ZUM WARMWERDEN

Vor einigen Monaten hörte ich bei einer Fernseh-Umfrage zum Reformationsjubiläum eine Frau sagen: »Die evangelische Kirche? Ja, die hatte früher einmal Bedeutung, aber heute ist sie doch ein absolutes Auslaufmodell.« Mit welcher Selbstverständlichkeit diese circa vierzigjährige Dame, die einen christlichen Hintergrund hatte, ihre Aussage machte, hat mich schier umgehauen. Da war kein Zweifel, kein Groll, kein Bedauern – nur eine ganz sachliche Feststellung: »Die Kirche der Reformation ist mit ihrer Lehre und ihren Angeboten nicht mehr bedeutsam und zeitgemäß, sie ist out.«

Ich sehe das in vielen Punkten anders. Doch eins gleich vorneweg: Sie halten hier bestimmt keine Verteidigungsrede einer evangelischen Pfarrerin für ihren Arbeitgeber in der Hand, genauso wenig eine Anklageschrift gegen die heutige protestantische Kirche. Vielmehr hatte ich das Bedürfnis, ein ganz bodenständiges Buch aus dem pastoralen Alltag zu schreiben, aus dem »richtigen Leben« sozusagen. Deshalb habe ich die Ärmel hochgekrempelt und die Kanzel einige Monate lang gegen den Laptop eingetauscht.

Nein, die evangelische Kirche hat ihre Bedeutung sicher noch nicht ganz verloren. Es gibt viel mehr Miteinander zwischen ihr und der Gesellschaft da draußen, als es auf den ersten Blick scheint. Dass genau dieses Miteinander aber in der ganz persönlichen Erfahrung vieler Menschen mit der Kirche eben nicht da ist, ihr Lebensnähe und Offenheit oftmals fehlt, ist ebenfalls eine Tatsache, der sich die Protestanten viel intensiver stellen müssen.

Die Kirche, das ist in den täglichen Lebensvollzügen nicht die Institution, sondern eine konkrete christliche Person. Und die Welt, mit der sie in Kontakt tritt, das ist genauso immer ein konkreter Mensch innerhalb der Gesellschaft.

Ich erzähle in diesem Buch von solchen »konkreten« Menschen – von Jungen und Alten, von Etablierten und an den Rand Gedrängten, von Gläubigen und Nicht-Gläubigen. Einigen von ihnen bin ich in Kirchsälen begegnet, mit anderen bin ich anderswo in Berührung gekommen, in den verschiedensten Situationen. Da war zum Beispiel Karin, die ich kennenlernte, weil sie mich um eine Zigarette bat. Die mir später im Supermarkt an der Käsetheke von ihrem Frust erzählte, ohne zu wissen, dass ich von der Kirche bin. Was geschah, als sie es dann erfuhr, ist wirklich spannend. Ich erzähle auch von meiner Begegnung mit dem alten Herrn Naumann, bei dessen Frau sie die Geräte abschalten wollten. Und von Willi, der sich schrecklich schuldig fühlte, weil er etwas »Schlimmes« getan hatte – und von weiteren tollen Leuten.

Meine Protagonisten, deren Identität ich natürlich geschützt habe, zeigen eine Bandbreite ganz normaler Lebenssituationen. Einige meiner Gesprächspartner kann man getrost als »kirchendistanziert« bezeichnen, manche als »vorsichtig interessiert«. Andere wiederum sind Mitglieder der evangelischen Kirche oder haben zumindest früher einmal dazu gehört. Gemeinsam war den meisten von ihnen: Als ich sie traf, geschah gerade etwas Grundlegendes in ihrem Leben, das sie tief bewegte. Bei den Meiers war es ihre Scheidung, bei Alma Schmidt die Krankheit und bei Andreas und Heike die Menge an Flüchtlingen in unserem Land.

Ich möchte anhand dieser Beispiele darstellen, wie sich die Begegnung zwischen »Kirche« und »Welt« im Alltag real abspielen kann; und ich will deutlich machen, dass sich Menschen von der Kirche durchaus noch etwas wünschen und sich auch noch auf sie einlassen wollen. Vorausgesetzt, sie kommt ihnen entgegen, heißt sie mit ihren Anliegen wirklich willkommen – und ändert endlich manche dem Leben nicht mehr angemessene Regelung, und zwar trotz Autonomie der Landeskirchen. Es geht doch nicht an, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, dass ein schwules Paar sich in einigen unserer Landeskirchen genauso kirchlich trauen lassen kann wie Mann und Frau, in vielen anderen aber nicht in gleicher Weise.

Natürlich habe ich auch nicht den Stein der Weisen gefunden, wie die evangelische Kirche als Ganze wieder bedeutsamer werden kann. Aber ich stelle in diesem Buch einige Ideen vor, wie die Kirche im Leben partnerschaftlicher dabei sein könnte, und zwar ganz konkret. Es sind nicht teure wohlklingende Programme, mit der sie das am besten erreichen kann, sondern es ist ganz schlicht eine »Bewegung«: Die Bewegung von christlichen Leuten aus der Kirchentür heraus, in Richtung der Menschen, die »da draußen« im Stadtteil, im Dorf oder auf der Insel zu finden sind.

