In den herrlichen schneeweißen Federn, auf denen ich geschlafen hatte, glitzerten goldene Diamanten. Eine Hand strich sanft wie ein Sonnenstrahl über meine Wange. »Guten Morgen«, flüsterte Nathaniel.
»Mhh …« Ich kuschelte mich an seine Brust.
Er lachte leise. Seine Finger schoben eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. »Es tut mir jedes Mal leid, dich zu wecken«, sagte er. »Ich sehe dir gern beim Schlafen zu.«
Engel schliefen nicht. Das war nur eines der vielen seltsamen Dinge, die ich bisher über Nathaniels Welt erfahren hatte.
»Du siehst so friedlich aus«, flüsterte er. »Außer wenn …« Sein Blick ruhte gequält und fragend auf meinem Gesicht.
Ich erriet, was er befürchtete.
»Keine Albträume«, versicherte ich und stützte mein Kinn auf seine Brust. »Lazarus lässt sich nicht blicken.«
Nathaniel runzelte die Stirn. »Noch nicht«, murmelte er düster. »Es ist bestimmt nur eine Frage der Zeit …«
Ich legte einen Finger an Nathaniels Lippen und er verstummte. Dann zog ich meine Halskette hervor und hielt den Anhänger vor sein besorgtes Gesicht.
»Ich habe Melindas Anker, schon vergessen?« Der kleine Kristallstift mit dem funkelnden schwarzen Kern baumelte an meiner Hand.
Nathaniel ignorierte meinen Versuch, ihn zu beruhigen. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Lazarus angreift«, beendete er seinen Satz. »Wenn es so weit ist, wirst du einen machtvolleren Schutz brauchen als eine Halskette. Selbst, wenn sie das Fragment eines Erzengels enthält.«
»Diese Halskette hat es mir ermöglicht, Lazarus auszutricksen.«
Nathaniel schloss die Augen. »Erinnere mich bloß nicht daran! Wenn ich mir vorstelle, dass du einen Dämon reingelegt hast …«
»Wenn ich es nicht getan hätte, dann wärst du jetzt nicht mehr hier. Die Erzengel hätten dich verdammt. Mir wird noch immer ganz schlecht, wenn ich nur daran denke.« Ein Schauer lief durch meinen Körper und Nathaniels Arme schlossen sich enger um mich.
»Ich weiß«, flüsterte er. »Und ich werde dir für deine Hilfe ewig dankbar sein. Aber du hättest Lazarus' Zorn nicht auf dich ziehen dürfen. Nicht meinetwegen. Ich bin dein Schutzengel. Ich sollte derjenige sein, der dich beschützt.«
»Hätte ich etwa dabei zusehen sollen, wie sie dich in die Hölle verbannen? Die Vorstellung, dass du dort zwischen all den Dämonen und Inferni …« Ich verstummte und drückte mich an ihn.
»In der Hölle zu sein, wäre nicht das Schlimmste daran gewesen«, sagte er. »Aber ich hätte es nicht ertragen, von dir getrennt zu sein.«
»Mir geht's ebenso.« Ich murmelte die Worte gegen seine Brust, damit er nicht bemerkte, wie rot ich dabei wurde.
»Du wirst diese Ängste nie wieder durchstehen müssen«, versprach er leise.
Die Strahlen der Morgensonne brachen sich auf seiner golden schimmernden Haut und in seinen glitzernden Schwingen, die uns umgaben wie weiße Wolken voller kleiner Diamanten. Nachdenklich betrachtete ich sein wildes, blondes Haar und seine hellbraunen, golden gesprenkelten Augen.
Er ist wunderschön …
»Danke«, schmunzelte er.
»Manchmal wäre es mir lieber, wenn du meine Gedanken nicht hören könntest«, brummelte ich. Mit feuerroten Wangen löste ich mich aus seiner Umarmung. Ich setzte mich auf und drehte ihm den Rücken zu.
Eigentlich müsstest du schon unglaublich eingebildet sein, so oft wie du hörst, was ich über dich denke, murmelte ich in meinem Kopf.
»Das bin ich doch«, grinste er. »Ein eingebildeter, selbstverliebter und natürlich wunderschöner …«
»Spinner!« Ich warf ihm ein kleines Kissen an den Kopf.
Nathaniel fing es mühelos und lachte. Sein umwerfendes Lachen ließ mich für einen Moment alles vergessen. Ich starrte ihn einfach an, vollkommen eingenommen von seinem Anblick.
Wieder einmal war ich unendlich dankbar dafür, dass er nicht alle Gedanken hören konnte, die in diesem Moment wie ein Feuerwerk in meinem Kopf explodierten. Ich war dankbar für den geheimnisvollen Schild, der meine verbotenen Gefühle vor ihm und allen anderen Engeln abschirmte … obwohl ich nicht begreifen konnte, dass er diese Gefühle nicht gerade jetzt in meinen Augen lesen konnte.
Ich war unsterblich in Nathaniel verliebt. Und wenn er das jemals erfahren sollte, waren wir beide verloren.
»Ich sehe es in deinen Augen«, sagte Nathaniel plötzlich.
Ich erstarrte. Eiseskälte breitete sich in mir aus.
»Du siehst … was?« Meine Stimme klang auf einmal heiser.
Nathaniel setzte sich mit einer eleganten Bewegung auf. Mein Blick flackerte unsicher über sein Gesicht. Ich befürchtete … aber es war doch unmöglich … oder nicht?
Hatte er entdeckt, was der Schild eigentlich verborgen halten sollte? Nervös suchte ich in seinem schönen Gesicht nach einem Hinweis darauf, dass er meine wahren Gefühle für ihn erahnte. Ich fühlte, wie rasend schnell mein Herz plötzlich schlug.
Ich hatte keine Ahnung, wie er reagieren würde. Er würde natürlich wissen, wie gefährlich diese Gefühle für ihn waren. Verunsichert suchte ich in Nathaniels Miene nach einem Anzeichen von Wut oder Ärger.
Doch in seinem Ausdruck lag etwas völlig anderes. Überrascht runzelte ich die Stirn. Ich musste mich irren, das konnte nicht …
»Danke«, sagte er leise.
»Äh … wofür?«, murmelte ich verwirrt.
Ein fast schüchternes Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Ich kann dir gar nicht sagen, was es mir bedeutet, dass du mich akzeptabel findest. Dass du mich in deiner Nähe sein lässt.«
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. »Akzeptabel …? Dass ich dich in meiner Nähe sein lasse …?« Verständnislos schüttelte ich den Kopf. Das war das Absurdeste, was ich je gehört hatte.
Nathaniel erhob sich. »Ich habe dir das nie erzählt, aber als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, habe ich befürchtet, dass du Angst vor mir haben könntest. Das wäre unerträglich für mich gewesen.«
»Wieso in aller Welt hätte ich mich denn vor dir fürchten sollen?«
»Als du mich erkannt hast, war ich zuerst genauso überwältigt wie du. Ich hatte mir nie erlaubt, von dieser Möglichkeit auch nur zu träumen. Dass du mich nicht akzeptieren würdest … dass du mich fürchten könntest … das war meine größte Angst«, sagte Nathaniel leise. »Nicht jeder Sterbliche reagiert so vertrauensvoll auf Geschöpfe wie uns. Deine Reaktion war ein Geschenk.«
Das strahlende Lächeln auf seinem Gesicht machte mich sprachlos.
