebiet 1931 mitten in der Weltwirtschaftskrise formuliert.[22] Als die Nazis zwei Jahre später binnen weniger Monate die Arbeiterorganisationen zerschlugen, kam »der Tag« bekanntlich nicht. Die übergroße Mehrheit der Arbeiter leistete auch in den folgenden Jahren keinen Widerstand. »Wo blieb die ›rote Glut?‹«, übertitelte Alf Lüdtke 1989 eine Abhandlung, in der es um das Mitmachen und die Anpassungsbereitschaft von Arbeitern in der NS-Diktatur geht. Die Anpassungsbereitschaft der Industriearbeiter ist demnach in erster Linie von ihren Beziehungen am Arbeitsplatz, der ihnen ihre materielle und soziale Existenz sichert, her zu rekonstruieren. Dort müssen sie – im Sinne der bereits von Göhre ausführlich beschriebenen unfreiwilligen Notwendigkeits-Kooperation – zusammenwirken, um ihr Überleben zu sichern. Individuelle und kollektive Kalküle müssen zur Deckung gebracht werden, Fabrik- und Arbeitsdisziplin gilt es mit dem Aufrechterhalten von Eigenständigkeit zu verbinden. Wenn sich Arbeiter auf diese Weise das betriebliche Herrschaftsverhältnis, genauer: die Vielzahl der konkreten Zumutungen, die mit der Zugehörigkeit zum Herrschaftsverband Betrieb als Herrschaftsunterworfener einhergehen, aneignen, dann auch und gerade, um darin zu bestehen. Es ging für sie auch unter den politischen Bedingungen der Diktatur darum, ihre fremdbestimmte Existenz mit Sinn zu erfüllen, einem »Sinn für sich selbst«. Dabei spielen gerade bei männlichen Industriearbeitern das Zutrauen in die Qualität der eigenen Arbeit und der Stolz darauf eine hervorgehobene Rolle.

Diesen Sinn für den Wert der eigenen Arbeitsfähigkeit anzusprechen, war eine der wirksamsten Überzeugungsmethoden der Nationalsozialisten. Sie stellten den Respekt für den »Fleiß der Arbeit« immer wieder in den Mittelpunkt ihrer Propaganda. Einer ihrer besonders cleveren Schachzüge während der Monate der Machtübernahme nach dem 30. Januar 1933 war zweifellos die Erklärung des 1. Mai zum offiziellen Feiertag und seine erstmalige Begehung als feierlicher Staatsakt auf dem Tempelhofer Feld in der Reichshauptstadt. Dass am Tag darauf sämtliche Gewerkschaften verboten und die Arbeiter zusammen mit den Unternehmern in die Deutsche Arbeitsfront gezwungen wurden, änderte wenig an der enormen Suggestionskraft dieser öffentlichen Anerkennung des Werts körperlicher Arbeit. Dass Arbeiter auf diese von weiteren sozialpolitischen Maßnahmen sowie auf die dank massiver Aufrüstung rückläufige Massenarbeitslosigkeit positiv reagierten, ist in der Forschung vielfach belegt.[23]