Ich möchte Sie, liebe Leserinnen und Leser, mit diesem Buch einladen, der Kirche nicht aus Wut oder Enttäuschung den Rücken zuzudrehen, sondern sich mit ihr auseinanderzusetzen – und sie zu fordern.

Und denjenigen, die sich in den vielen evangelischen Gemeinden und Werken engagieren, möchte ich mit diesem Buch Lust machen, öfter mal »outdoor« zu gehen; sich selbst unters Volk zu mischen und den Menschen im Viertel zu zeigen, dass die Kirche ein »Teil von’s Janze« sein will und sein kann. So, jetzt wünsche ich Ihnen viel Freude beim Lesen meines Erstlingswerkes. Und danke, dass Sie mein Buch gekauft haben!

PFARRERIN-SEIN, WAS HEISST DAS EIGENTLICH FÜR MICH?

Wie ich zweimal ordiniert wurde

Als mich mein beruflicher Weg zum ersten Mal in die Kirche führte, war die Mauer gerade gefallen. Nach einer Zeit des ehrenamtlichen Engagements in einer evangelischen Freikirche bekam ich das Angebot, dort Pastorin zu werden. Ich auf der Kanzel – das konnte ich mir zunächst nicht wirklich vorstellen. Ich wollte aber auch nicht kategorisch Nein sagen. Also nahm ich mir ein Jahr Zeit, um herauszufinden, ob das Ganze vielleicht doch das Richtige für mich sein könnte. Etwas frommer formuliert: Ich wollte mir klar werden, ob ich eine »Berufung« für den kirchlichen Dienst habe.

Ich machte ein bezahltes Langzeit-Praktikum und lief an der Seite eines erfahrenen Geistlichen mit. Das war sehr spannend. Ich lernte sozusagen »on the job«, was Pastorin-Sein in dieser Freikirche alles bedeuten würde. Ich erfuhr, wie vielseitig dieser Beruf ist, denn kein Tag war wie der andere. Ich lernte auch neue Seiten an mir selbst kennen, zum Beispiel, wie viel Freude mir Begegnungen mit Menschen machen, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Kirchenraumes. Ich merkte aber auch ziemlich schnell, wie sehr dieses Amt an den eigenen Kräften und Ressourcen zehrt. Das gefiel mir weniger. Als mir dann noch ein alter Geistlicher erklärte, dass ein Pastor wie eine Kerze sei, die den anderen Licht und Wärme spende, sich selbst aber dabei verzehre, kriegte ich es sogar mit der Angst zu tun.

In der Findungsphase hatte ich mir ein Bild machen können. Ich wusste ungefähr, was mich erwarten würde. Ich hatte auch verstanden, dass eine theologische Ausbildung für den pastoralen Dienst zwar unerlässlich ist, dass es aber im Dienst in erster Linie darauf ankommt, als Pastorin eine authentische Seelsorgerin zu sein, die ihren Gegenübern zugewandt und offen begegnet. Und auf ein lebensnahes Predigen, das nicht über den Köpfen der Zuhörer schwebt, sondern sie erreicht. Letzteres traute ich mir schon damals zu. Nicht zuletzt deshalb und aufgrund meines Glaubens entschied ich mich letztendlich, in den sogenannten hauptamtlichen kirchlichen Dienst zu gehen.

Eine Voraussetzung, um überhaupt Pastorin dieser Freikirche werden zu können, war eine bereits abgeschlossene andere Ausbildung oder zumindest einige Zeit im Arbeitsleben. Es war den kirchlichen Verantwortlichen wichtig, dass niemand »frisch« von der Schule kam, sondern dass alle schon Lebenserfahrung gesammelt hatten, bevor ihr Weg ins Pastorenamt führte. Zunächst hatte mich das etwas befremdet, auch wenn ich diese Voraussetzung erfüllen konnte. Ich war ja schon Diplom-Rechtspflegerin geworden und hatte in diesem Beruf auch einige Jahre gearbeitet. Mit der Zeit erkannte ich die Weisheit einer solchen Regelung. Denn nach der Schulzeit erst einmal zu lernen, was es heißt, im Leben selbständig Fuß zu fassen, ist später ungemein hilfreich, wenn man als Pastor oder Pastorin mit anderen Menschen zu tun hat. Dazu kommt, dass es in manchen Gemeinden durchaus Vorbehalte gegen blutjunge Pfarrer gibt, weil sie bisher ja nur Schule und Elternhaus kennengelernt und vom Leben noch keine Ahnung haben.

Die Freikirche, bei der ich meine ersten Schritte machte, war (und ist) aufgrund ihres Bibelverständnisses und ihrer Historie sehr auf die Mission, die Diakonie und die Gemeindearbeit ausgerichtet. Die Ausbildung der Pastorinnen und Pastoren war sehr praxisorientiert und beinhaltete neben wissenschaftlichen Seminaren auch viele Übungen in Gemeinden, auf öffentlichen Plätzen und auch innerhalb der Gruppe der Anwärter. Alle begannen zum Beispiel schon sehr früh zu predigen. Oder auch musikalisch zu arbeiten.