Mein Puls beruhigte sich langsam wieder, denn der Schild schien intakt zu sein und meine Gefühle schienen vor ihm sicher. Doch ich war unfähig, auf seine völlig absurde Sichtweise zu antworten. Ich stotterte, weil ich überhaupt nicht begreifen konnte, wie er zu dieser irren Vorstellung kam.
»Du bist … das Unglaublichste, das ich … du bist … einfach …« Ich fand keine passenden Worte, die ihm auch nur annähernd gerecht würden und gab schließlich auf.
»So siehst du mich?« Ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen.
»Ich könnte mich niemals vor dir fürchten. Das ist einfach unmöglich.«
»Nicht einmal, als ich zum ersten Mal die Inferni zurück in die Hölle gejagt habe?«, fragte er forschend.
»Das war deine Befürchtung?«, murmelte ich ungläubig. »Dass du mir Angst machen könntest, mit diesem Engel-Explosions-Dings? Hast du deshalb so lange damit gewartet, mir deine Kräfte zu zeigen?«
»Erstens, mit diesem Engel-Explosions-Dings habe ich Höllenwesen vor deinen Augen zu Asche verbrannt«, erwiderte Nathaniel trocken. »Diese Erfahrung wäre genug gewesen, um jeden Sterblichen zu verschrecken. Und ich habe dich dabei auch noch in meinen Armen gehalten.«
»Eben. Ich wusste, dass mir nichts geschehen würde. Du würdest mir niemals wehtun.«
Nathaniel neigte den Kopf. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Und zweitens habe ich dich gar nicht so lange warten lassen, bevor ich dir meine Fähigkeiten gezeigt habe. Wenn ich mich recht erinnere, waren es gerade einmal fünf Tage, nachdem du mich erkannt hattest. Sehr wenig Zeit für eine Sterbliche, um sich an Engel und Dämonen zu gewöhnen … und ganz sicher nicht genug Zeit, um mit der vollen Ladung Schutzengelkräfte konfrontiert zu werden.«
Ich zuckte mit gespielter Lässigkeit die Schultern.
»Tut mir leid, aber so beeindruckend fand ich's gar nicht.«
Nathaniel hob überrascht die Augenbrauen. Im nächsten Augenblick packte er mich und wir fegten mit einem kraftvollen Satz quer durchs Zimmer. Mir blieb die Luft weg, als er mich sanft gegen die Wand drückte. Seine Schwingen hatte er schützend um mich gebreitet, so dass ich nichts als die weichen Federn und seine starken Arme um mich spürte.
»Nicht beeindruckend?«, knurrte er, doch in seinen Augen lag ein amüsiertes Funkeln. Seine Haut brodelte golden.
Ich spürte die angenehme Kühle, die von ihm ausging, als kleine Flämmchen über seinen Körper züngelten. Es war nicht annähernd vergleichbar mit der Kraft seiner Flammen, wenn er ernsthaft zornig wurde.
»Ein bisschen beeindruckend, ich geb's zu«, witzelte ich und schaute verschmitzt zu ihm auf. »Aber vergiss nicht, abgesehen von dir und den Dämonen musste ich noch mit ganz anderen Begegnungen fertig werden.«
Ich dachte an Nathaniels Verhandlung, bei der die Erzengel Michael, Gabriel und Uriel über Nathaniels Schicksal entschieden hatten.
»Du hast dich tapfer gehalten«, sagte Nathaniel. »Immerhin waren es Erzengel.«
»Oh ja, ich war furchtlos.« Ich verdrehte die Augen. »Bitte, ich habe kaum ein Wort herausgebracht.«
»Es war genug, um mich vor dem Fall zu retten.« Nathaniel löste meine gespielte Gefangennahme und berührte zärtlich meine Wange. Das Strahlen in seinen Augen ließ mich verwirrt den Blick senken.
»Das war ich nicht allein«, murmelte ich verlegen. »Ra und Sera haben den Hauptteil geleistet.«
Nathaniel schüttelte entschieden den Kopf. »Du hast mich gerettet.«
Ich lächelte und blickte verschämt nach unten. Nathaniels unmittelbare Nähe und der Ausdruck seiner Augen ließen mein Herz schneller schlagen.
Plötzlich blickte er auf. »Wo wir gerade von den beiden sprechen. Ra, Sera, guten Morgen.«
Ich lugte an Nathaniels mächtigen Schwingen vorbei. Hinter ihm standen, wie aus dem Nichts aufgetaucht, meine beiden anderen Engel.
Der bronzene Ramiel, sehnig gebaut und mit stechendem Blick, beobachtete uns mit verschränkten Armen. Er hatte ein kantiges Gesicht und tiefdunkle Augen, auf denen jetzt ein Schatten lag, während er wortlos darauf wartete, dass Nathaniel sich aus der vertrauten Umarmung mit mir löste. Ra war attraktiv, ungezähmt und charismatisch, und strahlte eine verunsichernde Lässigkeit aus. Er wachte über meinen Verstand und ließ mich die Dinge stets mit messerscharfer Klarheit erkennen — in diesem Moment die Tatsache, dass diese Art der Umarmung für uns gefährlich war. Für uns alle.
Seraphela, zierlich und von nahezu absurder Schönheit, hatte lange silberne Locken und schneeweiße Flügel, in denen winzige, silberne Diamanten funkelten. Sie war weit weniger diplomatisch als Ramiel und hatte sich nie die Mühe gemacht, zu verbergen, dass sie meine Gefühle für Nathaniel missbilligte. Als mein Gefühlsengel ahnte sie, wie ich für Nathaniel empfand, während ich Ramiel meine verbotenen Gefühle selbst gebeichtet hatte. Ich hatte ihn davon abhalten müssen, Jagd auf den Schild zu machen, denn der Schild schirmte zwar den Dämon Lazarus ab, aber er schützte auch Nathaniel.
Und zwar vor mir, gestand ich mir zähneknirschend ein. Wenn die Erzengel von meinen Gefühlen erfuhren, war es um Nathaniel geschehen. Kein Wunder, dass Seraphela zornig auf mich war.
Ihre eisblauen Augen fixierten mich feindselig.
»Guten Morgen«, erwiderte Ramiel schließlich gedehnt. Sein Blick ruhte immer noch bedeutungsschwer auf Nathaniel, der sich davon nicht im Mindesten beeindrucken ließ und sich kein Stück von mir entfernte. »Wir haben uns gefragt, ob es Neuigkeiten von Lazarus gibt.«
Ich räusperte mich und bewegte mich ein wenig von Nathaniel weg.
»Nein.« Ich zupfte meinen Pyjama zurecht und schenkte Sera ein scheues Lächeln, das sie nicht erwiderte.
Ramiel runzelte die Stirn. »Das Tribunal ist eine Woche her. Worauf wartet er?«
»Fünf Tage«, korrigierte ich ihn. »Es ist fünf Tage her.«
Fünf herrliche, erzengellose, bedrohungsfreie Tage. Fünf Tage, in denen ich nicht verrückt vor Angst gewesen war, Nathaniel für immer an die Hölle zu verlieren.
Nathaniel hörte meine Gedanken und drückte beruhigend meine Hand. Seras eisiger Blick schoss sofort zu unseren verschlungenen Fingern.