Ich kann mich noch gut an manchen praktischen Einsatz erinnern, den wir damals in Berliner Stadtteilen gemacht haben. Einmal führten wir im Sommer eine Art christliche Muppet-Show auf dem Spielplatz auf. Ein anderes Mal hatten wir einen richtigen Zirkus mit verschiedenen Attraktionen im Angebot. Ich war der Clown Bruno, der zur Freude aller den dummen und tolpatschigen Anti-Helden gab. So etwas machte mir noch nie etwas aus, jedenfalls vor Kindern nicht. Was ich allerdings schon als Praktikantin nicht mochte, war das »Fromme Lieder Singen« in irgendeiner Einkaufsstraße, am besten noch am Samstagnachmittag. Das war mir einfach nichts, auch wenn ich gut singen konnte. Ich hatte immer das Gefühl, dass die Leute uns ganz komisch anschauten, als kämen wir von irgendeiner Sekte.

Ganz anders ging es mir dagegen, als ich später als fertige Pastorin mit Gemeindeleuten zusammen einige Gottesdienste an belebten Plätzen hielt, zum Beispiel kurz nach der Wiedervereinigung mitten im Treptower Park im ehemaligen Ost-Berlin. Direkt vor dem Denkmal der weinenden Mutter Russlands (»Mutter Heimat«) predigte ich los, zum großen Erstaunen der Touristen, die vorbeigingen. Da war mir nichts peinlich, das hat mir riesigen Spaß gemacht. Ich erinnere mich, dass es an diesem Tag um die sehr bekannte biblische Geschichte vom verlorenen Sohn ging, allerdings in einer etwas modernisierten Fassung. Bei mir hieß dieser Sohn Benny und war 14 Jahre alt. Er lebte auf der Straße und bettelte nicht, wie das Original, bei den Bauern um Essen, sondern in der U-Bahn um Geld. Zur Untermalung ging ich wie Benny zu den Leuten und fragte sie: »Haste ma ne Mark?«

Na ja … – warum denn nicht auch so etwas einmal wagen?! Dadurch hatte ich auf jeden Fall die Aufmerksamkeit der Menschen – und kam ganz beiläufig auch noch zu einer guten Kollekte.

Im Rückblick bin ich über manches froh, was ich da ganz am Anfang schon lernen konnte, vor inzwischen weit über fünfundzwanzig Jahren. Nachhaltig prägten mich die unzähligen Erlebnisse mit ganz verschiedenen Menschen. Diese Begegnungen waren es, die mir früh die Berührungsängste vor solchen Gesprächspartnern genommen haben, die so ganz »anders« sind als ich, sei es durch die Erscheinung oder aufgrund des Verhaltens. Gerade von diesen Gegenübern profitiere ich heute noch in besonderem Maße, und das nicht nur in meinem Amt.

Schon damals hieß für mich Pfarrerin-Sein zweierlei: zum einen »Hirtin«, also Pastorin, einer konkreten Gemeinde oder christlichen Gruppe zu sein; zum anderen in einer sowohl diakonischen als auch seelsorgerlichen Grundhaltung mitten im Alltag der Menschen zu stehen, als Mit-Mensch.

Obwohl ich viele Erfahrungen aus jener Zeit nicht missen möchte, habe ich den Dienst in dieser Freikirche nach wenigen Jahren beendet. Es hatte fast unmerklich begonnen. Langsam, aber sicher waren in mir Zweifel an deren fundamentalen theologischen Überzeugungen gewachsen.

Probleme bekam ich vor allem dann, wenn die alten biblischen Aussagen uneingeschränkt als von Gott persönlich eingegeben gelten sollten. Und sie dann, obwohl vor Tausenden von Jahren in ganz anderen historischen und sozialen Zusammenhängen geschrieben, genauso ins Heute übertragen wurden. Wenn mir zum Beispiel in mancher Gemeinde gesagt wurde, dass ich als Frau nicht predigen dürfe, weil Gott selbst das »verboten« habe. Schließlich sei im Neuen Testament ganz klar formuliert, vor allem in den Briefen des Apostels Paulus, dass die Frauen in der Gemeindeversammlung schweigen sollten und es ihnen nicht gestattet sei, zu reden, zu lehren oder das Wort zu führen. Dass solche Sätze in ganz konkreten Situationen gesprochen wurden, nämlich in bestehenden Konflikten in den ersten christlichen Gemeinden, war und ist offensichtlich für nicht wenige Glaubende irrelevant.

Irgendwann habe ich seinerzeit aufgegeben zu diskutieren und auch, mich zu verteidigen. Das kostete nur Kraft und blieb ohne Ergebnis. Andere theologische Fragen häuften sich mehr und mehr, und die »neuen« Antworten, die ich damals fand, führten mich von der dort herrschenden Lehre weg. Und sie nahmen auch Einfluss auf meinen alltäglichen pastoralen Dienst.