»Lazarus ist nicht in deinen Träumen aufgetaucht?«, hakte Ramiel nach. »Kein einziges Mal?«
Ich schüttelte den Kopf. »Kein einziger Albtraum.«
»Umso besser«, murmelte Nathaniel. »Da ich ihm nicht in Victorias Träume folgen kann, kann ich sie dort nicht vor ihm beschützen. Dieses verdammte Traumtabu!«
»Engelsschicksal«, erwiderte Ramiel. »Aber warum nutzt Lazarus diesen dämonischen Vorteil nicht aus? Schließlich war das auch früher seine bevorzugte Art, Victoria zu quälen.«
»Das, oder er hat seine Freunde geschickt.«
Ich erschauerte bei der Erinnerung an die Inferni und die von Dämonen besessenen Menschen, die Lazarus auf mich gehetzt und vor denen Nathaniel mich immer wieder beschützt hatte. Bei meinen angsterfüllten Gedanken züngelten plötzlich goldene Flammen über Nathaniels Haut, bedrohlich und völlig anders als die spielerischen Flämmchen vor wenigen Minuten.
»Was ist denn nur los mit euch?« Seras Stimme klang ärgerlich und ungeduldig. »Ra, bist du hier der Verstandesengel oder ich? Es liegt doch auf der Hand, was Lazarus vorhat!«
»Tatsächlich? Warum weihst du uns dann nicht in seine dämonischen Pläne ein?«
Sera überhörte Ramiels ironischen Ton. »Was auch immer Lazarus vorhat, es wird nicht in Victorias Träumen geschehen.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Nathaniel scharf.
»Ich glaube, er will Victoria direkt angreifen. Er selbst, ohne seine Handlanger. Er wartet nur noch auf den richtigen Zeitpunkt.«
Nathaniels Flammen knisterten zornig auf seinem Körper.
»Wenn das stimmt, warum hat er sie noch nicht angegriffen?« Ramiel wandte sich an Nathaniel. »Bist du seit dem Tribunal je von Victorias Seite gewichen?«
»Keinen Augenblick.« Nathaniel klang entrüstet. »Auf den Moment, in dem ich sie ungeschützt zurücklasse, wird Lazarus sehr lange warten müssen.«
»Unterschätze ihn nicht«, warnte Sera.
»Nichts wäre mir lieber, als wenn Lazarus auftauchen würde«, knurrte Nathaniel. »Wenn er sich nicht mehr hinter dem Schild verstecken würde, der Feigling, dann könnte ich ihn endlich zurück in die Hölle befördern! Und zwar …« Nathaniels Zähne knirschten vor Zorn. »Stück. Für. Stück.« In seinen Augen spiegelte sich das wilde Flackern der Flammen.
»Tu nichts Unüberlegtes«, sagte Seraphela. »Du hast gerade erst ein Tribunal überstanden, willst du ein Weiteres riskieren?«
»Im Gegensatz zu euch darf ich jeden Dämon angreifen, der meinen Schützling bedroht«, stieß Nathaniel bedrohlich hervor. »Keines unserer Gesetze verbietet mir, Victoria zu beschützen!«
»So einfach ist es nicht«, sagte Sera leise. »Das weißt du.«
Ich wusste, worauf Sera anspielte. Es gab nur zwei Gründe, die es einem Schutzengel erlaubten, einzuschreiten, wenn sein Schützling in Not war. Das hatte ich gelernt, weil es Nathaniel beim Tribunal beinahe zum Verhängnis geworden war. Eine Rettung musste entweder durch die Erzengel befohlen oder durch den Schützling erfleht werden. Es war nicht einfach gewesen, zu beweisen, dass ich meine Rettung, derentwegen Nathaniel angeklagt worden war, tatsächlich erfleht hatte. Um diesen Beweis zu erbringen, hatte ich Lazarus ausgetrickst und damit seinen Racheschwur auf mich gezogen. Aber es hatte sich gelohnt. Wir hatten die Erzengel überzeugt und Nathaniel war ohne Verurteilung davongekommen, was nie zuvor bei einem Tribunal geschehen war.
»Sera hat Recht«, sagte ich leise. »Bitte, kein weiteres Tribunal.«
Nathaniel, der meine Angst spürte, zog mich zu sich heran.
»Ich verspreche es«, flüsterte er in mein Haar. »Kein Tribunal. Nie wieder.«
Nathaniels wütender Blick richtete sich auf Sera, die seinem Blick standhielt.
»Du hast sie geängstigt!«, knurrte er.
»Es ist doch nur eine Erinnerung«, zischte Sera. »Ich will verhindern, dass du eine weitere Dummheit machst.«
»Eine weitere Dummheit?« Nathaniels Stimme bebte. Die Luft zwischen den beiden knisterte. »Etwa wie die, Victorias Leben zu retten?«
»Bitte, hört auf damit«, sagte ich und legte meine Hand auf Nathaniels Arm. Ich ertrug es nicht, wenn meine Engel miteinander stritten.
Voller Zorn starrte er Sera an, dann riss er seinen Blick von ihr los und die Spannung brach. Doch der Streit schien für sie noch nicht beendet zu sein.
»War toll, euch zu sehen«, sagte ich schnell und sah Ramiel Hilfe suchend an. »Aber ich muss jetzt wirklich los. Ihr habt es vielleicht vergessen, aber es gibt in meinem Leben auch noch so etwas wie Schule.«
Ramiel, der wie immer sofort begriff, half mir, die beiden Streithähne zu trennen. »Wir gehen. Sera?«
Der silberne Engel zögerte und fixierte Nathaniel. Ramiel ergriff Seras Arm. Sie rührte sich nicht. Einen Moment lang dachte ich, sie würde Ramiels Hand abschütteln und weiter auf Nathaniel einreden – doch dann waren Sera und Ra plötzlich verschwunden.
Ich atmete hörbar aus und hob meine Jeans vom Vortag vom Boden auf.
»Sera macht mich immer irgendwie nervös«, murmelte ich. »Dass ihr beiden dauernd streiten müsst …«
Nathaniel wandte sich zum Fenster um, damit ich mich umziehen konnte.
»Sie ist sehr starrköpfig«, sagte er ärgerlich. »Sie ist kompromisslos und rechthaberisch und …« Er warf einen Blick über die Schulter und drehte sich dann zu mir um. Der Ausdruck auf meinem Gesicht ließ ihn verstummen.
»Du willst nicht, dass wir streiten«, murmelte er dann.
»Es tut mir weh«, sagte ich leise.
Nathaniel nahm meine Hand. »Dann werde ich versuchen, mich zurückzuhalten. Ich verspreche es dir.«
Ich schenkte ihm ein kleines Lächeln und griff nach meiner Schultasche.
»Weißt du, Sera würde vielleicht sogar einen guten Schutzengel abgeben«, murmelte Nathaniel nachdenklich. »Wenn sie nicht so ein verbohrter Sturkopf wäre.«
»Ich dachte, das wäre eine Grundvoraussetzung für den Job?«, fragte ich und grinste unschuldig.
»Sehr witzig.« Nathaniel zog eine Grimasse und schubste mich mit seinem Flügel aus dem Zimmer.
Auf dem Wohnzimmertisch lag Ludwigs Zeitung. Ich überflog die Schlagzeilen, während ich darauf wartete, dass das Wasser kochte.
»Dein Vater ist heute wieder sehr früh ins Büro gefahren«, bemerkte Nathaniel.
»Wenigstens hat er hier geschlafen, das ist doch schon was«, gab ich zurück. Die Bitterkeit in meiner Stimme ließ sich nicht verbergen.
Nathaniel sah aus, als wollte er etwas erwidern, stattdessen schwieg er.
Kluge Entscheidung, dachte ich und warf ihm einen warnenden Blick zu, den er jedoch lächelnd wegsteckte.
Etwas in der Zeitung erregte meine Aufmerksamkeit. »Warte … ist das nicht Melinda?« Ich deutete auf ein Bild.
Nathaniel warf einen Blick darauf und ich zog die Zeitung zu mir heran, um das Foto näher anzusehen. Es zeigte Melinda Seemann und einen weißhaarigen, gut aussehenden Mann, die sich vor dem Eingang der Universitätsbibliothek die Hände schüttelten und gemeinsam in die Kamera lächelten.
»›Großzügige Spende sichert Fortbestand der Bibliothek‹«, las ich die Überschrift des dazugehörigen Artikels. »Medienmogul Marcellus Van den Berg übergab gestern der Wiener Universitätsbibliothek eine Spende in fünfstelliger Höhe. Sie wurde von Prof. Dr. Dr. Melinda Seemann (links im Bild) im Namen der Dekane entgegengenommen. Professor Seemann, die eine langjährige Freundschaft mit dem Milliardär verbindet, dankte ihm mit den Worten: ›Ohne Gelder aus privaten Stiftungen wie der Van-den-Berg-Stiftung wäre die aufwendige Restauration der antiken Schätze unserer Bibliothek nicht möglich. Herr Van den Berg hat den kommenden Generationen heute einen großen Dienst erwiesen.‹ Van den Berg, obwohl selbst an der Spitze des Medienkonzerns Europa, ist für seine seltenen Auftritte in der Öffentlichkeit bekannt. Dennoch ließ er es sich nicht nehmen, den Scheck seiner Stiftung persönlich zu überbringen. ›Das Wissen, das in diesen Mauern gehütet wird, ist von unschätzbarem Wert und muss bewahrt werden. Meine Hochachtung gilt Melinda Seemann und ihrem Team, die seit vielen Jahren unermüdlich dafür sorgen, dieses Wissen zu erhalten und zugänglich zu machen‹, so Van den Berg. Die Stiftung unterstützt europaweit Universitäten und Hochschulen …«
Ich ließ die Zeitung sinken und starrte Nathaniel an. »Hast du das gewusst?«, fragte ich verblüfft.
»Was gewusst?«
»Dass Melinda diesen Milliardär kennt? Diesen Van den Berg?«
Nathaniel zuckte mit den Schultern. »Ist das wichtig?«
Ich schnappte nach Luft. »Hallo? Van den Berg? Das ist nicht irgendjemand! Ich glaube, der hat sogar seinen eigenen Wolkenkratzer.«
Nathaniel schien nicht im Mindesten beeindruckt zu sein. »Kann sein, dass sie ihn einmal erwähnt hat. Sollten wir nicht gehen? Du kommst zu spät.«
»Verdammt!« Ich warf einen Blick auf die Uhr und rannte ins Vorzimmer.
Ich ergatterte einen der letzten Parkplätze und zwängte meinen roten Mini Cooper zwischen den eingedellten Peugeot von Madame Dupont und die Reihe knorriger Bäume, die das Ende des Schulparkplatzes markierten. Als ich aus dem Auto ausstieg, landete Nathaniel elegant neben mir.
Irgendwie ist es immer noch ein seltsames Gefühl, mit dir in der Öffentlichkeit herumzuspazieren, dachte ich, während wir über den Parkplatz eilten.
Nathaniel schmunzelte. »Hast du dich nicht längst daran gewöhnt, dass mich niemand sehen kann?«
Ich glaube, daran werde ich mich nie …
Ich hörte sie, bevor ich sie sah. Ihre wütenden Stimmen schallten über den Parkplatz.
War das etwa … Anne? Beunruhigt rannte ich los. Sekunden später bogen wir um die Ecke auf den Schulhof. Direkt vor dem Eingang der Schule stand Anne, mit geballten Fäusten und hochrotem Kopf. Ihr gegenüber stand Ariana, die Arme verschränkt, mit einem spöttischen Ausdruck im Gesicht. Hinter den beiden Mädchen hatten sich jeweils ihre Freunde versammelt: Chrissy und Mark standen hinter Anne, Chrissy mit buschigem, roten Haar, ihren zornigen Blick auf Ariana gerichtet. Mark hatte die Kappe tief in die Stirn gezogen und die Hände in den Hosentaschen, und sah aus, als würde er sich fragen, wie zum Teufel er in diesen Mädchenstreit geraten war.
Hinter Ariana standen ihre blonden Freundinnen Sarah und Katharina. Alle drei waren wie immer gestylt, als wären sie auf dem Weg zu einer Party, und alle drei hatten denselben herablassenden Gesichtsausdruck aufgesetzt.
»… sage über euch, was immer ich will!«, schrie Anne und ihre kurzen blonden Locken hüpften, als sie mit dem Fuß aufstampfte.
»Mitleiderregend«, erwiderte Ariana und zog eine perfekt nachgezogene Augenbraue in die Höhe.
Ich ging zu meinen Freunden und stellte mich neben Mark.
»Was regt ihr euch überhaupt so auf?«, giftete Chrissy Ariana an. »Anne hat bloß die Wahrheit gesagt. Ihr seid die arrogantesten Angeber auf diesem Planeten!«
»Was ist passiert?«, raunte ich Mark zu, während Ariana und ihre Freundinnen in spöttisches Gelächter ausbrachen.
»Anne hat wieder einmal einen ihrer A-Liga-Sprüche losgelassen«, flüsterte Mark zurück. »Und, naja, sie haben's wohl gehört.«
»Angeber? Wir?«, sagte Ariana zu Chrissy. »Wir haben es nicht nötig, anzugeben.«
»Unser Leben ist tatsächlich so großartig«, säuselte Katharina.
»Das ist wohl eine Frage der Definition von ›großartig‹«, sagte ich.
Ariana betrachtete mich mit einem herablassenden Lächeln. »Was können wir dafür, wenn euer eigenes Leben so armselig ist?«, ätzte sie.
Annes Stimme wurde schrill. »Mein Leben ist nicht armselig!«
»Rede dir das nur weiterhin ein«, sagte Ariana. Dann deutete sie mit einer Kopfbewegung auf Chrissy. »Selbst die mit dem Rattennest auf dem Kopf hat einen Freund … Kein Wunder, Anne, dass du noch nicht einmal so einen Loser wie den da findest, so fett wie du bist. Kaufst du deine Klamotten eigentlich immer noch beim Discounter?«
Katharina und Sarah brachen in grausames Gelächter aus. Annes Gesicht glühte fast, während sie mit den Tränen kämpfte.
Ich trat neben meine Freundin und legte einen Arm um ihre Schulter.
»Pech für euch, dass es kein Make-up für hässliche Persönlichkeiten gibt. Ihr bräuchtet eine Tonne davon. Lasst uns gehen«, erwiderte ich und zog Anne mit mir in Richtung Schulhaus. Chrissy und Mark folgten uns.