Ich möchte ein kleines Beispiel geben: Als ich in unserem Café für Wohnungslose nicht nur christliche Bücher, sondern auch Kondome für die Gäste auslegte, wurde ich von einigen Kirchenleuten sehr dafür gescholten. Man muss dazu wissen, dass diese Freikirche jede sexuelle Betätigung außerhalb der heterosexuellen Ehe als Sünde ansah. Entsprechend warf man mir vor, mit den Kondomen die falschen Signale zu setzen und damit die Sünde zu fördern. Ich konnte damals, aus tiefster Überzeugung, nur eins darauf antworten: »Nein, ihr Lieben, ich verhindere Aids.«

Diese Begebenheit steht stellvertretend für vieles, was nicht mehr zu meinen Überzeugungen passte. Da es aber für eine ordinierte Geistliche unabdingbar ist, hinter den Glaubenssätzen ihrer Kirche zu stehen, blieb mir am Ende nur, meinen Dienst dort zu beenden. Denn was ich noch nie konnte, war, mich zu verbiegen.

Ich war inzwischen mit Leib und Seele Pastorin, aber nun eine ohne Kirche – und dazu noch an einem eklatanten Wendepunkt. Ein ehemaliger Bischof Berlins sagte mir später einmal sinngemäß, ich hätte da wohl fast so etwas wie eine »reformatorische Wende« durchlebt. Ja, das trifft es im Kern, wenngleich es vielleicht etwas zu gewichtig formuliert ist.

Ich hatte sowohl theologisch als auch in meinem persönlichen Glauben wieder zu dem Gott gefunden, den ich als Teenager schon einmal kennengelernt hatte. Dem Gott, den schon Martin Luther seinerzeit gesucht und gefunden hatte: dem gnädigen, befreienden und über die Maßen liebenden Schöpfer und Erhalter. Und folgerichtig führte mein Weg mich dann auch wieder zurück zur Kirche der Reformation, die ich mit meiner Konfirmation, wie so viele andere Jugendliche, hinter mir gelassen hatte.

Der Weg ins Pfarramt innerhalb der evangelischen Landeskirche (EKD) war für mich dann allerdings sehr aufwendig und mehr als steinig. Denn bis auf wenige Ausnahmen wurden Module meiner freikirchlichen Ausbildung nicht anerkannt. Sie entsprächen, so hieß es, nicht dem universitären Standard des Theologie-Studiums. Zudem hatten einige Verantwortliche Vorbehalte gegen mich im Amt ihrer Kirche, weil ich ja einmal eine »Freikirchlerin« war. Das war ernüchternd und enttäuschend. Doch ich wollte auch künftig Pfarrerin sein, also tat ich das, was die evangelische Kirchenleitung von mir forderte: Ich studierte als Enddreißigerin an der Humboldt-Universität zu Berlin evangelische Theologie – und machte dort den Abschluss. Mag sein, dass Stolz eine Todsünde ist, sei’s drum. Ich jedenfalls bin bis heute verdammt stolz darauf, im Alter von 44 Jahren dieses sehr schwere Examen geschafft zu haben.

Im Rückblick möchte ich diese Jahre an der Uni nicht missen, nicht nur wegen der coolen Partys, sondern vor allem, weil dieses Studium mir unendlich viel Rüstzeug gab, theologisch tiefer zu sehen – und zu verstehen. Und auch sowohl meinen Glauben als auch mein pastorales Verständnis fundierter als je zuvor zu bestimmen. Ich habe auch sehr gern die alten Sprachen gelernt, was die meisten meiner Kommilitonen sehr befremdlich fanden. Aber Alt-Hebräisch und Alt-Griechisch ermöglichten mir, die Texte der biblischen Bücher ohne Übersetzung zu lesen und zu erforschen. Wobei mir später in der Praxis aufgrund der hohen Arbeitsbelastung selten die Zeit dazu blieb, dies in aller Ausführlichkeit zu tun.

Ich höre leider immer wieder, dass jungen Menschen in manchen freikirchlichen Kontexten geraten wird, bloß nicht an der Universität Theologie zu studieren, weil man dort »seinen Glauben verlöre«. Bei allem Respekt, ich halte das für Unsinn – und zudem für übergriffig. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich mein Glaube verändert hat, dass er aber keinesfalls verlorenging, sondern im besten Sinne »erwachsener« und tragfähiger wurde. Allerdings störte mich an der Uni, dass es während des Studiums kaum Praxis-Module für diejenigen gab, die das Pfarramt anstrebten.

Ich sehe es, trotz all der Mühen, heute noch als Bereicherung an, zwei verschiedene Strecken zur »Geistlichen« gegangen zu sein und dadurch ein sehr breites Spektrum zu haben. Ich bin sogar zweimal ordiniert worden. Wer kann das schon von sich behaupten?

Seit zehn Jahren bin ich nun Pfarrerin innerhalb der EKD. Diese gliedert sich in zwanzig selbständige regionale Landeskirchen, denen auch die Pfarrerinnen und Pfarrer zugeordnet sind. Da ich in Berlin lebe, gehöre ich zur Landeskirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz, kurz EKBO genannt.

Viele Menschen denken bei Pfarrern immer noch vor allem an Predigen und Beerdigen. Manche fragen mich auch, was wir Pfarrer eigentlich die ganze Woche so machen; wir hätten doch nur am Sonntag den Gottesdienst zu halten – und ab und zu mal ein Kind zu taufen. Nun ja, »ein bisschen« mehr ist es schon.