»Rattennest?«, flüsterte Chrissy gekränkt.
»Was für Ziegen«, murmelte Mark, während er nach Chrissys Hand griff. »Du hast tolle Haare. «
Der Unterricht hatte bereits begonnen und die Gänge waren leer.
»Sagt der Dupont wir kommen gleich nach«, flüsterte ich Chrissy zu.
Anne sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Chrissy nickte und verschwand mit Mark im Treppenhaus, während ich mit Anne und Nathaniel stehen blieb.
»Hier.« Ich reichte ihr ein Taschentuch.
»Da-danke.« Anne schniefte und riesige Tränen kullerten jetzt über ihre Wangen,.
»Ich hätte ihnen gern so richtig die Meinung gesagt«, murmelte ich. »Aber ich wollte dir ersparen, dass sie dich so sehen.«
»Ariana hast du jedenfalls gebremst«, flüsterte Anne mit belegter Stimme und tupfte sich die Tränen ab.
»Dafür sind beste Freundinnen doch da. Was ist denn überhaupt passiert?«
Anne zuckte mit den Schultern.
»Chrissy, Mark und ich waren auf dem Weg zur Schule und da standen sie, wie immer die Besten, und ich habe wohl ein bisschen zu laut meine Meinung gesagt …«
»Idiotische A-Liga«, sagte ich. »Du weißt doch, dass das alles Unsinn ist, was sie über dich gesagt haben.«
Anne zuckte traurig mit den Schultern.
»Du bist nicht fett«, sagte ich entschieden. »Und du hast tolle Klamotten. Ehrlich, ich wünschte, ich hätte einen so gut gefüllten Kleiderschrank.«
Anne lächelte schwach. »Du passt doch in meine Hosen zweimal rein. Außerdem wären sie dir viel zu kurz. Überhaupt, du machst dir doch gar nichts aus Mode.«
»Sag nichts gegen meine Kapuzenwesten«, grinste ich.
»Ich wünschte, ich würde so aussehen wie du«, sagte Anne leise. »Auf dir hacken sie nie herum. Wenn ich schon nicht deine Figur haben kann, könnte ich dann wenigstens deine langen dunklen Haare kriegen?«
»Blond steht dir super«, sagte ich. »Vertrau mir.«
»Weißt du, dass meine Oma nach dir gefragt hat? Sie wollte wissen, ob ›Schneewittchen noch immer so schön ist‹.« Sie schniefte.
Ich wusste nicht so recht, was ich darauf sagen sollte. Ich mochte Annes Großmutter, bei der Anne aufgewachsen war und immer noch wohnte, und die mich als Kind immer ›Schneewittchen‹ genannt hatte.
»Deine Oma ist … äh … ziemlich kurzsichtig, oder?«
Anne schüttelte den Kopf.
»Sie hat Recht, Vic. Mit deinen blauen Augen und deiner perfekten Haut …« Sie seufzte und fuhr sich über die Stirn. »Ich glaube, ich bekomme schon wieder einen Pickel.«
»Schluss jetzt!«, sagte ich entschieden. »Du hörst jetzt sofort auf mit diesem Selbstmitleids-Unsinn und wirst wieder die Anne, die alle mit ihrer frechen Klappe umhaut! Weißt du, warum die A-Liga solche Sachen zu dir sagt? Weil sie genau wissen, dass du viel mehr auf dem Kasten hast als sie. Ganz ehrlich, wenn du loslegst, interessiert sich doch keiner mehr für die drei Barbie-Klone!«
Ein scheues Lächeln erschien auf Annes Gesicht. »Meinst du wirklich?«
»Tatsache«, erklärte ich.
Sie schniefte ein letztes Mal und umarmte mich. Ich warf Nathaniel über Annes Schulter einen Blick zu.
»Weißt du, vielleicht haben sie Recht«, sagte Anne und drückte mich ein wenig von sich weg. »Vielleicht ist mein Leben tatsächlich ein bisschen armselig.«
»Was? Ich dachte, ich hätte dir gerade klargemacht, was das für ein Quatsch …« Ich verstummte, als ich das Funkeln in Annes Augen sah.
»Es wird höchste Zeit, eine Sache zu ändern«, fuhr Anne fort und schmunzelte vielsagend. »Dafür werde ich deine Hilfe brauchen. Es geht um die Operation Tom.«
»Oh«, murmelte ich ein wenig überrumpelt. »Äh … okay. Wie lautet der Plan?«
Anne biss sich auf die Unterlippe. »Du stehst wirklich nicht auf ihn, oder? Ganz bestimmt nicht?«
Nathaniels Blick schoss in meine Richtung.
»Nein.« Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Du hast absolut freie Bahn.«
Anne zögerte. »Gut. Aber wenn du doch … ich will dir nicht dazwischenfunken, schließlich steht Tom auf dich.«
»Du funkst zwischen gar nichts. Ihr beide würdet toll zusammenpassen.«
Ein breites Lächeln erschien auf Annes Gesicht. »Könntest du ihm das klarmachen?«
»Dass ihr beide toll zusammenpassen würdet?«
»Nein, dass du nicht auf ihn stehst. Sonst wird er nie auf mich aufmerksam.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Klar, kein Problem.«
Anne fiel mir abermals um den Hals.
»Danke, danke, danke! Und wenn das klappt mit Tom, werden den A-Liga-Zicken die Augen rausfallen!«
Anne hüpfte vor Aufregung und ich löste mich lachend aus ihrer Umarmung.
»Schon gut! Aber die Dupont lässt uns durchfallen, wenn wir jetzt nicht endlich in die Klasse gehen!«
»Habt ihr euch eigentlich schon mit Tom versöhnt?«, fragte ich, als ich nach der Französischstunde mit Anne, Chrissy und Mark die Treppen hinunter zu den naturwissenschaftlichen Labors ging. Nathaniel hielt sich wie immer an meiner Seite.
»Wie denn?« Chrissys Stimme war etwas schärfer als gewöhnlich. Die Kritik der A-Liga hatte ihr wohl mehr zugesetzt, als sie zugeben wollte. »Mein Idiot von Bruder redet noch immer kein Wort mit mir.«
Mark legte seinen Arm um sie. »Der beruhigt sich schon wieder.«
»Mir doch egal«, murmelte Chrissy trotzig. »Mit wem ich zusammen bin, geht ihn überhaupt nichts an!«
»Mark ist aber Toms bester Freund«, bemerkte ich.
Chrissy stapfte grimmig die Treppen hinunter.
»Ich habe vor, heute nach der Schule mit ihm zu reden«, sagte Mark zu mir.
»Tom kommt hierher?«, fragte Anne.
»Mein Cousin fährt Tom und mich zum Training«, sagte Mark. »Wir trainieren alle im selben Verein und er holt uns freitags immer von der Schule ab …«
»Weiß ich doch«, sagte Anne ungeduldig. »Ich meinte: Tom fährt mit dir zum Training, obwohl ihr nicht mehr miteinander redet?«
Mark grinste gequält. »Es bleibt ihm wohl nichts anderes übrig. Er hat kein Auto und wir sind mitten in der Saison, also wenn er nicht auf die Ersatzbank will …«
»Tom kommt also nach der Schule hierher«, wiederholte Anne nachdenklich. Ein Blick in ihr Gesicht verriet mir, dass sie dabei war, etwas auszutüfteln. Etwas, das garantiert nichts mit dem Streit der Jungs zu tun hatte.
»Ich werde ihm klar machen, dass Chrissy und ich zusammen sind«, sagte Mark entschlossen. »Du hattest Recht, Vic. Tom und ich sind schon so lange befreundet, er muss das einfach verstehen. Hoffentlich ist er diesmal besser aufgelegt als bei meinem letzten Versuch.« Die Zweifel in Marks Stimme waren nicht zu überhören.
»Soll ich ein Wort mit Toms Gefühlsengel sprechen?«, bot Nathaniel an.
Ich hob überrascht den Kopf. Du redest mit den Engeln anderer Leute?
Nathaniel lachte. »Klar, es gibt einen Stammtisch, was dachtest du denn? Wir gehen regelmäßig auf ein paar Bier und spielen Poker.«
Ich runzelte die Stirn. Sehr witzig.
Nathaniel grinste. »Also … soll ich helfen?«
Ich überlegte und beobachtete dabei Mark, der Chrissy gerade etwas zuflüsterte und sie damit zum Lachen brachte. Der Ärger über die A-Liga schien vergessen.
Danke, aber ich glaube, er schafft es auch so, dachte ich schließlich.
Ich hatte mich auf eine ruhige Stunde im Chemielabor gefreut, als Frau Szysdek mit einem Knall einen Stapel Mappen auf den Lehrertisch fallen ließ. Klein und hager, mit burschikosem Kurzhaarschnitt und schmalen Lippen, trat sie vor die Klasse und zog geschäftig einen Stift und eine Liste hervor.
»Die Gruppenarbeiten des Semesters stehen an«, sagte sie mit ihrem polnischen Akzent.
Die Klasse stöhnte.
»Ich habe euch in Vierergruppen eingeteilt. Ihr seid selbst dafür verantwortlich, euch mit euren Gruppenmitgliedern zu koordinieren. Der Abgabetermin ist Mitte Januar, ihr habt also drei Monate Zeit. Organisiert euch rechtzeitig, ich werde im Januar keine Ausreden zulassen. Wer die Arbeit nicht rechtzeitig abgibt, fällt durch, verstanden? Wenn ich eure Namen vorlese, kommt bitte nach vorne und holt euch eure Aufgaben.«
Sie schlug mit der flachen Hand auf den Stapel auf ihrem Tisch. Dann hob sie den Kopf, um durch den unteren Teil ihrer Brillengläser von der Liste abzulesen. »Victoria, Anne …«
Als Anne und ich aufstanden, erhoben sich Mark und Chrissy automatisch auch.
»… ihr arbeitet mit Ariana und Katharina zusammen.«
Geschockt blieben wir stehen. Anne und ich tauschten fassungslose Blicke aus, während Mark und Chrissy sich ungläubig wieder auf ihre Stühle sinken ließen. Aus dem Augenwinkel sah ich die langen Gesichter von Ariana und Katharina. Sie waren ebenso schockiert wie wir.
»Victoria?« Frau Szysdek hob den Kopf. »Holst du bitte die Aufgabe für deine Gruppe? Wir haben heute noch Unterricht vor uns.«
Ich trottete zum Lehrertisch und nahm die Mappe von Frau Szysdek entgegen. Auf dem Weg zurück an meinen Platz sah ich Ariana und Katharina, die mich mit ihren Blicken aufspießten, so als wäre das Ganze meine Idee gewesen.
»Wie konnte denn das passieren?«, zischte Chrissy von der Bank hinter uns, als ich mich wieder in meinen Stuhl fallen ließ. »Macht die Szysdek das absichtlich oder was?«
»Ganz ehrlich?«, flüsterte ich zurück und sah Anne besorgt an, die plötzlich ziemlich blass geworden war. »Ich glaube, das war einfach ein wirklich saublöder Zufall.«
Während Frau Szysdek weiter Namen vorlas und die Schüler sich ihre Mappen von vorne holten, legte ich beruhigend meine Hand auf Annes Arm.
»Wir bringen das schon irgendwie hinter uns«, flüsterte ich.
Anne sah aus, als müsste sie sich jeden Moment übergeben.
»Ich soll eine Projektarbeit mit diesen Kühen machen?«, murmelte sie tonlos. »Das gesamte Semester lang?«
»Ich bin auch dabei, vergiss das nicht«, flüsterte ich aufmunternd. »Und ich lasse nicht zu, dass sie auch nur einen Ton gegen dich sagen.«
Anne lächelte schwach. »Versprochen?«
»Versprochen.«
Ich warf Nathaniel einen Blick zu. Na großartig. Ausgerechnet.
Er hob in gespieltem Ernst die Schultern.
»Leider kann ich diese Mädchen nicht vernichten, nur weil sie zickig sind … was macht Anne denn da?«
Ich drehte mich um und sah, dass Anne ihren Chemiebaukasten durchwühlte. Offenbar fand sie nicht, wonach sie suchte.
»Anne, was …?«
»Hast du noch etwas Säure, Vic? Oder irgendwas anderes Giftiges? Nur für alle Fälle.«
Vor der letzten Stunde hatte Chrissy Anne zum Kiosk geschleppt, um Annes Chemie-Schock in Café Lattes zu ertränken. Ich stand mit Nathaniel vor dem Physiksaal, als Herr Wagner, der Physiklehrer, in den Gang einbog. Chaotisch und schusselig wie immer balancierte er einen Kaffeebecher auf einem Stoß Aufgabenhefte.
»Victoria!«, sagte er erleichtert, als er mich entdeckte. »Könntest du bitte … ?« Er drehte sich umständlich zur Seite, so dass ich den Schlüsselbund sehen konnte, der von der Hand baumelte, in der er die Hefte hielt.
Ich fädelte den Schlüsselbund vorsichtig von seinen Fingern, ohne dabei den Kaffeebecher umzustoßen, der recht wackelig auf einer zusammengelegten Zeitung stand. Ein Kaffeefleck breitete sich quer über das Bild von Melinda Seemann und Marcellus Van den Berg aus.
»Haben Sie den Artikel gelesen?«, fragte ich und deutete auf das durchtränkte Bild.
»Über Melinda und diesen Milliardär?« Herr Wagner klang abgelenkt, als er an Nathaniel vorbei ans Ende des Gangs blickte. »He, ihr! Kein Tischtennis auf den Schaukästen!«
Ich schloss die Tür auf und Herr Wagner manövrierte seine Last vorsichtig in den Physiksaal.
»Melinda hat sich in der Universitätswelt einen guten Namen gemacht«, sagte er, während er die Hefte auf seinem Tisch ablegte. Ich bewahrte den Kaffeebecher im letzten Moment davor, umzukippen und den Rest der Zeitung mit Kaffee zu durchtränken.
»Danke«, murmelte Herr Wagner. »Melinda ist mit vielen bekannten Persönlichkeiten in Kontakt. Sie und Van den Berg kennen sich, glaube ich, schon recht lange. Soviel ich weiß, gehört ihm ein Medienkonzern.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Kann sein. Ich kenne bloß den Van-den-Berg-Tower in der Innenstadt.«
Herr Wagner kramte einen Stoß Papier aus seiner Tasche hervor. Die Glocke läutete und der Rest der Klasse strömte in den Saal.