Als Pfarrerin verstehe ich mich nicht als jemand, der als eine Art Zeremonienmeisterin »gebraucht« wird, von diesem oder jenen, für dies oder das. Ich sehe mich auch nicht als eine Sonntags-Predigerin, um es mal überspitzt zu formulieren.

Natürlich ist es meine Aufgabe, vor allem im Dienst als Gemeindepfarrerin den Menschen regelmäßig Predigten zu halten, mit denen ich ihnen die biblischen und christlichen Inhalte nahebringe und die Relevanz für ihre aktuelle Lebenswirklichkeit darlege. Genauso gehört es zu meinem Amt, als Seelsorgerin zur Verfügung zu stehen, den Menschen ein christliches Gegenüber zu sein. Oder mit den Menschen Taufe und Abendmahl zu feiern, zu beerdigen, zu trauen und zu konfirmieren. Und auch die Ehrenamtlichen zu begleiten, die Kranken zu besuchen, Konfirmanden- oder auch Religionsunterricht zu geben, Bibelstunden abzuhalten, Gemeindekreise zu unterstützen und so weiter. Und all das tue ich, so gut ich es vermag, oft und gern. Na ja, manches vielleicht etwas lieber als anderes.

Doch Pfarrerin-Sein kann für mich in der heutigen säkularisierten Welt nicht nur bedeuten, innerhalb der Gemeinschaft der Glaubenden zu agieren. Meinen Platz sehe ich genauso außerhalb der Kirchenräume, im Umfeld, im sozialen Raum. Und dort sehe ich mein Ziel nicht darin, neue Mitglieder für die Kirche zu gewinnen und sie zum Teil des Binnenlebens der Gemeinde zu machen. Nein, ich will als Pfarrerin einfach »da sein«, mitten im Stadtteil, dort, wo die Menschen sind. Mir Zeit nehmen, mit ihnen – und, wenn gewünscht, auch für sie. Ich will als Frau der Kirche »Teil von’s Janze« sein.

Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen in unserem Land an der Armutsgrenze leben und wenig Perspektiven zu haben scheinen. Erhebungen zufolge gehört auch jedes fünfte Kind in Deutschland dazu. Genauso trifft es die, deren Rente trotz vieler Jahre Arbeit nicht zum Leben und nicht zum Sterben reicht. Dies hat Folgen, vor allem für die Seele und die Lebensqualität jedes einzelnen Betroffenen, aber auch für das Gesellschaftsgefüge insgesamt. Hier kann die Kirche sich keinesfalls »raushalten«.

Ich war als Pfarrerin bereits in mehreren nicht so angesagten Stadtteilen tätig. Dort wird es ganz konkret. Armut und die damit verbundene soziale Ausgrenzung sind dann keine statistischen Größen mehr, sondern bekommen ein Gesicht, einen Namen, eine persönliche Geschichte. Und Aggression und Fremdenfeindlichkeit sind dann kein Phänomen von Pegida und Co., sondern hautnah spürbar, als Ventil für so vieles, was den Leuten in ihrer Lebenssituation auf der Seele liegt. Das wahrzunehmen und sich dem auszusetzen, das heißt für mich heute auch Pfarrerin-Sein. Als christliche Seelsorgerin bin ich aber keine verkappte Sozialarbeiterin. Das ist nicht mein Beruf, das sollen die geschulten Profis machen.

Ich verstehe mich als pastorale Person, die sich einem Menschen, der das Gespräch mit mir sucht, zur Verfügung stellt. Auch wenn er oder sie gar nicht über Gott oder das Christentum reden möchte. Es ist mein Anliegen und auch meine grundsätzliche Aufgabe, allen Äußerungen, Meinungen und Fragen eines Gegenübers zuzuhören und mich damit auseinanderzusetzen, in aller Offenheit, aber ohne die Person in eine Richtung zu lenken.

Ich sehe meinen Platz als Pfarrerin auch in der Reihe derer, die gemeinsam das Leben in ihrem Viertel gestalten, den sozialen Frieden erhalten und das Miteinander der Bewohner stärken wollen. Auf diese Weise wird Kirche wieder konkret und erkennbar. Denn sie wandelt sich von einer unpersönlichen Institution zu einer beteiligten Akteurin, wovon viele Menschen im Umfeld profitieren können. Ein Schulterschluss mit den sozialen und kommunalen Trägern vor Ort, auch mit Schulen, Wohnheimen und Bürgerprojekten, ist dabei ein wichtiger Schritt. Für solche Prozesse der Vernetzung muss die Kirche künftig mehr Dienstzeit einplanen, auch wenn sie dann an anderer Stelle fehlt. Bisher konnte leider nicht jeder Kirchenleitende das »Pfarramtliche« an meinem diesbezüglichen Engagement erkennen, was mehr als betrüblich war.