»Könntest du das hier bitte austeilen?« Herr Wagner drückte mir den Papierstapel in die Hand.
»Merkblätter für den Schulausflug am Dienstag. Wir wandern zu den Kaiser-Franz-Josef-Fällen.«
»Ein Wanderausflug?«, fragte Nathaniel.
Hatte ich ganz vergessen, seufzte ich in Gedanken. Oder besser gesagt, verdrängt.
»Ich dachte, du magst den Wald?« Nathaniel schlenderte hinter mir her, während ich die Merkblätter austeilte.
Ich mag unsere Burgruine. Aber Wandern generell … Ich schüttelte kaum merklich den Kopf. Als ich am Tisch von Mark und Chrissy vorbeikam, steckte Mark gerade nervös sein Telefon wieder ein.
»Was ist los?«, fragte ich leise.
»Tom hat ihm getextet«, erklärte Chrissy. »Er wartet nach der Schule auf dem Parkplatz auf Mark und seinen Cousin.«
»Aber ich dachte, genau das wolltest du?«, fragte ich Mark.
»Ist auch so«, erwiderte er, doch sein angespannter Gesichtsausdruck ließ mich an seinen Worten zweifeln. »Wir treffen Tom in einer Stunde. Ist doch super.«
Als wir eine Stunde später vom Schulhof auf den Parkplatz einbogen, wartete Tom schon auf uns. Er lehnte mit verschränkten Armen an der Mauer, seine stacheligen schwarzen Haare gestylt, die Sporttasche neben ihm am Boden. Der missbilligende Blick, mit dem er Mark und Chrissy fixierte, erinnerte mich stark an Seraphela.
»Hey«, sagten Anne und ich, als wir vor ihm standen.
»Hey«, erwiderte Tom, ohne zu lächeln.
Ein Moment peinlichen Schweigens folgte, bei dem sich weder Mark noch Tom gegenseitig ansahen.
Anne startete einen Versuch, die unangenehme Stille zu durchbrechen. »Also … ihr fahrt jetzt zum Training?«
Keiner der beiden antwortete, doch sie sahen sich wenigstens an.
»Ihr habt Glück mit dem Wetter«, fuhr Anne mit einem gezwungenen Lächeln fort. »Das sind die letzten warmen Tage im Oktober, es soll ja eine Kaltfront kommen …«
Niemand erwiderte etwas. Ich warf Nathaniel einen unsicheren Blick zu und er hob abwehrend die Hände.
»Du hast gesagt, du willst es Mark ohne meine Hilfe versuchen lassen«, sagte er.
Vielleicht war das ein Fehler, dachte ich zögernd, während ich zwischen Mark und Tom hin- und herblickte.
Mark hielt demonstrativ Chrissys Hand, während Chrissy ihren Bruder mit schmalen Augen fixierte.
»Hör zu«, sagte Mark schließlich. »Ich habe sie wirklich gern. Okay?«
Tom starrte Mark an. Dann wanderte sein Blick zu seiner Schwester, die jetzt Marks Hand mit beiden Händen umfasst hielt.
Ich hielt die Luft an und bereitete mich innerlich auf Toms Ausbruch vor. Doch Tom machte nur eine winzige Kopfbewegung. »Okay.«
Ich war verblüfft.
»Na, bitte«, schmunzelte Nathaniel. »Alles bestens.«
Völlig sprachlos sah ich zu, wie Marks Cousin auf den Schulparkplatz einfuhr, Mark und Tom ihre Sporttaschen in den Kofferraum warfen und sich dabei über das bevorstehende Training unterhielten, als wäre nichts gewesen. Ich traute meinen Augen kaum, als Mark Chrissy sogar vor Toms Augen zum Abschied küsste.
Nachdem Marks Cousin schließlich mit den beiden losgefahren war, blickte ich Anne und Chrissy erstaunt an.
»Und deswegen das ganze Drama?«
Chrissy zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Männer.«
»Chrissy, ich brauche deine Hilfe«, platzte Anne plötzlich heraus. Sie schien nur auf diesen Moment gewartet zu haben.
»Ich … also …« Sie holte tief Luft und lief knallrot an. »Ich stehe auf Tom. Schon länger.«
Chrissy sah Anne erstaunt an. »Du stehst auf meinen Bruder?«
Anne biss sich auf die Lippen. »Ist das ein Problem?«
Chrissy warf mir einen unsicheren Blick zu.
»Für mich nicht … aber ich dachte, Tom steht auf Vic?«
»Ist alles schon geklärt«, sagte Anne schnell. »Außerdem hat Vic doch ihren geheimnisvollen Freund.«
»Ich habe keinen …«, begann ich, doch Anne hörte gar nicht mehr zu.
»Ich würde gern herausfinden, ob Tom mich … naja, gut findet«, sagte Anne mit tiefrotem Gesicht. »Aber vorher muss Vic Tom verklickern, dass sie nicht auf ihn steht.« Sie blickte mich hoffnungsvoll an.
»Ich habe doch gesagt, ich mach's«, sagte ich.
»Und zwar heute Abend im Charley's?«
»Wenn du willst.« Ich zuckte mit den Schultern.
»Und am besten bringst du deinen neuen Freund gleich mit …?«
»Vergiss es«, sagte ich.
»Du kannst ihn nicht ewig vor uns verstecken«, grinste Chrissy.
»Ich verstecke niemanden.« Ich schüttelte den Kopf. »Außerdem geht's hier um Anne.«
»Könntest du Mark dazu bringen, heute Abend mit Tom ins Charley's zu kommen?« Anne sah Chrissy bittend an.
»Ich werde es versuchen«, sagte Chrissy. »Seit wann stehst du eigentlich auf Tom? Und vor allem: warum weiß ich nichts davon?«
Anne grinste verlegen. »Nicht nur Vic hat ein Geheimnis.«
Chrissy sah mich an. »Bin ich hier die Einzige mit einem öffentlichen Liebesleben? Anne hat gerade gebeichtet, also raus damit, wer ist dein Kerl?«
»Das ist mein Stichwort«, sagte ich mit einem Seitenblick auf Nathaniel. »Wir sehen uns heute Abend im Charley's!«
»Warte! Vic!«, rief Chrissy mir entrüstet nach, doch ich winkte ihr über die Schulter zu und lief zu meinem Auto.
»Anne und Chrissy werden schwer enttäuscht sein, dass dein geheimnisvoller Freund heute Abend nicht dabei ist«, schmunzelte Nathaniel, als wir ein paar Stunden später auf dem Weg ins Charley's waren.
Er ist dabei, schoss es mir durch den Kopf, doch glücklicherweise schirmte der Schild diesen Gedanken vor Nathaniel ab.
Vor dem irischen Pub standen einige Gäste in kleinen Gruppen auf dem Gehsteig und genossen den milden Oktoberabend. Drinnen war wie immer viel los und ich musste mich zum Tisch der anderen durchkämpfen. Wie Nathaniel mit seinen riesigen Schwingen mir so mühelos durch die Menschenmenge folgen konnte, war mir ein Rätsel.
»Hey Leute!«, schrie ich über die Musik und ließ mich auf einen Stuhl neben Anne fallen.
Sie hatte sich strategisch clever neben Tom positioniert, daneben saßen Mark und Chrissy. Nathaniel nahm auf dem letzten freien Stuhl Platz und ließ seinen Blick mit mildem Interesse durch das dunkle, überfüllte Lokal wandern.
»Wir haben für dich bestellt!«, brüllte mir Chrissy quer über den Tisch zu.
Ich grinste zurück und kurze Zeit später stellte der Kellner die Getränke vor uns auf den Holztisch. Ich bemerkte, dass Anne sich mit ihrem Outfit besondere Mühe gegeben hatte, außerdem trug sie glitzerndes Lipgloss und duftete nach ihrem Lieblingsparfum.
»Vic!«, schrie Anne laut genug, damit Tom es hören konnte. »Wo bleibt denn dein Freund?«
Tom blickte bei ihren Worten sofort zu uns herüber. Ich starrte in Annes bittende, hoffnungsvolle Augen und seufzte innerlich.
Also gut.
»Er hatte leider keine Zeit!«, schrie ich zurück. »Aber er … äh … wäre sehr gerne mitgekommen!«
»Du hast einen Freund?« Toms Stimme klang seltsam.
Anne stieß mich unter dem Tisch an.
»Äh … ja … sozusagen.«
»Vic ist bis über beide Ohren verknallt!«, brüllte Chrissy über den Tisch. »Aber wir haben ihren geheimnisvollen Freund noch nicht kennen gelernt.«
Tom warf Mark einen vorwurfsvollen Blick zu. Mark hob abwehrend die Hände.
»Ich habe es auch erst vor ein paar Tagen erfahren«, raunte er Tom zu, allerdings laut genug, dass ich es hören konnte.
»Er geht also nicht auf eure Schule?«, fragte Tom in nüchternem Ton. Ich schüttelte den Kopf. Wenigstens bei dieser Frage musste ich nicht lügen.
»Und was macht er so?«, bohrte Tom weiter.
»Äh …« Mein Blick streifte Nathaniel.
»Vic macht gern ein großes Geheimnis daraus«, kicherte Anne. Mir fiel auf, dass ihr Glas schon fast leer war.
Tom lehnte sich zurück. »Willst du uns nicht wenigstens verraten, wie er heißt?«
Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her und meine Finger krallten sich um mein unberührtes Glas.
»Vielleicht ist er ja ein Prominenter?«, scherzte Chrissy und Mark lachte.
»Ich … äh … bin gleich wieder da.« Ich hielt es nicht mehr aus, stand auf und schob mich durch die Masse in Richtung Toilette.
Ich hasse es, zu lügen!
»Ich weiß.« Nathaniels Stimme erklang ruhig neben meinem Ohr. Ich konnte ihn trotz des hohen Geräuschpegels im Lokal problemlos verstehen.
Anne schuldet mir was! Dieser Abend kann nicht noch schlimmer werden. Ich warf Nathaniel einen genervten Blick zu und verschwand auf der Damentoilette.
Ein Mädchen kam mir entgegen, ansonsten war der Waschraum leer. Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und starrte mein Spiegelbild im zerbrochenen Spiegel an der Wand an. Das Licht der Neonröhre über mir flackerte.
»Was für ein Abend«, murmelte ich und hielt meine Hände unter das fließende Wasser.
Als ich meinen Blick wieder zum Spiegel hob, erstarrte ich.
Hinter mir stand er, riesig und dunkel schimmernd, seine schwarzen Flügel ausgebreitet und seine roten Augen auf mich gerichtet, mit einem gehässigen Lächeln auf den Lippen - der Dämon Lazarus.
Er war über mir, bevor ich schreien konnte. Er schleuderte mich quer durch den Raum, so dass ich hart auf den Wandfliesen aufschlug. Seine Hand krallte sich um meinen Hals und drückte meine Kehle zusammen. Die Berührung seiner Finger brannte wie glühendes Eisen.
Röchelnd klammerte ich mich an seine Hand, versuchte verzweifelt, sie von meinem Hals zu reißen, doch jede Berührung seiner Haut war wie ätzende Säure auf meinen Handflächen.
Lazarus lachte über meine Anstrengungen.
»Freust du dich, mich zu sehen, Victoria?« Seine Stimme war ein grausames Flüstern. »Dein Geliebter steht direkt vor der Tür, und doch weiß er nichts von deiner unangenehmen Lage. Dank dem Schild.«
Lazarus' Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Seine Haut glitzerte schwarz, ebenso wie seine riesigen Schwingen. Er war größer und viel muskulöser als Nathaniel. Sein Gesicht war von alten Narben übersät, die nur aus unmittelbarer Nähe sichtbar waren. Davon abgesehen war Lazarus wunderschön … wären nicht der bedrohliche Ausdruck seiner dunkelroten Augen und der grausame Zug um seinen Mund gewesen.
Sein brutaler Griff, mit dem er meinen Hals umklammert hielt, trieb mir die Tränen in die Augen. Ich konnte meine eigene verbrannte Haut riechen. Er beugte sich zu mir runter und strich mit seinen Lippen sanft über mein Ohr. Es fühlte sich an wie ein Schnitt mit einem glühenden Messer. Ich zuckte vor Schmerz zusammen und versuchte, den Kopf von ihm wegzudrehen, doch dadurch drückte ich meinen Hals nur noch fester in seinen Griff und der brennende Schmerz auf meiner Haut wurde unerträglich.
»Ich habe eine Botschaft für Nathaniel«, flüsterte Lazarus. Seine Lippen berührten mein Ohr. Mir liefen vor Schmerz die Tränen über die Wangen.
»Richte deinem Geliebten aus, dass ich bereit bin, ihn zu treffen«, flüsterte der Dämon. Dann griff er nach etwas … war es eine meiner Haarsträhnen, die er zwischen seinen Fingern drehte? Die Haut an meinem Hals brannte wie verrückt. Ich biss die Zähne zusammen, um ihm nicht die Genugtuung zu geben, dass ich vor Schmerz aufschrie. Meine stummen Tränen fielen auf seine Hand.
Da ließ Lazarus mich unvermittelt los.
Ich griff mit beiden Händen an meinen Hals und starrte in die glühend roten Augen des Dämons. Dann gaben meine Beine nach und ich sank zitternd an der Wand hinunter zu Boden. In dem Augenblick, in dem ich die kalten Fliesen berührte, war Lazarus plötzlich verschwunden – und im selben Moment explodierte etwas golden und weiß direkt dort, wo der Dämon gestanden hatte.
Nathaniel kniete vor mir. Mächtige Flammen schlugen auf seiner Haut, so wild, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Sein Gesichtsausdruck war fassungslos vor Entsetzen. Er starrte mich an, unfähig zu sprechen.
Ich brauchte einen Moment, um meine Stimme wiederzufinden. »Lazarus …«, flüsterte ich kaum hörbar.
»Ich weiß.« Nathaniels Stimme klang gepresst. Er ergriff meine Hände und zog sie von meinem Hals. Was er sah, ließ seine Flammen erneut explodieren.
Ich versuchte aufzustehen und stützte mich auf Nathaniel. Mit seiner Hilfe schaffte ich es zum Waschtisch und warf einen Blick in den Spiegel. Mein Spiegelbild war blass, mit tränenüberströmten Wangen …fühlte