Aber Bündnisbildung, das ist doch das A und O in der gesamten pastoralen Arbeit, aus meiner Sicht jedenfalls. Verbindungen aufzubauen, nicht nur mit anderen Gläubigen, nicht nur in der Ökumene, sondern gerade auch mit denen, die der Kirche fernstehen, aber humanistische Ziele verfolgen – das ist für mich genauso eine Kern-Aufgabe meines Amtes wie eine Bibelstunde im Gemeindesaal zu halten. Denn nur im Miteinander zwischen nichtkirchlichen und kirchlichen Akteuren, mittendrin im Leben einer Gesellschaft, kann in der »Welt« etwas Nachhaltiges und Tragfähiges bewegt werden.

Ich habe mit den Jahren gelernt, dass es nicht darauf ankommt, dass die Fahne der Kirche über jedem Projekt wehen muss, bei dem sie mitmacht. Gemeinsame Feste werben viel mehr für die Kirche und bringen sie den Menschen ganz beiläufig näher. Ohne dass ein Banner bezeugen muss, dass die EKD auch da ist – und ohne dass nur ein einziges Wort gepredigt wird.

Pfarrerin-Sein im sozialen Raum heißt für mich natürlich auch, einige ausgewiesen »christliche Angebote« mitten im Stadtteil zu schaffen, wenn möglich an einem zentralen Begegnungsort der Bürger. Veranstaltungen, bei denen das Evangelium verkündigt und gehört werden kann, wo gemeinsam gebetet und gesungen wird, gehören für mich einfach dazu und sind eine niedrigschwellige Gelegenheit für Neugierige, einfach mal hineinzu»schnuppern«. Ob es im Advent ein Kindernachmittag ist, an dem Weihnachtsgeschichten gelesen und Sterne gebastelt werden, oder ein lebensnaher Gottesdienst mit guter Musik oder auch ein Gesprächskreis über Zeitthemen im Zusammenhang mit der Bibel, alles ist sinnvoll. Und unsere nichtkirchlichen Partner haben uns mehr als einmal auch bei den christlichen Events geholfen, und das war jedes Mal ein tolles Erlebnis.

Ich bin eine Pfarrerin, die es besonders zu den Menschen hinzieht, die in schwierigen Lebenslagen sind, die Klartext reden, die tüchtig schimpfen oder Angst haben. Und zu denen, die mit Gott und seinem Laden so gar nichts am Hut haben. Das liegt wohl an meiner Natur, aber ganz gewiss auch an meinem etwas ungewöhnlichen Werdegang ins Pfarramt. Ich bin nach wie vor wirklich gern im Dienst für Gott unterwegs, und Pfarrerin-Sein macht mir grundsätzlich immer noch Freude. Doch es gibt landauf, landab einige gravierende Probleme in der evangelischen Kirche, die auch für den pastoralen Dienst Folgen haben.

Da ist zum Beispiel die Entwicklung, dass in vielen Landeskirchen Pfarrermangel herrscht, die Arbeit aber überwiegend die gleiche geblieben ist. Dazu kommen der anhaltende Mitgliederschwund und die »Sparmaßnahmen« der Kirchenleitungen, die in allen Arbeitsbereichen der Gemeinden spürbar sind, aber auch in der Krankenhaus-Seelsorge und an anderen speziellen Einsatzorten. Die Aufgabenkataloge für verbleibende Hauptamtliche, nicht nur für Pfarrer, sind sukzessive umfassender geworden. Und würden die Ehrenamtlichen nicht so viel Zeit und Arbeit einbringen, wäre einiges schon längst zusammengebrochen.

Pfarrer-Sein bedeutet heute oft genug, nicht nur das geistliche Amt auszufüllen, sondern zudem eine »eierlegende Wollmilchsau« zu sein. Ich kam, wie viele Kollegen, auch nicht drum herum, berufsfremde Aufgaben mit zu übernehmen. Das kann vieles sein: die Geschäftsführung der Gemeinde machen, den gemeindeeigenen Friedhof verwalten, ein größeres Bauvorhaben mit Hilfe des Gemeindekirchenrates durchführen oder die Personalleitung in der Gemeinde-Kita übernehmen. Oder anderes.

Dazu kommt, dass die pfarramtlich zu versorgenden Bezirke für den Einzelnen größer werden. Zunehmend werden strukturelle Veränderungen an der Basis umgesetzt, übergemeindliche Schwerpunkt-Angebote sind gewollt, wie zum Beispiel Konfirmandenarbeit nur noch an einem zentralen Ort in der Region.

Ich habe oben geschrieben, dass Pfarrerin-Sein für mich vor allem bedeutet, »da zu sein«, mich den Menschen innerhalb und außerhalb des Kirchenraumes zur Verfügung zu stellen. Doch die Zeit für den Einzelnen ist, realistisch gesehen, knapper geworden, der Raum für Rat und Seelsorge, für Beichtanliegen, für Besuche bei Kranken, für die Senioren, für die Kids – er wird enger. Und auch die Kapazitäten für den Beziehungsaufbau mit Menschen im Stadtteil, für Bündnisse und für Anliegen einzelner Bewohner sind rückläufig. Ich weiß nicht, ob das in allen Landeskirchen in Deutschland so ist, ich bekomme aber fast den Eindruck, wenn ich die internen Kommunikationsprozesse verfolge. Für mich ist das mehr als unbefriedigend. Ich bin keine Psychologin oder Sozialarbeiterin geworden, sondern Pfarrerin. Ich bin auch keine professionelle Betriebswirtin, Verwaltungskraft oder Managerin, sondern eine christliche Seelsorgerin. Ich bin eine evangelische Pfarrerin, die wie jeder und jede meiner Kollegen bei der Ordination ein Versprechen abgegeben hat. Meins lautete so:

»Ich gelobe vor Gott, das Amt der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung (Taufe, Abendmahl) im Gehorsam gegen den dreieinigen Gott in Treue zu führen, das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der Heiligen Schrift gegeben und in den Bekenntnissen meiner Kirche bezeugt ist, gemäß meinem Bekenntnisstand rein zu lehren, die Sakramente ihrer Einsetzung gemäß zu verwalten, meinen Dienst nach den Ordnungen meiner Kirche auszuüben, das Beichtgeheimnis und die seelsorgerliche Schweigepflicht zu wahren und mich in meiner Amts- und Lebensführung so zu verhalten, dass die glaubwürdige Ausübung des Amtes nicht beeinträchtigt wird.«

Bis hierher habe ich mich eingesetzt, dem gerecht zu werden. So gut es eben ging. Und das will ich auch künftig tun, aber dabei gesund bleiben.

Die Menschen haben nach wie vor Erwartungen an »ihre« Kirche, an ihren Pfarrer, nicht nur die engagierten Gläubigen und verbliebenen Mitglieder. Manche können auch nicht einsehen, dass ihr Pfarrer so schwer beschäftigt sein soll, dass er nicht mal eine Stunde zum Kaffee kommen kann. Bei anderen macht sich Unmut über die Kirche als Ganzes breit. Und dann entlädt sich der Frust als Erstes im Gemeindebüro bei demjenigen, der dort sitzt und eigentlich arbeiten will. Oder der Pfarrer kriegt es gleich direkt ab. Und dann kann es passieren, dass der fleißige Kollege, dem solche Enttäuschung entgegenschlägt, noch mehr arbeitet und über seine Grenzen geht, um die Leute zufriedenzustellen. In kirchlichen Printmedien ist seit längerem immer wieder zu lesen, dass mehr und mehr Pfarrerinnen und Pfarrer die Quadratur des Kreises versuchen – und krank werden.

Auch ich wollte über lange Zeit die Erwartungen aller erfüllen: die der Kirche, die der Menschen ringsum, die (vermeintlichen) Gottes – und auch, was nicht zu unterschätzen ist, die meines eigenen Selbstbildes und Amtsverständnisses. Es kann schnurstracks in die Katastrophe führen, wenn schon die eigenen Ansprüche an sich völlig überzogen sind. Und wenn aus dem Blick gerät, dass auch Pfarrerinnen und Pfarrer nur menschliche Wesen sind.

Ich habe vor etlichen Jahren bitter lernen müssen, dass ich zwar nach Gottes Ebenbild geschaffen bin, aber nicht über göttliche Attribute verfüge. Mir ist weder Gottes Allgegenwart möglich, noch habe ich seine grenzenlose Kraft. Ich wäre damals sicher mit Vollgas weiter in Richtung Burn-out gerast, wenn da nicht ein sehr weiser älterer Mann aus meiner Gemeinde gewesen wäre, der mich liebevoll, aber deutlich wachgerüttelt hat. Er gab mir einen väterlichen, na, eher großväterlichen Rat, für den ich ihm heute noch dankbar bin. Er sagte, dass Gott mich als Pfarrerin durchaus vorbildhaft für die Gemeinde haben wolle. Ich solle aber bedenken, dass dies umfassend zu verstehen sei, also in »jeder« Hinsicht. Ich sei also nicht nur dazu berufen, bezüglich Arbeitseifer, Kompetenz, Präsenz, Fürsorge und Nächstenliebe mein Bestes zu geben, sondern auch dazu, beispielhaft für die Gläubigen zu sein, wenn es um die gebotene Fürsorge für sich selbst geht. Praktisch hieße das, Pausen einzulegen, mich zurückzuziehen, auch für genug Schönes in meinem Leben zu sorgen und es zu genießen. Die Selbstliebe sei ein genauso wichtiger Auftrag Christi wie die Gottes- und die Nächstenliebe. Und es sei sicher auch in Gottes Sinne, wenn die Frau Pfarrerin öfter den Mut hätte, sich den anderen Menschen auch in ihrer Begrenztheit zu zeigen. Auch einmal »nein« zu sagen und, falls nötig, auch um Hilfe zu bitten und Aufgaben zu delegieren. Auf keinen Fall habe Gott ein Interesse daran, dass sich seine Leute im kirchlichen Dienst »aufrauchen« oder sogar an ihm verzweifeln und krank werden. Das solle ich mir immer wieder vor Augen führen und beherzigen, auch wenn der Aufgabenkatalog, den die institutionelle Kirche vorsieht, noch so lang ist.

Um seine Aussagen zu untermauern, erzählte mir der ältere Herr noch etwas von Mose. Das ist der Mann, der das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten herausgeführt hat. So erzählt es die Bibel: Als Mose mit dem Volk Israel den Ägyptern entkommen war und nun durch die Wüste in das »Gelobte Land« zog, kam er als Anführer mehr als einmal an seine Grenzen. Das Volk war ziemlich schwierig, es meckerte ständig und war ungehorsam. Alle naselang wollten sie lieber umkehren. Zudem gab es viele unterschiedliche Meinungen. Manche säten immer wieder Misstrauen gegen Mose. Immer wenn Mose schier am Volk verzweifelte und auch an seiner Verantwortung, klagte er das seinem Gott. Der machte Mose keine Vorwürfe, hielt ihn auch nicht für unfähig oder unwillig. Nein, er sorgte dafür, dass Mose Hilfe bekam. Als Mose zum Beispiel seine Arme in einer kriegerischen Auseinandersetzung nicht sinken lassen durfte, weil Israel dann verlieren würde, er aber nicht mehr konnte, kamen zwei Männer und stützten seine Arme. Und als er allein über alle Streitfälle auf der Reise richtete, kam die Hilfe Gottes durch seinen Schwiegervater. Der erklärte ihm, dass er auf diese Weise Tag für Tag über die eigenen Kräfte gehe. Er solle stattdessen Richter einsetzen, die ihm einiges abnähmen. Mose delegierte tatsächlich – und sparte eine Menge Energie für anderes. Nur die ganz großen Streitfälle, die richtete er weiterhin noch selbst.

Ich hörte aufmerksam zu. Moses Geschichte hatte ich lange nicht mehr gelesen. Dennoch war es nicht schwer zu erkennen, was mein Gesprächspartner mir damit sagen wollte. Der schaute mich schließlich nur an und lächelte. Er wollte keine Reaktion von mir, und ich hatte in diesem Moment auch gar keine. Beim Abschied bat er mich nur, einmal über das Gehörte nachzudenken. Dann umarmte er mich und ging.

Ich hatte mich von ihm an jenem Sonntag weder belehrt noch angegriffen gefühlt, es war mir auch nicht unangenehm, auf diese Weise angesprochen zu werden. Ich fühlte mich im besten Sinne brüderlich »beseelsorgt«. Und das tat mir gut. Es ist wirklich ein Glück, in unseren Gemeinden Menschen wie diesen Mann zu haben. Menschen, die fürsorglich auf ihre Pfarrerinnen und Pfarrer sehen, die auf uns achten und für uns beten.

Dieses Gespräch beschäftigte mich anhaltend, trotz meines Alltags und vieler anderer Erlebnisse. Wenige Wochen später ergab sich für mich die Gelegenheit, ein paar Tage Urlaub zu nehmen. Ich beschloss, in ein Kloster mitten in Berlin zu gehen, zu den Karmeliterinnen. Ich freute mich auf einige Tage ohne Laptop, Smartphone oder Fernseher – und ohne viele Menschen, die etwas von mir wollen könnten. Das würde mir sicher guttun, dachte ich. Besser gesagt, ich hoffte es. Eigentlich wollte ich sowieso nur schlafen, schlafen und nochmals schlafen. Ich war sehr erschöpft.

Im Gästehaus des Klosters war ich ganz allein, und auch die Ordensschwestern sah ich nur zu den Gebeten in der Krypta. Ansonsten lebten sie in Klausur. Ich war also, nach vielen vollen Diensttagen, plötzlich auf mich selbst geworfen, und auf Gott. Das wurde dann sehr intensiv. Ich saß meistens im Meditationsraum vor einem ziemlich großen Kreuz, an dem der leidende Jesus hing. Erst war mir das unangenehm, weil mir das leere Kreuz als Bild für die Auferstehung Christi lieber ist. Am Ende meiner Zeit dort wusste ich aber, dass es der leidende Christus war, der meiner Seele viel näher war. In den Tagen dort dachte ich viel über mein Pfarrerin-Sein nach, über die vielen Erwartungen, die ich unmöglich alle erfüllen konnte. Über die Freude, die inzwischen viel zu kurz kam. Ich redete mit Gott – und las über diesen Mose. Und ich betete alte Worte von den christlichen Mystikern. Diese Woche war im wahrsten Sinne des Wortes reinigend und heilend für meinen Geist und meine Seele. Diese Einkehr hat auch dazu geführt, dass sich mein pastorales Verständnis noch einmal ein Stück weiter bewegt hat.

Seither heißt Pfarrerin-Sein für mich auch, mir selbst gegenüber achtsamer zu sein. Und auch, regelmäßig Supervision in Anspruch zu nehmen, um meinen Dienst zu reflektieren. Ich fand im Kloster auch den Mut und die Freiheit, mich künftig manchen Ansprüchen gegenüber, die an mich als Pfarrerin der evangelischen Kirche gestellt werden, zu verweigern. Das ist aber gar nicht so leicht, merke ich immer wieder. Wird auch nicht gern gesehen …

Müsste ich in einem einzigen Wort ausdrücken, was Pfarrerin-Sein für mich heute heißt, dann wäre dieses Wort »lebensdienlich«. Ja, das will ich sein, für andere Menschen, aber auch für mich selbst.